Archiv für den Monat: März 2021

Wilhelm Altmann – Ein Leben für die Kammermusik

70 Jahre sind seit dem Tode des Historikers und Bibliothekars Wilhelm Altmann (1862–1951) vergangen. Als leidenschaftlicher Kammermusiker unternahm er es, die Literatur für Kammerensembles zu sichten und in mehreren Handbüchern den Streichquartett-, Klaviertrio-, Klavierquartett- und Klavierquintettspielern vorzustellen. Es ist an der Zeit, an diesen verdienten Mann zu erinnern, dessen Bücher einen Springquell musikalischer Anregungen darstellen.

Wilhelm Altmann 1905 als Oberbibliothekar in Berlin

Wilhelm Altmann wurde als Sohn eines Pfarrers am 4. April 1862 in der Kleinstadt Adelnau geboren, die damals zur preußischen Provinz Posen gehörte und heute unter dem Namen Odolanów Teil der Woiwodschaft Großpolen ist. Seine Eltern waren musikliebende Menschen, denen es selbstverständlich war, ihren Sohn von klein auf mit der Tonkunst in Berührung zu bringen. Der Junge erlernte Bratsche und Violine, spielte frühzeitig Kammermusik und wirkte während seiner Primanerzeit in Breslau als Orchestergeiger an Opernaufführungen mit. Nach dem Schulabschluss entschied er sich für eine Laufbahn als Historiker und studierte in Marburg und Berlin Geschichte, Philologie und Staatswissenschaften. An der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität, der heutigen Humboldt-Universität, wurde er 1885 Assistent des greisen Leopold von Ranke und promovierte im selben Jahr über Die Wahl Albrechts II. zum römischen Könige. Anschließend war er an den Universitätsbibliotheken in Breslau und Greifswald tätig. In Greifswald habilitierte er sich 1893 und arbeitete als Privatdozent. Er genoss bald den Ruf eines Spezialisten für die Geschichte des späten Mittelalters und wurde mit der Herausgabe der Urkunden Kaiser Sigmunds betraut, die 1896–1900 in der renommierten Reihe Regesta Imperii erschienen.

Während all dieser Jahre hatte Altmann die Musik keinesfalls zurückgestellt. Im Gegenteil: Jede sich in seiner Freizeit bietende Gelegenheit zu musikalischer Betätigung wusste er am Schopfe zu packen. Dies beschränkte sich nicht nur auf das Kammermusikspiel. So gründete er 1890 in Greifswald ein Liebhaber-Orchester und dirigierte es bis 1895. Um die Jahrhundertwende schließlich begann der musizierende Bibliothekar sich zu dem Musikbibliothekar und Musikschriftsteller zu entwickeln, als der er in bleibender Erinnerung geblieben ist. Regelmäßig veröffentlichte er nun Rezensionen neu erschienener Kammermusikwerke, die er zuvor gemeinsam mit befreundeten Amateur-, aber auch Berufsmusikern, aus eigener Praxis kennen gelernt hatte. Im Jahr 1900 wurde Altmann zum Oberbibliothekar der Königlichen Bibliothek in Berlin ernannt, seit 1905 durfte er sich Professor nennen. In dieser Position begann er, ein Projekt ins Werk zu setzen, für das er mit seinem 1903 in der Zeitschrift der internationalen Musikgesellschaft veröffentlichten Vortrag „Öffentliche Musikbibliotheken – Ein frommer Wunsch“ warb. Altmanns Ziel war die Einrichtung einer „Reichs-Musikbibliothek“, die „zum mindesten alle in Deutschland erschienenen musikalischen Werke in ihrer Urgestalt enthält, damit es endlich einen Ort gibt, wo man die Werke wenigstens jedes deutschen Komponisten, hoffentlich auch der meisten außerdeutschen, einsehen kann“. Die Musikverleger kamen seinem Aufruf, freiwillig Exemplare der bei ihnen erschienenen Musikwerke nach Berlin zu schicken, in solchem Maße nach, dass Altmann neue bibliothekarische Ordnungssysteme entwickeln musste, um das eingesandte Material effektiver einarbeiten zu können. 1906 konnte er die Gründung der „Deutschen Musiksammlung bei der Königlichen Bibliothek“ am Schinkelplatz verkünden. Als die Sammlung 1915 offiziell zur Musikabteilung der Bibliothek wurde, ernannte man Altmann zu ihrem Direktor. Dies blieb er bis zu seinem Eintritt in den Ruhestand 1927.

Seiner Dienstpflichten ledig, konnte er sich nun ganz auf die Musik konzentrieren und gab noch 1927 in Max Hesses Verlag, Berlin, sein Handbuch für Streichquartettspieler heraus. Den beiden Bänden, die die Quartettliteratur von Johann Sebastian Bach bis zu Günter Raphael und Kurt Thomas abdecken, folgte im Februar 1929 ein dritter Band über Streichtrios, -quintette, -sextette, und -oktette, Ende 1930 ein vierter zur Literatur für Streicher und Bläser. Zum Teil trug Altmann für diese Bücher Kritiken aus früherer Zeit zusammen, zum Teil sind sie die Frucht des intensivierten Musizierens, das dem Pensionär nun möglich war. „Daß ich schon jetzt diesen [dritten] Band vorlegen kann“, schreibt er 1929, „kommt nicht bloß daher, daß ich seit dem 1. Januar 1928 von allen Amtsgeschäften frei bin, sondern daß ich schon früher manche Vorarbeiten erledigt und in der glücklichen Lage mich befunden habe, selbst für die Oktette ohne weiteres geeignete Kräfte heranziehen zu können.“ Dem vierten Band schließlich gingen eineinhalb Jahre praktische Beschäftigung ausschließlich mit Musik für Streicher und Bläser voran.

Im Vorwort des Handbuchs legt Altmann ausführlich dar, was ihn zu dieser Arbeit bewog, und blickt zugleich auf sein Leben als nicht-berufsmäßiger Musiker zurück. Diese Ausführungen geben einen solch lebendigen Eindruck von der Persönlichkeit ihres Autors, daß im Folgenden ein längerer Auszug daraus wiedergegeben werden soll:

„Schon als ich in der Untertertia des Elisabeth-Gymnasiums in Breslau saß, hatte ich im väterlichen Hause als Bratschist u. a. sämtliche Haydnsche Quartette mitgespielt und mit besonderer Aufmerksamkeit damals und auch die nächsten Jahre den Quartettaufführungen gelauscht, die der leider später eingegangene Verein für klassische Musik vom 1. Oktober bis Ostern regelmäßig alle Wochen einmal durch tüchtige Künstler veranstaltete. Wenn ich in der Studentenzeit auch nicht ganz regelmäßig zum Quartettspielen gekommen bin, so habe ich es doch nie unterlassen; mitunter, da ich auch allmählich für die erste Geige herangereift war, habe ich das regelmäßige Wochenquartett möglichst durchgeführt, auch als ich 1900 nach Berlin übergesiedelt war und mich mehr und mehr als Musikkritiker und Musikschriftsteller betätigte; wenn ich Zeit hatte, habe ich auch gern in anderen Quartetten ausgeholfen. So mancher liebe Quartettgenosse und auch eine Künstlerin, die mit größter Hingebung bei mir zweite Geige jahrelang gespielt hat, ruht schon im Grabe. Allen aber, die mit mir durch „dick und dünn“, durch die Klassiker selbst bis zu den Atonalikern gegangen sind, kann ich gar nicht genug dankbar sein. Wir haben auch sehr viele in Vergessenheit geratene Werke gespielt und sind wohl an keinem, das irgendwelche Bedeutung hatte, vorbeigegangen.

Der Wunsch, den zahllosen Dilettanten-Quartettvereinigungen meine Erfahrungen mitzuteilen, ebenso auch Künstlerquartette, die oft von der einschlägigen Literatur viel weniger Kenntnis als Musikfreunde haben, auf beachtenswerte vergessene Werke hinzuweisen, trieb mich zur Abfassung des vorliegenden Werkes, das keinesfalls als eine wissenschaftliche Leistung angesehen und beurteilt werden darf. Es soll nur ein praktischer Führer sein, nicht etwa eine Geschichte des Streichquartetts, wenngleich ich es chronologisch nach dem Geburtsjahr der einzelnen Komponisten geordnet habe. […]

Meine zum Teil aus ganz verschiedener Zeit stammenden Urteile über die einzelnen Werke sollen durchaus als subjektive bewertet werden. Ich bin mir bewußt, daß manches Quartett, das ich als besonders wertvoll empfehle, von andern als belanglos beiseite geschoben wird. Trotzdem ich daran festhalte, daß die Klassiker, zu denen ich auch Brahms rechne, nach wie vor den größten Schatz des Quartettspielers bilden, habe ich doch stets den Quartetten wie überhaupt den Schöpfungen der lebenden Tonkünstler größtes Interesse gewidmet, den Auswüchsen der sogenannten Atonalitätsapostel gegenüber mich freilich ablehnend verhalten. Mag man mich deshalb als senil ansehen! Ich will und kann’s ertragen, umso mehr, als ich andererseits glaube, manchen lebenden Tonsetzer doch gefördert zu haben. […]

Vollständigkeit zu erstreben lag mir fern, ist auch kaum zu erreichen. Werke, die ich nicht gehört oder selbst gespielt habe, habe ich nur ausnahmsweise nach der Partitur besprochen, obwohl für mich ein bloßes Lesen, ohne den Klang zu hören, kein richtiges Bild abgibt.“

Dem Streichquartettspieler-Handbuch schlossen sich in den nächsten Jahren gleichartige Handbücher für Klaviertriospieler (1934), Klavierquartettspieler (1936) und Klavierquintettspieler (1937) an. 1935 gab Altmann zudem Albert Tottmanns in letzter Auflage 1902 erschienenen Führer durch den Violin-Unterricht, den er im Handbuch für Streichquartettspieler gelegentlich zitiert, in einer erweiterten Fassung, die auch die seit 1901 neu erschienenen Werke berücksichtigt, als Führer durch die Violin-Literatur neu heraus.

Altmann stand im 71. Lebensjahr, als 1933 die Nationalsozialisten an die Macht gelangten. Seine publizistische Tätigkeit blieb von den veränderten politischen Umständen zunächst unberührt. So würdigte er nach wie vor in seinen Büchern die Leistungen von Komponisten jüdischer Abstammung wie Felix und Arnold Mendelssohn, Friedrich Gernsheim, Robert Kahn, Erich Wolfgang Korngold, wobei er Anton Rubinstein vorsichtigerweise im Handbuch für Klaviertriospieler als „arischen Sibirier“ etikettierte. 1940 allerdings machten die nationalsozialistischen Autoren Herbert Gerigk und Theophil Stengel in ihrem Lexikon der Juden in der Musik publik, dass Altmann jüdische Vorfahren hatte und nach NS-Terminologie als „Halbjude“ zu gelten habe. Infolge dessen wurde ihm Publikationsverbot erteilt. Altmann gelang es jedoch zu erreichen, dass der Präsident der Reichskulturkammer, Propagandaminister Goebbels, ihm eine Sondererlaubnis zur weiteren schriftstellerischen Betätigung erteilte, die ihn bis zum Ende der nationalsozialistischen Herrschaft vor weiteren Repressalien schützte. 1945 siedelte Wilhelm Altmann aus dem zerstörten Berlin in das niedersächsische Dorf Wesseln über. Er starb am 25. März 1951, kurz vor seinem 89. Geburtstag, in Hildesheim.

Altmanns Handbuch für Streichquartettspieler, Ausgabe von Heinrichshofen’s Verlag 1972

Die Musik war die lebensspendende Ader in Wilhelm Altmanns Dasein. Über Jahre mag sie verdeckt im Untergrund geschlagen haben, doch trat sie nach und nach immer stärker hervor, bis sie zuletzt sein Leben voll und ganz bestimmte. So sind auch seine Bücher Zeugnisse innigster Liebe zur Musik und zum Musizieren. Bereits vom Umfang her beeindruckt dieses Textkorpus, und noch größer wird die Achtung vor seinem Verfasser, bedenkt man, dass er den allergrößten Teil der Werke, die er darin bespricht, aus eigener praktischer Erfahrung kannte. Die Kammermusik-Handbücher sind somit auch Zeugnis einer lebenslang nie versiegenden Wissbegier. Altmann wollte möglichst viel Musik kennen und möglichst viel guter Musik helfen, zum Erklingen zu kommen. Die Besprechungen zeigen ihn als grundehrlichen Charakter, der mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg hält und deutlich ausspricht, was ihm zusagt und was nicht. Oft legt er dabei auch ein gutes Wort für solche Werke ein, die ihm nicht der öffentlichen Aufführung wert erscheinen, die er jedoch zum häuslichen Musizieren durchaus für geeignet hält – und mehrfach kann man sein Bedauern spüren, wenn er feststellen muss, dass sich ein Meisterwerk neuerer Zeit aufgrund zu hoher spieltechnischer Herausforderungen Dilettantenkreisen nicht mehr empfehlen lässt.

Altmanns Interesse erstreckte sich immer auch auf die Musik seiner Zeitgenossen. Der jüngste im Handbuch für Streichquartettspieler besprochene Komponist, Erwin Dressel, war zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des entsprechenden Bandes 20 Jahre alt, 47 Jahre jünger als Altmann selbst. In der Beurteilung zeitgenössischer Werke zeigt sich freilich, dass Altmann keineswegs einem radikalen Avantgardismus das Wort redete. Modernes Empfinden war für ihn unlösbar mit der Tradition verbunden, und Musik, in der er diese Verbindung nicht finden konnte, fand vor seinen Ohren keine Gnade. War es ihm allerdings möglich, sich in den Stil eines zeitgenössischen Werkes hineinzuversetzen, bejahte er es ausdrücklich. So gestand er etwa Artur Schnabel zu, in seinem Ersten Streichquartett „harmonische Wege ein[zuschlagen], die möglicherweise die Musik und ihre Ausdrucksmöglichkeiten weiterbringen“. Angesichts des „polytonalen, von Intonationsschwierigkeiten strotzenden“ Dritten Quartetts von Frank Bridge fragte er sich zwar: „Was würde wohl Meister Joseph Joachim über dieses Quartett zu Bridge gesagt haben, der in seinem Londoner Quartett eine Zeit Bratsche gespielt hat?“, erblickte jedoch „seelische Werte“ in dem Stück und empfahl Künstlervereinigungen, nicht daran vorüberzugehen. Auch über Bartók, Wellesz, Toch, Milhaud, Jarnach und Hindemith äußerte er sich anerkennend, wenngleich nicht in jedem Fall völlig zustimmend. Arnold Schönberg, Anton von Webern und Ernst Krenek dagegen blieben ihm fremd.

Altmann hat nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass er über die Kompositionen, die er in seinen Büchern vorstellt, ganz subjektiv urteilt. Weder bei den „modernen“, noch bei den älteren Werken braucht man immer mit ihm einer Meinung zu sein. Aber man nehme seine Bücher als Anregungen, die Werkbesprechungen als Empfehlungen eines ungemein erfahrenen Musikers, der in seinem Leben viel gehört und viel gespielt hat! Darin besteht der immense Wert des Lebenswerkes, das uns Wilhelm Altmann hinterlassen hat.

Zur Zeit sind das Handbuch für Klaviertriospieler, das Handbuch für Klavierquartettspieler und das Handbuch für Klavierquintettspieler nur antiquarisch oder über Bibliotheken verfügbar. Keines dieser Bücher wurde bislang neu aufgelegt. Die vier Bände des Handbuchs für Streichquartettspieler wurden 1972, 45 Jahre nach der Erstausgabe der beiden ersten Bände, von Heinrichhofen’s Verlag, Wilhelmshaven, in zweiter Auflage herausgebracht, und sind heute über den Verlag Florian Noetzel GmbH zu beziehen.

[Nobert Florian Schuck, März 2021]

Kraftvolle Töne eines Stillen im Lande

KKE Records, KKE 20001; EAN: 4270001 262509

Für KKE Records macht die Hamburger Camerata unter der Leitung von Gustav Frielinghaus mit zwei Orchesterwerken Kurt Albrechts bekannt: der Symphonie für Streichorchester und Pauken und der Partita für Kammerorchester nach einem Motiv von Heinrich Schütz. Als Violinist spielt Frielinghaus im Duo mit dem Pianisten Jaan Ots eine Chaconne Albrechts.

Blättert man in Erich H. Müllers Deutschem Musiker-Lexikon von 1929, einer den damals lebenden Tonkünstlern gewidmeten Überblicksdarstellung, oder in der von Müller und seiner Ehefrau Hedwig von Asow als Kürschners Deutscher Musiker-Kalender 1954 herausgebrachten Neuauflage dieses Buches, so stößt man auf die Namen zahlreicher Komponisten, die weder zu Lebzeiten, noch danach sonderliche Berühmtheit erlangt haben, und deren Wirkungskreis weitgehend lokal geblieben ist. Manche von ihnen haben auf Nachfrage der Herausgeber ihr vollständiges Werkverzeichnis angegeben. Man liest von einer enormen Anzahl an Kompositionen, die diese „Stillen im Lande“ hinterlassen haben, Werke, die teilweise nie gedruckt, teilweise gar nicht aufgeführt worden sind. Zu Recht, zu Unrecht? Wer wagt es, den Stab über Musik zu brechen, die er nicht kennt?

Dass es sich sehr lohnen kann, entsprechende Nachlässe genauer anzusehen, belegt die vorliegende, bei KKE Records erschiene CD mit Musik Kurt Albrechts. Durch diese unter Leitung des Geigers und Orchesterleiters Gustav Frielinghaus zustande gekommene Einspielung lüftet sich nun ein wenig der Schleier über dem Schaffen eines Komponisten, der nicht einmal in den oben genannten Nachschlagewerken vertreten ist. Nach dem zu urteilen, was man über Albrechts Leben weiß, war er tatsächlich ein „Stiller“: „Selbstzeugnisse sind nur wenige überliefert. […] Das Erfinden von Musik war sein Weg, sich auszudrücken. Ins Rampenlicht hat es ihn dabei nie gedrängt“, heißt es im Begleittext. 1895 in Ricklingen bei Hannover geboren, wurde Albrecht frühzeitig von seinem Vater, einem Pastor, ans Orgelspiel herangeführt. Er lebte nach dem Ersten Weltkrieg in Berlin und ging 1925 als Organist nach Dresden. 1928 nach Stuttgart übergesiedelt, wirkte er dort vor dem Siegeszug des Tonfilms als Kinokapellmeister und ließ sich im Rundfunk regelmäßig an Orgel, Cembalo oder Klavier hören. Im Zweiten Weltkrieg wurde Albrechts Wohnung durch einen Luftangriff zerstört, wobei ein anscheinend nicht geringer Teil seiner Kompositionen verbrannte. 1971 starb der Komponist in Rommelshausen nahe Stuttgart.

Wie viel Musik Kurt Albrecht insgesamt geschrieben hat, lässt sich aufgrund der Kriegsverluste nicht mehr genau bestimmen. Es scheint aber glücklicherweise noch viel erhalten zu sein. Aufnahmen zweier Streichquartette, Nr. 2 und Nr. 3, brachte der Sohn des Komponisten nach dessen Tod als private LP-Pressung heraus (Wer sie antiquarisch findet, der greife zu!). Im Beiheft der neuen CD liest man von „zahlreichen kirchenmusikalischen Stücken“, einer Symphonie in f-Moll, die Albrecht 1948 mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Stuttgart aufnahm, sowie „Werken für großes Orchester“ aus seinen letzten Lebensjahren. Wann die drei für KKE Records eingespielten Kompositionen entstanden sind, weiß man nicht. Die Chaconne für Violine und Klavier trägt die Opuszahl 33, während die Symphonie für Streichorchester und Pauken ebenso unnummeriert geblieben ist wie die Partita für Kammerorchester über ein Motiv von Heinrich Schütz.

Dass Albrechts Musik größere Beachtung verdient als sie – aus welchen Gründen auch immer – zu Lebzeiten ihres Schöpfers gefunden hat, zeigt sich vor allem anhand der Streichersymphonie, einem viersätzigen Werk von 40 Minuten Dauer. Bereits in den ersten Takten zeigt sich, dass Albrecht bevorzugt polyphon denkt und die Stimmen mit Vorliebe in scharfe Dissonanzreibungen hineinsteuert. Im Verlauf des 17-minütigen Kopfsatzes kommt es zu schroffen Wechseln zwischen eruptiven und zurückhaltenden Abschnitten. Genau in der Mitte erklingt, gewissermaßen als Ruhepunkt, ein archaisierender Kantionalsatz. Die leise Musik des Anfangs leitet über zu einem kurzen, flackernd vorüberhuschenden Scherzo. Bezaubernd introvertiert klingt der langsame dritte Satz, dessen chromatische Kontrapunktik sich immer wieder in altmeisterliche Kadenzen und sprechende Pausen auflöst. Als Finale dient eine energisch voranschreitende Passacaglia.

Albrechts Vorliebe für barocke Satztechnik zeigt sich noch deutlicher in der Partita für Kammerorchester. Den sechs kurzen Sätzen, die zusammen nur 13 Minuten dauern, liegt sämtlich ein Motiv aus Heinrich Schützens Lukas-Passion zugrunde, das Albrecht den typischen Charakteren barocker Suitensätze gemäß variiert und durchführt. Auf ein Präludium in der Art einer französischen Ouvertüre folgen Allemande, Courante, Sarabande, Gavotte und Gigue. Stilistisch ist das Werk der Streichersymphonie nahe verwandt, doch zeigt sich Albrecht hier von seiner humorigen Seite.

Die zehnminütige Chaconne op. 33 für Violine und Klavier komponierte Albrecht „nach einem Motiv von Dr. K. Kremers“, einem befreundeten Chemiker, der ein begabter Amateurgeiger gewesen sein muss. Verglichen mit den beiden Orchesterkompositionen fällt die kaum alterierte d-Moll-Tonalität auf, was die Frage aufwirft, ob es sich bei der Chaconne um ein Frühwerk handelt. Vielleicht hat Albrecht, wie der gleichaltrige Hindemith, nur in jungen Jahren eine Opuszählung verwendet? Es wäre auch vorstellbar, dass der Komponist auf einen hausmusikalischen Rahmen Rücksicht genommen hat, oder dass er den Einfall Dr. Kremers‘ möglichst stilrein verarbeiten wollte. Jedenfalls handelt es sich auch bei dieser Chaconne um ein hörenswertes Stück. Ihr Thema ist ungewöhnlich lang, die Zahl der Variationen entsprechend klein. Am Ende klingt sie beruhigt in Dur aus.

Gustav Frielinghaus bewährt sich gleichermaßen als Geiger im Duo mit dem Pianisten Jaan Ots, wie als Konzertmeister der ohne Dirigenten spielenden Hamburger Camerata. Angesichts der fehlenden Aufführungstradition der dargebotenen Werke ist es sehr erfreulich, dass sie hier in qualitativ durchweg hochstehenden Einspielungen erstmals auf Tonträger gebannt worden sind. Möge diese CD dazu ermutigen, dem Schaffen des Komponisten Kurt Albrecht weiterhin Aufmerksamkeit zu schenken!

[Norbert Florian Schuck, März 2021]

Schubert: depressiv, lyrisch und dann doch wieder versöhnt

Ars Produktion Schumacher, ARS 38 312; EAN: 4 260052 383124

Drei Sonaten in A von Franz Schubert werden durch die Pianistin Elena Margolina für die Ars Produktion eingespielt. Sie beginnt mit der Klaviersonate a-Moll D 784 aus dem Jahr 1823, kontrastiert mit der pastoralen A-Dur-Sonate D 664 (1819) und schließt mit der umfangreichen, weitschweifenden a-Moll-Sonate D 845, die Schubert 1825 den Weg wies in Richtung seiner monumentalen, bedauerlicherweise letzten Sonaten.

Wer unbefangen dem Klavierschaffen von Franz Schubert gegenübersteht, mag zunächst verdutzt sein von den weiten Formen, dem scheinbar kontrastlosen Themengebrauch und den damit verbundenen teils eigenwillig erscheinenden Proportionen. Die Noten wirken geradezu kahl, wenn man Mozart und Beethoven gewohnt ist. So verwundert nicht, dass die bedeutenden Werke dieses Meisters erst im 20. Jahrhundert voll zur Blüte kamen, im großen Stile vor allem entdeckt durch die Pianisten Eduard Erdmann und Artur Schnabel, die zudem mit die vollendetsten Aufnahmen schufen. Und bis heute werden die meisten der Werke nur selten gespielt, höchstens die Impromptus und die letzten drei Sonaten finden regelmäßigeren Einzug in Konzertprogramme; von den pianistisch größtenteils undankbaren, schwer greifbaren und noch schwieriger auswendig zu lernenden früheren Sonaten halten die meisten Abstand.

Alfred Brendel nannte Schubert einen komponierenden Schlafwandler, was die formalen Konstruktionen durchaus griffig beschreibt: anders als Beethoven, der ein architektonisches Gerüst schuf und mit den Kontrasten jonglierte, scheint sich Schubert in seinen Kompositionsprozess zu verlieren, prozessiert sein Material immer weiter durch und führt es geradlinig fort. Mit Willkür hat das Konzept dabei nichts zu tun, die Musik schreitet geradlinig und zusammenhängend voran, spannt dabei große Bögen und wirkt in der Gesamtheit doch stimmig ausproportioniert. Nichtsdestoweniger stellt eine Adäquate Darbietung dieser Werke eine enorme Herausforderung dar: schnell können die, wie Schumann es bezeichnete, „himmlischen Längen“ langatmig wirken oder die aneinandergereihten Elemente auseinanderfallen. Schuberts Werke erscheinen als epische Erzählungen, die in die Ferne blicken und doch jedes Detail würdigen. Dies pianistisch umzusetzen, geht an die Grenzen des mental Erfassbaren.

Elena Margolina widmet sich schon lange dem Klavierschaffen Schuberts und brachte bei der Ars Produktion bereits mehrere Alben mit dessen Musik heraus. Entsprechend vertraut wirkt sie in dieser Aufnahme nicht nur mit den Stücken an sich, sondern mit der allgemeinen Stimmung und der doppelbödigen Aura, die Schuberts Musik umgibt. So handelt es sich allgemein um eine wirklich gelungene Einspielung der drei Sonaten in A, welche die Formen bewältigen und den erzählerischen Gestus stimmig vermitteln.

Eine bei Schubert komplexe Frage ist die nach den Expositionswiederholungen: Selbst bin ich der Auffassung, der vorwärtstragende Duktus und die melodiöse Geradlinigkeit verweigern das erneute Beginnen von vorne, unterstrichen durch die enorme harmonische Fortschreitung. (Den Extremfall stellt die letzte Sonate, in B-Dur, dar, bei welcher Schubert für die Wiederholung eine viele Takte umspannende Rückführung komponieren musste, um harmonisch zum Ausgangspunkt zurückzukehren: Es darf die Behauptung aufgestellt werden, diese Takte inklusive der Wiederholung dürfen getrost weggelassen werden, da sie nur dem Formideal der auslaufenden Wiener Klassik geschuldet sind und sich Schubert schlicht nicht traute, dieses auf dem Papier zu durchbrechen, während seine Musik doch nach ganz anderen Wegen schrie. Ausschließlich in den Impromptus wagte er, angespornt von der hierin erlangten formellen Freiheit, den Ausbruch.) Die munter-spritzige A-Dur-Sonate D 664 erlaubt es durchaus, die Exposition zwei Mal zu spielen, schwieriger wird es bei der umfangreicheren Sonate a-Moll D 845, wo durch die Wiederkehr ein deutlicher Bruch entsteht. Klar erscheint es schließlich bei der Sonate a-Moll D 784, die zum Ende der Exposition so weit prozessiert ist, dass eine Umkehr wie fehl am Platz wirkt: Hier hätte Elena Margolina eher das Tempo (Moderato!) ein kleines Stück herunterfahren, vom Alla Breve auf den vorgeschriebenen 4/4-Puls zurückkehren, und dafür die Form durch Auslassen der Wiederholung straffen können.

Den Kopfsatz der Sonate D 784 nimmt Margolina rasch und lebendig, behält stets die drohenden Elemente im Hinterkopf und bringt so eine intensive Darbietung hervor. Die Kontraste lässt sie durchaus aufklaffen, ohne dabei – und dies sei besonders hervorgehoben – im Anschlag Härte zu zeigen. Zu keiner Zeit lässt sie die Akkorde und selbst die Akzente knallen, sondern behält immer eine weiche Note, die Schuberts von der menschlichen Stimme herrührender Kompositionsweise entspricht. Schubert sprach selbst aus: „[W]eil ich das vermaledeyte Hacken, welches auch ausgezeichneten Clavierspielern eigen ist, nicht ausstehen kann.“ Damals wie heute wahre Worte, und so erfreut Elena Margolinas abgerundete Tongebung umso mehr. Auch ihr Pianissimo, namentlich gegen Ende des Kopfsatzes und im Mittelsatz, überzeugt durch lyrische Klanggestaltung und vielschichtige Dynamikabwägung. Das Finale braust voran und auf, Elena Margolina nimmt es als stürmisch-unruhige Fantasie und nimmt sich einige kleine Freiheiten, die aber der Musik sehr zugute kommen. Einzig stört die durch Pausen unterbrochene Linie nach den Fortissimo-Doppelläufen: denn sie wirkt wie auf den Taktschwerpunkt komponiert und nicht, wie in den Noten steht, eben dagegen. Gleiches fällt teils in der anderen a-Moll-Sonate auf. Solch synkopische Wendungen sind freilich nur schwerlich umzusetzen, dafür frappieren sie dann umso mehr.

Die späteste der drei hier zu hörenden Sonaten, die in a-Moll D 845, besticht unter den Fingern von Elena Margolina durch unerbittlichen Zug nach vorne ohne Rast und Halt, was eine enorme Wirkung erzielt. Besonders die brodelnden Crescendopassagen seien hervorzuheben, die sich nie voll entladen, sondern in voluminöse Forti und Fortissimi münden, was den Ausdruck unterstreicht. Der Andantesatz singt förmlich und wirkt auch in den virtuosen Variationen schlicht und zärtlich. Innerlich aufwühlend braust das Scherzo auf, das uns packt und bis zum Ende nicht mehr loslässt, obgleich es mit siebeneinhalb Minuten Spielzeit ein für das knappe thematische Material recht langer Satz ist. Ein finales Rondo rundet die Sonate ab, auch dieses drängt nach vorne, basiert auf rein introvertiertem Effekt ohne jegliche Äußerlichkeit. Elena Margolina nimmt es in einem großen Zug, spannt einen einzigen Bogen.

Gegenüber den beiden düsteren Mollsonaten fungiert die A-Dur-Sonate wie ein versöhnlicher Gegenpol: eines der ganz wenigen wirklich durchgehend friedlichen Werke Schuberts. Ein unscheinbarer Moment muss an dieser Stelle erwähnt werden, nämlich die Oktavenpassage des Kopfsatzes, die selten so stringent und lyrisch zu hören ist wie in dieser Einspielung Elena Margolinas.

[Oliver Fraenzke, März 2021]

Gesanglich und nobel

Aparté, AP238; EAN: 5 051083 162159

Fabrizio Chiovetta hat für Aparté die drei letzten Klaviersonaten Ludwig van Beethovens (E-Dur op. 109, As-Dur op. 110, c-Moll op. 111) aufgenommen.

Nachdem er in den letzten Jahren je eine CD mit Werken Bachs, Mozarts und zeitgenössischer osteuropäischer Komponisten vorgelegt hatte, widmet sich der schweizerische Pianist Fabrizio Chiovetta mit der vorliegenden Einspielung erstmals dem Schaffen Ludwig van Beethovens. Das Programm besteht aus den um die Jahreswende 1821/22 kurz hintereinander entstandenen drei letzten Klaviersonaten opp. 109–111.

In den Sonaten op. 109 und op. 110 gelingen Chiovetta sehr ausgewogene Kopfsätze, was nicht zuletzt an seiner Fähigkeit zu kantablem Spiel liegt. Sein Anschlag ist nie grob, auch die kraftvoll vorzutragenden Abschnitte wahren die Noblesse. Die langen Melodiebögen im Moderato des op. 110 entfalten sich unter seinen Händen ungezwungen und ganz natürlich. Im Kopfsatz des op. 109 begreift er Beethovens Tempowechsel zwischen Vivace (Anfangsthema) und Adagio (Seitensatz) völlig zurecht nicht als Aufforderung, dem Stück ein zerrissenes Erscheinungsbild zu verleihen. So richtet er die Eingangstakte gezielt derart aus, dass sie im Beginn des Seitensatzes ihren Höhepunkt finden, und hält in den Adagio-Takten die Spannung aufrecht, indem er das metrische Schwer-Leicht-Gefälle hörbar macht. Chiovettas dezente Rubati verwischen nie das jeweilige Grundtempo und wirken im Kontext stets geschmackvoll. Die raschen Mittelsätze beider Sonaten haben den nötigen Schwung. Zu Beginn des Allegro molto von op. 110 ließe sich der „Frage-und-Antwort“-Effekt noch etwas stärker herausgearbeitet denken. Dafür überzeugt der rezitativische Beginn des Schlusssatzes der gleichen Sonate umso mehr. In der Fuge behält Chiovetta durchweg die Übersicht über das polyphone Geschehen.

Angesichts der andernorts so trefflich eingesetzten Gesanglichkeit verwundert die Art ein wenig, mit der Chiovetta die Themen der finalen Variationssätze von op. 109 und op. 111 vorträgt. Beide wirken vergleichsweise statisch, da dem Pianisten die einzelnen Zählzeiten der Takte offenbar wichtiger sind als die Gewichtung der Takte untereinander. Allerdings verschwindet in beiden Sätzen dieser Eindruck sofort mit der ersten Variation, wenn der Komponist beginnt, die Melodie mit stärkerer Binnenbewegung zu füllen. Ansonsten lässt sich über Chiovettas Darbietung der Variationen nur Gutes sagen. Dies gilt auch für den ersten Satz des op. 111. Im Bezug auf die Einleitung ist namentlich der Spannungsaufbau in der zweiten Hälfte samt zielgerichteter Überführung ins Allegro zu nennen. Im Allegro selbst zeigt sich der Pianist erneut als meisterhafter Tempogestalter, der die sanfteren Episoden bruchlos in ein ansonsten unwiderstehlich stringentes Gesamtgeschehen einzufügen weiß.

Im Großen und Ganzen bietet Fabrizio Chiovettas Auseinandersetzung mit den letzten Beethoven-Sonaten also sehr erfreuliche Ergebnisse. Die Anfang 2020 aufgenommene und im Herbst desselben Jahres erschienene CD gehört ohne Zweifel zu den gelungenen Beiträgen zum Beethoven-Jubiläum.

[Norbert Florian Schuck, März 2021]

Der schmale Pfad hindurch

Farao Classics, B 108108; EAN: 4 25438 081083

Hinter dem Titel „Skylla und Charybdis“ steckt eine Aufnahme von Kammermusikwerken des Komponisten und Cellisten Graham Waterhouse. Zu hören sind seine Rhapsodie Macabre für Klavier und Streichquartett, Bei Nacht op. 50 für Klaviertrio, Trilogy für Klavierquintett, Bells of Beyond für Klaviertrio, Kolomyjka op. 3a und Skylla und Charybdis je für Klavierquartett. Es spielen Katharina Sellheim am Klavier, David Frühwirth und Namiko Fuse an den Violinen, Konstantin Sellheim an der Viola und der Komponist selbst am Violoncello.

Die Kammermusik spielte für den 1962 in London geborenen und in Deutschland lebenden Komponisten und Cellisten Graham Waterhouse seit dem Beginn seiner Laufbahn eine wichtige Rolle. Die wechselnden Verhältnisse der Stimmen, das Changieren von Führungsrollen, die gegenseitige Orientierung und das generelle Wachsen aneinander inspirieren ihn zu Werken unterschiedlichster Ausrichtung. Mit dem Titel der CD „Skylla und Charybdis“ thematisiert er sein eigenes Ringen um den Kompositionsprozess. Hinter den Namen verbergen sich die Meeresungeheuer aus der Odysseus-Sage der griechischen Mythologie, zwischen denen der Seefahrer hindurchschiffen muss, ohne einem dieser zu nahe zu kommen und dadurch von ihnen in die Tiefe gerissen und verschlungen zu werden. Als Redewendung etablierte sich „Du hast die Wahl zwischen Skylla und Charybdis“ als „Du musst dich für eines von zwei Übeln entscheiden“. Für Graham Waterhouse stehen diese beiden bedrohlichen Ufer für verschiedene, jeweils gegensätzliche Aspekte des Komponierens in der heutigen Zeit: Tradition und Fortschritt, Tonalität und Atonalität, Regel und Freiheit. Wie Odysseus schifft er nun zwischen den gewaltigen Ungeheuern und bahnt sich seinen Weg. Dabei arten seine Werke vollkommen unterschiedlich aus, jedem Werk verleiht er eine andere Richtung und geht vollkommen unbefangen an es heran. Seinem facetten- und farbenreichen Kompositionsstil entspringen so ganz verschiedenartige Werke voll Frische und Lebendigkeit, die das Hören nie ermüden lassen.

Durch seine eigene rege Konzerttätigkeit als Cellist kommt Graham Waterhouse auch viel in Kontakt mit führenden Musikerinnen und Musikern, was die (für eine CD mit zeitgenössischer Musik erstaunlich) prominente Besetzung erklärt: David Frühwirth, seit diesem Monat Violinprofessor in Wien, ist ein gefragter Geigensolist und brachte durch Konzerte und Aufnahmen immer wieder auch seltenes Repertoire zu den Hörern. Die Geschwister Katharina und Konstantin Sellheim treten regelmäßig als Duo in Erscheinung, spielen altes wie neues Repertoire für Viola und Klavier; Katharina Sellheim ist zudem eine renommierte Liedbegleiterin. Namiko Fuso spielt zweite Geige bei den Münchner Philharmonikern und tritt ebenso als Kammermusikerin in Erscheinung, vor allem als Mitglied des Parnass-Quartetts.

Die CD beginnt mit der fünfsätzigen Rhapsodie Macabre, einer Art „Dialog-Klavierkonzert“ mit Streichquartett. In der Konzeption dieses Werks spiegelt sich Waterhouses Fahrt durch die Meerenge der Ungeheuer wider: Er sieht sich einerseits als Bestandteil der Tradition der Totentanzkomponisten inklusive des Einwebens der berühmten Dies-Irae-Melodie, andererseits beschreitet er innerhalb dieser gänzlich neue Wege. Als Grundelement dienen markante Motive und auch Klangfarben, die Waterhouse gegeneinander ausspielt, dynamisch auflädt und kulminieren lässt. Ein treibend rhythmisches Element zieht in seinen Bann. Interessanterweise wirkt der Tod bei aller Wildheit und Ungezügeltheit selten furchteinflößend, sondern bisweilen gar sympathisch; er scheint schelmisch zu lachen und sich diabolisch zu amüsieren.

Umso düsterer erscheint Bei Nacht op. 50, das mit dem Genre der Nocturne nichts mehr gemein hat. Inspiriert durch Kandinskys Ölgemälde Die Nacht mit deren gespenstischen Figuren schafft Graham Waterhouse eine imaginäre, furchteinflößenden Szenerie. Nicht eine Sekunde kommt Ruhe oder gar Behaglichkeit in der dunklen Landschaft auf, immer wieder überraschen flüchtige, unstete Figuren den Hörer und treiben durch ihre Unregelmäßigkeit die Spannung trotz der niedrigen Grunddynamik und der durchgehenden Introversion auf die Spitze.

Ein aufheiterndes Zwischenspiel stellt Trilogy für Klavierquintett dar, in welchem Graham Waterhouse anlässlich eines deutsch-französischen Galakonzerts die Nationalhymnen dieser beiden Länder als Material verwendet und sie in ein einträchtiges Miteinander verschmelzen lässt. Und plötzlich funkt auch die Hymne seines Heimatlandes England mit hinein und ergänzt das Stück zu einer Trilogie, einem harmonischen Zusammenspiel dreier Länder.

Bells of Beyond (Glocken des Jenseits) komponierte Waterhouse zum Angedenken an Dafydd Llywalyn, der 2013 verstarb. Es handelt sich um ein misteriös-gruseliges, dabei flächig schwebendes Werk, das die Schwingungen von Glockenklängen zum Stillstand zu zwingen scheinen. Obgleich es durch erweiterte Spieltechniken und geräuschhafte Passagen als „stilistisch modernstes“ Werk dieser Einspielung wirkt, basiert es auf melodiös-thematischem Material und führt auch die Klangflächen wie Themen durch. Erneut begibt sich Graham Waterhouse auf den schmalen Pfad zwischen den beiden Polen, zwischen Skylla und Charybdis.

Ein zweites Intermezzo stellt Kolomyjka op. 3a dar, bereits 1980 komponiert, als Graham Waterhouse gerade einmal 18 Jahre alt war. Im direkten Kontrast zu Bells of Beyond ist dies das tonalitätsgebundenste Werk dieser Einspielung, beschwingt durch seine heitere Stimmung und den tänzerischen Duktus, der die Stimmung eines polnisch-ukrainischen Tanzes evoziert.

Das titelgebende Werk Skylla und Charybdis für Klavier und Streichtrio steht an finaler Stelle dieser CD. Obgleich dem viersätzigen (jedoch in Einheit ohne Pausen vorzutragenden) Werk kein Programm zugrunde liegt, tun sich allein aufgrund des Titels sogleich abstrakte Bilder auf: Als Hörer sieht man das abgrundtiefe Meer, die sich schlängelnden Ungeheuer aufbäumen und um Vorherrschaft ringen, spürt die Gischt auf der Haut und die Furcht der Seefahrer aufwühlen. Jenseits dieser Bilder ist es vor allem die Bewegung, die den Höreindruck ausmacht; die Musik steht nie still, sondern kriecht, schlängelt, richtet sich auf, stürzt hinab, in stetigem Fluss. Dabei wägte Waterhouse präzise die Proportionen ab und schuf ein in sich völlig stimmiges, kompaktes Werk von überbordender Wirkung.

Das Facettenreichtum der Stücke spiegelt sich auch im Spiel der Musiker wider, die hingebungsvoll auf den vielseitigen Personalstil von Graham Waterhouse eingehen. In sämtlichen zu hörenden Konstellationen vom Trio bis zum Quintett agieren die Musiker im einheitlichen Atem und klanglich wohl austariert. Besonders die Rhapsodie Macabre und das Titelstück stellen das Zusammenspiel aufgrund der stetigen Führungswechsel und der vertrackten Dialogbeziehung zwischen den einzelnen Instrumenten auf eine harte Probe, welcher die fünf Instrumentalisten jedoch spielend gewachsen sind. Gerade das Klavier mischt sich fein mit dem kontrastierenden Streicherklang. Und auch die Streicher verlassen sich nicht rein auf einen homogenen Klang, sondern nutzen gerade die verschiedenartige Physionomie der Instrumente zur Herausmeißelung feinster Kontraste, die das Vielseitige im Einheitlichen hervorheben.

[Oliver Fraenzke, März 2021]

[Link zum gestreamten Konzert mit CD-Präsentation und anderen Werken von Graham Waterhouse]

Rzewski setzt der Musik des Widerstands erneut ein Denkmal

Coviello, COV 92021; EAN: 4 039956 920212

Erneut hat sich der amerikanische Komponist Frederic Rzewski (*1938) in einem großen Klavierzyklus mit Liedern des politischen Protests auseinandergesetzt. Die 2016 entstandenen sieben „Songs of Insurrection“ knüpfen bei allen Unterschieden doch klar an Rzewskis Erfolgsstück „The People United Will Never Be Defeated!“ an und bieten immer auch ausdrücklich Raum für Improvisation. Die Ersteinspielung des in Los Angeles wirkenden Pianisten Thomas Kotcheff ist meisterhaft, auch wenn die „Improvisationen“ zweifelsfrei im Vorhinein einstudiert waren.

Frederic Rzewski, 1938 in Massachusetts geboren, hatte als schon in jungen Jahren ausgezeichneter Pianist ein Faible für die Avantgarde; so war er auch einer der ersten, die regelmäßig Stockhausens Klavierstück X im Konzert spielten. Als Komponist bei keinen Geringeren als Walter Piston, Roger Sessions und Milton Babbitt ausgebildet, wurde er allerdings kein dogmatischer Serialist, sondern hat – geprägt durch sein Interesse für Philosophie und die starke Empathie für alles gegen Unterdrückung Aufbegehrende – nicht selten auch weitgehend tonale Musik geschrieben, die dann selbst bei eher konservativem Publikum ihre unmissverständlichen, politischen Botschaften herüberbringen konnte. Musterbeispiel hierfür sind sicher seine gewaltigen, hochvirtuosen 36 Variations onThe People United Will Never Be Defeated!“ (1975) – mittlerweile ein vielgespielter Klassiker des modernen Klavierrepertoires. Die hatte er über einen damals – und mit den unterschiedlichsten Textierungen bis heute – hochaktuellen Song des chilenischen Straßenprotests gegen die Pinochet-Diktatur für die Pianistin Ursula Oppens komponiert: als Programm-Ergänzung zu Beethovens Diabelli-Variationen auf Augenhöhe!

Doch auch ohne Rückgriff auf Fremdmaterial finden sich bei Rzewski immer wieder Zeugnisse politischen Protests: etwa in Stop the War! (Mile 61 aus „The Road“) die spontan ausgedrückte Wut über den 2003 angezettelten Irak-Krieg. Der 2016 komponierte und 2017 vom belgischen Pianisten Daan Vandewalle aus der Taufe gehobene Zyklus Songs of Insurrection knüpft insofern wieder mehr an The People United… an, als dass hier erneut – zumindest in den jeweiligen Ursprungsländern auch sehr bekannte – historische Lieder des Widerstands eindrucksvoll nicht nur künstlerisch überhöht werden: Vielmehr werden sie durch Rzewskis intelligentes Vorgehen, das vom neobarocken Kontrapunkt, Atonalität, amerikanischem Blues und Jazz, akkordischem Choral bis hin zur reinen Improvisation stilistisch immer passende, auf alle Fälle äußerst wirkungsvolle Verarbeitungsvorgänge findet, gewissermaßen zu allgemeinverständlichen Symbolen menschlichen Freiheitsdrangs.

Das verwendete Material reicht quasi um den gesamten Globus: Von den Moorsoldaten politischer Gefangener des NS-Konzentrationslagers Börgermoor führt uns Rzewski zu Katjuscha, das die russischen Soldaten im Kampf gegen die Wehrmacht anfeuerte, aber auch von italienischen Antifaschisten gesungen wurde, über das Spiritual Ain’t Gonna Let Nobody Turn Me Around der US-Bürgerrechtler, Foggy Dew aus dem Osteraufstand der irischen Republikaner von 1916, dem vom portugiesischen Salazar-Regime verbotenen Grândola, Vila Morena und Los Cuatros Generales des spanischen Widerstands bis zu Oh Bird, oh Bird, oh Roller des koreanischen Bauernaufstandes von 1894. Anders als in The People United…, wo der Komponist nur nach den 36 Variationen als Kadenz eine Improvisation vorschlägt, gibt es hier in jedem der sieben Stücke Raum dafür – meist gegen Ende. Nun fordert Rzewski, dass das Improvisieren optional ist und niemals geplant werden sollte, einschließlich der „Entscheidung, zu improvisieren oder es zu lassen.“

Der junge US-Pianist Thomas Kotcheff(Jahrgang 1988) nutzt diese Improvisationsangebote recht unterschiedlich; von ganz kurzen Überleitungen von kaum 15 Sekunden bis hin zu ausufernden „Eigenkompositionen“ – gut vier Minuten Blues im Spiritual (No. 3), und gar 6 Minuten im abschließenden Stück, wo Rzewski auch ausdrücklich eine längere Impro samt der Verwendung von Vogelstimmen wünscht. Das passt alles blendend, ist häufig auch pianistisch eindrucksvoll virtuos – aber, wie so oft in solchen Fällen (inklusive Stücken, wo Komponisten Aleatorik, also Zufallsentscheidungen fordern), sind das keine „echten“ Improvisationen: Wie der Vergleich der CD-Aufnahme vom Februar 2020 mit einem Live-Konzert des Pianisten vom März 2019 zweifelsohne beweist, spielt Kotcheff beide Male fast „wörtlich“ dasselbe, hat seine „Gewürze“ wohl brav auswendig gelernt. Wie sagte doch bereits der erste deutsche Fernsehkoch: „Da hab‘ ich schon mal was vorbereitet…“.

Sei’s drum – nicht nur dies gerät Kotcheff äußerst geschmackvoll, sondern die Intensität seines Spiels insgesamt, das Verständnis für die musikalischen Prozesse, auch sein Sinn für die Passagen, wo nicht auf der Tastatur gespielt wird, sondern Saiten gezupft oder Holz bzw. Metallverstrebungen im Flügel bearbeitet werden – auch so ein Markenzeichen Rzewskis – ist wunderbar entwickelt. Die Musik des neuen Zyklus ist zwar nicht so vordergründig virtuos wie in The People United…, dennoch pianistisch höchst anspruchsvoll. Klanglich gelingt Kotcheff stets, die großen, oft abrupten Dynamikunterschiede als besondere Spannungsmomente zu genießen. Und immer schwingt die Empathie nicht nur für die Musik, sondern auch für deren ursprüngliche Schöpfer in krisenhaften Situationen mit – das ist mehr als nur schön, sondern von tiefem Humanismus geprägt, der sich so unmittelbar dem Hörer vermittelt.

Die Zukunft wird zeigen, ob Rzewski mit seinen Songs of Insurrection abermals ein Klassiker gelungen ist. Von der Wirkung her haben die Stücke durchaus das Zeug dazu; darüber hinaus kann man sie sicher auch einzeln aufführen, obwohl praktisch alle Widerstandslieder – sicher nicht zufällig – unter anderem als kleine, aber sehr auffällige Gemeinsamkeit einen zum Ausgangston zurückkehrenden Quartsprung abwärts beinhalten, der den Zyklus zudem als Ganzes irgendwie zusammenhält. Kotcheffs Ersteinspielung kann jedenfalls schon mal überzeugen; dazu muss man übrigens absolut kein „Avantgarde-Hörer“ sein; diese Musik ist sofort verständlich.

[Martin Blaumeiser, März 2021]

Ein Fenster ins Studio

Schott; ED 22116; ISBN: 978-3-7957-0872-6

In seinem Einführungswerk „Crashkurs Musikproduktion“ bringt uns Friedrich Neumann einem Gebiet näher, dass vor allem von klassischen Musikern weitgehend gemieden wird: Aufnahmetechnik. Was für einen Pop- oder Rockmusiker zumindest zu einem gewissen Teil als Alltag erscheint und dem Jazzer immerhin teilweise vertraut wirkt, mag klassische Musiker schon beim ersten Anblick abschrecken: verschiedenartige Kabel, Knöpfe, Anschlüsse, Geräte, diffizile Software und viel zu viele technische Möglichkeiten der Klangbearbeitung. Dabei will man doch nur den Instrumenten- oder Stimmklang so natürlich wie möglich festhalten! Doch dass man gerade dafür vielseitiges Wissen braucht, erklärt sich wohl von selbst. Und Friedrich Neumanns Buch darf als glänzende Möglichkeit angesehen werden, die Ängste vor diesem Gebiet zu überwinden und das Interesse an Aufnahmetechnik zu wecken.

Egal, ob man sich selbst ins Studio stellen will, oder einfach nur eine Übersicht über die gängigsten Prozesse der Musikproduktion erhalten will, dieses Büchlein stellt einen idealen Einstieg dar. Wir werden bewahrt vor einer Flut an für den Laien überflüssigen Informationen, die wir nicht verwerten könnten, sondern lesen ausschließlich über das, was für den Beginn von Nöten ist. Natürlich ersetzt der Crashkurs keine entsprechende Ausbildung in dem Bereich und gibt auch keinen Einblick in die tatsächliche Studioarbeit mit konkreten Programmen oder Geräten – doch wie Friedrich Neumann dazu schreibt: Soft- wie Hardware entwickeln sich so schnell weiter, dass das Buch veraltet wäre, bevor es überhaupt erscheinen kann. Entsprechend bleibt er bei einem generellen Überblick und schematisiert vor allem die Softwareoberflächen allgemeinverständlich, was man später in der Praxis gut auf die jeweiligen Programme übertragen kann.

Das Wissen wird kompakt und gut gegliedert vermittelt: Jedes Kapitel erhält eine andere Grundfarbe als Schema, so dass man auf den ersten Blick das Gesuchte findet. Eine Audio-CD mit einer Laufzeit von knapp fünfzehn Minuten zeigt praktisch, was theoretisch beschrieben wird. Schaubilder und schematische Darstellungen verbildlichen jeden Abschnitt, so dass eine vielseitige Informationsaufnahme gewährleistet wird. Auch als technikunerfahrener Leser versteht man jeden Schritt und jede der beschriebenen Funktionen; man muss erstaunlich wenig lesen, sondern kann vieles den Abbildungen entnehmen. Allgemein ist das Buch sehr aufwändig und wohlproportioniert gestaltet, wirkt mit einem Ladenpreis von 15,50 € im Shop von Schott gar als Schnäppchen.

Das Buch beginnt mit einem verknappten Einblick in die Aufnahmegeschichte vom Phonographen und dem Grammophon bis hin zu heutigen digitalen Medien; dabei konzentriert sich Neumann auf die wichtigen, marktführenden Apparaturen und lässt einige Versuche auf der Seite, die sich weniger etablieren konnten. Von dort steigen wir ohne Umwege in die Musikproduktion selbst ein, wobei Schritt für Schritt von der Aufnahme zum fertigen Mix vorgegangen wird. Deshalb fängt der Crashkurs mit der Mikrofonisierung an, stellt zunächst unterschiedliche Typen von Mikrofonen mit deren Eigenschaften sowie Vor- und Nachteilen vor, und widmet ein weiteres Kapitel den verschiedenartigen Aufstellungsmöglichkeiten, macht dabei vor allem auf geläufige Fehler aufmerksam. An dieser Stelle hätte ich mir noch ein paar CD-Beispiele gewünscht, auf dem Begleitmedium hören wir nur je zwei Möglichkeiten der Mikrofonisierung bei Gitarre und Kontrabass (Steg und Schallloch). Für besonders wichtig halte ich die vorgestellten Techniken zur Aufnahme mehrerer Musiker, die auch den Laien sofort vermeiden lässt, einen Teil des Klangkörpers im Schallschatten aufzustellen. Auch für gesprochenen Text lernen wir unter anderem die richtige Manuskriptaufstellung, die ansonsten wohl kaum bedacht werden würde.

Weiter geht es mit der Leitungstechnik. Wer einmal in einem Rockstudio war oder auch den Aufbau eines Stagesets beobachten konnte, weiß, wie viele unterschiedliche Kabel, Verlängerungen und Stecker es gibt. Nach nur vier Seiten dieses Buchs sind alle Rätsel diesbezüglich gelöst, wir kennen alle wichtigen Klinken und Kabeltypen, wissen sogar, welche Kabel gegen möglichen Datenverlust eine gewisse Länge nicht übersteigen dürfen.

Die Fakten über Akustik im Raum dürften wohl den meisten Musikern bekannt sein, schließlich muss der eigene Probenraum ja zumindest über ein paar der akustischen Eigenschaften verfügen, die den Klang lebendig werden lassen; dennoch inspiriert die Zusammenstellung der schnell umsetzbaren Kniffe für bessere Akustik, das Probenzimmer noch umzugestalten.

Nun verlassen wir die greifbare Ebene, denn die Signale werden an dieser Stelle digital umgewandelt, was besonders in Bezug auf das Audio-Interface besonders umfassend besprochen wird. Für sämtliche Anschlüsse wird die Leitungstechnik wiederholt, was einen sehr willkommenen Rückblick darstellt und zugleich einer praktischen Anleitung entspricht. Dem Abhören wird ein eigenes Kapitel gewidmet, wo auch auf Kopfhörertypen und die Aufstellung der Boxen im Abhörraum eingegangen wird: eine Bereicherung für jeden, der Musik hört und den Genuss durch optimierte Klangqualität erhöhen will.

Das digitale Aufnehmen von Tonspuren funktioniert über die sogenannte Digital Audio Workstation, der Friedrich Neumann das längste Kapitel zueignete. Wir lernen von den wichtigsten Bedienelementen, dem Loopen durch Kopier- und Einfügefunktionen (für die Popmusik unerlässlich), den Funktionen einer Audiospur wie Aussteuerung, Volumen, Panorama und aktuellen Status im Gesamtbild (Solo, Mute, Record). Anschließend bespricht Neumann das Midi-Recording, wobei vor allem das Quantisieren praxisrelevant erscheint, aber entsprechend einen großen Pool an Fehlerquellen bietet. Quantisieren bedeutet, dass man Midispuren automatisch den Takteinheiten anpassen kann, so dass feinste Ungenauigkeiten des Spiels (welche die Darbietung klassischer Musik und besonders das Musizieren in größeren Ensembles und Orchestern erst definiert) ausgebügelt werden und sogar eine genau taktgetreue Widergabe entstehen kann. In gewissem Maße angewandt ein großartiges Tool, bei welchem man sich jedoch vor Übertreibungen bewahren sollte. Abschnitte über den richtigen Schnitt bei einer digitalen Audiospur und über verschiedene Arten des Ein-, Aus- und Überblendens runden das Kapitel ab.

Besonders aufschlussreich fand ich das Kapitel über Abmischung. Gerne hält man diese für rein technische Spielerei, doch steckt viel mehr dahinter und selbst perfekt zusammenwirkende Bands oder Ensembles sind hierauf angewiesen, was die beigefügten Klangbeispiele unter Beweis stellen. Das Problem bei Aufnahmen ist, dass sich die Frequenzzentren der einzelnen Instrumente überlappen, wodurch gerade die gut hörbaren Bereiche überlagert werden und so vieles vom Klang verloren geht. Mit Hilfe des Equalizers werden unnötige Nebengeräusche herausgeschnitten und der Klang in den gut hörbaren Frequenzen beschränkt, so dass die einzelnen Stimmen entzerrt werden, somit besser herauszuhören sind und der Gesamteindruck erst ausgewogen erscheint. Ein weiteres Augenmerk legt Friedrich Neumann auf verschiedene Filtertypen sowie deren Anwendungsweisen vor allem zur Beseitigung unterschiedlicher Fehlerquellen wie Pfeiftöne und Netzbrummen.

Das letzte Kapitel widmet sich Signalprozessoren, also Effektgeräten, die zur Optimierung von einzelnen Klangspuren oder ganzen Aufnahmen dienen. Zunächst beschäftigt sich Friedrich Neumann mit Regelverstärkern, namentlich Kompressoren und Limitern. Der Kompressor dient dazu, die Gesamtspur in den besonders lauten Bereichen dynamisch einzudämmen, um schließlich die Gesamtlautstärke aus dem schwer hörbaren Bereich heraus anzuheben. Limiter wirken dem ersten Schritt ähnlich, nur beschneiden sie den zu lauten, übersteuernden Bereich vollkommen. Zuletzt werden Zeitprozessoren thematisiert, also Echo und Hall sowie die künstliche Version des Delays (Verzögerung). Auf der CD hören wir hierzu den gleichen Ausschnitt eines Musikstücks mit Hall aus unterschiedlichen Räumen: Einem Wohnzimmer mit etwa 0,4 Sekunden Nachhall, der Semperoper mit 1,6 und der Berliner Philharmonie mit 2 Sekunden sowie schließlich dem Kölner Dom mit 13 Sekunden Nachhall. Während die erste Aufnahme klar und deutlich klingt, wirkt das Instrument in den größeren Räumen recht verloren; im Gotteshaus schließlich versinkt die zu hörende Gitarre vollkommen im Nachhall.

So lernen wir nicht nur über die Aufnahme- und Umwandlungsprozesse, sondern auch über die Notwendigkeit verschiedener Nachbearbeitungsmethoden, die den allgemeinen Eigenschaften der digitalen Aufnahme geschuldet sind.

[Oliver Fraenzke, März 2021]

Bach vital

Ars Produktion Schumacher, ARS 38 582; EAN: 4 260052 385821

Das Flötistenehepaar Ana Oltean und Kaspar Zehnder nimmt gemeinsam mit dem Cembalisten Vital Julian Frey Triosonaten von Johann Sebastian Bach auf. Auf dem Programm stehen die Sonaten in G-Dur BWV 1039, C-Dur BWV 1037, d-Moll BWV 1036, D-Dur BWV 1028 und g-Moll BWV 1029, als Intermezzi fungieren die Sinfonia 13 in a-Moll BWV 799 und das Präludium h-Moll BWV 869.

Die Triosonate gehörte zu den beliebtesten Gattungen der Barockära: Sie ließ sich im hausmusikalischen Rahmen aufführen, bot den Komponisten die Gelegenheit in reiner Dreistimmigkeit ihr kontrapunktisches Geschick zu zeigen, und ermöglichte den Aufführenden die Zurschaustellung ihrer Virtuosität. Trotz der Popularität des Genres komponierte Johann Sebastian Bach erstaunlich wenige solcher Trios. Tatsächlich ist nur eine der hier zu hörenden Sonaten als Triosonate belegt: BWV 1039. Und selbst ihr steht eine dreistimmige Gambensonate (BWV 1027) als Schwesterwerk nebenan, die der selben kompositorischen Quelle entspringt. Welches der beiden Werke das frühere ist, lässt sich nicht belegen, vermutlich entstanden sie zeitgleich. Andere der Triosonaten könnten Schülerwerke gewesen sein, denen Bach jedoch zumindest assistierend beistand, vielleicht ihnen sogar den entscheidenden Schliff verlieh. So geht die Forschung davon aus, die Sonate BWV 1036 entstamme eigentlich der Feder seines Sohnes Carl Philipp Emanuel Bach und die folgende BWV 1037 derjenigen Johann Gottlieb Goldbergs, welchen man heute hauptsächlich durch die postum entstandene und fälschliche Benennung der „Goldberg-Variationen“ kennt (Zur Entstehungszeit der Aria mit verschiedenen Veränderungen war dieser nämlich gerade einmal dreizehn Jahre alt). Die Sonaten BWV 1028 und 1029 komponierte Bach jeweils für die Gambe. Doch erlaubt es Bachs Schreibweise in den meisten Fällen, die Werke auch für andere Besetzungen zu adaptieren, was auf dieser Aufnahme geschieht und der Qualität der Musik keinen Abbruch tut.

Die hier zu hörende Einspielungen durch Ana Oltean, Kaspar Zehnder und Vital Julian Frey strotzt vor Lebendigkeit und Vitalität. Die Musiker spielen auf historischen Instrumenten, lassen sich jedoch nicht dazu hinreißen, stur auf die historische Informiertheit zu vertrauen und die Werkdarbietung an bloßen Theorien auszurichten. Statt dessen projizieren sie die Musik in die Jetztzeit und erlauben sich durchaus subtile Freiheiten, um ihr den nötigen Schwung zu verleihen. So behält der Klang seine motorische Stringenz und den markanten Klang, den man mit der Bach-Epoche verbindet, tönt jedoch auch mal lyrisch, zögernd, innig oder gar verhalten. Ob Bach diese Emotionen in seine Musik einband? Einen Beweis hören wir hier.

Wie von der Ars Produktion Schumacher gewohnt, überzeugt die Aufnahme durch luziden und doch vollen Instrumentenklang, angenehme Abstimmung des Halls und prägnanten, greifbaren Sound. Für diese Besetzung allerdings scheint der Klang in manchen Passagen etwas zu direkt, besonders das Cembalo dröhnt teils zu stark in den Höhen hervor; beim Flötenansatz nimmt der Hörer dafür recht viel Luftdruck wahr. Doch dies ist nur ein kleines Manko, welches auch nicht auf jeder Anlage auffällt, besonders angesichts der überragenden Qualität der Musiker.

Ana Oltean und Kaspar Zender sind ein hörbar eingespieltes Team, das nicht nur jahrzehntelang auf der Bühne, sondern auch privat ein Paar bildet und in perfekter Harmonie agiert. Sie wirken wie ein einziges, zweistimmiges Instrument, das durch den gleichen Atem und den selben Puls angetrieben wird.

Aufsehen erregt das Spiel des Cembalisten Vital Julian Frey, der seinem Instrument unerhörte Klangfarben und Möglichkeiten zu entlocken weiß. Wer denkt, das Cembalo könne nur zupfen und klinge immer gleich, der solle sich diesen Musiker anhören. Durch geschicktes und stets wandelbares Arpeggieren erhält jeder Akkord eigenständigen Zusammenklang und individuellen Nachhall; die Stimmen gestaltet er auf eine im Bezug zu den eigentlichen Möglichkeiten der Tongebung magisch anmutende Weise ebenso sanglich aus. Im Zusammenspiel liefert Frey nicht nur eine solide Continuo-Basis für die beiden Melodieinstrumente, sondern agiert selbst als vollwertige dritte Melodiestimme.

[Oliver Fraenzke, März 2021]