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Musik für Solocello auf Reisen zwischen den Welten

eda records, EDA 47, EAN: 8 40387 10047 0

Die Cellistin Adele Bitter, Mitglied des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin, präsentiert fünf Solowerke für Violoncello aus den Jahren von 1949 bis 1982. Der Titel „crossroads“ reflektiert dabei Herkunft und Lebenswege der Komponisten Sándor Veress, Ursula Mamlok, Marcel Mihalovici, Ahmed Adnan Saygun und Alberto Ginastera.

Wenn Literatur für Solocello bis heute vielleicht ein wenig das Flair des Exotischen umweht, dann sicherlich nicht zuletzt deshalb, weil es nach einer Reihe von Werken zu Zeiten des Barock (mit Bachs Suiten als zeitlosem Gipfelpunkt) fast zwei Jahrhunderte dauerte, bis das Interesse an dieser Besetzung wieder einsetzte, sieht man einmal von einzelnen Werken komponierender Cellisten wie Alfredo Piatti ab. (Das Cello bildet hier natürlich insofern keine Ausnahme, als dass Musik für unbegleitete Melodieinstrumente aus der Zeit zwischen 1750 bis 1900 generell Seltenheitswert besitzt.) Angefangen mit Werken wie Regers und Courvoisiers Suiten oder Toveys und Kodálys Solosonaten hat Musik für Cello allein im 20. Jahrhundert jedoch einen enormen Aufschwung erlebt, der bis zum heutigen Tag anhält, und so besteht in der Summe wahrlich kein Mangel an Repertoire. Sicherlich ist es dabei nötig, auch etwas abseits der hinlänglich bekannten Namen zu graben, aber wenn man dazu bereit ist (und dabei Dutzende von ausgesprochen fähigen Komponisten mit oft genug bemerkenswert persönlicher Tonsprache findet!), dann kann man eigentlich beinahe aus dem Vollen schöpfen.

In dieser Hinsicht ist die neue CD der Cellistin Adele Bitter ausgesprochen verdienstvoll, denn hier werden gleich fünf solcher Werke für Solocello von fünf verschiedenen Komponisten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts präsentiert. All diesen Komponisten ist dabei gemein, dass sie einen Teil ihres Lebens außerhalb ihres Heimatlands verbrachten. Der Ungar Sándor Veress etwa lebte von 1949 bis zu seinem Tode im Schweizer Exil, wo auch der Argentinier Alberto Ginastera die letzten rund zehn Jahre seines Lebens verbrachte. Marcel Mihalovici, gebürtiger Rumäne, ließ sich zunächst zu Studienzwecken in Paris nieder, der Stadt, die dabei zu seiner Wahlheimat wurde, unterbrochen lediglich von einem fünfjährigen Exil in Cannes während der deutschen Besatzung (Mihalovici war jüdischen Glaubens). Die Berlinerin Ursula Mamlok wiederum flüchtete 1939 ebenfalls vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Judenverfolgung nach Amerika und verbrachte den Großteil ihres Lebens in den USA, bevor sie für ihre letzten zehn Lebensjahre doch wieder nach Berlin zurückkehrte. Nur im Falle des Türken Ahmed Adnan Saygun kann man nicht von Emigration sprechen: seine per staatlichem Stipendium ermöglichten Studien in Paris stehen in Zusammenhang mit den ehrgeizigen (und erfolgreichen) Programmen zur Etablierung eines Kulturlebens westlicher Prägung in der jungen türkischen Republik in den 1920er Jahren. Bewegte Lebensgeschichten also, wesentlich geprägt von den politischen Umständen des 20. Jahrhunderts, und dies ist es auch, worauf der Titel der CD, „crossroads“ also, anspielt.

Natürlich sind Bachs Solosuiten der Klassiker des cellistischen Solorepertoires schlechthin, und auf der vorliegenden CD ist es die 1949 entstandene Solosonate op. 60 von Marcel Mihalovici (1898–1985), die sich am deutlichsten auf dieses Vorbild bezieht. Mihalovici, Schüler von d’Indy und Le Flem sowie Ehemann der Pianistin Monique Haas, greift Melos und Rhetorik der Bach’schen Suiten ganz bewusst auf, gestaltet seine Sonate wenigstens teilweise durchaus suitenhaft (fünf Sätze zu je drei bis fünf Minuten) und lehnt sich auch in der tonalen Homogenität an Bach an (alle Sätze enden in c-moll). Selbstverständlich geht es Mihalovici aber nicht darum, Bach lediglich zu kopieren, und so kontextualisiert er die barocke Rhetorik neu, schön zu beobachten etwa im langsamen vierten Satz, der den Charakter Bach’scher Sarabanden mit einer Melodik kombiniert, der etwas von einem volkstümlichen Klagelied innewohnt. Auch die tonale Struktur ist bei näherem Hinsehen differenzierter: ist der erste Satz noch ganz in c-moll gehalten, so gehen die späteren Sätze zunächst von anderen tonalen Zentren aus und beschreiben Bögen, die am Ende dann doch wieder zur faktischen Grundtonart der Sonate zurückführen. Ein sehr schönes und interessantes Werk, das hier offenbar sogar erstmals aufgenommen wurde.

Ebenfalls suitenhaft angelegt ist die Partita op. 31 des großen türkischen Komponisten Ahmed Adnan Saygun (1907–1991), 1955 entstanden und dem Andenken Friedrich Schillers gewidmet. Saygun, eines der prominentesten Mitglieder der Türkischen Fünf, jener Gruppe etwa gleichaltriger Tonkünstler also, die als die ersten professionellen türkischen Komponisten gelten dürfen, bezieht sich in seiner Partita nicht direkt auf Bachs Idiom; Bach steht hier vielmehr Pate für die Umwandlung von (in diesem Falle eben türkischer) Tanzmusik in Soloformen. Florian Schuck weist im Beiheft zurecht darauf hin, dass der vierte Satz sicherlich der „westlichste“ des Werks ist, eine Art Siciliano im phrygischen Modus. Hier darf man sicherlich eine Parallele zum dritten Satz seiner nur wenige Jahre zuvor entstandenen Ersten Sinfonie ziehen, der in ganz ähnlicher Weise Menuett und türkische Folklore miteinander kombiniert. Am Rande sei angemerkt, dass Saygun auch ein ganz wundervolles Cellokonzert komponiert hat, ein lyrisch-melancholisches Spätwerk aus dem Jahre 1987.

Die anderen drei Werke auf der CD bedienen sich der Zwölftontechnik, die allerdings teils sehr frei gehandhabt wird, so etwa in der 1967 entstandenen Solosonate von Sándor Veress (1907–1992), einem intensiven, ausdrucksstarken Werk in drei Sätzen. Veress, Student von Bartók und Kodály, fand im Schweizer Exil zu einer eigenen Lesart der Dodekaphonie, die insbesondere auch Einflüssen ungarischer Folklore gegenüber offen ist und so trotz moderneren Vokabulars sehr wohl in Kontinuität zu seinen frühen Werken steht. Interessanterweise kann man bei seiner Solosonate stellenweise an die Solosonate seines eigenen Schülers György Ligeti denken (beide Werke beginnen überdies mit einem Dialogo). Ob Veress dieses Werk, dessen Rezeptionsgeschichte eigentlich erst 1979 wirklich begann, gekannt hat, erscheint aber eher fraglich, aber sowohl der frühe Ligeti als auch der reife Veress beziehen sich natürlich insbesondere auch auf Bartók und Kodály.

Wie Veress kombiniert auch der Argentinier Alberto Ginastera (1916–1983) zwölftönige Verfahren mit Folklore, im Falle seiner für Rostropowitsch komponierten Puneña Nr. 2 op. 45 (1976) besonders der präkolumbianischen Zeit (was natürlich zumindest teilweise hypothetisch zu verstehen ist: hier geht es nicht um Rekonstruktion, sondern eher um Imagination, Beschwörung). Das Resultat ist ein phänomenal farbenreiches Diptychon aus Liebeslied und wildem Tanz, in welchem das Cello unter anderem die Klänge von Flöten, Trommeln, aber auch Gitarren suggeriert. Ohne Folklorebezüge, aber wiederum mit einer eigenen Variante von Dodekaphonie kommen schließlich Ursula Mamloks (1923–2016) konzise Fantasy Variations aus dem Jahre 1982 daher, konzentrierte, facettenreiche, manchmal allerdings vielleicht ein wenig spröde Musik.

Natürlich ist bei einer solchen Zusammenstellung allein schon Adele Bitters Pioniergeist hervorzuheben, aber auch an ihren Darbietungen selbst gibt es vieles zu loben. Ihr Ton ist insgesamt kraftvoll und agil, und zahlreiche Details werden sorgfältig herausgearbeitet. Bitters Interpretation von Mihalovicis Sonate ist wie erwähnt offenbar konkurrenzlos und besticht insbesondere durch ihre an der Beschäftigung mit barocker Musik geschulte Gestaltung von Phrasen, eine „sprechende“ Darbietung. Sayguns Partita hat erst jüngst verstärkt Aufmerksamkeit gefunden; im Vergleich etwa zu Sinan Dizmens solider Lesart bietet Bitter die deutlich variablere, dramatisch akzentuiertere, in den Details z. B. der Artikulation feiner gearbeitete und dadurch charaktervollere Einspielung (exemplarisch z. B. am vierten Satz nachzuvollziehen). Sayguns Musik ist kontrastreich, oft von unerwarteten Wendungen geprägt (man vergleiche etwa den plötzlichen Wechsel nach Des ganz am Endes des zweiten Satzes), was sich in späten Werken wie der Fünften Sinfonie noch verstärkt, reich an Farben, die aber in der Regel eher dem dunkleren Spektrum angehören, immer auch etwas zurückgenommen-hintergründig, und diese Typika fängt Bitter insgesamt sehr gut ein.

Veress’ Sonate ist u. a. von Miklós Perényi (Hungaroton) eingespielt worden. Unterschiede (durchaus reizvoller Natur, denn die Sonate erlaubt verschiedene Lesarten) ergeben sich dabei bereits durch den Ton beider Cellisten: Perényi ist für sein feines, nuancenreiches Spiel bekannt, Bitter ist im Vergleich zupackender, unmittelbarer. Wo Perényis Interpretation allerdings ihre Vorzüge hat, ist in der Gestaltung größerer Zusammenhänge, etwa der wiegenden Figuren im Mittelteil des ersten Satzes, die er konsequenter in den Gesamtzusammenhang integriert, besonders aber im Finale, das er im Wesentlichen als Perpetuum mobile realisiert, während der Satz in Bitters Interpretation manchmal etwas zu episodisch wirkt. Ginasteras Puneña hat u. a. auch Maximilian Hornung auf CD herausgebracht; seine Interpretation wirkt erst einmal brillanter, virtuoser als Bitters, die aber wiederum in der expressiven Ausgestaltung etwa der Gesangslinien des ersten Satzes sehr wohl ihre Meriten hat. Ein ähnliches Bild ergibt sich im zweiten Satz, der bei Bitter eine fast rituelle Dimension erhält, etwas zu beiläufig dann allerdings der Schluss.

Ein besonderes Lob gebührt Florian Schucks ausführlichem, mit gründlich recherchierten Hintergrundinformationen aufwartendem, Details und Charakteristika der Musik auch jenseits des Offensichtlichen exzellent erläuterndem Begleittext. Auch Adele Bitter selbst hat ein persönlich gefärbtes, ansprechendes Geleitwort beigesteuert. Insgesamt fällt an der Präsentation der CD die Priorität, die hier der Musik selbst, den Komponisten und ihren Werken eingeräumt wird, sehr angenehm auf. Das Label eda records wird manchem Musikliebhaber übrigens noch unter seinem alten Namen Edition Abseits ein Begriff sein.

Jedem, der sich für Musik für Solocello aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts interessiert, sei dieses Album unbedingt empfohlen.

[Holger Sambale, Juli 2022]

GINASTERA und das Eldorado der Musik

Volker Tarnow – GINASTERA und das Eldorado der Musik

Boosey & Hawkes, Berlin 2017; ISBN 978-3-7931-4164-8

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Vor circa einem halben Jahr bekam ich Nicolas Slonimskys Autobiographie „Perfect Pitch“ in die Hände und las sie mit allergrößtem Vergnügen. Ich kannte vorher weder den Autor noch die Rolle, die er in der Musik des 20. Jahrhunderts spielte. Sein „zweites Bein“ als Verfasser verschiedenster lexikographischer Bücher bescherte mir kurze Zeit später sein „Music of Latin Amerika“. Es öffnete mir die Augen für die ungeheure Fülle mir bis auf Villa-Lobos und wenige andere unbekannter Musiker und ihrer Musik. Diese Tatsache teile ich vermutlich mit den meisten anderen Europäern.

Und da kam im April 2017 das Buch über den größten argentinischen Komponisten Alberto Ginastera. Von dem hatte ich bei einem Konzert hier in München von Hugo Schuler, dem jungen argentinischen Pianisten, die „Danzas Argentinas“ gehört. Der Name Ginastera war mir als Gitarrist durchaus geläufig, aber von seiner Musik hatte ich eben bislang wenig bis gar nichts gehört.

Welche Rolle Alberto Ginastera in der argentinischen und allgemein in der amerikanischen Musik spielte und spielt, das ist das große Thema in Volker Tarnows neuem Buch. Wie auch seine beiden anderen Bücher über „“Das romantische Schweden“ und über „Jean Sibelius“ liest es sich hervorragend.

Nimmt man es in die Hand, so wundert man sich zu allererst einmal über das Gewicht. Man ist bei heutigen Büchern selten überrascht, was das Papier angeht, aber bei Volker Tarnows neuem Buch hat der Verlag (Ginasteras Exklusivverlag Boosey & Hawkes) weder am Papier noch an der Aufmachung gespart. Hin und wieder denkt man, man hätte zwei Seiten umgeblättert, bis einem aufgeht, dass es wirklich so ein exquisites Papier ist. Das gelbe Lesebändchen als Orientierungsgeber gehört natürlich auch dazu.

Neben den „Äußerlichkeiten“ überzeugt das Buch aber vor allem durch seinen Inhalt, durch die Bilder und Fotografien, durch Lebenslauf, Werkverzeichnis und Anmerkungen. Bei allem ausgebreiteten Wissen über Leben, Werk, Werdegang und die einzelnen Kompositionen liest es sich flüssig und ist durchaus unverkennbar mit dem Tarnow’schen Humor gewürzt, der mir auch in seinen anderen beiden Büchern schon so gut gefallen hat. Natürlich kennt sich der Autor nicht nur in musikalischen Dingen hervorragend aus, er lässt vor uns den ganzen Reichtum der südamerikanischen Musikkultur entstehen, angefangen mit der präkolumbianischen über die peruanische bis zur aktuellen argentinischen. Ginasteras Leben wird im Zusammenhang mit der politischen Situation in Buenos Aires und dem ganzen Land geschildert, seine Aufs und Abs als Musiker, auch als Leiter der verschiedensten musikalischen Institutionen, seine Auslands-Aufenthalte und die Freundschaften mit den verschiedensten Musikern vor allem in den USA, später dann auch in Europa, wo er in Genf mit seiner zweiten Frau – der Cellistin Aurora Nátola – lebte.

All das wird mit leichten Ton geschildert, dazwischen natürlich die Beschreibung seiner einzelnen Kompositionen, seien sie für Orchester, seien sie kammermusikalisch, seien sie für die Bühne oder für den Film. Bei einem Lebenswerk von „nur“ 60 Opera ist die Verschiedenheit der Kompositionen doch erstaunlich, auch drei gewaltige Opern sind dabei, und das Werkverzeichnis listet sie natürlich alle chronologisch auf. Die Verbindung – mal mehr, mal weniger – zur ursprünglichen indianisch oder invasorisch gauchoesk gefärbten indigenen Musik und ihren Instrumenten wird ausführlich dargestellt, auch die Verbindung zu seinen Kollegen in Brasilien oder Mexiko, in Peru oder Kolumbien.
Und Tarnow räumt mit einem Vorurteil auf, welches die Musikwissenschaft lange immer wieder aufs Neue tradierte: Auch die Inkas kannten weit mehr als die in der Forschung aufgedeckte Pentatonik primitivster Art. Wobei wir natürlich leider ob der oftmals schlechten Quellenlage originale Inka-Musik nur in geringem Maß erkunden können. Zu barbarisch haben die Eroberer in Süd- und Mittelamerika gehaust und gewütet. Was heute an „Volksmusik“ aus den Andenregionen und von anderswoher zu uns kommt, ist weitestgehend bloßer Kommerz wie die nervenden Bläsergruppen vor den Kaufhäusern.

Was dieses neue Buch so spannend macht, ist die Tatsache, dass es einen Komponisten umfassend sichtbar und erlebbar macht in seinem ganzen Lebensumfeld und seinem Werdegang. Die nächste Stufe wird also sein, dass ich die Musik dieses bedeutendsten argentinischen Komponisten neben dem viel einfacheren Astor Piazzolla suchen und hören werde. Denn Volker Tarnows Buch hat das geschafft, was ein Buch über ein staunenswertes „Phänomen“ – einen bisher ziemlich unbekannten Musiker namens Alberto Ginastera – so lebendig werden lässt, dass das Anhören seiner Musik der zwangsläufig nächste Schritt sein muss.

[Ulrich Hermann, Mai 2017]

Herrlicher Krach bis zum Vulkanausbruch

Ondine, LC 3572; EAN: 0761195121023

Normalerweise mache ich ja bei Klassik-Samplern einen Bogen um eine Rezension. Aber die Wiederveröffentlichung der schon legendären „Earquake“-CD (1997) beim finnischen Label Ondine – Untertitel: The Loudest Classical Music of All Time – darf man schon mit einer Besprechung feiern…

Zunächst einmal: Diese inhaltlich gegenüber der Erstveröffentlichung unveränderte CD ist ein Gag; vielleicht ein brauchbarer Party-Rausschmeißer à la „The Glory??? of the Human Voice“ (Florence Foster Jenkins) – mehr nicht. Und leider fehlt jetzt das entscheidende Gimmick; im transparenten Tray lagen seinerzeit zwei gelbe Ohrstöpsel – wohlgemerkt: for your neighbor! Für diese Aufnahme durfte ein äußerst körperbetont, aber immer präzise agierender Dirigent mal so richtig „die Sau rauslassen“. Der Finne Leif Segerstam ist nicht nur ein weltweit tätiger Orchesterdompteur, sondern komponiert nebenbei auch noch ein wenig: Seine Werkliste umfasst mittlerweile z.B. 309 (!) Symphonien; er ist da wohl der absolute Rekordhalter. Der Legende nach hat das mit Anfang zwanzig noch spindeldürre Nordlicht seinerzeit mit voller Absicht innerhalb kürzester Zeit 30 kg draufgepackt – nur um so auszusehen wie der dirigierende Johannes Brahms auf den berühmten Bleistiftzeichnungen. Und wenn ich den etwas korpulenten, aber höchst agilen Herrn mal live erleben durfte (ob mit Frau ohne Schatten an der Zürcher Oper oder Turangalîla in der Kölner Philharmonie), war ich immer von seinen mitreißenden Darbietungen begeistert. Auch hier mit dem Helsinki Philharmonic Orchestra weiß Segerstam natürlich genau, wie er die hypertrophen Klangmassen selbst im allergrößten Krach zu bändigen hat, damit das Ganze noch irgendwie vernünftig ausbalanciert scheint.

Trotzdem: Was mich naturgemäß an diesem Sampler stört, ist nicht etwa die Vielzahl der Komponisten und Stile (alles 20. Jahrhundert), sondern dass hier nur Ausschnitte aus zum Teil deutlich umfangreicheren Werken zu Gehör gebracht werden; und in der Regel noch nicht einmal komplette Sätze, sondern tatsächlich nur eben die lauten Stellen – Häppchenkost nach Art von Klassik Radio. So wird dem Hörer die Sinnhaftigkeit solcher Passagen, also die Entwicklung, die überhaupt erst zu solch hemmungslosen Ausbrüchen führt, vorenthalten.

Das ist natürlich ein dann doch einseitiges Vergnügen. Neben den 13 echten „Krachern“ gibt es noch drei ruhige Stücke (Druckman, Segerstam und Rautavaara) als Kontrast. Gespielt wird zumeist auch rhythmisch sehr attraktive Musik, etwa der Lateinamerikaner Revueltas und Ginastera, dazu einiges aus Skandinavien (Rangström, Nielsen…), aber auch Lärm aus den USA oder Russland (Hanson, Bolcom, Prokofjew…). Als Höhepunkt am Schluss dann der vom Isländer Jón Leifs 1961 sensationell in Orchestersprache übersetzte, große Vulkanausbruch der Hekla (1947/48) – dagegen war der Eyjafjallajökull 2010 nur ein Huster. Da wird innerhalb eines 140-Mann-Orchesters so fast alles aufgeboten, was das Schlagwerk zu bieten hat. Schlecht ist das magere Booklet, das selbst die Vornamen der Komponisten unterschlägt und auch sonst keinerlei Infos zu den Stücken – mit Ausnahme von Hekla – bereithält.

Der Anspruch, hier wirklich die lauteste, klassische Musik aller Zeiten auf einer CD zu versammeln, wird allerdings verfehlt. Stücke wie Iannis Xenakis‘ Jonchaies, Leonardo Baladas Steel Symphony und einiges mehr, das bereits vor 1997 geschrieben war, sind lauter und aggressiver. Ganz zu schweigen von Dror Feiler – da halten sich einige Musiker des BR-Symphonieorchesters schon beim Erklingen nur des Namens die Ohren zu. Und warum hat man von Ginastera den Malambo aus Estancia ausgewählt, und nicht etwa die brachialen Stellen aus Popol Vuh? Sei’s drum – das hier eingespielte Repertoire reicht allemal, um gepflegt die Wände wackeln zu lassen und macht wirklich Spaß. Ein Paar Ohrstöpsel für die Nachbarn bereit zu halten, wäre dann aber gar keine so verkehrte Idee…

[Martin Blaumeiser, März 2017]

Unerhörter Tango

Das letzte Konzert der Saison der Bayerischen Kammerphilharmonie Augsburg unter Leitung ihres Konzertmeisters Gabriel Adorján steht unter dem Motto: „Un-er-hört: Tango!“. Am 3. Juli 2016 sind im ausverkauften Parktheater im historischen Kurhaus Göggingen nach zwei Tangos von Astor Piazzolla das Concerto per Corde op. 33 von Alberto Ginastera und die Uraufführung „El Tango“ von Juan José Chuquisengo zu hören. Nach der Pause spielt Chuquisengo zunächst allein die „Danzas argentinas“ op. 2 von Ginastera. Beschlossen wird der Konzertabend mit Piazzollas „Las Cuatro Estaciones Porteñas“ in einer Fassung für Streicherensemble und Klavier (im Programm nicht ausgewiesen, gehe ich davon aus, dass es sich hier um das Arrangement von José Bragato handelt, dem Cellisten in Piazzollas Band).

Nachdem ich bereits die Uraufführungen der solistischen Streichquintettfassung von Juan José Chuquisengos „Tango Metamorphosen“ in München und seiner großen Klavierphantasie „Guerrero Andino“ in Zürich miterleben durfte, kann ich es mir nicht entgehen lassen, nun auch nach Augsburg zu fahren, um die Uraufführung der originalen Streichorchesterfassung der „Tango Metamorphosen“, unter dem Titel „El Tango“, zu hören. Auch das restliche Programm der beiden prominentesten argentinischen Komponisten ist ansprechend: Alberto Ginasteras Concerto per Corde besticht mit einem düsteren, teils beinahe gespenstischen und vor allem radikal fortschrittlich-modernen Ton sowie einem unwiderstehlichen Groove und heiklen Aufgaben für die Stimmführer, welche im ersten Satz alle zu Solisten ernannt werden. Seine „Danzas argentinas“ sind noch weit weniger modern, aber nicht minder von treibender Rhythmik durchzogen und von einer fesselnden Virtuosität geprägt. Ein stetiger Publikumsliebling sind Piazzollas „Las Cuatro Estaciones Porteñas“, die tänzerischen Pendants des 20. Jahrhunderts in Buenos Aires zu Vivaldis Vier Jahreszeiten.

Eine spürbare Einigkeit und eine gemeinsame Leidenschaft zeichnen die Bayerische Kammerphilharmonie unter Gabriel Adorján aus. Die nunmehr fünfundzwanzigjährige Zusammenarbeit hinterlässt Spuren, alles entsteht aus einem routinierten, dadurch vereinten Atem heraus. Sogar in den komplexen Strukturen des Concerto per Corde bleibt dies gewahrt, ohne rhythmisch auseinanderzudriften. Vor allem in diesem viersätzigen Werk zeigt sich auch die instrumental-virtuose Qualität sowohl in den Soli der Stimmführer als auch in den vertrackten Tutti-Passagen. Bemerkenswert hier wie auch in den anderen Stücken ist besonders der einzige Kontrabassist, Benedict Ziervogel, der aus der Tiefe heraus eine klangvolle und präzise Basis schafft, die unabdingbar für das harmonische Zusammenwirken der Kammerphilharmonie ist. Vor allem durch den zwar optisch äußerst schönen, aber akustisch trockenen und sehr hohen Glaspalast-Saal ist insgesamt die dynamische Bandbreite recht eingeschränkt und viele Kontraste kommen eher rudimentär zum Tragen.

Juan José Chuquisengo tritt bei der Uraufführung seines „El Tango“ als Dirigent auf die Bühne: Das Werk ist derart komplex und rhythmisch anspruchsvoll, dass es zwingend eines musikalischen Leiters bedarf. Hier erlebt der Hörer Großes, eine riesig dimensionierte Phantasie auf den Tango erblickt das Licht der Welt, voll mit rhythmischem Glanz, stilvollen Effekten und einer stetigen Metamorphose der Themen, die immer in anderer Gestalt hervorbrechen und dabei durchweg nachvollziehbar bleiben. Eingängiges Schwelgen in Tango-Leidenschaft wechselt mit dicht-polyphoner Stimmvielfalt, für Langeweile oder Unaufmerksamkeit ist in diesem über 25 Minuten langen Werk kein Gramm Platz. Und es ist eine durchaus gelungene Uraufführung, die vieles der Noten preisgibt und dem Hörer verständlich vermittelt.

Ein Phänomen erklingt nach der Pause, nun sitzt Juan José Chuquisengo am Klavier. Mit Superlativen gilt es stets sparsam umzugehen, aber hier lässt sich zweifelsohne von einem sprechen: Absolute Perfektion. Gar mehr ist es, es ist ein vollkommen neues Erlebnis von Klaviertechnik durch Minimierung und Fokussierung der Bewegung. Jede Bewegung des Peruaners kommt sichtlich aus seiner Körpermitte und wird unmittelbar von dort in die Arme geleitet, welche sie agil und präzise wie Kobras in die Tasten projizieren. Alles ist locker ohne jede unnötige oder gar hemmende Verspannung, ein absoluter Fluss. Dies kommt dem Klang maximal zugute, dieser ist warm, voll und in stetem Bewusstsein von innen heraus gespürt. Federleicht wirkt sogar das ausgesprochen kräftige Forte, und auch die virtuosesten Läufe und Sprünge perlen in spielerischer Gelassenheit. Dies ist Klavierspiel auf einer neuen Stufe!

Gemeinsam beenden die Musiker den Abend mit Piazzollas „Las Cuatro Estaciones Porteñas“ und rufen damit nach jedem Satz frenetischen Applaus hervor. Mit glutvoll entfesseltem Elan und martialisch-heiterem Schwung bieten die Musiker den Tango-Klassiker mit vollem Elan dar. Mittelpunkt auch hier wieder das feinst schattierende und unmittelbar ansprechende Spiel von Chuquisengo, welcher hier eine hinreißende Symbiose mit den Streichern eingeht.

Ein wahrlich erfreulicher Abend in Augsburg mit groovender Musik, einer revulotionär-neuen Tango-Evolution und einem unvergleichlichen Solisten.

[Oliver Fraenzke, Juli 2016]

[Rezensionen im Vergleich 4b:] Argentinien in München

Hugo Schuler spielt am 31. Januar 2016 im FMZ Bach, Kaminski, Schwarz-Schilling, Canepa und Ginastera

Stellen Sie sich vor: Sie sind ein wirklich überragender Pianist, berühmt im eigenen Land vor allem auch als Bach-Spieler – nämlich ihrem Geburtsland Argentinien, wie Daniel Barenboim oder Martha Argerich eben – und fliegen nach München, um hier ein Konzert zu geben. Und Sie geben dieses Konzert nicht etwa in der Philharmonie oder wenigstens im Herkulessaal, nein, sie spielen im sog. „Festsaal“ des FMZ = Freies Musikzentrum in der Ismaningerstrasse vor wieder einmal einer Handvoll Zuhörerinnen und Zuhörer. Noch dazu ist den meisten Münchnern erst gar nicht bekannt, wo das FMZ überhaupt liegt, jedenfalls ernte ich oft ein Kopfschütteln, wenn ich jemanden danach frage.
Am Fall des Freien Musikzentrums kann man sehen, wie schwer es ist, einen neuen Klassikstandort zu etablieren in einer Stadt, die dem etablierten Starkult frönt und sich selbst genug ist. Da brauchen auch so ausgezeichnete Reihen wie ‚Backstage on Stage’ Jahre, um größere Publikumskreise zu erreichen. Nun, wir werden sehen, ob die Münchner aufwachen…
Doch genug der Klage, da bin ich sicher nicht allein. Zum Konzert selber:

In den vergangenen Jahren hat Hugo Schuler die Goldberg-Variationen oft gespielt, diesmal im ersten Teil ohne die üblichen Wiederholungen, was eine Spieldauer von ca. 40 Minuten bedeutet und eben ermöglichte, eine Pause einzulegen und danach noch ein Kontrastprogram zu bieten. Bei Schulers erstem Auftreten hier in Deutschland 2014 schrieb ich im alten, leider online nicht mehr verfügbaren „The Listener“:
„Völlig uneitel, versunken, intensivst und gleichzeitig mit größter Gelassenheit entfaltete Schuler die einleitende (und abschließende) Aria mit den folgenden 30 „Veränderungen“, wie sie Bach für den Grafen Keyserlink und dessen Cembalisten Goldberg (einen Schüler Bachs und seines Sohnes Friedemann) komponierte.“
Dem ist auch nach der „verkürzten“ Fassung nichts hinzuzufügen, es sei denn, dass Hugo Schuler noch durchdringender, selbstverständlicher – im besten Sinn des Wortes – und durchaus auch noch horchender, singender und entfaltender diesen Kosmos vor uns ausbreitet, dessen Kühnheit – es gibt doch nur diese 88 Tasten, bei Bach noch nicht mal alle – mich jedes Mal aufs Neue überrascht und mitnimmt. Es kommt eben in diesem Universum alles vor vom Leisesten, Melodiösen bis zum Abstrakten, fast Freitonalen. Besonders in der 25. Variation, einem Adagio, glaube ich die Bach’sche Tonsprache auch beim wiederholten Hören nicht zu fassen, so unvermittelt kommen da – gegen jede Erwartung – die Melodietöne in der rechten Hand. Es ist immer wieder unfassbar, welche harmonischen und melodischen Kühnheiten der alte Johann Sebastian aus der Kompositionstasche zieht, auf welche „Irrwege“ er uns dann und wann lockt, die ja für ihn überhaupt keine sind oder waren.
Nach der Pause dann die Fortsetzung mit zwei Kompositionen von Heinrich Kaminski (1886-1946)  – Präludium und Fuge, erschienen 1935 – und seinem einstigen Schüler Reinhard Schwarz-Schilling (1904-1985), die Klaviersonate von 1968.
In beiden Kompositionen wird das polyphone Erbe Bachs deutlich und erkennbar, neben einem strömenden musikalischen Fließen, wo natürlich die Errungenschaften der Musik des 20. Jahrhunderts im Ausdruck und im Charakter hinzukommen. Auch diese Musik ließ Hugo Schuler in all ihrer Größe und klanglichen Farbigkeit entstehen – es wird auch bald bei Aldilà Records Schulers Debüt-CD mit den Goldberg-Variationen und diesen Werken erscheinen.
Zum Abschluss zwei Stücke argentinischer Komponisten. Der erste Julio Canepa, ein Zeitgenosse, geboren 1940, schrieb drei Klavierstücke nach einem Bilderzyklus mit einem Boot, die sehr impulsiv und expressiv waren, besonders den unteren Teil der Klaviatur betonend.
Die „Danzas argentinas“ von 1937 – drei Tänze des großen argentinischen Komponisten Alberto Ginastera (1916-1983) – bildeten den temperamentvollen Abschluss und zeigten Hugo Schuler von seiner anderen Seite, die nicht nur dem Publikum, sondern auch ihm selber ersichtlichen Spaß machte. So bleibt nur zu hoffen, dass die Karriere des jungen argentinischen Pianisten ihn auch hier in München bald wieder einmal in einem repräsentativeren Rahmen dem großen Publikum erlebbar macht. Drücken wir ihm und uns die Daumen!

[Ulrich Hermann, Februar 2016]

[Rezensionen im Vergleich 4a:] Von Argentinien zu Bach und wieder zurück

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Der hierzulande noch unbekannte junge argentinische Klaviervirtuose Hugo Schuler gab am Sonntag, den 31. Januar 2016, um 20 Uhr, ein Klavierrecital im Freien Musikzentrum München und führte dabei Werke von Johann Sebastian Bach, Heinrich Kaminski, Reinhard Schwarz-Schilling sowie Julio García Cánepa und Alberto Ginastera auf.

Vorab sei gesagt: wie schön, dass uns das Freie Musikzentrum die Begegnung mit so außergewöhnlichen Musikererscheinungen wie Hugo Schuler oder zuletzt der legendären Pianistin Beth Levin aus Brooklyn ermöglicht. Man hätte viel mehr Publikum verdient, doch ist es nicht leicht, in einer Musikmetropole wie München auf sich aufmerksam zu machen.

Die Verknüpfung der beiden Komponenten Bach und Argentinien unterstreicht eine Tradition, die bereits seit Astor Piazzolla besteht. Doch am vorgestrigen Abend erreichte sie in Münchens Freiem Musikzentrum einen künstlerischen Höhepunkt, was auch einem ausgefeilten Konzept der Veranstalter zu verdanken ist. So war es Herrn Christoph Schlüren in seiner Konzerteinführung ein Anliegen, das Kontrapunktische von Bach bis hin ins 20. Jahrhundert zu verfolgen und mit argentinischer Musik zu kontrastieren.

Die Verkörperung der Symbiose von elaboriertem Kontrapunkt und lateinamerikanischer Lebensfreude ist Hugo Schuler selbst, eine der hoffnungsvollsten Pianistenbegabungen Argentiniens, der in seiner Heimat bereits als ein Spezialist auf dem Gebiet der Kontrapunktik und insbesondere Bachs gilt. Bereits in der ersten Konzerthälfte konnte er dies in den allbekannten Goldberg-Variationen BWV 988 Johann Sebastian Bachs beweisen. Wenn man bedenkt, dass dieses vielgespielte Spätwerk des Komponisten im Originaltitel eine Clavier Übung bestehend in einer ARIA mit verschiedenen Verænderungen vors Clavicimbal mit 2 Manualen darstellt, muss man gleich vorweg klären, dass Schuler sich an zwei Dinge nicht hielt: An die 2 Manuale, was aber nur Vertreter historisch informierter Aufführungspraxis gelegentlich berücksichtigen (und instrumental auf dem Konzertflügel unmöglich gewesen wäre), sowie an die Wiederholungsvorschriften, um die Länge des Recitals in menschlichen Grenzen zu halten. Durchweg glänzt der Argentinier durch absolute Texttreue und ein Gedächtnis, das jede Note dieses Konzerts auswendig wiederzugeben vermochte. Und durch eine beachtliche Musikalität: Die themengebende Aria nimmt er betont langsam, er lässt sich Zeit, jede Stimme, jede Artikulation und Verzierung ohne Routine auszuformulieren. Auch jeder noch so nebensächliche Akkord erhält bei ihm Bedeutung und wird Teil der logischen Entwicklung dieses Anfangs. Bei den meisten Variationen selbst nimmt Schuler den eigentlichen Zweck der Übung ernst und verbindet teils sehr rasche Tempi mit absoluter Tastensicherheit. Andererseits kann man nicht sagen, dass sein Spiel irgendwie auch nur ansatzweise trocken gelehrsam klänge, sondern schlicht belebt und jeweils mit Bedacht auf den Charakter jeder Variation. Wobei es natürlich einzelne Abschnitte gibt, die durch ihre starke motorische Ähnlichkeit in der Gestaltung charakteristische Gruppen bilden wie beispielsweise die Var. 9 bis 12. Immer wieder zeigt Schuler sehr originelle Ansätze, wie etwa in Var. 1, wo viele Pianisten das Tempo recht schnell nehmen, während er es gemäßigt nimmt und der Variation somit Raum für Entwicklung lässt. Seine eigentliche Stärke, die Kontrapunktik, wird ihm in manchen Stellen etwas zum Nachteil, so etwa in Var. 15 (die erste Variation in g-Moll). Da Schuler hier den kanonischen Charakter hervorhebt, geht der thematische Zusammenhalt im Gewebe leicht unter, trotz seiner artikulatorischen Kompetenzen. Allerdings sind dies Marginalien angesichts der Souveränität, mit der er den Zyklus beherrscht. Seine Anschlagstechnik, mal sehr direkt, mal sehr weich, doch meistens genau abgestimmt, fügt sich sehr harmonisch dieser anspruchsvollen Musik. Besonders intensiv gelingt ihm Var. 25, deren Lamentocharakter er dezent wiedergibt. Gleichzeitig betont Schuler die dissonanten Akkorde und gestaltet am Ende der Variation einen bewussten Höhepunkt auf dem Ton d3, was angemessen und auch logisch klingt und einen gewissen Mut erfordert, wenn man bedenkt, dass Bach und seine Zeitgenossen kaum dynamische Vorgaben machten.

Insgesamt handelte es sich um eine höchst erbauliche Darbietung der Goldberg-Variationen, welche an manchen Stellen noch etwas mehr Tiefe vertragen hätte, aber durch ihr durchdachtes und technisch ausgereiftes Spiel überzeugte. Die nach der Pause folgenden Komponisten Heinrich Kaminski (1886–1946) und Reinhard Schwarz-Schilling (1904–1985, Vater des Bundesministers a.D. und Hohen Repräsentanten der Vereinten Nationen in Bosnien-Herzegowina Christian Schwarz-Schilling), verbindet nicht nur ihr Lehrer-Schüler-Verhältnis, sondern auch die Tatsache, dass sie in der europäischen Kunstmusik des 20. Jahrhunderts ihre eigene, durchweg humane Musiksprache finden wollten, auch als Haltung gegen die Weltkriege und den Hass, der sie umgab. Speziell Kaminski, so Schlüren, schuf eine neue Art des Kontrapunkts und der Metrik, die beide sehr melismatisch durchbildet sind. Das klangliche Ergebnis in Kaminskis Präludium und Fuge (in der ersten Hälfte der 1930er Jahren komponiert) bietet neben emphatisch auf- und abrollenden Stimmenverläufen auch jede Menge Ornamentik, die Schuler sehr organisch zu entfesseln vermag. Obgleich die Fuge an sich auf klarem f-Moll fußt, enthält sie viele chromatische Verwicklungen und geht mit ihrem tonalen Geflecht und ihrer Stimmverknüpfung sehr frei um. Schuler gelingt es, diese Musik Gestalt werden zu lassen, ohne ihre im weiteren Verlauf durchaus auch zerklaffende Struktur zu kaschieren. Gleiches gilt für die 1968 entstandene Klaviersonate von Schwarz-Schilling, die Herr Schlüren als klanglich am Orchester und in ihrem Klangcharakter und der eigenwilligen Dissonanzbehandlung als an Sibelius in seinen kühnen Werken wie ab der 4. Symphonie erinnernd beschreibt. Nicht zu Unrecht, und das eröffnende Vivace zeigt sowohl Ansätze eines Sonatenhauptsatzes wie einer Fuge und basiert selbst im Seitensatz auf dem Hauptmotiv des Anfangs, welches Schuler, wie vorgeschrieben, martellato spielt. Sind die strukturelle Bündigkeit und Technik nach wie vor die Stärken des argentinischen Klaviertalents, so ist es die Fähigkeit zur verfeinerten Lautstärken-Verteilung, an der der junge Pianist noch feilen müsste, gerade in der Sonate mit ihren zahlreichen dynamischen Gegensätzen und Überraschungen. Im zweiten Satz, Larghetto cantabile, hat Schuler damit kein Problem. Dieses meditative Intermezzo erscheint in seiner phrygischen Thematik und der renaissanceartigen Stimmführung bewusst schlicht geformt. Dabei versteht Schuler es abermals, klanglichen Leerlauf zu vermeiden durch sein pointiertes Spiel (das er bewusst-unbewusst durch Mitsummen begleitete). Unter seinen Händen erfüllen sich die Anweisungen Schwarz-Schillings, der „keine Unterbrechung des Flusses“ und den „Eindruck eines Gesamt-Zeitmaßes“ fordert. Für symphonische Symmetrie sorgt der dritte Satz, auch ein Vivace, der die Motivik des ersten aufgreift, gleichwohl anders weiterentwickelt und auf knappem Raum allerlei Formelemente, auch die einer Passacaglia, hervorbringt. Überflüssig zu erwähnen, dass Schuler auch dieses stürmische Finale vollendet beherrschte.

Mit den letzten beiden Komponisten würdigte Hugo Schuler seine Heimat und bewies, dass er nicht nur komplex durchstrukturierte Musik beherrscht. Die Suite A Don Benito, die der argentinische Komponist Julio García Cánepa, derzeit Dekan im Departamento de Artes Musicales in Buenos Aires, komponierte, bezieht sich auf drei Gemälde des berühmten argentinischen Malers Benito Quinquela Martin (1890-1977): I. Barco en el Astillero (Das Schiff in der Werft), II. A pleno sol (In voller Sonne), III. Cemeterio de Barcos (Friedhof der Schiffe). Allein die Auswahl der Titel vermittelt einen abstrakten Eindruck, den Cánepa in seinem Werk deutlich und stimmungsvoll artikuliert. Das dritte Stück dominiert eine markante Basslinie, die aber immer verkürzter erklingt, bis das ganze Spiel in einen einzigen Cluster mündet. Diese eigenwillige Schöpfung gibt Schuler satztechnisch lupenrein wieder, zudem vermag er es, die morbide Stimmung der Suite angemessen entstehen zu lassen. Gegensätzlicher dazu könnte das letzte Werk des Abends, die drei Danzas argentinas Op. 2 (1937) von Alberto Ginastera, der heuer seinen 100. Geburtstag gefeiert hätte, nicht sein. Herr Schlüren bezeichnet dieses Werk gar als Stück im Stilo popolare. In gewisser Weise spannt Schuler mit dieser Wahl nun einen Bogen zu Bach, wie man schon dem ersten Tanz, dem Danza del viejo boyero (Tanz des alten Hirten) entnimmt. Dieser Tanz ist wesentlich von einer perpetuierenden Motorik geprägt, wie sie in vielen Toccaten Bachs, aber auch bei Sergej Prokofieff auftaucht. Die darauffolgende Danza de la moza donosa (Tanz des schönen Weibes) orientiert sich an den Rhythmen des Tango wie der Habanera und könnte leicht ins Triviale abgleiten, würde Schuler diesen Satz, der einige harmonischen Spannungen birgt, nicht mit solch unbestechlicher Konzentration vortragen und in seinen Nuancen geschmackssicher auskosten. Die abschließende Danza del gaucho matrero (Tanz des vogelfreien Gauchos) bestätigt final die Dreiersymmetrie: Ähnlich vital wie der erste Tanz, birgt dieser wilde Kehraus deutlich mehr verschachtelte Rhythmen und Harmonien, geht aber immer mehr in eine offensichtliche C-Dur-Apotheose über, die Hugo Schuler mit all seiner Fingerfertigkeit zelebriert, ohne je den geringsten Eindruck selbstverliebter Virtuosität zu machen.

Bei solch einem originellen und zugleich hintersinnigen Programm bleibt nur zu wünschen, dass Hugo Schuler, der kommende Bach-Exeget Argentiniens, auch weiterhin hier in Europa auf sich aufmerksam machen wird.

[Peter Fröhlich, Februar 2016]