Archiv für den Monat: September 2015

Die verbotene Symphonie erstmals in kritischer Edition

Musikproduktion Jürgen Höflich (mph); Repertoire Explorer; Study Score 1566

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må aldrig opføres“ prangt noch immer auf dem Deckblatt des Manuskripts der einzigen Symphonie eines der beliebtesten Komponisten der Romantik, und verhinderte deren Rezeptionsgeschichte grundlegend. Im Deutschen heißt die Übersetzung: Darf niemals aufgeführt werden. Warum Edvard Grieg 1867 sein Werk für immer verbannt wissen wollte, ist bis heute ungeklärt. Fest steht nur, dass der Plan zu diesem großformatigen Werk, ebenso wie der Ansporn zu der einzigen Klaviersonate e-Moll op. 7 und der ersten Violinsonate F-Dur op. 8, dem dänischen Komponisten Niels Wilhelm Gade (1817-1890) zu verdanken ist. Nach Griegs Studium in Leipzig, zu dem ihm der überragende norwegische Violinvirtuose und Komponist Ole Bull (1810-1880) geraten hatte, nahm er in Kopenhagen Unterricht bei dem an Mendelssohn geschulten bedeutenden Symphoniker Gade, der die unverrückbare Überzeugung vertrat, ein wahrer Komponist müsse Sonaten und Symphonien schreiben. So versuchte sich Edvard Grieg in beidem, doch wurde er sehr bald schon von norwegischen Kollegen davon abgebracht und spezialisierte sich von da an vor allem auf eine „Musik, die [s]eine Heimat ehrt“, wie er noch in seinem Todesjahr Ole Bull zitierte (nachzulesen in Arthur M. Abells „Gespräche mit berühmten Komponisten“ von 1962). Miniaturen und Lieder wurden sein Schwerpunkt, Genres, in denen er hunderte großartige Meisterwerke schuf. Der großen Form frönte Grieg hingegen nur in wenigen Einzelfällen, nach den Erstlingssonaten sollten noch zwei für Violine und eine für Cello folgen, ansonsten gibt es eine hinreißende Ballade für Klavier und ein herausragendes Streichquartett, an dem sich Debussy sehr für sein eigenes Quartett in gleicher Tonart inspirierte, sowie natürlich sein Klavierkonzert a-Moll und darüber hinaus lediglich vier weitere längere unzertrennbar zusammengehörige Werke („Im Herbst“, „Aus Holbergs Zeit“, „Bergliot“ und „Altnorwegische Romanze mit Variationen“). Jedoch schon seit jeher sein größter Kritiker war Grieg selbst und so mussten sich etliche Werke unzähligen Revisionen unterziehen, die Orchesterstimmen seines Klavierkonzerts beispielsweise veränderte er immer wieder bis zu seinem Lebensende und auch zwei Sätze seiner Klaviersonate erhielten eine Zweitfassung. Doch die Symphonie geriet niemals unter Bearbeitung, sie wurde noch vor der ersten kompletten Aufführung verboten, drei Jahre nach der Fertigstellung 1864. Quellen gehen davon aus, die Rücknahme der c-Moll-Symphonie habe mit der Uraufführung der Erstlingssymphonie seines Landsmanns Johan Severin Svendsen (1840-1911) zu tun, deren orchestraler und formaler Qualität und insbesondere auch explizit nordischer Erscheinung sich Grieg unterlegen fühlte, wenngleich sein eigenes Orchesterschaffen viel eher Schumann zuneigt. Belegt ist diese Begründung freilich nicht, aber es kam jedenfalls zu jenem folgenreichen Verbot auf dem Vorsatzblatt, welches die Symphonie das ganze Leben ihres Schöpfers über ruhen und auch nachher ein Dreivierteljahrhundert lang stumm bleiben ließen. Nach dem Tod des Komponisten ging das Manuskript an die Öffentliche Bibliothek in Bergen, die seinem letzten Willen treu blieb. Erst dank den Kalten Krieg kam es zu einer überraschenden Wende: Russen verschafften sich eine Fotokopie des Manuskripts, und Vitalij Katajev führte die Symphonie ohne Zustimmung Norwegens im Dezember 1980 erstmals vollständig auf, die Sowjets machten gar eine Rundfunkeinspielung. Doch die Norweger holten sich ihr nationales Anrecht bald zurück, indem sie selber für die nunmehr geradezu rasante Verbreitung der Symphonie sorgten: Bereits im März 1981 wurde die erste Schallplatte produziert, und 1984 veröffentlichte C. F. Peters, der Stammverleger Griegs, die Partitur (Nr. 8500).

Bei der Übertragung des Manuskripts geschahen damals unzählige, teils gravierende Fehler. Aus diesem Grund entschloss sich „Repertoire Explorer“ (in der Musikproduktion Jürgen Höflich [mph] in München), eine kritische Ausgabe zu erstellen. Grundlage dieser ist eine Gegenüberstellung des Manuskripts und der Studienpartitur durch den bereits 2011 verstorbenen bedeutenden Griegforscher Klaus Henning Oelmann, dessen Promotionsschrift „Edvard Grieg. Versuch einer Orientierung“ neben „Edvard Grieg. Mensch und Künstler“ von Finn Benestad und Dag Schjelderup-Ebbe die wohl umfassendste deutschsprachige Forschungsquelle zu dem berühmten Norweger darstellt. Auf den Seiten 484 bis 517 von Oelmanns Arbeit sind alle Abweichungen zwischen Autograph und Peters Ausgabe, exakt mit Taktzahl und Instrument angegeben, aufgelistet. Marius Hristescu wählte schließlich diejenigen davon aus, die ihm für eine Edition sinnvoll erschienen, da sie bei Peters sichtlich fehlerhaft sind, und nahm auch einige zusätzliche Ergänzungen vor, wo auch Grieg in seinem Manuskript beispielsweise eine Dynamikbezeichnung für ein Instrument vergessen hatte.

Es steht außer Zweifel, dass diese neue Edition wesentlich verlässlicher ist als die Peters-Ausgabe, wie der vierseitige kritische Bericht unmittelbar bezeugt. Die Urtext-Edition besieht alle Quellen und fügt begründet neue Änderungen in den Notentext ein und verbessert somit auch das Manuskript des Komponisten. Die häufigste Art dieser Eingriffe bezieht sich auf dynamische Angaben sowie Phrasierungsvorschriften, doch sind sogar auch ein paar falsche Noten korrigiert worden. Von einer gänzlich fehlerfreien Neuausgabe lässt sich trotz aller Fehlerbehebungen dann allerdings doch nicht sprechen, alleine in den ersten 100 Takten finden sich zwei marginale Druckfehler der Peters-Ausgabe, die Marius Hristescu übernommen hat, obgleich sie von Oelmann als fehlerhaft erfasst ausgewiesen sind (Takt 59: Piano der Klarinette fehlt, während es in der parallel verlaufenden Flöte vorhanden ist / Takt 94: Crescendo des zweiten Fagotts wurde vergessen, da das Crescendo des ersten Fagotts missverständlich gesetzt ist). Dessen ungeachtet ist die neue Edition wesentlich korrekter als die erste und bisher einzige Edition. Auch das Notenbild ist deutlich angenehmer zu lesen, durch den Abdruck aller Notenzeilen braucht der Leser nicht andauernd zu suchen, welche Stimmen nun gerade aktiv sind, außerdem sind die Systeme deutlich größer. Das Vorwort von Wolfgang Eggerking ist äußerst aufschlussreich und informativ geschrieben, zudem angenehm und fließend zu lesen. Die einleitenden Worte des Peters-Erstdrucks gaben zwar ebenfalls einige wissenswerte Fakten über die Symphonie preis, jedoch bei weitaus schmälerer Quellenlage und somit unter Einschluss von teils unpräzisen oder gar falschen Angaben wie beispielsweise dem Zeitpunkt der ersten Aufführung (angeblich 1981 in Norwegen und Russland). So sollte nicht nur einem jeden Freund der Musik von Edvard Grieg auf jeden Fall daran gelegen sein, die Ausgabe des „Repertoire Explorer“ in seine Sammlung aufzunehmen. Vor allem sollten die Symphonieorchester Kenntnis davon nehmen und ihre Archive mit der Neuausgabe „aufrüsten“.

[Oliver Fraenzke, September 2015]

Die Tiroler Moderne

musikmuseum 20; CD13019; ISBN: 9 079700 700061

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Die Opera 50 bis 52 des Tiroler Komponisten Michael F. P. Huber erschienen erstmals auf CD mit dem Orchester der Akademie St. Blasius unter Karlheinz Siessl. Dabei handelt es sich um die dritte Symphonie des Innsbruckers sowie sein Konzert für Harfe und das für Viola d’amore, Solisten hierbei sind Martina Rifesser und Andreas Ticozzi.

Das Orchester der Akademie St. Blasius erwirbt sich schon lange Zeit große Verdienste durch ihr beachtliches Engagement für unbekannte und zeitgenössische Künstler, vor allem die aus Tirol stammenden sowie auch einige aus den nordeuropäischen Ländern. Die mittlerweile 20. CD der Tiroler Reihe musikmuseum ist vollständig Michael F. P. Huber aus der Heimatstadt des Orchesters gewidmet, der bereits auf der siebten Veröffentlichung mit seiner zweiten Symphonie und Streichorchesterwerken vertreten ist. Mit Huber hat das Orchester einen wahrlich interessanten Komponisten entdeckt, der sich wenig aus den aktuellen Vorstellungen von „zeitgenössischer Musik“ macht – sprich, er gehört nicht zu der dominierenden Masse an Tonsetzern, die sich ausschließlich für noch ausgefallenere Klangspiele und strukturlose, für den Hörer unverständliche Musik ohne jeglichen Zusammenhang aufopfern. Viel eher konzentriert er sich auf prägnante Rhythmik und die logische Verarbeitung seiner Themen, die einen erkennbaren Kontext schaffen und eine klar ersichtliche Struktur bilden – oft in vertrauten Großformen wie hier in Konzert und Symphonie. Dennoch lässt sich keinesfalls behaupten, seine Musik sei in irgendeiner Weise regressiv, auch wenn ihr das vermutlich die meisten fest etablierten Anhänger der avantgardistischen Musiklobby vorwerfen würden.

Der erste Teil der CD besteht aus zwei grundverschiedenen Solokonzerten mit jeweils einer kleinen Orchesterbesetzung. Das dreisätzige Harfenkonzert Op. 50 verzichtet vollkommen auf Bläser, benötigt dafür neben den Streichern ein sehr solistisch gesetztes Klavier, das immer wieder in ein Wechselspiel mit der Harfe tritt (wobei der so prominent mitwirkende Pianist bedauerlicherweise namentlich selbst im Booklet nur in allerletzter Reihe der Mitwirkenden aufscheint: Mathias Schinagl), sowie zwei Schlagwerkspieler. Von Anfang an zeigt sich, dass Michael F. P. Hubert trotz unkonventionellem Umgang mit dem Material tief in der Tradition verankert ist: Tonleitern und Terzintervalle dominieren das Bild. Das Konzert besticht durch seine rhythmische Präsenz und sein komplexes Zusammenspiel. Der Dirigent Karlheinz Siessl schafft es, den Klang klar und durchsichtig zu halten, so dass auch in den verzwicktesten Passagen keine Stimme zu sehr untergeht, und vermag es, insgesamt eine helle und strahlende Wirkung zu erzielen. Der höchst anspruchsvolle Solopart wird dabei mühelos von der ebenfalls aus Tirol stammenden Martina Rifesser gemeistert, die ihrem Instrument alle nur vorstellbaren Klangfarben entlocken kann, vom tiefem Scheppern und hohem Knallen bis hin zu einem äußerst sanglichen Ton, was bei der gezupften Harfe vielen nicht gelingen mag. Durch seine gute Anpassungsfähigkeit imponiert auch der Pianist Mathias Schinagl, dessen Stimme untrennbar mit dem Soloinstrument verbunden erscheint. Das gesamte Zusammenspiel aller oft in extremen Konfliktrhythmen stehenden Partien ist durchgehend höchst beziehungsreich und so verzeiht man gerne gelegentliche Asynchronitäten zwischen Schlagwerk und Harfe.

Das einsätzige Konzert für Viola d’amore und Kammerorchester Op. 51 kann nicht ganz an das so präsente und einheitlich wirkende Harfenkonzert heranreichen. Zwar hat auch dieses einen ganz eigenen Reiz durch den Verzicht auf sämtliche hohen Streicher und die stattdessen zusammen oft vierstimmig gesetzten Celli und Kontrabässe und durch wirkungsstarke Konstellationen wie beispielsweise den einleitenden Kanon, der sich nie komplett in die Höhe zu schrauben vermag, doch fehlt hier ein wenig der große Zusammenhang, der die drei Abschnitte als ein bezwingendes Gemeinsames erfahren ließe. Auch ist die Musik nicht mehr ganz so unmittelbar verständlich wie im Opus 50, einige Passagen wirken eher konstruiert. Die Umstellung von seiner normalen Violine und Viola zu der siebensaitigen und mit Resonanzsaiten vollkommen von heute gebräuchlichen Instrumenten abweichenden Viola d’amore gelingt Andreas Ticozzi ohne Probleme. Er entlockt dem historischen Instrument einen recht rauhen – statt, vielleicht erwartet, lieblichen – Ton, wodurch die Saiten ein leicht kratziges, zum Gesamtklang allerdings stimmiges Timbre erhalten. Der Solist nimmt den meist mehrstimmigen und herausfordernden Violasatz allgemein recht herb und mit einem gewissen Trotz, mit dem die Stimme auch oft genug gegen das Kammerorchester aufbegehrt, wodurch sich die Kompositionsweise auch im Spiel sehr deutlich abzeichnet.

Das letzte Werk der CD ist die 2013 komponierte Symphonie Nr. 3 Op. 52, die dem hier am Pult antretenden Karlheinz Siessl gewidmet ist. In den beiden Sätzen des knapp 30-minütigen Werkes kann nun auch einmal das voll besetzte Orchester der Akademie St. Blasius in Erscheinung treten. Auf den pompös schmetternden ersten Satz folgen zurückgenommenere Metamorphosen, die auch zu größeren Ausbrüchen im Stand sind und am Ende den Zuhörer vollkommen erschüttert zurücklassen. Das zweifelsohne einen Höhepunkt im bisherigen Symphonieschaffen des frühen 21. Jahrhunderts darstellende Orchesterwerk verfolgt einen klaren Aufbau aus einem einzigen Grundmaterial, das immer weiter und freier fortgesponnen wird, dabei teils humorvoll und losgelöst, teils aber auch äußerst dunkel und tiefgründig sein kann und sich in größter Obsessivität ins Unermessliche steigert, womit es sich in der Doppelbödigkeit ein wenig an russisches Symphonieschaffen des mittleren 20. Jahrhunderts anzuschließen scheint. Hier kann sich das Orchester der Akademie St. Blasius unter Karlheinz Siessl voll ausleben, die Musiker haben genauestes Verständnis für diese Musik, quasi ein Heimspiel. Der Dirigent ist in der Lage, den großen Orchesterapparat vollständig durchsichtig zu halten, sogar bei den akzentuiert gewaltigen Höhepunkten gleitet er niemals in blindlings lärmende Banalitäten oder mechanische Manieren ab. Immer hat er den musikalischen Bogen im Kopf und entsprechend den derzeitigen „Standpunkt“, an welcher Stelle im Stück man sich gerade befindet. Nicht zuletzt zentral ist für Karlheinz Siessl auch jede einzelne Stimme, die er ausgestalten lässt und dann in ein einheitliches Ganzes einfügt, wodurch gerade die polyphonen Passagen eine überragende Wirkung erhalten.

Zu allen Beteiligten gibt das Booklet genauere Auskünfte, außerdem stehen dort wissenswerte Details über die drei Werke – wenngleich ohne Nennung der ehrenvollen Widmung der dritten Symphonie. Aufgenommen wurde die Musik jeweils im Rahmen von Konzertprojekten an verschiedenen Orten, wobei die Klangqualität durchgehend auf ausgezeichnetem Niveau ist, alles ist sehr zufriedenstellend abgemischt und ausgewogen.

Zusammenfassend liegen auf dieser CD drei wahrlich technisch ausgereifte, einfallsreiche, prägnante sowie auch ins Ohr gehende und bei aller Mannigfaltigkeit der Textur verständliche Orchesterwerke von Michael F. P. Huber vor, die von dem glänzenden Orchester der Akademie St. Blasius und dem auf diesem Gebiet der Musik sichtlich erfahrenen Dirigenten Karlheinz Siessl in exemplarischer Qualität dargeboten werden. Es ist ein sehr wertvoller Beitrag für die leider bisher sehr unbekannte Musikkultur Tirols, die dringend auch von anderen Seiten der Aufmerksamkeit bedarf, um sie auch hier in Deutschland endlich auf die Konzertbühnen zu bringen.

[Oliver Fraenzke, September 2015]

Beth Levins „Gesamtkunstwerk“

Aldilà Records ARCD 005; EAN: 9 003643 980051

2-001

Ein scheinbar unkombinierbares Programm, vereint zu einem unzertrennbar wirkenden Ganzen ist auf dem ersten europäischen Album von Beth Levin zu hören. Inward Voice heißt die CD der amerikanischen Pianistin, die Schumanns Kreisleriana, Anders Eliassons Versione per pianoforte und Franz Peter Schuberts späte Sonate c-Moll D 958 zu kombinieren vermag.

Lange Zeit in größter Bescheidenheit dem internationalem Star-Rummel fern geblieben, tritt die Amerikanerin Beth Levin endlich ans Licht mit ihrer ersten CD-Veröffentlichung außerhalb der USA und bietet in dieser direkt ein atemberaubendes Programm dar. Jedes dieser Werke mit grundverschiedenem Gestus ist für sich schon eine technische und interpretatorische Herausforderung besonderer Güte, doch Beth Levin geht noch ein Stück weiter: Sie lässt die Werke in einem einzigen durchgehenden Bogen verlaufen, so fließt Schumann ohne merklichen Bruch in die eigenwillige, 135 Jahre später komponierte Versione des schwedischen Neuerers Anders Eliasson über, welche wiederum von Schubert so aufgefangen und zurück in klassische Sphären geworfen wird, als wäre es exakt so komponiert. Somit schafft die Pianistin ein wahres Gesamtkunstwerk, verbunden durch die zum Hörer durchdringende Zuwendung zu jedem Stück und zu jeder Note.

Das Cover macht fast den Eindruck, als handle es sich bei Inward Voice um eine etwas klein geratene Schallplatte mit seinem stilllebenhaften Schattenabbild eines Baumes und dem kleinen eingerahmten Schriftzug mit dem Inhalt der CD. Dies, malerisch anzuschauen und unmittelbar an alte Vinyltonträger erinnernd, trägt – ebenso wie die von Gil Reavill verfassten Gedichte zu den einzelnen Programmpunkten – zu einer einheitlichen Gesamterscheinung bei, zu jener überwältigend konzipierten Programmdramaturgie, die die Amerikanerin kunstvoll ersonnen hat. Nicht zuletzt Teil dieser Erscheinung ist ihr Spiel, welches sich nämlich komplett von der Masse heutiger Gepflogenheiten abhebt; sie erreicht eher die musikalischen Qualitäten der großen Musiker der frühen zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Mittlerweile gebräuchliche Hörgewohnheiten und standardisierte Auffassungen lassen Beth Levin vollkommen kalt, sie folgt einem ganz eigenen Weg. Allgemein ist ihr Spiel äußerst feinfühlig und frei von jeder Gehetztheit, alles behält eine innere Ruhe; gerade in den sehr bewegten und lebhaften Stellen der Kreisleriana sowie dem meist zur Hetzjagd ausufernden Finale der Schubertsonate beweist sie unglaubliche Kontrolle und schafft damit absolute Referenz. Ebenso spektakulär ist das technische Vermögen der Pianistin, handelt es sich doch um eine ungeschnittene Liveaufnahme im Studio und dennoch lässt sich fast an keiner Stelle einmal eine punktuelle Unsauberkeit herausfiltern – auch bei genauer Kenntnis des Notentexts.

Beth Levin weiß genau, was sie will. Ersichtlich wird dies alleine schon durch die Tatsache, dass die Kreisleriana in dieser Einspielung ein einziger Track ist und nicht in die acht Stücke zersplittert wurde. Endlich wird man derart gezwungen, dieses Einheitswerk wirklich als Einheit zu hören! Auch innerhalb des Werkes ist exakt bedacht, welche Wiederholungen gespielt werden sollen und welche nicht, ebenso bei Schubert. Nicht vergessen sollten auch Beth Levins Notizen zur Kreisleriana im allgemein sehr lesenswerten und interessant illustrierten Booklet bleiben, die persönliche Assoziationen zu Schumanns Op. 16 und Tipps für Pianisten beinhalten. In keinem der Stücke scheute die Pianistin davor zurück, kleine dynamische Akzentuierungen vorzunehmen, um die energetische Linie herauszubringen anstatt stur zum Beispiel ein auf die Auflösung deplatziertes Sforzato übermäßig herausknallen zu lassen. Gerade bei Eliassons Versione per pianoforte, einem von nur fünf Klavierwerken des im vorletzten Jahr verstorbenen Meisters (welches im Übrigen hier als Ersteinspielung vorliegt), nutzte sie detailliert leichte dynamische Abweichungen, um die Lautstärke in ein dem Spannungsbogen entsprechendes Verhältnis einzugliedern. Dafür sind die dynamischen Unterschiede durchgehend umso beträchtlicher, in einer vollkommen ungewohnt geradezu orchestrale Kontraste schaffenden Weise. Alle rhythmischen Komplikationen meistert Beth Levin dabei spielerisch, egal ob ständige Taktwechsel oder abstruseste Positionierung kürzester Notenwerte, nichts bringt sie von einem gleichmäßigen Pulsieren ab, so dass auch die zwei Monate vor seinem Tod komponierte Sonate c-Moll Franz Schuberts mit ihren sprunghaften Wechseln von triolischem zu duolischem Denken keine Schwierigkeit, jedoch umso spannenderes Geschehen darstellt.

So bleibt nur, gespannt zu warten auf die hoffentlich bald nachfolgende nächste Einspielung von Beth Levin, für alle, die nach diesem großen Wurf sicherlich Lust auf mehr bekommen. Mit nur einem Tag Aufnahmezeit hat sie bewiesen, dass auch ohne Willkür und unreflektierte Eingriffe in den Notentext sowie ohne erkünstelte Manierismen, allerdings mit in seiner unwillkürlichen Wucht absolut fesselndem Rubato, das scheint, als könne es gar nicht anders sein, ein gänzlich eigener Stil geschaffen werden kann.

[Oliver Fraenzke, September 2015]

Kammermusik in Freimann

Ein mannigfaltiges Programm für Violine und Klavier war am 20. September in der Villa Mohr in München-Freimann (Situlistraße) zu hören. Der Bogen wurde dabei von Isabel Steinbach geführt und an den Tasten agierte der aus Bombay stammende Pianist Pervez Mody, zusammen treten sie als Duo Appassionata auf. Altwiener Tanzweisen von Fritz Kreisler und eine Duobearbeitung von Edvard Griegs Peer Gynt Suite Nr. 1 durch Hans Sitt standen neben Ludwig van Beethovens siebter Violinsonate in c-moll op. 30/2 und Franz Schuberts Rondeau brillant h-Moll op. 70 auf dem Programm.

Eine recht eigentümliche und doch erstaunlich stimmige Werkreihenfolge bietet der Abend in Freimann auf, Kreislers Altwiener Tanzweisen vor Beethovens ernster „Grande Sonate“ c-Moll in der ersten Hälfte und Griegs berühmte Peer Gynt Suite Nr. 1 vor dem recht selten dargebotenen Rondo in h-Moll von Schubert nach der Pause sind durchaus interessante Kombinationen von divergierenden Stilsphären. Der schnelle Wechsel zwischen so unterschiedlichen Welten ist eine wahre Herausforderung für die Musiker, die erst kurz vor dem Konzert aus Österreich eintreffen. Ganz ohne Anspielprobe, ohne Warm Up müssen sie das anspruchsvolle Programm präsentieren!

So ist es nicht verwunderlich, dass Liebesfreud und Liebesleid aus Kreislers Feder noch nicht den Wiener Schwung erhalten, wodurch der Tanzcharakter fast etwas stolpert. Pervez Mody besticht dessen ungeachtet durch eine außergewöhnlich leichtfüßige Begleitung in strahlendem Staccato, das zwar an sich viel zu kurz ist, aber in der eleganten Art der Ausführung einen sehr eigenen Charme erhält. Die Violinstimme wirkt darüber etwas statisch, ist aber auch durchgehend durchdacht und sanglich geführt. Der kühne Wechsel zu den düstereren Welten von Beethovens Violinsonate Nr. 7 gelingt tatsächlich und das schlichte Thema begibt sich auf seine Reise durch den technisch äußerst delikaten Kopfsatz, in dem beide ihre zweifelsohne brillanten Fähigkeiten unter Beweis stellen können. Gerade im ersten Satz muss der Hörer unweigerlich darauf stoßen, wie eingespielt diese beiden Musiker sind, jedes Thema wird übergangslos vom jeweils anderen Spieler aufgenommen und weitergeführt, dynamisch sind sie perfekt aufeinander abgestimmt und auch in der Phrasierung herrscht große Einigkeit – was bei allzu vielen Duetts nicht wirklich anzufinden ist. Anzumerken ist hier nur, dass beide Musiker immer wieder der heute sehr beliebten Mode verfallen, gegen jede Verstellung von natürlichem Spannungsaufbau die Auflösung einer Linie ebenso wie die Taktschwerpunkt oft ungeachtet ihrer kontextuellen Bedeutung zu akzentuieren. Nach einem ziemlich unstetigen und vielerorts zu sehr nach vorne drängendem (von Anfang an bereits zu eiligen) Adagio reißt das Duo Appassionata in Scherzo und Finale mit. Pervez Mody erweist sich als so geschmeidiger Begleiter, so dass sich Isabel Steinbach vollends auf dieser hervorragenden Grundlage entfalten kann, sein Spiel ist auch in den zerklüftetsten Passagen rein und durchsichtig mit einer unerschütterlichen Lockerheit.

Nach der Pause wird das Programm durch Grieg fortgeführt, dessen erste Suite aus der Bühnenmusik zu Peer Gynt von Henrik Ibsen hier in einer Duobearbeitung von Hans Sitt erklingt. Der in Prag geborene Sitt ist heute als Komponist vollkommen in Vergessenheit geraten, abgesehen von kurzen Stückchen für den Geigenunterricht, eine Entdeckung unter anderem seiner Violinkonzerte oder seines Bratschenkonzerts (er war neben seiner Geigenlehrtätigkeit in Leipzig auch als Bratschist im Brodsky-Quartett tätig) wäre sehr wünschenswert. Zu lesen ist der Name nur auf Arrangements, viele der international berühmten Geigenvirtuosen greifen immer wieder auf seine Bearbeitungen zurück (zu nennen beispielsweise Henryk Szeryng, der Nardinis e-moll-Konzert ausschließlich in Sitts Fassung spielte). Die Version für Violine und Klavier ist erstaunlich gut gelungen, die Musik erhält eine ausgewogene Abstimmung zwischen den unterschiedlichen Kräften, zwischen denen die Themen stimmig aufgeteilt sind. Die Morgenstimmung erklingt in der Darbietung des Duos Appassionata noch recht willkürlich, die kleinen Ritardandi schmälern den Eindruck der aufgehenden Sonne, wobei allerdings im späteren Verlauf das Tempo so stark beschleunigt, dass von einer Morgenidylle nicht mehr die Rede sein kann. Wesentlich gelungener sind dafür vor allem die folgenden Stücke Åses Tod und Anitras Tanz in all ihren verschiedenartigen Ausdrucksmitteln. Hier zeigt sich, wie stark sich die Instrumentalisten mit der skandinavischen Musik auseinandergesetzt haben – auch ihr letztes gemeinsames Album enthält Sonaten von Sinding, Gade und Grieg. Das Klangresultat erhält eine spielerische Natürlichkeit und schäumt nicht über vor falschem Pathos.

Das Finale bildet Schuberts Rondo für Violine und Klavier h-Moll op. 70, das wohl risikoreichste Werk des Abends; so schnell kann die komplexe Struktur zerbrechen und die dramatische Tiefgründigkeit in oberflächliche Virtuosität umkippen. Immerhin gelang es dem Duo, den Hörer hineinzuziehen in das musikalische Geschehen; dennoch können auch sie nicht verhindern, dass der große Zusammenhang und die potentielle Stringenz dieses viertelstündigen Werks teils abglitt und der Hörer kurzzeitig seinen Halt in der fragilen Welt verliert. Dennoch ist das Rondo durchwegs reflektiert dargeboten und die musikalische Leistung sehr beachtlich, gerade im Vergleich mit vielen teils großen Virtuosen, die aus dem packenden Seelengemälde weitaus weniger herauszuholen vermögen als Steinbach und Mody. Als Zugabe gibt es erneut Kreisler, diesmal wesentlich schwungvoller und wienerischer als zu Beginn des Abends, und den Brautraub aus der zweiten Peer Gynt-Suite, der durch feine Klangeffekte betört.

Das Duo Appassionata überzeugt den gesamten Abend durch ein äußerst fein abgestimmtes Zusammenspiel, das sich in vierzehn Jahren gemeinsamen Wirkens gefestigt hat. Dadurch schleichen sich allerdings auch routinemäßig willkürliche Elemente mit ein, so beispielsweise genannte Überakzentuierung von Auflösungen und Taktschwerpunkten oder auch zerfasernde Tempi, welche immer wieder treiben oder unbedacht schwanken, was allerdings angesichts der enormen Musikalität im Spiel der beiden verziehen werden kann. Isabel Steinbach präsentiert sich als technisch ausgereifte Violinistin, die ihr Programm nüchtern und distanziert betrachtet, sich also zu keiner Zeit von zu Unachtsamkeit lockenden Schwärmereien hinreißen lässt, Pervez Mody hingegen trumpft auf mit ungeahnter Klangkontrolle und -vorstellung sowie seiner entspannten Art des Klavierspiels, bei beiden ist ein feinfühliges Aufeinander-Eingehen spürbar.

[Oliver Fraenzke, September 2015]

Alle Farben der See

Linn AKD 533; Quiet Money Productions; ISBN: 6 91062 05332 7

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Liane Carroll entführt den Hörer mit ihrem neuesten Album ans Meer. In wechselnder Besetzung singt sie zehn Songs verschiedenster Komponisten, das titelgebende Seaside wurde dabei von Joe Stilgoe exklusiv für die Sängerin und ihre Passion für die See geschrieben, womit er den Anstoß zu vorliegendem Album gab.

Wenn Liane Carroll zu singen beginnt, hört die Welt auf, sich zu drehen. Vom ersten Augenblick an bezaubert die britische Sängerin und Pianistin mit ihrer einmaligen Stimme, deren angenehm rauer Klang den Hörer sofort gefangen nimmt. Jedem Stück gibt Carroll eine vollkommen eigene und unnachahmliche Note, alles ist aus vollster Leidenschaft und mit selbstbesonnener, tiefer Empfindung gesungen und wirkt sowohl reflektiert als dennoch auch so unmittelbar spontan, als hätte sie die Songs gerade eben zum ersten Mal für sich entdeckt. Im Großen und Ganzen bevorzugt sie zwar für ihre Vorstellung der Seelandschaft gemessene Tempi, doch überzeugt sie auch in vorwärtstreibenden Passagen sowie wilden Scateinlagen. Die Musik ist ständig progressierend, immer streben die Titel nach Entwicklung und verbinden teils vollkommen auseinanderstrebende Abschnitte mit höchster Eleganz und Stilsicherheit.

Was dieses Album so vielseitig und abwechslungsreich macht, ist die Tatsache, dass Liane Carroll nicht auf eine feste Besetzung für ihre Songs vertraut. Nach jedem Track wechselt die Zusammensetzung ihrer Mitstreiter, und auch innerhalb der Stücke changieren manche Spieler zwischen bis zu drei Instrumenten. Dies lässt die Musik nicht einmal annäherungsweise Gefahr laufen, in Gleichförmigkeit zu versinken, denn durch fortwährend sich verändernde Klangkulisse bleibt sie durchgehend frisch und sorgt für stetige Überraschungen. Jedes Instrument ist sorgsam ausgewählt und trägt zum Gesamtbild maßgeblich bei, zu keiner Zeit scheint ein Element zu fehlen oder überflüssig zu sein. Und ob für eine Nummer nun eine volle Klangkulisse mit bis zu neun Instrumentalisten (inklusive der auch am Klavier tätigen Liane Carroll) oder eine intimere Konstellation mit beispielsweise nur Gitarrenbegleitung völlig ohne Schlagwerk zum Einsatz kommt, hat überhaupt keinen Einfluss auf das exzellent abgestimmte Zusammenwirken aller Kräfte. Dies hat zwar zur Folge, dass einige Musiker nur in ein oder zwei Stücken zu hören sind, aber ungeachtet dessen nimmt jeder eine entscheidende Rolle ein und keiner fällt aus dem eingespielten Einheitsgeist heraus. Elektronische und akustische Klaviere, Gitarren und Bässe fügen sich neben Schlagwerk, Flügelhörnern, Trompete, Euphonium, Saxophon, Posaune, Tenorhorn und sogar Vibraphon in unzähligen Konstellationen zusammen.

Übergreifendes Verbindungselement des Albums ist selbstredend das Meer, ob nun Liane Carroll die Nummern nur mit Strandspaziergängen verbindet oder ob der Textinhalt sich auf das Wasser bezieht – und das ist bei Carrolls außergewöhnlich guter Textverständlichkeit leicht mitzubekommen! -, wirkt doch alles sehr fließend und ist umgehend mit dem feuchten Element in Verbindung zu bringen. So fällt es kaum auf, dass jeder Song von unterschiedlichen Urhebern stammt, bekannte Namen reihen sich neben weniger populären, wobei „My Ship“ als einziges von international berühmten Persönlichkeiten geschrieben ist, nämlich von Kurt Weill und Ira Gershwin, Bruder von George Gershwin. Die letzte Nummer ist gar ein traditionelles Volkslied und eine besondere Hommage an das Leben in Küstenregionen. Auch die optische Erscheinung lässt sofort auf das zentrale Thema schließen, ein verblichen wirkendes Foto zeigt die Sängerin am Meer vor zwei Schiffen und einer kreisenden Möwe, die Innenseite gibt alte Urlaubsbilder am Strand frei. Einfach alles ist stimmig, dieser leicht veraltete und ausgeblichene Look und das blaulastige Design gehen auch optisch eine Synthese mit den musikerzeugten Stimmungen ein.

Aufgenommen wurde das Album an insgesamt fünf Studiotagen – und das für 42 Minuten Musik verteilt auf zehn Nummern. Diese Zahlen stehen hier wirklich symbolisch für die musikalische Qualität: Es ist einfach offenkundig, wie sorgfältig durchgestaltet jeder Song ist und wie viel Herzblut in das Projekt hineingegossen wurde. Bei Seaside stimmt absolut alles, wodurch dieses Album unbestreitbar zu den hörenswertesten Jazzneuheiten zählt.

[Oliver Fraenzke, September 2015]

Norwegische Impressionen

Das Reisen in andere Länder ist immer auch eine kulturelle Bereicherung, wenn man sich nur darauf einlässt. So war es für mich ein großer Gewinn, eine Rundreise durch eines der für mich schönsten und vielfältigsten Länder zu starten und dort alles nur Mögliche an musikalischen Impressionen in mich aufzunehmen, was sich einem als einfachem Touristen so bietet – in diesem Fall in Norwegen.

Die Musikgeschichte in diesem Land unterscheidet sich grundlegend von der aller anderen Länder. Norwegen ist ein absoluter Sonderfall. Zentraler Grund dafür ist die lange Unterdrückung des heutigen eigenständigen Königreichs zuerst unter dänischer Herrschaft von 1380, als der dänische König Olav Håkonsson Norwegen erbte, bis 1814, und anschließend bis 1905 in Personalunion mit Schweden. Dies hatte zur Folge, dass sich keine höfische Kunstmusik entwickeln konnte, dafür aber die Volksmusik sich wie an kaum einem anderen Ort ausprägen konnte. Natürlich gab es auch Kunstmusik vor der Besatzungszeit; die norwegische Musikgeschichte beginnt nachweisbar ca. 1500 vor Christus, wie Funde von Bronzehörnern zeigen, und auch Lieder aus der Wikingerzeit sind uns heute bekannt, doch herrschte ebenso hier in jüngerer Zeit ausländischer Einfluss vor: 1030 wurde Norwegen christianisiert und der gregorianische Choral eingeführt, der jedoch sehr bald ein nordisches Sonderleben zu führen begann, was im Choralsatz in parallel geführten Terzen ersichtlich ist statt wie auf dem Kontinent in Quint- und Quartparallelen. Während der Personalunion mit Dänemark war der Musikerberuf hauptsächlich ausländischen Stadtmusikanten vorbehalten, die selbstverständlicherweise ihre Musik importierten. So verwundert auch nicht, dass Norwegens frühestes Stück eines namentlich bekannten Komponisten, des Caspar Ecchienus (ca. 1550 – ca. 1600), im niederländisch-polyphonen Stil verfasst ist. Die Volksmusik beschritt einen gänzlich anderen Weg; seit dem Mittelalter finden sich aus sämtlichen Epochen Stoff und Gattungen, von Kæmpeviser – Kampfweisen (heroischen Balladen) – bis zu religiösen Liedern, von Hirtengesängen bis zu ersten dichterischen Formen in etwas späterer Zeit, findet sich alles in den Wurzeln der Volksmusik. Ausländischer kontinentaler Volksliedtanz wurde recht bald verdrängt von noch heute existierenden Tänzen, unter denen die wohl berühmtesten Springar  oder Springdans genannt, Halling und Gangar sind. Besonders für den Solotanz der Männer, den Halling, gibt es heute etliche Wettbewerbe und sogar nordische Meisterschaften, in denen die Tänzer ihre akrobatischen Künste inklusive den so genannten Hallingkast, das Herunterschlagen eines Huts von einer hochgehaltenen Holzstange mit dem Fuß, unter Beweis stellen müssen. Begleitet werden sie dabei von dem urtypischen Instrument Hardingfele (Hardangerfiedel) – einer geigenartigen Fiedel, die neben den vier zu spielenden Saiten auch Resonanzsaiten besitzt, die ihr einen kernigen und bordunhaften Ton verleihen. Ein weiteres typisch norwegisches Instrument ist die Langeleik, übersetzt in etwa Langes Spiel, eine Brettzither mit einer Melodieseite mit Bünden auf dem Griffbrett, sowie mehreren Bordunsaiten, die nur leer angespielt werden können.

1Troldhaugen, Wohnstätte von Edvard Grieg, dahinter rechts der Konzertsaal

Und in diese unvergleichliche Musiktradition verschlägt es mich nun! Die Reise beginnt in Bergen, der zweitgrößten Stadt des Landes und zentralen Hochburg der norwegischen Kunstmusik. Als Geburtsstadt von Norwegens herausragenden Komponisten Edvard Grieg (1843-1907), Ole Bull (1810-1880), Harald Sæverud (1897-1992) und dessen Sohn Ketil Hvoslef (geb. 1939) ist Bergen singulär. Ole Bull war der Revolutionär der Transkription norwegischer Volksmusik – die bereits Ende des siebzehnten Jahrhunderts durch Hinrich Meyer begann – und der „gute Engel“ Edvard Griegs: dem damals fünfzehnjährigen empfahl er als eine der größten musikalischen Autoritäten des Landes das Studium in Leipzig. Edvard Grieg ist seither international berühmt durch sein Klavierkonzert a-Moll, seine Suite aus Holbergs Zeit, seine Peer-Gynt-Suiten und einige seiner Lyrischen Stücke für Klavier, ist aber auch Autor hervorragender Kompositionen wie einer Klavier-Ballade und eines Streichquartetts (beide in g-Moll), von drei Violinsonaten, einer Cello- und einer Klaviersonate, und etlicher Bearbeitungen nordischer Weisen, die somit kunstmusikalisch geadelt im Konzertsaal ihren Platz finden. Bedauerlicherweise hat im letzten Jahrhundert Harald Sæverud noch nicht die Bekanntheit seines weltweit beliebten Vorgängers erreicht, doch hat auch er eine Peer-Gynt-Bühnenmusik geschaffen und gilt durch seine insgesamt neun höchst eigentümlichen Symphonien als größter Symphoniker Norwegens. Sæveruds Sohn Ketil Hvoslef schließlich beschritt ganz andere Wege und etablierte sich als Komponist einer großen Zahl vor allem von Solokonzerten und Kammermusikwerken im Grenzbereich von fast improvisatorisch wirkender, kontrollierter Spontaneität. Die Wohnhäuser der ersten drei genannten Komponisten sind heute als Museen zugänglich, doch leider erlaubte die Zeit nur einen Besuch in Troldhaugen, der Villa von Edvard Grieg. Unter Leitung seiner Witwe Nina wurde ein Teil des Mobiliars 1928 an die richtigen Plätze zurückgestellt und der Besucher kann einige fast unverfälscht wiederhergestellten Räume besichtigen und sich zurückversetzt fühlen in Griegs Lebzeiten. Der für den nur gut 1,50 Meter großen Edvard Grieg extra tiefgelegte Flügel, die dicken Bände mit Beethovensonaten, auf die er sich zum „Heraufreichen“ an die Tasten eines normalen Klaviers oft setzte, sowie seine Komponierhütte mit idealem Blick auf den Fjord bleiben hier besonders eindrücklich in Erinnerung. Auch die Grabstätte des Ehepaars unterhalb des Hauses ist einen Besuch wert, und hier scheint die Zeit stillgestanden zu haben. Neben dem Haus findet sich ein kleiner Konzertsaal, der zwar von außen mit seinen Betonmauern nicht gerade in die Idylle passt, aber von innen wahrlich eindrucksvoll erscheint und hinter dem Flügel durch eine Glasfassade den Blick auf das kleine rote Komponierhäuschen des Nationalromantikers freigibt. In dieser kleinen Halle werden immer wieder lange Abendkonzerte und halbstündige Lunsjkonserter (Mittagskonzerte) angeboten. Hier wurde auch ich erstmals mit norwegischer Pianistenpraxis vor Ort konfrontiert, Signe Bakke spielte Werke vom Meister. Als erstes Stück war der Kopfsatz seiner e-Moll-Sonate Op. 7 angekündigt, so kam die in Tracht fast ein bisschen an Nina Grieg erinnernde Pianistin auf die Bühne und spielte – den ersten Satz der Suite aus Holbergs Zeit Op. 40! Nun könnte man meinen, Signe Bakke habe einfach nicht genug Zeit gehabt, um die technisch delikate Sonate aufzupolieren, und genau diese Vermutung bestätigte sich auch anhand der oft verstolperten Perpetuum-Mobile-Sechzehntel im Prelude der Suite, die den gesamten Satz durchziehen. Glücklicherweise besserte sich die Ausführung in den folgenden Volksweisen aus Op. 17 und 52 sowie den Lyrischen Stücken aus Op. 43 und 71. Insgesamt war die Tendenz zu beobachten, dass das romantische Element bei Grieg viel zu sehr ins willkürliche Extrem gezogen wurde, zusammenhangslose Rubati und unbedachte sowie auch unsangliche Phrasierung war der Regelfall – ein Phänomen, dass mir mehrfach bei norwegischen Pianisten ins Auge stach! Doch plötzlich tat sich eine neue Welt auf, als Signe Bakke eine Stelle im Volksmusikcharakter authentisch wiedergab: Kurzzeitig machte sich der Eindruck breit, es spiele eine Hardingfele und kein Klavier mehr; so wurde jedes Volkslied und jeder Volkstanz zu einem einmaligen Erlebnis und der Springdans im berühmten Det var en gang (Es war einmal) avancierte zu einem hinreißenden Tanzcharakter von vollendeter Klangschönheit, wenn auch leider umgeben von einem überemotionalen und somit aufgesetzt wirkenden Andante-Rahmen, bei dem jede Auflösung, als sollte es absichtlich genau gegen die Natur sein, einen besonders starken Akzent erhielt. Nichts desto Trotz kann man hier lernen, wie die nordische Fiedelmusik auch auf dem Klavier einen stattlichen Charakter und Fülle entfalten kann.

2Das Instrumentenmuseum Ringve von außen

Trondheim hieß die nächste Station musikalischer Erfahrung, Heimatstadt von Ludvig Mathias Lindeman (1812-1887), der jahrelang durch Norwegen reiste und Volksmelodien sammelte, welcher er fürs Klavier gesetzt in den Ældre og nyere norske Fjeldmelodier publizierte, die als wichtigste Volksmusikquelle auch für Edvard Grieg dienten. Etwas außerhalb der Stadt befindet sich das Ringve Museum, eine ehemalige Landvilla, die von den kinderlosen Besitzern, leidenschaftlichen Instrumentensammlern, als Erbe für die Gemeinschaft zum Musikinstrumentenmuseum umfunktioniert wurde. Hier steht alles auf Musik, schon bei der Ankunft wurden wir begrüßt von schwedischen Volksweisen auf der Geige, und auch zu Beginn der Führung im Herrenwohnsitz genossen wir zu Ehren der russischstämmigen früheren Besitzerin gespielten Rachmaninoff auf dem historischen Flügel. Im Museum selbst befindet sich ein kleiner Konzertsaal, in dem die Entwicklung des modernen Klaviers vom Clavichord bis zum Konzertflügel anhand jeweils zeitgenössischer Stücke wirkungsvoll demonstriert wurde. Auch eine Kostprobe von Hardingfele und Langeleik wurden gegeben, was immer wieder aufs Neue verzaubert. Hier gibt es die nordische Musikkultur noch zum Anfassen! Weiter geht die Führung in die faszinierende Sammlung unzähliger teils noch nie gesehener Instrumente. Der erste Raum ist bestückt mit paneuropäischen Instrumenten, einheimische Sammlerstücke stehen neben kontinentalen Raritäten, so zum Beispiel wunderschön erhaltene Klavierinstrumente und sogar ein Harfenklavier. Ein Zimmer weiter wird es interkontinental, afrikanische Rhythmusinstrumente und amerikanische elektronische Gerätschaften locken den Besucher an, sie einmal auszuprobieren: Highlight hierbei unbestritten das spielbereite Theremin, bei dem durch Annäherung an zwei Antennen Tonhöhe und Dynamik bestimmt werden können, allerdings entgegen der unmittelbar instinktiven Assoziation derart, dass die Lautstärke mit wachsender Entfernung zunimmt und das Gerät bei der Berührung verstummt. Eine kleine zweite Ausstellung widmet sich hauptsächlich der norwegischen Musik, hier sind besonders rare Sammlerstücke und auch Trachtenkleidung ausgestellt. Die Führer im Ringve, überwiegend ausgebildete oder in Ausbildung befindliche Musiker, sind sehr kompetent und gerade im direkten Gespräch sehr offen für Hintergrundinformationen zu einzelnen Ausstellungsstücken. Alle können sie ihr Instrument spielen und lassen aus einem normalen Museumsbesuch ein akustisches Erlebnis werden mit einer solchen Vielzahl an unerhörten Klängen, wie man sie sonst wohl nirgends so hautnah und live zu hören bekommen dürfte.

        3       4       Die Eismeerkathedrale und Tromsø nach Mitternacht

Nicht vergessen werden darf auch ein Konzert in der zum Wahrzeichen gewordenen Eismeerkathedrale in Tromsø. Touristen wird hier ein Mitternachtskonzert geboten. Mitternacht auf der anderen Seite des Polarkreises ist allerdings etwas vollkommen anderes als in Deutschland: Während es im Winter grundsätzlich dunkel ist, geht nun im Spätsommer die Sonne erst gegen Mitternacht unter, ein heller Schimmer am Horizont verschwindet die ganze Nacht lang jedoch nicht. Zwischen prachtvollen gläsernen Front- und Rückwänden bieten die Sopranistin Berit Norbakken Solset, der Cellist Georgy Ildeykin und der Pianist Robert Frantzen ein gemischtes Programm nordischer Musik, darunter teilweise Folklore, dar, wobei auch zentraleuropäische und sogar samisch-einheimische Elemente Einzug finden. Neben eher selten gehörten Werken des Grieg-Vorgängers Halfdan Kjerulf und des Zeitgenossen Johan Mahtte Skum stehen auch Klassiker wir Griegs Lied Jeg elsker dig (Ich liebe dich) und erneut Det var en gang auf dem Programm. Auch hier geraten gerade die volksnahen Stücke zu einem besonders stimmungsvollen Ereignis, Solset bezaubert durch glänzendes Einfühlungsvermögen in die bäuerliche Tradition und lässt ihre fast etwas chansonartig wirkende Stimme in der Höhe brillieren. Ihre Mitstreiter können sich angemessen einfügen und unterlegen die dominierende Stimme mit stets passender Begleitung. Robert Frantzen präsentiert auch ein eigenes Duo-Stück für seine kleine Tochter mit dem Cellisten, ein gelungenes Werk mit neoromantischem Gestus. Ein wenig enttäuschend sind auch hier wieder die bekannten Programmpunkte: Bachs Prélude aus der Suite für Violoncello Nr. 1 in G-Dur BWV 1007 gerät strukturlos, wobei routinemäßig stets auf der Takteins ritardiert wird, Jeg Elsker Dig erfährt auch standardisierte Verzögerungen und extreme mechanische Betonungen der Spitzentöne, und Det var en gang ist hier ein formloses Stück überschäumender und offensichtlich äußerlich prätendierter Emotion. Doch will man Unbekanntes entdecken, so sei dieses Konzert trotzdem nachdrücklich empfohlen, denn gerade erst bei den fast vergessenen Werken blühten die Musiker richtig auf, und derart werden Volksweisen, samische Joiks und Lieder vergessener Komponisten zu kleinen, brillanten Meisterwerken, die in ungewohnt guter Qualität und optisch atemberaubendem Umfeld noch mehr an Wirkung gewinnen.

5Die malerische Landschaft im Trollfjord

Schon sehr lange Zeit hat besonders die norwegische Musik mein Herz gewonnen; diese im positiven Sinne naive Haltung, die Naturverbundenheit, dieses Gefühl von Freiheit, aber auch von Melancholie und archaischen Uremotionen der Menschen, die diese Musik enthält wie sonst nichts mir Bekanntes, hat mich von Anfang an nicht unberührt lassen können. Dies alles zum Ausdruck zu bringen ist eine ungeahnt diffizile Aufgabe für jeden Musiker, und viele scheitern an der idiomatisch angemessenen Ausführung selbst der leichtesten Werke von Edvard Grieg und anderen nordischen Komponisten. Oft habe ich den Eindruck, als flösse zu viel Künstelei und Falschheit in diese so schlichte und natürliche Quelle unbelassener Energie ein, anstatt dass der Künstler sich öffnet für die subtile Unmittelbarkeit und grundlegende Natürlichkeit, die alles durchströmt. Vieles ist mir klar geworden alleine durch den Anblick der Fjordlandschaften: Welch ein unbeschreibliches Gefühl es ist, mit dem Schiff in den Trollfjord hineinzufahren und zu spüren, wie hoch sich um einen herum die Berge auftun, zu erfahren, wie märchenhaft und fast unwirklich diese Landschaften wirken und wie sehr man sich zuhause fühlen kann in dieser Fantasielandschaft, die eine mysteriöse Art von Geborgenheit vermittelt. Jeder Augenblick gibt etwas Neues, nie kann man ermüden: Einfach nur zu schauen und zu spüren, wie sich Landschaften verändern, unzählige Erhebungen und Inseln vorüberziehen oder plötzlich Tiere vorbeihuschen. Genau das ist das Gefühl, was auch in nordischer Musik in Töne gebannt ist und welches es heraufzubeschwören gilt – nicht mit Professionalität alleine ist dies zu machen, sondern nur mit einem offenen, neugierigen Geist.

[Oliver Fraenzke, September 2015]

Tartinis Violinkonzerte erstmals komplett

Dynamic CDS 7713 (29 CDs) (Vertrieb: Naxos)

ISBN: 8007144-077136

Tartini Cover CDS7713

Der Zauber Tartinis

Giuseppe Tartini: Sämtliche 125 Violinkonzerte

Giovanni & Federico Guglielmo, Carlo Lazari, L’Arte dell’Arco

Der in Padua wirkende Giuseppe Tartini (1692-1770) ist heute nicht nur als der zentral stilbildende Geiger seiner Zeit und als Komponist der nach wie vor meist in romantischen Arrangements zu hörenden ‚Teufelstriller’-Sonate bekannt. Die Kenner wissen auch, dass er die Kombinationstöne entdeckt hat, also jenes frappierende Phänomen, das zur Folge hat, dass, wenn in nicht zu tiefer Lage zwei Instrumente sauber zusammenspielen, der Stammton dieser beiden mitklingt (anders gesagt, sind die tatsächlich gespielten Töne Obertöne eines zu ihnen hinzutretenden Grundtons). Die meisten wissen auch, dass Tartini viele Violinkonzerte und –sonaten geschrieben hat, von denen allerdings kaum mehr als eine Handvoll ab und zu im Konzert zu hören sind. Was sehr bedauerlich ist, denn Tartinis Musik gehört in ihrer filigranen Sanglichkeit und dem manchmal fast schon romantisch sehnsüchtig anmutenden, intensiven melodischen Ausdruck zum schönsten, was für die Geige komponiert wurde, und auch zum dankbarsten. Das bei Vicenza ansässige Streicherensemble L’Arte dell’Arco hat seit 1996 in eineinhalb Jahrzehnten die Mammutaufgabe geleistet, sämtliche 125 Violinkonzerte Tartinis einzuspielen, und ich möchte so weit gehen, zu sagen, dass sich darunter kein minderwertiges Konzert befindet. Ich habe zwar meine Lieblinge, so ganz besonders A-Dur D 96 oder auch h-moll D 125, aber mit welchem ich mich auch beschäftige, werde ich sofort verzaubert von der nicht nur eleganten, sondern eben auch mit Innigkeit gesetzten Faktur, der gerade nicht banalen Einfachheit und Einprägsamkeit der Themen, dem glanzvollen Ausdruck, der damit eigentlich jeder Geige geschenkt wird, und auch der absoluten Balance der stimmig eingesetzten harmonischen Mittel (insgesamt auf einem vergleichbaren Level wie Corelli oder auch Veracini, und weit über der Routine eines Vivaldi stehend, und auch von insgesamt ausgeglichenerer Qualitätshöhe als Locatelli, Benedetto Marcello oder Albinoni). Zuerst und zuletzt ist es aber stets vor allem ein Fest für die Geige.

Die Soloparts haben die drei Konzertmeister von L’Arte dell’Arco gleichberechtigt untereinander aufgeteilt: Giovanni Guglielmo als spiritus rector, und die eine Generation jüngeren Federico Guglielmo und Carlo Lazari. Alle drei sind tadellose Geiger, wobei Giovanni Guglielmos Spiel in seiner Neigung zu fragil beflügeltem, vogelhaft jubilierendem Ausdruck am besten zu Tartini passt und auch die persönlichste Note transportiert. Dies soll jedoch nicht die Leistung der beiden Kollegen herabsetzen!

Stilistisch habe ich viele erhebliche Einwände gegen diese verdienstvollen und technisch respektablen Aufnahmen. So fehlt es allzu oft an der Vision, ein Grundtempo als Referenz für einen ganzen Satz im Auge zu behalten, und die merkwürdigsten Schwankungen aufgrund wechselnder Faktur sind festzustellen. Am Schluss eines jeden Satzes kommt vor dem letzten Ton der obligatorische Schluckauf: ein Stocken, Pause, Fine. Das ist lächerlich, auch wenn viele hoch angesehene Barockmusiker diese Marotte pflegen, weil sie anders zu keinem plausiblen Ende zu kommen glauben. Dabei muss man einfach nur mehr über die Kadenzspannungen wissen und verstehen, dass Betonungen nicht auf die schwere Zeit gemacht werden müssen. Dann fehlt mir, typisch für fast alle größeren Gesamtaufnahmeprojekte, der individuelle Zugang zu den einzelnen Sätzen. Da hat sich nun doch, verständlich aber bedauerlicherweise, eine Tartini-Routine eingeschlichen, die interessant zu studieren sein mag für die, die diese Musik ohnehin sehr schätzen, doch kaum in der Lage ist, einem unbefangenen Hörer wenigstens gelegentlich das Gefühl von etwas wahrhaft Außerordentlichem zu vermitteln. Viele schnelle Sätze laufen einfach in einem pauschalen Allegro-Tempo ab, das jedenfalls nicht in einmaliger Weise aus dem jeweiligen Tonsatz gewonnen ist. Und in den langsamen Sätzen wird sehr unglücklicherweise des öfteren ein viel zu zügiges Tempo angeschlagen, mit viel zu wenig Gestaltung auf den gehaltenen Tönen, so für mich ganz besonders enttäuschend im zweiten Satz des Konzerts D 96, den ich, obwohl er zu meinen Favoriten zählt, kaum wiedererkannt habe.

All diese kritischen Anmerkungen ließen sich zu fast jeder anderen Aufnahme im sogenannten historisch informierten Stil unserer Zeit machen, was also Fans dieser Spielweise in keiner Weise davon abhalten sollte, hier zuzugreifen – zumal zu einem sehr moderaten Preis und angesichts von Musik, die keinerlei leere Routine oder peinlichen Oberflächlichkeiten kennt, sondern immer von Inspiration durchtränkt ist. An mehreren unterschiedlichen Orten aufgenommen, ist das Klangbild im Durchschnitt sehr klar, reich und transparent. Der Booklettext ist auf ein Minimum reduziert, doch im Netz gibt es viel weitere Literatur, und Bücher über Tartini sind auch keine Seltenheit.

[Christoph Schlüren, September 2015]

Respighi in neuem Licht

BIS – 2130 SACD

 Respighi

Ottorino Respighi (1879-1936)

Metamorphoseon (1930)
Ballata delle Gnomidi (1920)
Belkis, Regina di Saba, Suite (1934)

Orchestre Philharmonique Royal de Liège
John Neschling, conductor

Respighi? Wer ist denn das? Und gibt es von dem außer der Römischen Trilogie und der Antiche Danze ed Arie-Streichersuite überhaupt noch was? So eine Frage kann auftauchen, wenn es um die italienische Musik des frühen 20. Jahrhunderts geht. Na klar, Puccini mit seinen Opern, Mascagni, Leoncavallo, überall weltweit gespielt, aber Respighi?

Wie gut, dass diese neue CD mit solchen Unkenntnissen gründlich aufräumt, denn was das Orchestre Royal aus Liège (Lüttich) da präsentiert, ist allerbeste und wohlklingendste Musik eines Komponisten, dessen Werke leider immer noch allzu unbekannt sind. Das sehr ausführliche Programmheft weist auf seinen späteren Einfluss auf – vor allem – Filmkomponisten hin, denn Respighis Instrumentations-Kunst ist einfach umwerfend, hat er ja auch von Rimsky-Korsakoff entscheidende Anregungen bekommen. Ravel und Einflüsse von Strauss und Debussy sind zu hören, aber vor allem eine durch und durch melodiöse, oft auch überbordend rhythmische Struktur zeichnet diese Musik aus.

Wie ja Respighi die Anregungen von überall her aufgriff, was besonders bei seiner orientalisierenden Ballett-Suite Belkis von 1934 zu hören ist. Tanz war sicher eine der anregendsten Quellen für seine Musik, wofür die effektstrotzende Tondichtung „Ballata delle gnomidi“ von 1920 ein fesselndes Beispiel bietet.

Das Hauptwerk auf dieser CD ist das 1930 komponierte „Metamorphoseon“, Tema con variazioni, ein monumental aufgebautes Stück, das Respighis Meisterschaft der Orchester-Behandlung so deutlich werden lässt, dass ich mich frage, warum es nicht unzählige Orchester als Bravourwerk im Programm haben, es müsste für die Musiker eine Wonne sein, es spielen zu dürfen.

Die Aufnahme-Technik dieser hörenswerten CD ist bemerkenswert, lässt sie doch den ganzen Klangreichtum und die Fülle, die das Orchester unter seinem – in Brasilien geborenen und dort auch tätigen –Dirigenten John Neschling aufzubieten weiß, überzeugend in die Ohren und in das für diese „süffige“ Musik offene Gemüt dringen.

Vom Gesamtwerk dieses „europäischen“ Komponisten kommen hoffentlich noch viele, bislang unterschätzte Schätze zunehmend ans CD-Licht.

[Ulrich Hermann, August 2015]