Schlagwort-Archive: James Loughran

Lohnend, da zwiespältig

Lyrita, EAN: 5 020926 112125

William Wordsworth (1908-1988), britischer Komponist und hierzulande kaum bekannt.
Ein Urteil anhand dieser Einspielungen: zurecht unbekannt?

  1. Ja.

Weil seine tonal-basierte Tonsprache sich unverkennbar an großen, slawischen Vorbildern orientiert. In reiferen Jahren sich immer mehr an Klangbildern zeitgenössischer Kollegen wie Witold Lutoslawski, Miloslav Kabelac anzulehnen scheint. Man mag das unter Gleichzeitigkeit verbuchen – dieses „so nah“-Sein. Spätestens in der 1960 veröffentlichen Symphonie No. 5 a-moll erweist sich Schostakowitsch als unüberhörbares Vorbild: instrumentatorisch und hauptsächlich atmosphärisch. Klänge frostiger Verlassenheit und Trauer. Einsame Holzbläser-Soli über Streichergrund.

Und dann spricht er im Finale in britischem Zungenschlag, als fände er vom Vorbild nach Hause zurück. Die Musik ist von ernsthaftem Anliegen getrieben, stark im Ausdruck, voller plastischer Emotion. Transparent, auch im Massiven. Nahezu elegisch in ruhigen Augenblicken der Reflektion des eben Erklungenen.

Was fehlt? Schwer, das in Worte zu fassen. Ein nach-vorne-gehen-Wollen, dass letztlich auf der Stelle tritt? Das Zwingende des Argumentes, das man vermisst? Der große architektonische Bogen? So deutlich in den Scherzi beider eingespielten Sinfonien: scheinbar alles da – nur: das Scherzoide, auch das angestrebte Maliziöse stellt sich nicht ein. Alles halbgar sich abarbeitend am imaginären Gerüst eines Ideals. Im letzten Satz der 1944 erschienenen Symphonie webt Wordsworth die Hymne der Sowjetunion ein. Dieses „Panzerschiff“ von Alexandrow, wie Stalin es einmal genannt haben soll. Samt Annäherungen an das Lied der Wolgaschlepper: soviel Russland in Großbritannien war selten: Zeitgeist und Solidarität mit dem geschundenen Verbündeten – aber auch, und dies zeigt die spätere, 1960 veröffentliche Fünfte: offenbar eine klangsinnliche Herzensverbundenheit.

Zu den Interpreten: was soll man sagen? Historische Live-Aufnahmen der BBC, mitgeschnitten bei Konzerten mit allem Charme des Direkten und Ungeschliffenen. Anzunehmen, prima vista bzw. mit wenig Proben dargeboten.

Aber Wordsworth mag man einiges anlasten – nicht: er mache es allen schwer.

  1. Nein!

Weil die Musik Wordsworths Zustände der Einsamkeit zeichnet und heroische Gesten des Aufbegehres, die anrühren. Meisterlich (sic!) instrumentiert, kontrolliert und durchhörbar ausbalanciert. Da mag auch mal die Solovioline über Gebühr entschweben und an der Kitschgrenze kratzen – geschenkt!

Fazit: Lohnend! Weil zwiespältig.

 [Stefan Reik, August 2017]