Archiv für den Monat: Juli 2016

Mehr Martynow, mehr Blüthner … !

Ludwig van Beethoven/Franz Liszt: Sinfonie Nr. 9 Klaviertranskription
Yury Martynow (historischer Blüther-Flügel ca. 1867)
Beatriz Oleaga, Alt
CD 70‘52 Min., 9/2015
©& ALPHA Classics/Outhere Music 2015
ALPHA  227
EAN  3  760014  192272

Kürzlich habe ich auf einem Flohmarkt die (in mehrfacher Hinsicht) etwas angestaubte, in Thomas Manns Geleitwort zur deutschen Übersetzung enthusiastisch als Künstler-Roman begrüßte Biographie  „Joseph Haydn, His Art, Times, and Glory“ des (damals dann schon amerikanischen) Journalisten Heinrich Eduard Jacob aus dem Jahr 1950 für 20 Cent erstanden. Manchmal ist die Art, wie damals über Musik geschrieben wurde, heute allenfalls noch als Skurrilität betrachtet zu ertragen. Doch werden wir nicht überheblich! Was halten Sie von der folgenden Passage aus diesem Buch?

„War man mit einem Klavier allein und hatte keine Erinnerung mehr an die Möglichkeiten anderer Instrumente: welche Klangwunder standen da auf! Eine homophone Figur auf dem Klavier wirkte unerreicht in ihrer Einmaligkeit und Betontheit, ihrer überredenden Gewalt. Und die Harmonik: wo gab es noch solche harmonischen Wirkungen bei einem anderen Instrument? Einer Terz auf dem Klavier, einer Quarte kam keine sonst gleich. Nach einer Viertelstunde Klavierspiel hat sich die Alleinherrschaft des Klaviers so völlig etabliert, dass sein Klang absolut geworden ist und jeder andere daneben abfällt. Die Flöte wirkt hart, nasal und kalt, die Geige quäkt und scheint sentimental. Aber wer würde überhaupt noch Stimmen hören wollen? Das Klavier schafft ja die vollkommene Illusion des Orchesters. Dieses Instrument, das zu keinem andern eine Verwandtschaftsbeziehung hat, ist unbegreiflicherweise fähig, alle anderen zu ersetzen. Jawohl, man macht ‚Klavierauszüge‘, und die meisten sind gelungen. Zeichnungen nach Gemälden sind schlecht. Ein Klavierauszug ist nichts anderes als eine Zeichnung nach einem Orchestergemälde – und trotzdem ist er meistens gut, er drängt zusammen, er macht klar. Er fängt die Gedanken der Meister ein, die sonst wie Wolken, nicht immer fassbar, durch den Orchesterhimmel schwimmen, und bannt sie fest, macht sie unvergesslich.“

Ein Klavierauszug meistens gut? Vollkommene Illusion des Orchesters? Zu Liszts Zeiten waren ja Klavierbearbeitungen das, was jetzt der Plattenschrank ist – die Grundlage für Konzert im Wohnzimmer. Wozu dann heute solch ein altmodisches Surrogat? Ein originelles Geschenk für Leute, „die schon Alles haben“? Ein Ersatz für eine Aufführung von Beethovens Neunter ist Yury Martynovs CD wahrlich nicht – kann sie nicht und will sie nicht sein. Sie ist etwas ganz Anderes. Dazu unbedingt lesenswert ist, was Arrangeur Franz Liszt selbst dazu sagt, zu finden als weitläufiges Zitat im sehr schönen und informativen Booklet der vorliegenden Produktion. Und was erst Martynov daraus macht! Da möchte man denen glauben, die mit unwiderlegbaren Gründen sagen, dass Beethovens ureigenes Instrument das Klavier war, so genuin klaviermäßig klingt das Alles unter Martynovs Händen: ein Molto Vivace in kraftvollem Galopp mit einem rhythmischen Drive, der der Satzbezeichnung alle Ehre macht, ein hinreißend melancholisches Adagio molto cantabile, das sich anfühlt, als wäre es nie einem anderen Instrument zugedacht gewesen …

Aber was machen Liszt und Martynov aus dem berühmten, für eine Klavierbearbeitung mehr als problematischen Finale dieser Chor-Sinfonie, die damals nach Liszts eigenen Worten die meisten Musiker als „ein gar erschreckliches Schrecknis“ betrachteten? Dieser Klaviersatz, in dieser Einspielung, ist etwas völlig Neues geworden, etwas völlig Anderes als Beethovens Original, und, um es gleich – und ganz persönlich – zu gestehen: Ich höre den Satz in dieser Form sogar lieber als im Original. Jemandem, der mit einer – sit venia verbo – manchmal etwas schwülstigen Ästhetik des angehenden 19. Jahrhunderts (und ich gebe es zu: auch mit Faust Teil 2 habe ich meine Probleme) wenig anzufangen weiß, ist in der Tat dieses Instrumentalwerk „ersatzweise“ leichter zugänglich. Das hört sich dann eher an wie eine „Improvisation zur Europa-Hymne“.  Mal zögerlich suchend und verträumt, dann wieder schroff entschlossen werden wir hier – ganz „klavieristisch“ – von Martyrov durch eine wild zerklüftete Landschaft voll unerwarteter Schönheiten geführt. An manchen Stellen könnte man fast meinen, sich in einer Sturm-und-Drang-Fantasie Carl Philipp Emmanuel Bachs verirrt zu haben.

Somit hat nun auch Yury Martynov – nach Scherbakow, Biret, Katsaris und Leslie Howard – seinen Zyklus der Liszt-Bearbeitungen von Beethovens neun Sinfonien abgeschlossen. Ich besitze bereits die Aufnahmen von Scherbakow und Howard, möchte ihre Interpretationen aber hier nicht demonstrativ mit der Vorliegenden vergleichen. Ich liebe und schätze sie alle Drei. Den goldenen Apfel bekommt jedoch Martynov, vor allem auch wegen des wunderbar weichen und doch so farbig-obertonreichen Klangs des historischen Blüthner-Flügels, gespielt  in der für ihre Akustik weltberühmten Doopsgezinde Kerk von Haarlem (NL). Für mich sind (die leider so seltenen) Aufführungen auf Blüthner-Flügeln immer etwas ganz Besonderes, und ich kann uns allen nur wünschen: Mehr Martynow, mehr Blüthner … !

[Hans von Koch, März 2016]

– reupload aufgrund technischer Fehler-

Der vergessene Tiroler

Klingende Kostbarkeiten aus Tirol 73

(zu erwerben ausschließlich üben:
http://cdeditionen.musikland-tirol.at/content/cds-kaufen/)

Da werde ich auf eine CD aufmerksam mit einem Komponisten, von welchem ich nie im Leben gehört hätte, von dem mir nicht einmal der Name ein Begriff war. Doch stellt sich heraus, wie phantastisch diese Musik ist, und so nutze ich den Anlass des einjährigen Jubiläums von The New Listener, diese schon etwas ältere CD von 2010 zu besprechen, deren Mitwirkende – zumindest zweien von ihnen – ich bereits in meiner allerersten Besprechung auf dieser Plattform rezensierte.

Emil Berlanda ist kein Komponist, der in Vergessenheit geraten ist – nein, er war noch nie im Bewusstsein der Hörer vorhanden, weder zu Lebzeiten noch danach. Sein nicht allzu langes Leben von 1905 bis 1960 war geprägt von Misserfolg und Krankheit: Kaum ein Konzert erhielt der in Innsbruck lebende Musiker, welcher sich das Orgelspielen wie auch das Komponieren autodidaktisch beigebracht hatte, lediglich für Rundfunkaufführungen oder für Laienbühnen wurde er engagiert; dabei wurde er immer wieder behindert durch die Multiple Sklerose, an der er die letzten ca. zwanzig Jahre seines Lebens litt. So kommt es, dass drei einige Werke zu Lebzeiten nie vor Publikum aufgeführt wurden: Die Musik für konzertantes Klavier und Orchester sowie die Sinfonietta erklangen lediglich im Rundfunk, die Sinfonischen Variationen, sein spätes Hauptwerk, waren gar nie gespielt worden.

Zum 50. Todestag des Komponisten wurde dies von Karlheinz Siessl und dem Orchester der Akademie St. Blasius nachgeholt. Initiiert von Manfred Schneider, welcher auch den ausführlichen und informativen Booklettext verfasste, führten die Musiker am 31. Juli und am 1. August 2010 in der Basilika Stift Stams einige Orchesterwerke Berlandas auf, darunter die drei genannten Uraufführungen. Bei www.musikland-tirol.at erschien der Mitschnitt auf CD.

Das Programm beginnt mit der dreisätzigen Suite für Orchester op. 13 von 1931, die Berlandas intensive Beschäftigung mit modernen Komponisten widerspiegelt und an Klänge unter anderem des frühen Schönberg, von Debussy und Strauss gemahnt, dabei jedoch eine unverwechselbar eigene Note hat und bereits Qualität von überregionalem Rang besitzt. Von ausgefeilter Form, herrlicher instrumentaler Farbigkeit und stringentem Spannunsverlauf ist die Sinfonietta op. 18 von 1933 geprägt, ein hochkomplexes Werk von knapp dreizehn Minuten Länge. Die Musik zu Georg Büchners Leonce und Lena op. 25 von 1934, bestehend aus Vorspiel und Melodram (Sprecherin ist Christine Schallbaumer), kann die gehässige Skurrilität der Literaturvorlage ausgezeichnet musikalisch charakterisieren und akustisch ergänzen – beißender Humor und absolute Prägnanz zeichnen diese Musik aus. Eine moderne Umsetzung der Musik von Berlandas Idol Johann Sebastian Bach in Form und Kompositionsweise ist die Musik für konzertantes Klavier und Orchester op. 31 (1936) – hier mit dem Solisten Michael Schöch –, in der eine unvergleichlich gelungene Synthese erreicht ist. Wohl der Gipfel seines Schaffens sind die Sinfonischen Variationen op. 43 aus dem Jahr 1942, die erst im hier aufgezeichneten Konzert 2010 zur Uraufführung kamen. Berlandas Musik ist gleichzeitig so unmittelbar wirkend, dass sie einen sofort in den Bann nimmt, andererseits derart komplex, dass es mehrfaches Hörens bedarf, um die Werke einigermaßen in ihrer Struktur verstehen zu können. Der Satz ist gezeichnet von Kontrapunktik und einem dichten Gewebe aus Stimmen, wobei sich diese auf rhythmisch markante Themen und Motive stützen, die durchaus auch im Ohr bleiben. Es herrscht eine stete Spannung, die stellenweise gar Gänsehaut erzeugen kann, so intensiv und durchdringend ist sie. Jedes Stück ist ein Solitär und trägt die eindeutige Handschrift Berlandas, Vergleiche zu anderen Komponisten der Zeit können definitiv nicht das klingende Resultat umschreiben. Hier liegt Musik von einem grandiosen Komponisten internationalen Ranges vor, dessen bisherige Unbekanntheit eine wirkliche Vernachlässigung der Musikforschung ist, die dringend aufzuholen ist!

Karlheinz Siessl leitet sein Orchester der Akademie St. Blasius auch hier in der von neueren Aufnahmen gewohnten überragenden Qualität mit größter Dichte, Einfühlungsvermögen und flexibler Reaktion auf das Erklingende. Es wird deutlich, wie sehr den Musikern an der Musik liegt, und ich frage mich, wie lange sie daran geprobt haben, um ihr auch gerecht zu werden. Der Dirigent nannte die Musik einmal das Beste, was er je eingespielt habe – und das will etwas heißen angesichts der Meisterwerke, die er sonst noch entdeckt und auf CD eingespielt hat. Karlheinz Siessl kann sein Orchester in jeder Stimme Leben entfachen lassen und alles hörbar machen, auch gelingt es ihm, die Spannung das gesamte Stück über aufrecht zu halten, ohne gelegentlich abzufallen. In dieser frühen Aufnahme des Pianisten Michael Schöch hört man noch etwas den gleichförmig kräftigen Anschlag der Orgel heraus, welche er ebenso wie das Klavier beherrscht (mittlerweile hat er den Anschlag am Klavier verwandelt und agiert feinfühliger auf die sensible Ansprache des Flügels). Doch schon 2010 zeigt sich sein herausragendes Talent und seine Gabe, die Musik fast wie absichtslos entstehen zu lassen. Schöch und das Orchester verschmelzen dabei erstaunlichem Einklang. Sie wirken in makellosem Einvernehmen zusammen, wie es nur selten zu hören ist.

Wie bereits gesagt, bei Berlanda herrscht dringender Nachholbedarf! Seit der Gründung von The New Listener war es mir ein stetes Anliegen, nicht nur den großen Namen eine weitere von unzähligen Besprechungen zu geben, sondern auch für das Unbekanntere einzustehen und dieses vielleicht etwas ans Licht zu rücken. Es wäre für mich der schönste Beweis, etwas erreicht zu haben in diesem einen Jahr, wenn es tatsächlich neue Aufführungen der von uns besprochenen Musik geben sollte, oder falls vielleicht ein Verleger oder ein Label dadurch auf diese Musik aufmerksam würde und sich auch dafür einsetzte. Hier kann ich den Finger heben und zeige auf Berlanda.

[Oliver Fraenzke, Juli 2016]

The New Listener feiert Geburtstag

Liebe Leserinnen und Leser,

nun ist es tatsächlich schon ein Jahr her, seit The New Listener seine Pforten öffnete, und entsprechend ist die Zeit gekommen, einen ersten Rückblick zu wagen und natürlich auch, um Danke zu sagen.

Es ist viel geschehen im vergangenen Jahr und ich bin selbst erstaunt und erfreut, wie schnell sich The New Listener entwickelt hat und wie viel Zuspruch der Blog schon nach kürzester Zeit erfuhr und immer mehr erfährt. Doch will ich anlässlich des heutigen Jubiläums von vorne beginnen: Es ist vielleicht bekannt, dass die Entstehung von The New Listener auf Dr. Rainer Aschemeiers Blog „www.the-listener.de“ zurückgeht, welchen er bereits 2003 gegründet hatte und nach elf Jahren im Dezember 2014 aus beruflichen Gründen schließen musste, da er eine Stelle als Pressesprecher in der Musikbranche erhielt, was unvereinbar mit der Aufgabe eines nicht interessengebundenen Rezensenten ist. Zu dieser Zeit begann ich, für verschiedene Medien zu rezensieren und Erfahrungen zu sammeln. Als ich schließlich auf den geschlossenen Blog Rainer Aschemeiers stieß, war meine Begeisterung für die Besprechungen auf dieser Plattform groß und bald schon der Plan geboren, diese Seite zu reanimieren und fortzuführen. Die Realisierung dessen scheiterte anfangs an einem Mangel technischer Kenntnisse, doch glücklicherweise erhielt ich bald Hilfe: Julius Reich, selbst ein wunderbarer Musiker, ermöglichte mir dankenswerterweise, die technischen Hürden zu überwinden: Er designte und programmierte alles, was heute unser Layout ausmacht. Von ihm stammt auch das Design für unsere CD-Cover, welches seit der Rezension „Der andere Wieniawski“ von Liv und Marian Migdal im Februar im Gebrauch ist.

Am 28. Juli 2015 schließlich wurden die ersten zwei Rezensionen veröffentlicht, The New Listener trat zaghaft ans Licht der Öffentlichkeit. „Divergierende Werke des 21. Jahrhunderts“ heißt der erste Text und behandelt Werke für Streichtrio und -quartett, gespielt von Stimmführern des Orchesters der Akademie St. Blasius – darauf bezugnehmend wird zur Feier des heutigen Tages noch eine CD-Rezension über selbiges Orchester erscheinen. Lucien-Efflam Queyras de Flonzaley, vom ersten Tag an als Mit-Initiator dabei, veröffentlichte am gleichen Tag noch eine Rezension über die geniale Pianistin Ottavia Maria Maceratini und ihr Debüt in der Berliner Philharmonie mit dem Deutschen Symphonie-Orchester Berlin unter Gustavo Gimeno. Im kommenden Monat begann auch Peter Fröhlich, für The New Listener zu schreiben, einen Monat später Ulrich Hermann, welcher bereits für Dr. Aschemeiers The Listener tätig war und äußerst rege und couragiert kontrovers agiert. Weitere Autoren folgten: Hans von Koch, Grete Catus, Stefan Reik, Georg Glas, Josef Rottweiler, Paul Prechtel, Raphael Buber, Ernst Richter – sie alle trugen zum schnellen Aufstieg von The New Listener bei.

Am 10. Januar eröffnete The New Listener zudem eine Facebookseite für all diejenigen, die unsere Publikationen direkt auf ihrer Pinnwand sehen wollen.

Von Beginn an war es mein Hauptanliegen, nicht primär über die großen Namen und stark beworbenen Einspielungen zu schreiben, sondern gerade auch für unbekanntere Musiker und Komponisten zuständig zu sein, denen auf anderen Plattformen keine oder viel zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Das ist gewiss einer der wichtigsten Aspekte – vielleicht neben der häufig weit überdurchschnittlichen Länge und Detailgenauigkeit der hier erscheinenden Rezensionen -, die The New Listener ausmachen. Es ist mein größter Wunsch, daraus resultierende Erfolg zu sehen in Form von Aufführungen, Einspielungen oder allgemein größerem Interesse am einen oder anderen der hier vorgestellten Komponisten, die noch zu wenig Aufmerksamkeit genießen.

Und nun, wie geht es weiter? Auch wenn ich auf ein schönes und ereignisreiches Jahr zurückblicke, sind wir natürlich noch lange nicht dort, wo wir hin wollen. Die Reise hin zur Musik endet ja bekanntlich nie, so unendlich viel gibt es zu erforschen, doch wir haben gerade erst die Segel gehisst. Wir streben nicht danach, die inhaltliche Qualität einfach nur aufrecht zu erhalten, sondern sie mit jedem neuen Text zu erhöhen, an jeder Besprechung zu wachsen und unsere Qualität weithin auszustrahlen. Genau so wie ich kritisch höre, betrachte ich auch mein eigenes Resultat durchgehend selbstkritisch und werde mich auch nie zufriedengeben. Dies ist die Maxime, mit der ich jeden Tag aufs Neue ans Werk gehe, um an mir selbst Schritt für Schritt zu arbeiten.

Zuletzt gilt es noch, einen weiteren Dank auszusprechen: Und zwar an diejenigen, ohne die alle in The New Listener gesteckte Arbeit sinnlos wäre, ohne die diese Plattform gar nicht erst auf diese Weise existieren würde. Und das sind Sie, liebe Leserinnen und Leser, die unsere Texte verfolgen und uns immer wieder besuchen. Ich weiß, dass unter Ihnen einige professionelle und zum Teil sehr bekannte Musiker sind, aber auch Studierende oder bald-Studierende ebenso wie Liebhaber klassischer Musik – und ich bedanke mich bei jedem einzelnen auf die gleiche Weise, denn es ist die Musik, wo gilt: „Alle Menschen werden Brüder“. Danke, dass Sie dieses eine Jahr The New Listener mit ermöglicht haben, und ich hoffe, dass wir auf dieser Seite noch viele Jahre gemeinsam verbringen werden,

Ihr Oliver Fraenzke

Ein unbeachteter Russe

Ars Produktion Schumacher, ARS 38 209; EAN: 4 260052 382097

Im zweiten Teil der Gesamteinspielung aller Klavierwerke des russischen Virtuosen Sergei Lyapunov für Ars Produktion ist Florian Noack zu hören mit der Novelette op. 18, der Barcarolle op. 46, der Humoreske op. 34, mit drei Stücken op. 1, sieben Preludes op. 6, Chant du crépuscule op. 22, Variationen und Fuge über ein russisches Thema op. 49 sowie mit Fêtes de Noël op. 41.

Die meisten dürften den Namen Sergei Lyapunov zwar bereits irgendwo gehört haben, doch etwas Konkretes mit ihm in Verbindung bringen werden wohl die wenigsten, kein einziges seiner Werke genießt heute große Bekanntheit. Immer wieder ist die Rede von „Epigonentum“, quasi ein Todesurteil für nicht etablierte Musik (während dies bei bereits entdeckten Komponisten scheinbar niemanden stört). Was die Chancen auf große Verbreitung verringert, ist nicht zuletzt auch die hohe Virtuosität, die sogar den kleinen Miniaturen innewohnt und einen Großteil der Werke ausschließlich für professionell ausgebildete Pianisten spielbar macht. Bestätigt wird dies alleine schon dadurch, dass drei der auf dieser CD zu hörenden Stücke Ersteinspielungen sind.

Charakteristisch für Lyapunov sind große uniforme Flächen, die bedingt werden durch fließende Themen in gleichen Notenwerten, welche repetitiv ausgekostet werden, meist ohne dabei durchgeführt oder groß variiert zu werden. Rhythmisch passiert dabei meist wenig, alles ist auf den dynamischen Melodiefluss und spannungssteigernde Harmonik angewiesen. Bei langen Werken besteht somit schnell die Gefahr, dass Langwierigkeit aufkommt, da es an Kontrasten und Abwechslungsreichtum fehlt, doch interessanterweise ist dies beinahe nie der Fall (außer vielleicht bei der Barcarolle, die schon sehr umfangreich ist für das, was tatsächlich musikalisch geschieht). Anders als beispielsweise Chopin, der stets für Kontrast und Entwicklung sorgte, verträumt sich Lyapunov in seine Themen und schöpft diese so weit wie nur möglich aus. Es herrscht fast durchweg ein voller Klang, der durch virtuose Nebenstimmen erreicht wird, welche die schlichten Melodien umgarnen. Auf diese Weise bilden die technischen Anforderungen eine unumgängliche Herausforderung im Dienst der Musik, und die Virtuosität ist nicht reiner Selbstzweck. Das bedeutendste Stück sind zweifellos die Variationen und Fuge auf ein russisches Thema op. 49 – welch eine unbändige Kraft und Schroffheit in diesem Werk steckt und welch eine flexibel sich wandelnde Vielseitigkeit! Durch Abwechslungsreichtum stechen auch die Fêtes de Noël op. 41 in all ihrer Beschaulichkeit heraus. Mit Zartheit betören können zudem Chant du crépuscule op. 22 und der Walzer aus den drei Stücken op. 1. Bei den anderen Stücken überwiegt größtenteils die Monochromie bei Ausnutzung der physikalisch möglichen Fingerfertigkeit, die natürlich durchaus Reiz und eine gewisse Schönheit besitzen, jedoch nicht das außerordentlich hohe Niveau der soeben genannten Werke erreichen. Schade, dass der Booklettext von Guy Sacre ausschließlich Banalitäten nennt und einen ewigen Vergleich anstimmt, wie technisch anspruchsvoll Lyapunov doch sei – was wesentlich an dieser Musik ist, scheint ihm nicht deutlich zu sein.

Der junge belgische Pianist Florian Noack erweist sich als ein großes Talent mit einem außergewöhnlich feinsinnigen Anschlag, innigem Gefühl und aufbegehrender Expressivität. Chamäleongleich kann er sich allen Charakteren anpassen und in die Musik regelrecht eintauchen. Noack kann die Sanglichkeit und Lyrik auskosten, ebenso auch nach vorne drängen und seinem Ausdrucksvermögen bis in die wildesten Passagen freien Lauf lassen. Die Schwierigkeiten lässt er vergessen, so leicht fliegt er über die Tasten und hebt die mit größter Einfachheit gestrickten Hauptstimmen hervor. Beeindruckend ist Noacks Pedaleinsatz, der ein sauberes Legato ermöglicht, aber niemals etwas verschwimmen lässt – so dass nicht einmal auffällt, dass überhaupt Pedal benutzt wird. Einziger Kritikpunkt ist, dass Florian Noack sich im Fortebereich etwas versteift, seine Flexibilität geht dadurch verloren und der Klang wird unverhältnismäßig trocken und hart, gar rabiat. Hier kann er des Öfteren noch nicht seine Emotionen bändigen, was aber gerade in solch intensiven Passagen unbedingt erforderlich ist, um die Geladenheit auch dem Hörer weiterzureichen und nicht alles für sich selbst zu „verbrauchen“. Abgesehen davon ist Florian Noack ein ausgesprochen feinsinniger Musiker und ihm scheint eine glänzende Karriere zu bevorstehen – bleiben wir weiter auf dem Laufenden!

[Oliver Fraenzke, Juli 2016]

Totentanz als Urthema

FRANK MARTIN (1890-1974)
Ein Totentanz zu Basel im Jahre 1943

ARMAB ORCHESTRA
SACRAMENTSKOOR
HINENI STRING ORCHETRA
BASEL DRUMS
Geofrey Madge, Piano
Bastiaan Blomhert, conductor

Cpo 777 997-2
7 61203 79972 5

Um die Mitte des 15. Jahrhunderts  malte man auf die Friedhofsmauern des Dominikanerklosters zu Basel 37 Bilder, die das schon seit langem bekannte Sujet des Totentanzes darstellten. Zerstört im Jahr 1805, blieben nur wenige Stücke für die Nachwelt erhalten. (Bei Google gibt es ein Aquarell mit allen 37 Darstellungen!)

1943 bat die Pantomimin Mariette von Meyenburg ihren Onkel Frank Martin um die Musik zu einer entsprechenden Theateraufführung. Leider ist nicht die gesamte Musik erhalten, einige Stücke wurden neu komponiert, andere aus anderen Kompositionen übernommen. Das hervorragende, mit mancherlei Bildern bestückte Booklet gibt ausführlich Auskunft und enthält auch die gesungenen Texte. Die Textverständlichkeit der Chöre lässt allerdings oftmals sehr zu wünschen übrig, was bei diesem holländischen Chor ein echter Makel ist. Zumal wo die Texte oft geistlichen Ursprungs sind, oder, wie auch das von ca. 1580 überlieferte Landknechts-Lied  mit dem Text „der grimmig Tod mit seinem Pfeil“ von Balthasar Bidembach (1533-1578). Also wäre ein Coach fürs Deutsche dringend nötig gewesen. (Beispiel gefällig: Kann ihm ent-rie-nen bzw. von hie-nen, statt entrinnen und von hinnen!!) Und das ist nicht der einzige Lapsus.

Die Musik, ausgehend von noch heute in Basel lebendigen Trommelstücken bis hin zu jazzmäßigen Einschüben aus Martins Kompositionen, fußt auf entsprechenden Liedern aus diversen evangelischen Gesangsbüchern, die meist mit kleinem Orchester begleitet werden. Sie beleuchten die verschiedenen „Paarungen“, die der Tod mit den Personen eingeht, die er sich holt, oder die ihn suchen. Martin, der seinen Stil aus Zwölftontechnik und klassischer tonaler Tonsprache entwickelte, komponierte neben einer ganzen Reihe von Vokalwerken (z. B. der Messe für zwei vierstimmige Chöre von 1922 und 1926) oder einem Requiem (1971/72) auch Instrumentalkonzerte für verschiedene Instrumente, Opern wie „Der Sturm“ von 1956 und Kammermusik. Seine Musik ist ansprechend ohne je simpel zu sein, so auch auf der vorliegenden CD von cpo. Neben Malern, die sich mit dem Thema „Totentanz“ beschäftigt haben, gibt es Tonschöpfungen, z. B. Franz Liszts (1811-1886Totentanz (1847-49), den „Danse Macabre“ von Camille Saint –Saëns (1835-1921) oder „Ein Totentanz“ von Wilhelm Kempff (1895-1991), und auch von Hugo Distler (1908-1942). Wolfgang Andreas Schultz (*1948) komponierte 1986 einen Totentanz. Frank Martins 1943 entstandene Komposition, die in Basel mitten im zweiten Weltkrieg auch ihre beeindruckende Uraufführung – und abgesehen von einer Wiederaufnahme 1992 einzige Aufführung – erlebte, wie die Bilder im Booklet  ebenfalls zeigen, knüpft an eine Vorlage an, die nicht nur für Maler wie Dürer und Holbein oder für Dichter wie Gryphius und Goethe oder Rilke Anlass schöpferischer Auseinandersetzung waren, sondern auch immer wieder Musikern wie Schubert, Mussorsky, Alban Berg oder Honegger und vielen anderen als Vorwurf zu ihren Kompositionen dienten.

[Ulrich Hermann, Juli 2016]

Purer Gesang

Musikproduktion Dabringhaus und Grimm, MDG 901 1964-6; EAN: 7 60623 19646 6

Gemeinsam mit den Hamburger Symphonikern spielt Vladimir Soltan für die Musikproduktion Dabringhaus und Grimm Klarinettenkonzerte von Carl Nielsen und Jean Françaix ein sowie die Première Rhapsodie für Klarinette und Orchester von Claude Debussy.

Drei vergleichsweise selten zu hörende Klarinettenkonzerte offeriert das Debütalbum von Vladimir Soltan (ob er mit dem gleichnamigen weißrussischen Komponisten verwandt ist?). Als „neue Klarinettenkonzerte“ bewarb er dieses Projekt auf Startnext und konnte es so via Croudfunding finanzieren – wie dort zu entnehmen, sollte statt Debussy übrigens ursprünglich das Konzert von Henri Tomasi zu hören sein.

Eine wahre Perle der Klarinettenkonzertliteratur ist das Opus 57 des Dänen Carl Nielsen, dessen Musik nach wie vor hierzulande viel zu wenig bekannt ist. Während seine Symphonien, eine Auswahl seiner Kammermusik und sein Violinkonzert mit Glück noch manchmal live zu erleben sind, kennt kaum jemand seine beiden Opern außer deren Ouvertüren oder seine späten Bläserkonzerte – eines für Flöte und das hier vorliegende für Klarinette. Der einsätzige Opus 57 glänzt durch kreative Formerweiterungen, die trotz weiter Räume steten Zusammenhang haben, die bestechen durch eingängige Melodien und das unerhörte Charakteristikum des Konzerts, dem Solisten eine kleine Trommel als „Duettpartner“ beizugesellen – welch ein herrlicher und unverwechselbarer Einfall! Die Première Rhapsodie für Klarinette und Orchester von Claude Debussy zeigt den Komponisten in voller Pracht und beeindruckender Schönheit mit zarten Melodien, fließenden Übergängen und höchster Kunst der Instrumentation auf Grundlage der ursprünglichen Klavierbegleitung. Eine Renaissance – nein, eine Naissance – darf endlich die Musik von Jean Françaix erfahren, der nun immer häufiger im Konzert gehört werden kann und eingespielt wird. Knappe zwanzig Jahre nach seinem Tod wird man auf die elegante Musik des Franzosen aufmerksam, die eine heitere Leichtigkeit und unverstellte Natürlichkeit versprüht, treibende Rhythmen und tänzerische Heiterkeit, die dennoch höchste Ansprüche vertritt und zu keiner Sekunde ihre hohe Inspiration verliert oder spannungsmäßig abfällt.

Widerpart des weißrussischen Klarinettisten sind die Hamburger Symphoniker unter José Luiz Gomez. Der Klangkörper bietet eine solide Klanggrundlage in warmem und dichtem Gestus, aus welchem Gomez in den meisten Fällen alle wichtigen Stimmen hervortreten lassen kann. Die orchesterinternen Solisten fallen durch ein hohes Maß an Musikalität und Integration ihrer Soli in den Fluss des Geschehens auf. Die Tempowechsel in Nielsens Konzert geraten hingegen oft unorganisch und stockend, allgemein verliert Gomez phasenweise die klare strukturelle Orientierung und agiert folglich etwas benebelt.

Eine wahrhafte und kontinuierliche Freude beim Zuhören löst Vladimir Soltan aus. Nicht nur, dass er sein Instrument bis ins letzte Detail beherrscht, nein, auch einen besonderen Klang entlockt er ihm. Es ist purer Gesang, der der Klarinette entströmt, sei es in zarten Kantilenen, in großen Tutti oder halsbrecherischen Läufen, die bei Soltan eine beherzte Frische und Heiterkeit atmen und niemals das Ideal der menschlichen Stimme vergessen. Die Regel bestätigen wenige Ausnahmefälle, wenn Soltan gegen das volle Orchester anzukämpfen hat, wobei dies den unter Gomez zu massiv agierenden Symphonikern geschuldet ist und nicht dem Solisten, der nur seine Hauptstimme verteidigen muss. Vladimir Soltan besticht mit beeindruckendem Einfühlungsvermögen in die Musik und versteht tiefe Zusammenhänge wie auch den lyrischen Moment, welchen er auszukosten vermag.

Auf ein zweites Album kann man sich nur freuen und hoffen, dass Soltan noch mehr unbekannte Klarinettenliteratur in überzeugender Darbietung ins Licht rücken kann.

[Oliver Fraenzke, Juli 2016]

Trotz alledem

SADIE HARRISON
The Rose Garden of Light
(A Crossover Between Afghan and Western Music)
Traditionelle Afghanische Musik und Musik von Sadie Harrison

ANIM  Junior Ensemble of Tradtional Afghan Instruments
Kevin Bishop, Viola
Ensemble Zohra
Cuatro Puntos

TOCC 0342, EAN: 5 060113443427

Afghanistan hat düstere Zeiten erlebt und erlebt sie bis heute. Dass das Regime der Taliban mit Kultur oder gar mit Kunst gar nichts am Hut hatte, dass ihnen Tradition und Menschlichkeit einfach egal waren und sind, ist bekannt. Dass aber dabei auch alle Musikinstrumente systematisch zerstört wurden, war mir neu. Über die Hintergründe und den Neuanfang vor ungefähr zehn Jahren gibt das Booklet sehr informativ und klar Auskunft, auch über die Musikerinnen und Musiker, über deren Zusammenarbeit mit westlichen, besonders amerikanischen Künstlern und Lehrern – Kevin Bishop sei hier stellvertretend genannt.

Die Komponistin Sadie Harrison wurde 1965 in Australien geboren und lebt in England. Sie arbeitete einige Jahre zusammen mit dem Musiker Kevin Bishop im neugegründeten Musikinstitut in Kabul, wo sie die alten Traditionen der afghanischen Musik neu belebten und ihre Kompositionen entstanden.

Herausgekommen ist ein spannendes Crossover – was ja immer ein Risiko ist, wenn traditionelle Musik mit „westlicher“ zusammenkommen soll, von misslungenen, wie von gelungenen Beispielen gibt es eine große Anzahl. (Nachzulesen auch bei the-new-listener).
Aber im Fall dieser erfreulichen CD ist es sehr gelungen, angefangen vom ersten Stück mit dem Titel „Der Judasbaum“ des afghanischen Komponisten Ustad Mohammed Omar, eines berühmten Rubab-Spielers, gefolgt von einem Viola-Solo von Sadie Harrison von 2014 „Allah hu“, überzeugend gespielt von Kevin Bishop, bevor das Hauptstück der Komponistin „The Rose Garden of Light“ von 2015 für Streich-Sextett und Jugend-Ensemble erklingt. Es drückt vor allem die neugewonnene Hoffnung auf eine friedliche und menschenwürdige Zukunft dieses zerstörten und zwischen unterschiedlichen Interessen aufgeriebenen Landes aus.  Und ist mit einer Dauer von fast 25 Minuten das Zentrum dieser CD.

Es folgen einige traditionelle Folksongs, teils instrumental, teils arrangiert für Streichsextett von Kevin Bishop.

Die Schönheit und Gelassenheit des gemeinsamen Musik-Erlebens überträgt sich in wunderbarer Weise auf den Hörer und ermöglicht ihm eine Erfahrung jenseits aller oft ach so reißerisch aufgebauschten Medienberichte über eine uralte Musik und Kultur, die hoffentlich bald wieder zurück finden kann zu ihrer ureigensten Sprache und Form.

Es gibt so viel Staunenswertes und Erlebbares auf unserem „Blauen Planeten“, für ihren „kleinen“ Beitrag gebührt dieser runden Scheibe Dank und besondere Aufmerksamkeit.

[Ulrich Hermann, Juli 2016]

In der Tiefe – aus der Tiefe

Simax Classics, PSC 1342; EAN: 7033662013425

Fantasia Sopra Laudi von Ingvar Lidholm, Grave – Metamorphoses for Violoncello and Piano von Witold Lutosławski und Elegia – Sebastian Knight’ille von Aulis Sallinen sind auf der CD „Octophonia“ des Bassisten Dan Styffe für Simax Classics ebenso zu hören wie die Partita For Six Double Basses, die Three Stanzas For Double Bass Solo und Clamavi von Arne Nordheim.

Der Kontrabass ist ein selten zu hörendes Soloinstrument, nur wenige Namen wie Bottesini, Dragonetti, Vanhal, Dittersdorf und Koussevitzky kommen dabei sogleich ins Gedächtnis. Doch was dieses Instrument tatsächlich – gerade auch in neuerer Musik – vermag, zeigt nun Dan Styffe auf seinem Album Octophonia für das norwegische Label Simax Classics.

Hauptsächlich präsentiert dieses Album Musik des Norwegers Arne Nordheim, welcher zu Beginn dieses Jahrzehnts verstarb. Dem vorangestellt ist Musik dreier anderer Komponisten: Den Beginn macht Ingvar Lidholms „Fantasia Sopra Laudi“, ein recht zerrissenes Werk, welchem trotz einiger Schönheit der Melodien etwas das zusammenhängende Element fehlt. Es folgt Lutosławskis „Grave – Metamorphosis for Violoncello and Piano“, ein düster-beklemmendes Werk in spannungsgeladenem Gestus von geheimnisvoller Eleganz. Die wärmeren Klänge eines Violoncellos wie vom Komponisten intendiert würden das Werk stimmiger komplettieren als der sprödere und in der Höhe spaltiger klingende Kontrabass – dennoch ein interessantes Experiment. Ingrid Andsnes, die viel zu selten zu hörende Schwester des international gefragten Pianisten Leif Ove Andsnes, begleitet Styffe mit vollem Anschlag und singendem Ton, der gleichsam fast wie „gestrichen“ klingt. „Elegia – Sebastian Knight’ille“ des finnischen Komponisten Aulis Sallinen, vor allem bekannt durch seine Opern und Symphonien, nutzt alle Lagen des Kontrabasses für scheinbar nicht enden wollende Zusammenflüsse edler Melodik, die ein großes Gemälde aus Tönen ergeben.

Von Arne Nordheim stammen die restlichen Werke dieser CD. Zunächst ist die Partita für sechs Kontrabässe zu hören, das vielleicht interessanteste Stück dieser Einspielung. In brandenden Wellen schwingt sich die Musik immer wieder von Neuem auf und geht stets sogleich wieder zurück, gibt dabei jede nur erdenkliche Klangnuance der Instrumente preis – teils wirkt es gar wie elektronische Musik, was Nordheim da aus den Kontrabässen hervorzaubert. Die sechs Kontrabassisten spielen wie mit einem Atem, gar wie aus nur einem Instrument, alles klingt perfekt synchron und mit identischer Intention. Es sind beinahe beängstigende Klanggestalten, die aus der Tiefe dieses „Super-Instruments“ ertönen, teils homophon, meist aber in kontrapunktisch geflochtenen gegenseitigen Umspielungen und Anstachelungen. Ebenfalls von komplex weitschweifender Melodik sind die Three Stanzas, wo Dan Styffe nun wieder auf sich alleine gestellt ist, ebenso wie im großformatigen Clamavi. Allgemein zeichnet sich Nordheims Kontrabassmusik aus durch vielgestaltige Form, die trotz unkonventioneller Weitläufigkeit doch stets zusammenhält und ein großes stringentes Ganzes bildet, dies sogar im knapp zehnminütigen Clamavi.

Dan Styffe entlockt dem Kontrabass alles, was nur irgend möglich ist – und sogar „noch mehr“! Es überrascht wahrlich, wie viel Gesang doch aus dem tiefen Instrument strömt, welches so oft nur mit simpler Grundton-Arbeit abgespeist wird. Es sind ganz neue Klangerlebnisse, den Kontrabass nun als vielseitigen Solisten zu hören, sei es mit tiefem Grummeln oder mit ungewohntem Gesang in den beinahe quietschigen (aber nicht unangenehmen!) Höhenlagen. Auch dynamisch feingliedrige Bögen in bewusster Phrasierung und erlebte artikulatorische Feinheiten können Dank Dan Styffe bewundert werden.

[Oliver Fraenzke, Juli 2016]

Schade, schade…

Overtones
Les saisons harmoniques
Wu Wei, sheng. Wang Li, guimboard

Harmonia Mundi, HCM902229
3 149020 222928

This is a free design for Deviantart Photoshop Files. Created with a Creative Commons Licence (http://creativecommons.org/licenses/by-nd/3.0/) Rules for use: 1. When using this template, post copyright post in your project. Always link to this deviant page for copyright. Include author name and link. 2. Do not sell, redistribute or copy this file. 3. Downloads are only from this URL. 4. When using in your project, leave a comment with link to project please...

Was für seltsame, bezaubernde Töne, wenn diese CD anfängt, nie gehörte Klänge mit dem Sheng oder der Maultrommel, auch Bodypercussion-Elemente, kurzum, alles was die beiden jungen Chinesen mit sich und ihren Instrumenten hervorbringen. Das hört sich zu Beginn ganz spannend an, zieht einen auch in den Bann der Klänge, aber…

Auf die Dauer wirken die ganzen Klangspiele sehr ermüdend oder gar einschläfernd. Vielleicht gut für eine entspannende Klangkulisse bei einer Massage-Session oder beim Meditieren, aber als Musik ist mir da doch zu wenig Struktur in diesen Beliebigkeiten, das ist das Manko.
Und so erschöpft sich der neue Klangreiz leider recht schnell und auch die eingestreuten rhythmischen Passagen können mich nur selten länger fesseln.

Die Schwierigkeit bei jeder Art von improvisierter Musik ist das Vermögen, zu spüren, wann ein Spannungsbogen beginnt, zu einem Höhepunkt hinleitet und wieder endet. Selbst Keith Jarrett musste das bei einigen seiner Konzerte erleben, dass ihm das nicht immer gelang, dann wurde eben keine CD oder kein Doppelalbum daraus, was er immer mit seinem Produzenten Manfred Eicher ganz klar abgesprochen hat.

So schön nun dieses neue Album daherkommt, mit gutem Booklet, schönen Bildern und teilweise faszinierenden Klängen, für eine CD mit 75 Minuten Spielzeit ist das letztlich zu wenig, schade!

[Ulrich Hermann, Juli 2016]

Der unbekannte E.J. Wolff

Erich Jacques Wolff
Im Wendekreis des Goldbocks

Ausgewählte Lieder, Transkriptionen für Klavier

Rebecca Broberg, Sopran
Rainer Klaas, Klavier
Pianopianissimo-musiktheater

Thorofon, CTH2631
4 003913 126313

Während eigentlich jeder Arnold Schönberg (1874-1951), oder auch Alexander Zemlinsky (1871-1942) und gewiss Gustav Mahler (1860-1911) heute kennt, ist der österreichische Komponist und Zeitgenosse Erich Jacques Wolff (1874-1913) bis heute fast gänzlich unbekannt geblieben. Diesem Umstand abzuhelfen ist eines der Hauptziele der amerikanischen Sängerin und Forscherin Rebecca Broberg – vor allem als Wagner-Sängerin bekannt.  Mit dem Pianisten Rainer Klaas sorgt sie auf dieser CD dafür, dass ein damals durchaus bekannter und geschätzter Musiker wieder in unser Bewusstsein rückt. Seine Kompositionen umfassen ca. 200 Lieder, Bühnenwerke und anderes, es lohnt sich also, die Bekanntschaft mit seiner Musik zu machen. Als Lehrer von Alma Schindler – der späteren Alma Mahler – ersetzte er den unsterblich in seine Schülerin verliebten Zemlinsky, wenn sie auch kein besonders positives Urteil über Wolff fällte: der Antisemitismus war auch damals schon sehr verbreitet.

Die Lieder und Stücke auf dieser CD sind natürlich dem Stil der damaligen Zeit verbunden, auch wenn sich die „reine Lehre“ Schönbergs nicht wiederfindet, da sie erst nach Wolffs Tod entwickelt wurde. Dazu sind Poesie und Musik eben vor allem im Lied keine Gegner (prima la musica, poi le parole, was in der Oper durchaus am Platz sein mag). Darunter leidet leider auch ein wenig die Textverständlichkeit, was aber dank des ausführlichen Booklets mit allen Texten lässlich ist. Viel wichtiger ist, dass eine Lücke geschlossen wird, die uns mit einem spannenden und interessanten Zeitgenossen der damaligen Musikerzunft bekannt macht. Auch der von den Nazis durchaus nicht verpönte Komponist Clemens Schmalstich (1880-1960) ist mit einer Improvisation über Wolffs „Märchen“ für Klavier solo vertreten.

Wolffs Bühnenwerk „Zlatorog“ (Romantische Ballettpantomime in 4 Bildern nach der gleichnamigen Alpensage von Martin Zunkovic) von 1906 wurde durch die Vermittlung Alexander Zemlinskys nach dem Tod des Komponisten 1913 in Prag uraufgeführt.

Diese CD vermittelt die Bekanntschaft mit einem fast verschollenen Musiker, dessen Vielseitigkeit auch heute noch bemerkenswert ist und dankenswerter Weise durch diese Scheibe – wie auch durch einige wenige andere – ins Bewusstsein der Gegenwart zu rücken beginnt.

[Ulrich Hermann, Juli 2016]

Wunderbare Stücke in wunderbarer Vielfalt

Polish Violin Concertos
Piotr Plawner (Violine)
Kammersymphonie Berlin – Jürgen Bruns
Label: NAXOS
EAN: 747313349678

Wie definiert man polnische Musik? Das ist eine Frage, die sich bei der Beschäftigung mit diesem neuen Album des NAXOS-Labels unvermittelt stellt.

Ein Komponist wie Alexandre Tansman, geboren 1897 in Łódź, 1920 die französische Staatsbürgerschaft angenommen, vor den Nazis nach Lissabon geflohen und von dort dann in die USA ausgereist, 1946 nach Paris zurückgekehrt und bis zu seinem Tod dort geblieben. Hat er „polnische“ Musik komponiert?

Oder Michał Spisak: 1914 geboren in Südpolen, ab 1935 wohnhaft in Paris, wo er 1965 auch gestorben ist. Auch Andrzej Panufnik, der einen Großteil seines Lebens in Großbritannien verbrachte und aus Enttäuschung in den 1950er-Jahren seinem Heimatland Polen den Rücken kehrte oder Grażyna Bacewicz, die Anfang der 1930er-Jahre nach Paris ging, um (wie auch Spisak) bei Nadia Boulanger zu studieren, kann man schwerlich einen hörbar „polnischen Stil“ attestieren, auch wenn diese beiden immerhin viel Zeit ihres Lebens in ihrem Heimatland verlebt haben.

Es ist daher durchaus fraglich, ob es gerade bei polnischen Komponisten Sinn macht, ein Album mit vermeintlich „polnischer Musik“ zu konzipieren. Gerade in Polen kann man keine „Schule“ ausmachen, keinen spezifischen „Sound“ wie man ihn etwa sofort im Ohr hat, wenn von tschechischer, ungarischer oder russischer Musik die Rede ist.

Ein Manko ist das aber nicht. Ganz im Gegenteil, wie dieses hoch interessante Album beweist. Es enthält vier ganz hervorragende Kompositionen von überwiegend ausgezeichneter Qualität, und es ist zudem von der Kammersymphonie Berlin unter Jürgen Bruns und vom überraschend großartigen Solisten Piotr Plawner (der zumindest mir vor dieser Aufnahme überhaupt kein Begriff war) in sehr, sehr guter Qualität eingespielt worden, dank einer Koproduktion mit dem Deutschlandradio zudem in brillantem Aufnahmeklang.

Das erste Konzert des Albums ist auch das Interessanteste. Es stammt von Grażyna Bacewicz. Naxos hatte bereits im letzten Jahr mit einer Gesamteinspielung der Bacewicz-Streichquartette einen echten Coup gelandet. Bacewiczs Musik, die manchmal sehr an Weinberg und Schostakowitsch erinnert, müsste ein großes Publikum begeistern können. Und kaum ein Werk wäre besser geeignet, um besagtes Publikum für sich zu gewinnen, als dieses tolle Violinkonzert.

Es ist nicht einfach vordergründig virtuos, sondern es wimmelt vor allem von schönen Melodien und einem von lyrischer Heiterkeit durchwehten Geist. Erstaunlich ist dies schon allein deshalb, weil das Stück im Jahr 1937 entstand, als die bevorstehende politische Krise nicht wenige (darunter auch Bacewicz selbst) zu düster-vorahnungsvollen Kompositionen inspirierte. Hört man etwa Bacewiczs düster bis teils sogar depressiv gefärbte Streichquartette, kann man kaum glauben, dass dieses heitere, ganz unproblematisch zugängliche Stück von derselben Komponistin stammen soll.

Alexandre Tansmans „Cinq Pièces pour violon et petit orchestre“ atmen (wie so vieles von diesem schwierig zu interpretierenden Komponisten) den Neoklassizismus der Art Strawinsky, freilich durchwebt mit dem Hauch zurückhaltender Noblesse und Eleganz, die man bei Tansman häufig findet. Auch diese Stücke sind einfach nur hinreißende Musik, ja, mit das Schönste für diese Besetzung, was ich aus den späten 20er-/frühen 30er-Jahren bislang gehört habe.
„Andante und Allegro für Violine und Streichorchester“ sind die beiden folgenden Stücke aus dem Jahr 1954 betitelt. Sie stammen von Michał Spisak, und stünde dieser Name nicht darüber, ich hätte das Andante glatt für eine verschollene Schostakowitsch-Komposition gehalten, und ich meinte damit jenen sinistren, der Last des Lebens müden Schostakowitsch, der sich etwa im ersten Satz der sechsten Sinfonie oder in der Viola-Sonate findet. Das Allegro hingegen könnte man fast für ein Werk Brittens halten, wobei auch Strawinskys „Orpheus“ hier hätte Pate stehen können.

Ich muss gestehen, dass Spisaks Stücke mich zwar mit ihrer Zugänglichkeit begeistern – man muss sie ja einfach gern haben, weil sie so schön klingen – aber unter kompositorischen Aspekten sind sie die womöglich am wenigsten „gehaltvollen“ Werke dieser CD.

Das Violinkonzert Andrzej Panufniks aus dem Jahr 1971 beschließt das Album mit dem typischen, ganz unverkennbaren Panufnik-Sound, den man entweder liebt oder hasst. Panufnik war ein Individualist vor dem Herrn, einer, der seinen eigenen Kopf durchsetzen musste. Sein Violinkonzert überrascht mit zurückgenommenen kammermusikalischen Passagen und mit einer für Panufniks Verhältnisse vergleichsweise stark ausgeprägten Expressivität. Es ist eine im Prinzip ganz untypische Musikmoderne für einen mitteleuropäischen Komponisten. Es ist Musik, die man auch von einem US-Amerikaner wie William Schuman oder Roy Harris akzeptiert hätte.

Panufniks Konzert gleicht einem Spiel der Violine mit dem Orchester oder besser gesagt, einer Art Wettkampf oder einem Katz-und-Maus-Spiel. Nur wenige Passagen lassen beide „Parteien“ zusammen erklingen, die Violine steht oft allein oder tritt in teils aufgeregte Dialogpassagen mit dem klein besetzten Orchester ein. Ein enorm interessant gemachtes Werk, in dem man immer wieder Neues entdeckt, je öfter man es hört.

Fazit: Der Titel des Albums mag verfehlt sein (wie wir gezeigt haben, gibt es weder ausschließlich Violinkonzerte auf dieser CD noch könnte man hier irgendwo eine dezidiert „polnische“ Musik ausmachen), doch die enthaltenen Kompositionen und ihre Interpreten begeistern!

[Grete Catus, Juli 2016]

Klezmer-Musik aus dem Shtetl

Joachim Stutschewsky (1891-1982)
Kammermusik
Works for Cello and Piano, Klezmer Wedding Music, Hassidic Fantasy
Musicians of the Pittsburgh Jewish Music Festival
Aron Zelkowicz, cello; Luz Manriquez, piano; Jennifer Orchard, violin; Marissa Byers, clarinet

Toccata Classics TOCC 0314
5 060113 443144

Joachim Stutschewsky? Noch nie gehört? Dann geht’s Ihnen so wie mir. Als allerdings die ersten Takte seiner Musik erklangen, das war es um mich und meine Ohren – nein, nicht nur die – geschehen! Wer war dieser Unbekannte? Das hervorragende Booklet gibt erschöpfend Auskunft über den Musiker, der eine kurze Zeit 1924 in Wien Cellist des berühmten Kolisch-Quartetts war. Dann aber sich doch lieber seiner eigentlichen Bestimmung neben seinem Cello-Spiel widmete: der Komposition seiner ureigensten Musik, die auf der Herkunft aus einer Klezmer-Familie im Shtetl fußt. Und die er nach seiner Übersiedlung 1948 nach Palästina auch im neuen Staat Israel bekannt machen wollte. Aber wenig bis gar kein Interesse wurde seinen Plänen entgegen gebracht, die modernen seriellen und zwölftönigen Komponisten waren im neuen Kulturbetrieb gefragt, niemand wollte die alten jiddischen Weisen hören. Aufbruch zu neuen Unfern war die alleinige Devise. Und so kämpfte, spielte, missionierte Stutschewsky fast 20 Jahre lang, bis er die Renaissance seiner Musik und damit auch der ostjüdischen Tradition miterleben konnte.
Heute ist die Musik der Klezmorim weltweit bekannt und geliebt, was viele dementsprechenden Musikerinnen und Musiker in ihren Konzerten hören und spüren.

Die vier Musiker des Pittsburgh Jewish Music Festivals spielen Stutschewskys Musik, als wäre die Tinte auf den Notenblättern gerade trocken geworden. Mit Leib und Seele, mit Herzblut und Leidenschaft ertönen die Stücke, sei es für Klavier und Cello bei den allermeisten Stücken von 1933 bis 1962, oder für Klavier-Trio bei der Klezmer Wedding Music,  oder für Klavier, Cello und Klarinette in der Hassidic Fantasy. Natürlich verwendet Joachim Stutschewsky vor allem die Tonsprache seiner überlieferten Melodien, allerdings ist insbesondere die Klavierbegleitung deutlich farbiger und chromatischer, rhythmisch sehr pointiert und spannend. Es ist eine wahre Freude, diesen spielfreudigen und musikalisch-musikantischen Musikern zuzuhören, sich von der tiefen Emotionalität der Melodien mitnehmen zu lassen und immer aufs Neue einzutauchen in die Welt der Jahrhunderte alten Klezmer-Tradition, die uns heute in ihrer Unmittelbarkeit ganz besonders ansprechen kann. Auch wenn er die zeitgenössische Musik eines Schönberg, Berg und Webern direkt vor Ort in Wien miterlebt hat, sie sogar mit aus der Taufe hob, war Stutschewsky doch bald bewusst, dass sein Weg ein anderer, ein scheinbar rückwärts gewandter und doch andererseits so zutiefst menschlich verbundener war und sein würde, was seine Musik – zumal, wenn sie so überzeugend und hinreißend dargeboten wird – zu einer berührenden, überzeugenden Musenoffenbarung macht.

[Ulrich Hermann, Juli 2016]

Nun kennen wir Paul Coles!

FIRE DANCE
Ian Watt plays the Music of Paul Coles

Nimbus Alliance 6329; EAN: 0 710357 632921

Musik von Paul Coles ist auf Ian Watts neues CD „Fire Dance zu hören: Fire Dance – Danza del Fuego, Impromptu –Papillon, A Sunny Day – Un Dia Soleado, Serenade – A Song Without Words, Lost Love, Cradle Song, Coniston Suite (Bluebird, Elegy, Reflections), Lonely as a Cloud (Daffodils by William Wordsworth), Musicas Latinas (Ritmos de Danca, Romantica, Folia, Sonhos de Bolivia, Samba de Rio), Irish Suite (The Kingdom of Cruachain (Air), The Kingdom of Mumhan (Jig), The Kingdom of Laigin (Air), The Kingdom of Midhi (Air), The Kingdom of Uladh (Reel), Pilgrim’s Tale), Venezuelan Suite (Carnival el Callao, Medanos de Coro, Danza de Caracas, Variation  Upon a Sea Shanty).

Sie kannten die Musik von Paul Coles bisher noch nicht? Diese CD kann und wird das ändern. Paul Coles – das Booklet gibt dürftigste Auskunft und präsentiert ihn als reinkarnierten Komponisten des 19. Jahrhunderts – Google weiß ein wenig mehr, lässt ihn 1952 in Pembrokeshire, South Wales geboren werden und weist ihn als Autodidakten aus. 1978 gab er sein Debut als Gitarrist  in Malvern.

Auf dieser CD allerdings – wie auf einigen anderen auch – wird seine Musik vom jungen Gitarristen Ian Watt gespielt, und wie! Das ist sowohl kompositorisch als auch musikalisch eine wunderbare Entdeckung. In der ab und an öden Gitarren-Landschaft ein echter Lichtblick! Dieser Mann spielt nicht Gitarre, er musiziert und lässt die Musik eben auf diesem Instrument entstehen. Melodiös und intensiv erstehen aus den Klängen der ach so oft verkannten und so schwierigen und doch so verbreiteten „Klampfe“ Musikstücke, die man übrigens, wie das Booklet verrät – bei Gefallen auch selber bestellen und „nachspielen“ kann. Besonders gut haben mir die Stücke der Irish Suite gefallen. Doch auch die Coniston Suite – über den Lake District in Cumbria, wo Donald Campbell bei dem Versuch, den Geschwindigkeits-Weltrekord für Wasserfahrzeuge zu brechen ums Leben kam, was zu dieser Komposition Anlass gab – ist wie fast alle anderen Stücke auch gediegenste Musik auf allerhöchstem Niveau, was man sonst von den wenigsten Gitarre-Kompositionen der letzten 100 Jahre sagen kann. Aber aus Wales kommt seit Jahrhunderten gute Musik im Überfluss, und die Musik von Paul Coles bildet da keine Ausnahme, besonders, wenn sie von einem so guten, urmusikalischen Spieler realisiert wird.

[Ulrich Hermann, Juli 2016]

Unerhörter Tango

Das letzte Konzert der Saison der Bayerischen Kammerphilharmonie Augsburg unter Leitung ihres Konzertmeisters Gabriel Adorján steht unter dem Motto: „Un-er-hört: Tango!“. Am 3. Juli 2016 sind im ausverkauften Parktheater im historischen Kurhaus Göggingen nach zwei Tangos von Astor Piazzolla das Concerto per Corde op. 33 von Alberto Ginastera und die Uraufführung „El Tango“ von Juan José Chuquisengo zu hören. Nach der Pause spielt Chuquisengo zunächst allein die „Danzas argentinas“ op. 2 von Ginastera. Beschlossen wird der Konzertabend mit Piazzollas „Las Cuatro Estaciones Porteñas“ in einer Fassung für Streicherensemble und Klavier (im Programm nicht ausgewiesen, gehe ich davon aus, dass es sich hier um das Arrangement von José Bragato handelt, dem Cellisten in Piazzollas Band).

Nachdem ich bereits die Uraufführungen der solistischen Streichquintettfassung von Juan José Chuquisengos „Tango Metamorphosen“ in München und seiner großen Klavierphantasie „Guerrero Andino“ in Zürich miterleben durfte, kann ich es mir nicht entgehen lassen, nun auch nach Augsburg zu fahren, um die Uraufführung der originalen Streichorchesterfassung der „Tango Metamorphosen“, unter dem Titel „El Tango“, zu hören. Auch das restliche Programm der beiden prominentesten argentinischen Komponisten ist ansprechend: Alberto Ginasteras Concerto per Corde besticht mit einem düsteren, teils beinahe gespenstischen und vor allem radikal fortschrittlich-modernen Ton sowie einem unwiderstehlichen Groove und heiklen Aufgaben für die Stimmführer, welche im ersten Satz alle zu Solisten ernannt werden. Seine „Danzas argentinas“ sind noch weit weniger modern, aber nicht minder von treibender Rhythmik durchzogen und von einer fesselnden Virtuosität geprägt. Ein stetiger Publikumsliebling sind Piazzollas „Las Cuatro Estaciones Porteñas“, die tänzerischen Pendants des 20. Jahrhunderts in Buenos Aires zu Vivaldis Vier Jahreszeiten.

Eine spürbare Einigkeit und eine gemeinsame Leidenschaft zeichnen die Bayerische Kammerphilharmonie unter Gabriel Adorján aus. Die nunmehr fünfundzwanzigjährige Zusammenarbeit hinterlässt Spuren, alles entsteht aus einem routinierten, dadurch vereinten Atem heraus. Sogar in den komplexen Strukturen des Concerto per Corde bleibt dies gewahrt, ohne rhythmisch auseinanderzudriften. Vor allem in diesem viersätzigen Werk zeigt sich auch die instrumental-virtuose Qualität sowohl in den Soli der Stimmführer als auch in den vertrackten Tutti-Passagen. Bemerkenswert hier wie auch in den anderen Stücken ist besonders der einzige Kontrabassist, Benedict Ziervogel, der aus der Tiefe heraus eine klangvolle und präzise Basis schafft, die unabdingbar für das harmonische Zusammenwirken der Kammerphilharmonie ist. Vor allem durch den zwar optisch äußerst schönen, aber akustisch trockenen und sehr hohen Glaspalast-Saal ist insgesamt die dynamische Bandbreite recht eingeschränkt und viele Kontraste kommen eher rudimentär zum Tragen.

Juan José Chuquisengo tritt bei der Uraufführung seines „El Tango“ als Dirigent auf die Bühne: Das Werk ist derart komplex und rhythmisch anspruchsvoll, dass es zwingend eines musikalischen Leiters bedarf. Hier erlebt der Hörer Großes, eine riesig dimensionierte Phantasie auf den Tango erblickt das Licht der Welt, voll mit rhythmischem Glanz, stilvollen Effekten und einer stetigen Metamorphose der Themen, die immer in anderer Gestalt hervorbrechen und dabei durchweg nachvollziehbar bleiben. Eingängiges Schwelgen in Tango-Leidenschaft wechselt mit dicht-polyphoner Stimmvielfalt, für Langeweile oder Unaufmerksamkeit ist in diesem über 25 Minuten langen Werk kein Gramm Platz. Und es ist eine durchaus gelungene Uraufführung, die vieles der Noten preisgibt und dem Hörer verständlich vermittelt.

Ein Phänomen erklingt nach der Pause, nun sitzt Juan José Chuquisengo am Klavier. Mit Superlativen gilt es stets sparsam umzugehen, aber hier lässt sich zweifelsohne von einem sprechen: Absolute Perfektion. Gar mehr ist es, es ist ein vollkommen neues Erlebnis von Klaviertechnik durch Minimierung und Fokussierung der Bewegung. Jede Bewegung des Peruaners kommt sichtlich aus seiner Körpermitte und wird unmittelbar von dort in die Arme geleitet, welche sie agil und präzise wie Kobras in die Tasten projizieren. Alles ist locker ohne jede unnötige oder gar hemmende Verspannung, ein absoluter Fluss. Dies kommt dem Klang maximal zugute, dieser ist warm, voll und in stetem Bewusstsein von innen heraus gespürt. Federleicht wirkt sogar das ausgesprochen kräftige Forte, und auch die virtuosesten Läufe und Sprünge perlen in spielerischer Gelassenheit. Dies ist Klavierspiel auf einer neuen Stufe!

Gemeinsam beenden die Musiker den Abend mit Piazzollas „Las Cuatro Estaciones Porteñas“ und rufen damit nach jedem Satz frenetischen Applaus hervor. Mit glutvoll entfesseltem Elan und martialisch-heiterem Schwung bieten die Musiker den Tango-Klassiker mit vollem Elan dar. Mittelpunkt auch hier wieder das feinst schattierende und unmittelbar ansprechende Spiel von Chuquisengo, welcher hier eine hinreißende Symbiose mit den Streichern eingeht.

Ein wahrlich erfreulicher Abend in Augsburg mit groovender Musik, einer revulotionär-neuen Tango-Evolution und einem unvergleichlichen Solisten.

[Oliver Fraenzke, Juli 2016]

Vom Unerhörten zum Unhörbaren

Hyperion CDA 68 108; EAN: 0 34571 28108 7

Steven Osborne spielt Stücke von Morton Feldman* und George Crumb**:
Intermission 5*,   Processional**,   Piano Piece 1952*,   Extensions 3*,   A Little Suite for Christmas A.D. 1979** ,  Palais de Mari*.

Als ich 1991 im Rahmen des Münchner Pfingstsymposiums zum ersten Mal ein Stück für Violine und Klavier von Morton Feldman hörte, war der Eindruck äußerst stark und nachhaltig. Seinen Band mit Essays musste ich deswegen sofort haben, allerdings lag er dann eben – wie das manchmal so geschieht – jahrelang unbeachtet herum. Die CD mit Klaviermusik von Feldman und Crumb holte dies Buch endlich ans Licht und es erwartete mich wiederum eine ganz besondere Überraschung: Nicht nur die Musik  von Morton Feldman fesselte mich wie eh und je, auch er als Schreiber und Denker, als Essayist ist ein überaus spannender und beeindruckender Kopf, der nicht nur mit unzähligen Malern und Musikern Kontakt hatte oder sogar befreundet war, es macht auch verständlich, wie er selbst seine Rolle als zeitgenössischer Komponist sah und gesehen haben wollte. Ein besonders lesenswertes Buch zur Musik des 20. Jahrhunderts, nicht nur der amerikanischen.

Die CD selbst „prunkt“  mit einem ausgezeichneten Booklet – dreisprachig natürlich –, in dem zu allen Stücken Verständliches gesagt wird. Selbstredend muss ein Pianist, der diese „utopische“ Musik realisieren möchte, nicht nur sein Handwerkszeug beherrschen, was klar ist, er muss die Utopie der Musik von Feldman und Crumb, die sich jenseits der ausgefallensten Klavierstile des 20. Jahrhunderts bewegt, zum Klingen bringen, besser gesagt, Klang werden lassen, denn das ist eine der Voraussetzungen für diese „Musik“, die ans „Unhörbare“ grenzt und grenzen will. Sie will den Rahmen des „normalen“ Komponierens oder auch „Aufführens“ sprengen und den Hörer mit „seinem“ Hören alleine lassen. Wie uns die moderne Malerei oftmals auch mit der Unendlichkeit einer einzigen Farbe in die Irritationen des Gegenständlich-Abstrakten stürzen möchte, wo es keine Erklärung oder keine hilfreichen Definitionen mehr geben kann.

Kein Wunder, dass in New York um 1950 – Morton Feldman und John Cage wohnten eine Weile im selben Hochhaus – alles in Bewegung war, im Aufruhr, denn man wollte endlich die eingefahrenen – sehr oft europäisch ererbten – Kriterien von Kunst und Können, bzw. Müssen, hinter sich lassen.

Alles wird relativiert und in Frage gestellt, Zeit und Ort der Aufführung, Dauer und Art – einige Stücke von Morton Feldman dauern über 4 Stunden – und der einzelne Ton, der einzelne Klang wird in seine ursprüngliche Unfassbarkeit und „Wunderlichkeit“ zurückgeführt.

Kein Wunder also, dass nach dem Anhören dieser Musik, dieser Klänge bis hin zum Unhörbaren eine neue Sensibilität für alle andern Arten sich einstellen kann und möchte. Die große Frage, die sich nach dem Anhören dieser „Musik“ stellt, ist die, ob Klänge oder Klangerlebnisse dieser Art überhaupt aufgeschrieben bzw. komponiert werden müssen, oder ob sich solches Erleben nicht viel besser und adäquater im Augenblick, das heißt, in der Improvisation gültig macht – Musik ist eine „Zeitkunst“, der hörbare (oder unhörbare) Moment ist das Wesen solcher Kunst!

Ob allerdings dieser Weg ein Echo findet in der heutigen – alles ist machbar, Herr Nachbar! – Welt, ist mehr als fraglich, doch umso begrüßenswerter ist diese CD.

(Allein die Gelassenheit und Zeit, die solche Stücke fordern, lässt das ganze Projekt sehr idealistisch und notwendig erscheinen!)

[Ulrich Hermann, Juli 2016]