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Winterberg und Winterberg in Berlin – eine musikalisch-literarische Spurensuche

Die Schwartzsche Villa in Berlin-Steglitz bot am 12. Juli 2024 den Hintergrund für eine musikalisch-literarische Zusammenkunft besonderer Art. Zwei Namensvettern trafen hier aufeinander, deren Schicksale erstaunliche Parallelen aufweisen, und luden zu einer Reise in die Vergangenheit Mitteleuropas ein, insbesondere derjenigen ihrer Heimat Böhmen: der Komponist Hans Winterberg (1901–1991) und Wenzel Winterberg, die Titelfigur des 2019 erschienenen Romans Winterbergs letzte Reise von Jaroslav Rudiš. Von Hans Winterberg erklangen drei Kammermusikwerke, vorgetragen von den Mitgliedern des Adamello Quartetts – Clemens Linder und Byol Kang (Violinen), Susanne Linder (Viola), Adele Bitter (Violoncello) – und dem Pianisten Holger Groschopp. Dazwischen las Jaroslav Rudiš ausgewählte Kapitel aus seinem Roman.

Hans Winterberg galt nach seinem Tode lange Zeit als ein weitgehend vergessener sudetendeutscher Komponist. Von seinen Werken war nichts im Druck greifbar, auch gab es keine kommerziellen Einspielungen. Nur durch eine Anzahl von Mitschnitten im Archiv des Bayerischen Rundfunks konnte man sich einen Eindruck von Winterbergs Musik verschaffen. Der künstlerische Nachlass lagerte, für die Öffentlichkeit unzugänglich, im Sudetendeutschen Musikarchiv in Regensburg. Den Anstoß zur Entdeckung Winterbergs gab Peter Kreitmeir, der Enkel des Komponisten, der ohne Kontakt zu seinem Großvater aufgewachsen war und sich 2010 auf dessen Spuren begab. Die Nachforschungen gerieten zu einer Archäologie böhmischer Kulturgeschichte, denn nicht nur wurde deutlich, dass Hans Winterbergs kultureller Hintergrund deutlich vielgestaltiger war als zunächst angenommen, auch kam ein Lebenslauf zum Vorschein, in welchem die Umbrüche des 20. Jahrhunderts deutliche Einschnitte hinterlassen haben.

Will man Hans Winterberg einer Nationalität zuordnen (er selbst hielt davon nicht viel und nannte „Nationalität“ einen „verqueren, rückständigen Begriff“), so tut man wohl am besten daran, ihn einen Böhmen zu nennen. In dieser Bezeichnung finden sich seine deutschen, tschechischen und jüdischen Wurzeln gleichermaßen aufgehoben, denn Winterberg war einer jener Böhmen, die deutsch, tschechisch und jüdisch zugleich waren: Er war deutschsprachig, jüdischen Glaubens und fühlte sich als Tscheche. Hans Winterbergs Lebensweg begann im 53. Regierungsjahr des Kaisers Franz Joseph im zur österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie gehörenden Prag und endete in der Bundesrepublik Deutschland kurz nach der Wiedervereinigung. Er erlebte zwei Weltkriege, die Gründung der Tschechoslowakei, ihre Zerschlagung durch die Nationalsozialisten und ihre Wiedererrichtung, den Holocaust, dem mehrere seiner Verwandten, darunter seine Mutter, zum Opfer fielen und dem er selbst nur knapp entkam, und die Vertreibung der Deutschböhmen nach 1945. Da er sich vor dem Krieg als Angehöriger der tschechischen Nationalität hatte registrieren lassen (er schrieb sich selbst damals bevorzugt „Hanuš Winterberg“), blieb ihm die Ausweisung aus seiner Heimat erspart, doch verließ er die Tschechoslowakei bereits 1947 in Richtung Bayern, wo er sich als Lektor beim Bayerischen Rundfunk und als Lehrer am Münchner Richard-Strauss-Konservatorium betätigte.

Von diesem Lebenslauf wusste der tschechische Schriftsteller Jaroslav Rudiš nichts, als er einen Roman entwarf, dessen Protagonist ebenfalls den Namen „Winterberg“ tragen sollte – nach einer Kleinstadt im Böhmerwald nahe der bayerischen Grenze, die heute auf Tschechisch „Vimperk“ heißt. Interessanterweise spielt sich Winterbergs letzte Reise im Jahr 2017 ab, im gleichen Jahr also, in welchem Peter Kreitmeir die alleinigen Nutzungsrechte am Schaffen seines Großvaters, des Komponisten Winterberg, zugesprochen erhielt, woraufhin er die Verbreitung der Musik in die Wege leiten konnte.

Wenzel Winterberg, die Titelfigur von Rudišs Roman, ist kein Komponist, sondern ein Berliner Straßenbahnfahrer im Ruhestand, der als Deutschböhme in Reichenberg (Liberec) zur Welt kam. Zu Beginn der Romanhandlung ist Winterberg bereits 99 Jahre alt. Da nach einem schweren Schlaganfall sein Tod erwartet wird, stellt seine Tochter den Altenpfleger Jan Kraus ein, der sich darauf spezialisiert hat, Todkranke bei ihrer „Überfahrt“, wie er es nennt, zu begleiten. Doch als Kraus beiläufig erwähnt, aus Winterberg, Vimperk, zu stammen, kommt Winterberg ins Leben zurück und fühlt sich bald gesund genug, zu einer Reise nach Tschechien aufzubrechen, wohin er nach seinem Militäreinsatz im Zweiten Weltkrieg nicht mehr zurückgekehrt war. Kraus, Sohn eines deutsch-tschechischen Elternpaars und als junger Mann nach traumatischen Erfahrungen und einem Aufenthalt im Gefängnis ausgewandert, begleitet ihn widerwillig, obwohl er sich vorgenommen hatte, nie wieder seine alte Heimat zu betreten. Ein großer Teil der Handlung spielt sich in Zügen und auf Bahnhöfen ab. Winterberg will die Stätten seiner Jugend sehen, aber auch Orte besuchen, an denen sich einschneidende Ereignisse der Geschichte abgespielt haben: „Die Schlacht bei Königgrätz geht durch mein Herz“, lautet der erste Satz des mitten in der Handlung beginnenden Romans. Letztlich soll die Reise bis nach Sarajewo führen, nicht nur der fatalen Ereignisse von 1914 wegen, sondern auch weil Winterberg von dort das letzte Lebenszeichen seiner Jugendliebe Lenka, die als Jüdin vor den Nazis hatte fliehen müssen, erhalten hat. Kraus spricht nicht viel, doch da er der Ich-Erzähler des Romans ist, erhält man Einblick in seine Gedanken. Aus seiner Perspektive erlebt man die „historischen Anfälle“ mit, die Winterberg regelmäßig während der Reise heimsuchen. Sie äußern sich in geradezu manischen Rezitationen aus dem Baedeker-Reiseführer für Österreich-Ungarn von 1913, den Winterberg als seine „Bibel“ stets mit sich führt, sowie in ausgiebigen Kommentaren zum dort Geschriebenen. Dabei verschwimmen die weltgeschichtlichen Begebenheiten mit Winterbergs Biographie und dem Alltagsleben der Vor- und Zwischenkriegszeit. Die Gegenwart wird immer wieder an der Geschichte gespiegelt, nicht nur im Hinblick darauf, welche Gebäude aus früherer Zeit noch vorhanden sind, sondern auch hinsichtlich der Lebensgewohnheiten der Menschen, dargestellt etwa in Exkursen über Wirtshäuser, böhmisches Bier und die länderübergreifende Küche der alten Doppelmonarchie. Die Eisenbahn ist als Lebensader der Zivilisation permanent präsent: Die beiden Hauptfiguren sind ständig mit dem Zug unterwegs und begeben sich dabei wiederholt auf Abschweifungen – etwa nach Vimperk; auch kommt Winterberg in seinen historischen Anfällen immer wieder auf die Eisenbahn zu sprechen und erzählt von interessanten Begebenheiten wie der Lokomotivflucht der Sachsen während des Deutschen Krieges 1866 nach Eger; ein unausgesprochenes Motiv für die Reise ist Winterbergs gescheitertes Lebensprojekt, die Geschichte Mitteleuropas in einer Modelleisenbahnanlage darzustellen.

Winterbergs letzte Reise ist literarische Archäologie. Nach und nach wird nicht nur die Vergangenheit freigelegt, es entsteht auch ein Bewusstsein für ihre einzelnen Schichten, die sich ineinander verschachtelt haben und nun, ausgegraben, in direkte Beziehung zueinander und zur Gegenwart treten. So werden die Grenzen von Raum und Zeit neu gezogen, Vergessenes und Verdrängtes kommt wieder zu Tage, das Individuum erlebt sich als Teil des großen Zusammenhangs, als mitwirkender Akteur wie als als machtloses Subjekt der Geschichte.

Vorgetragen wird das alles in einem Stil, den man durchaus musikalisch nennen kann. Sowohl Winterberg als auch Kraus haben ihre feststehenden Wendungen, die den Roman refrainartig durchziehen, wobei sich die Sprache gerade in Winterbergs Monologen zu einer Beharrlichkeit steigert, die in ihrer Intensität an Thomas Bernhard gemahnt. Die aufgestaute Spannung löst sich allerdings immer wieder in komischen Situationen, die sich aus der Verschiedenheit der beiden Hauptcharaktere und ihren Kommunikationsproblemen ergeben. Viele Stellen des im Grunde sehr ernsten Buches – einmal schimpft Winterberg demonstrativ auf den böhmischen Humor –, geraten dadurch zu humoristischen Kabinettstücken.

Jaroslav Rudiš, der den Roman original in deutscher Sprache verfasst hat, las insgesamt fünf Kapitel vor, die sich über den ganzen Verlauf des Buches verteilen. Die Lesungen alternierten mit drei Kammermusikwerken Hans Winterbergs: der Sudeten-Suite für Klaviertrio, der Sonate für Violoncello und Klavier und dem als „Symfonie [sic] für Streichquartett“ bezeichneten Streichquartett Nr. 1. Das letztere Werk gelangte dabei zu seiner Uraufführung. Zu Lebzeiten des Komponisten war keine öffentliche Darbietung zustande gekommen. Nach seinem Tode ging die letzte Seite des Manuskripts verloren, weswegen Toccata Classics in seiner 2023 erschienenen Einspielung der Streichquartette Winterbergs auf dieses Stück verzichten musste. Vor kurzem tauchte allerdings die verschollene Seite inmitten anderer Papiere wieder auf, sodass einer Aufführung der „Quartett-Symfonie“ nichts mehr im Wege stand.

Hans Winterbergs Musik harmonierte erstaunlich gut mit Rudišs Erzählung. Ebenso wie dort ist in den Werken des Komponisten ein nervöser Unterton zu spüren, der in dissonanten Umkreisungen der tonalen Zentren und dem häufigen Einsatz ostinater rhythmischer Formeln seinen Ausdruck findet. In den raschen Sätzen des Streichquartetts und der Cellosonate, insbesondere dem toccatenartigen Finale der letzteren, liegt auch die Assoziation mit einer Zugreise gar nicht so fern. Und wie der literarische Winterberg in die Geschichte Böhmens eintaucht, so erscheint der Komponist gleichen Familiennamens als ein fest in der tschechischen Musiktradition verwurzelter Künstler. Die Sudeten-Suite erscheint mit ihren romantischen Topoi als ein eher untypisches Werk im Schaffen Hans Winterbergs. Allerdings wird gerade an diesem Stück seine Verbindung mit der Musik des 19. Jahrhunderts, insbesondere Bedřich Smetana, deutlich. Fluktuierende Klangflächen scheinen auf das Waldesrauschen Aus Böhmens Hain und Flur zu verweisen und die im letzten Satz dargestellten Elbe-Quellen ähneln kaum zufällig den Quellen der Moldau. Dieses Rauschen, diese landschaftlichen Töne gehören wie die Liebe zu tänzerischen Rhythmen zum Grundrepertoire der musikalischen Ausdrucksweise Winterbergs, auch wenn sie in den meisten seiner Kompositionen dissonant geschärft auftreten und sich mitunter in urban-mechanische Klänge verwandeln. Aber auch, wenn er die böhmische Landschaft verlässt, verleugnet er seine Herkunft nicht, nur wechselt das Idiom vom slawischen Tanz zum modernen Tanz der 1920er Jahre, von den Fluren Tschechiens zu den impressionistischen Landschaften der damaligen französischen Musik. In jedem der drei Werke, die sämtlich vorzüglich wiedergegeben wurden, präsentierte sich der Komponist von einer etwas anderen Seite. Das Streichquartett ließe sich als expressionisch, die Cellosonate als klassizistisch mit deutlichen expressionistischen Untertönen charakterisieren, wohingegen die Trio-Suite an nationalromantische Vorbilder anknüpft. Insofern bot der Abend auch einen guten Überblick über die stilistische Vielseitigkeit Hans Winterbergs.

Die gut besuchte Veranstaltung fand beim Publikum sichtlich Anklang, und man kann wohl sagen, dass alle Zuhörer, ob sie nun ursprünglich wegen der musikalischen oder der literarischen Komponente des Abends den Weg in die Schwartzsche Villa eingeschlagen hatten, von dieser Spurensuche in der Geschichte Böhmens bereichert zurückgekommen sind.

Jaroslav Rudiš: Winterbergs letzte Reise, 3. Auflage, München: btb Verlag, 2021, 544 Seiten. ISBN 978-3-442-71967-9

[Norbert Florian Schuck, Juli 2024]

Écoles de Paris — Paris pour École

EDA Records, EDA 048; EAN: 8 403087 10048

Das Album Écoles de Paris – Paris pour École vereint Werke vierer Komponisten, die wesentlich vom Paris der 1920er Jahre geprägt worden sind: George Antheil, Jacques Ibert, Simon Laks und Marcel Mihalovici. Es spielen Mitglieder des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin unter Leitung von Johannes Zurl. Als Solisten sind Adele Bitter (Violoncello) und Holger Groschopp (Klavier) zu hören.

Frank Harders-Wuthenow wirkt seit Jahrzehnten nicht nur im Musikverlagsgeschäft, sondern ist auch einer der beschlagensten und kenntnisreichsten Musikforscher weltweit. Hauptfeld seiner Erkundungen ist gleichermaßen die verfemte wie überhaupt die unterschätzte und vernachlässigte Musik des 20. Jahrhunderts, wo er ein sehr gutes Gespür hat, wie die Spreu vom Weizen zu trennen ist. Außerdem hat er eine ausgesprochene Gabe für die dramatisch schlüssige Zusammenstellung von Programmen, und schon alleine von daher gehört er zu denjenigen, wie weniger Wert auf enzyklopädische Vollständigkeit und Übersichtlichkeit legen als auf eine künstlerisch anregende Gesamtgestaltung. Also ist es keine Überraschung, wenn eine CD mit erlesenstem gemischten Programm der klassischen Moderne auf seinem Label EDA Records erscheint – die übrigens mit tollen Überraschungen aufwartet.

Gleich vorweg: das Album weist einen hervorragend einstimmenden und informierenden, recht umfangreichen Begleittext aus der Feder des Produzenten auf. Es handelt sich allesamt um Komponisten, die im Paris der 1920er Jahre heranreiften und es mitgeprägt haben. Natürlich könnten – gerade auch von den vielen Migranten – auch ganz andere dabei sein, wie Alexandre Tansman, Tibor Harsányi, Gösta Nystroem, Arthur Lourié, Bohuslav Martinu, Conrad Beck, Filip Lazar, Knudåge Riisager oder Uuno Klami, um nur einige wenige zu nennen. Aus dieser immensen Vielfalt sind drei Meister herausgegriffen, mit deren Werk die Welt nur sehr randständig bis überhaupt nicht vertraut ist, die in Kombination mit einem französischen Meister vorgestellt werden.

Den Anfang macht der einzige Franzose, Jacques Ibert – am besten durch seine Konzerte für Flöte und für Saxophon sowie durch seine Bläsermusik bekannt –, mit seinem so kurzweiligen wie knapp geformten dreisätzigen Konzert für Cello und Bläserdezett (doppeltes Holz sowie je ein Horn und eine Trompete) von 1925. Die Musik sprüht von trocken artikuliertem Witz, weist eine größere Nähe zu Strawinsky aus als spätere Werke Iberts und auch jene beinahe trivialen, zum Mitpfeifen einladenden Motive, wie wir sie beispielsweise aus seinen köstlichen Trois pièces brèves für Bläserquintett kennen. Alles funkelt, alles blitzt, und Solistin Adele Bitter gewinnt aus der heiklen Aufgabe, mit dem dominant kompakten Klang des Bläserensembles zu konzertieren, ein veritables Fest des unvorhersehbaren Dialogs. Natürlich ist das ‚Neoklassizismus‘, mit einer einleitenden Pastorale und einer finalen Gigue, die eine skurrile ‚Romance‘, die sich so gar nicht schwelgerisch gibt, umrahmen. Diese Romance gleicht einer unnahbar flunkernden Dame, mindestens mit Sonnenbrille, aber so was Anzügliches darf ich heute vielleicht nicht sagen.

Darauf folgt das Hauptwerk, die horrend herausfordernde Étude en deux parties für konzertantes Klavier, Bläser, Celesta und Schlagzeug von 1951. Mihalovici, rumänischer Jude und Pariser Weltbürger, engster Vertrauter George Enescus und vielleicht sein bedeutendster Nachfolger (ihm hat Enescu die Vollendung seiner späten Symphonie de Chambre, jenes grandios einsätzigen Meisterwerks, anvertraut), geht in seiner gereiften Tonsprache selbstverständlich davon aus, dass die Musiker in der Lage sein müssen, eine hohe Komplexität zu entschlüsseln und zu bewältigen. Es folgt hier auf einen langsamen Satz von mysteriös vorbereitendem Charakter in durchbrochener Faktur ein zügiger Satz mit jazzigen und rumänischen Anteilen, die auf sehr organische und unaufdringliche Weise ins anspruchsvolle Gewebe eingewoben sind. Dies ist absolut keine gefällige Musik, man muss die ständig kräftige Dissonanz-Würzung schon mögen, um Zugang zu finden, wird aber dann sehr reich belohnt. Die Energie wird lange unterschwellig gehalten, bevor sie sich gegen Ende exaltierter manifestieren darf. Zwar ist die Instrumentation sehr abwechslungsreich, wobei Mihalovici es liebt, die Klanggruppen einander opponieren zu lassen, doch ist er vor allem ein symphonischer Architekt, der alles von Anfang an auf den Schluss hin berechnet. Und ein bisschen Mysterium darf ja auch dann noch bleiben.

George Antheil hat mich mit seinem humorvoll draufgängerischen Concerto for Chamber Orchestra (für Bläseroktett, wie Strawinsky) in einem Satz von 1932 überrascht. Nicht das Freche, Frische, Grelle, Schlagkräftige, das ist ja für seine frühe Musik selbstverständlich; sondern die gelassene Souveränität seiner Provokation! Es ist äußerst präzise und treffsicher geschrieben und verdankt natürlich unendlich viel dem neusachlichen Strawinsky. Und zugleich ist es eben ein amerikanischer Strawinsky, so amerikanisch, wie selbst der Großmeister der Chamäleon-Possen es nie sein sollte. Diese Musik ist unmittelbar verständlich und hat das Zeug, mit poppiger Direktheit die Zuhörer zu gewinnen.

Auch das abschließende dreisätzige Concerto da camera für Klavier, Bläser und Schlagzeug von 1963, geschrieben vom polnischen Juden und KZ-Überlebenden Simon (Szymon) Laks, ist leicht zugänglich, und überdies von einer idyllischen Fröhlichkeit (also mehr naturhaft als die großstädtische Musik Antheils) mit einem ganz wunderbar den Problemen und Forderungen der Welt entrückten langsamen Mittelsatz. Das ist musikantische Musik im besten Sinne, für den Klaviersolisten sehr dankbar, gerade auch in der an Bach’sche Inventionen gemahnenden Kontrapunktik (Finale!) – ein zeitloses Werk, das genau so auch hätte dreißig Jahre früher oder sechzig Jahre später (=heute) entstehen können. Diesem Schaffen liegt eine autonome Haltung zugrunde, die die Parteifragen der Gegenwart (fortschrittlich oder rückständig und dergleichen) vollkommen transzendiert hat. Es war Laks offensichtlich gleichgültig, wie die Fachwelt urteilte, und er hatte Schlimmeres überlebt als deren Ignoranz – und stimmte, als unmittelbar Betroffener, offenkundig nicht Adorno zu, der ja proklamiert hat, nach Auschwitz könne man kein Gedicht (bei Laks: Lied) mehr schreiben. („… nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frisst auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben…“ – viele haben aus diesem dystopischen Giftbecher getrunken.) Denn Laks lebte mehr im Jetzt – und in sich – als all jene, die bis heute Vergeltung, Wiedergutmachung oder Verweigerung fordern. Die Aufführungen dieser insbesondere hinsichtlich Balance und Rhythmus sehr heiklen Werke sind durchgehend von überdurchschnittlich seriöser Qualität, und herausragend ist das Klavierspiel Holger Groschopps, der sich gleichzeitig als feiner Kammermusiker und echter Virtuose vorstellt – also ganz so, wie es die somnambul verschattete, katakombisch klaustrophobische Faktur Mihalovicis unbedingt einfordert und auch der Indian-Summer-Ausgelassenheit des abgeklärten Laks entspricht.

In seiner feinziselierten Buntheit kann dieses vortrefflich zusammengestellte Album nur empfohlen werden. Strawinskys Bläser-Oktett übrigens ist nicht enthalten, wie das Cover suggerieren mag, sondern nur online zu hören – was aber keine Rolle spielt, denn dieses Werk ist ja schon viel öfter aufgenommen worden als alle vier anderen Werke dieses Programms zusammen.

[Christoph Schlüren, Februar 2024]

Musik für Solocello auf Reisen zwischen den Welten

eda records, EDA 47, EAN: 8 40387 10047 0

Die Cellistin Adele Bitter, Mitglied des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin, präsentiert fünf Solowerke für Violoncello aus den Jahren von 1949 bis 1982. Der Titel „crossroads“ reflektiert dabei Herkunft und Lebenswege der Komponisten Sándor Veress, Ursula Mamlok, Marcel Mihalovici, Ahmed Adnan Saygun und Alberto Ginastera.

Wenn Literatur für Solocello bis heute vielleicht ein wenig das Flair des Exotischen umweht, dann sicherlich nicht zuletzt deshalb, weil es nach einer Reihe von Werken zu Zeiten des Barock (mit Bachs Suiten als zeitlosem Gipfelpunkt) fast zwei Jahrhunderte dauerte, bis das Interesse an dieser Besetzung wieder einsetzte, sieht man einmal von einzelnen Werken komponierender Cellisten wie Alfredo Piatti ab. (Das Cello bildet hier natürlich insofern keine Ausnahme, als dass Musik für unbegleitete Melodieinstrumente aus der Zeit zwischen 1750 bis 1900 generell Seltenheitswert besitzt.) Angefangen mit Werken wie Regers und Courvoisiers Suiten oder Toveys und Kodálys Solosonaten hat Musik für Cello allein im 20. Jahrhundert jedoch einen enormen Aufschwung erlebt, der bis zum heutigen Tag anhält, und so besteht in der Summe wahrlich kein Mangel an Repertoire. Sicherlich ist es dabei nötig, auch etwas abseits der hinlänglich bekannten Namen zu graben, aber wenn man dazu bereit ist (und dabei Dutzende von ausgesprochen fähigen Komponisten mit oft genug bemerkenswert persönlicher Tonsprache findet!), dann kann man eigentlich beinahe aus dem Vollen schöpfen.

In dieser Hinsicht ist die neue CD der Cellistin Adele Bitter ausgesprochen verdienstvoll, denn hier werden gleich fünf solcher Werke für Solocello von fünf verschiedenen Komponisten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts präsentiert. All diesen Komponisten ist dabei gemein, dass sie einen Teil ihres Lebens außerhalb ihres Heimatlands verbrachten. Der Ungar Sándor Veress etwa lebte von 1949 bis zu seinem Tode im Schweizer Exil, wo auch der Argentinier Alberto Ginastera die letzten rund zehn Jahre seines Lebens verbrachte. Marcel Mihalovici, gebürtiger Rumäne, ließ sich zunächst zu Studienzwecken in Paris nieder, der Stadt, die dabei zu seiner Wahlheimat wurde, unterbrochen lediglich von einem fünfjährigen Exil in Cannes während der deutschen Besatzung (Mihalovici war jüdischen Glaubens). Die Berlinerin Ursula Mamlok wiederum flüchtete 1939 ebenfalls vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Judenverfolgung nach Amerika und verbrachte den Großteil ihres Lebens in den USA, bevor sie für ihre letzten zehn Lebensjahre doch wieder nach Berlin zurückkehrte. Nur im Falle des Türken Ahmed Adnan Saygun kann man nicht von Emigration sprechen: seine per staatlichem Stipendium ermöglichten Studien in Paris stehen in Zusammenhang mit den ehrgeizigen (und erfolgreichen) Programmen zur Etablierung eines Kulturlebens westlicher Prägung in der jungen türkischen Republik in den 1920er Jahren. Bewegte Lebensgeschichten also, wesentlich geprägt von den politischen Umständen des 20. Jahrhunderts, und dies ist es auch, worauf der Titel der CD, „crossroads“ also, anspielt.

Natürlich sind Bachs Solosuiten der Klassiker des cellistischen Solorepertoires schlechthin, und auf der vorliegenden CD ist es die 1949 entstandene Solosonate op. 60 von Marcel Mihalovici (1898–1985), die sich am deutlichsten auf dieses Vorbild bezieht. Mihalovici, Schüler von d’Indy und Le Flem sowie Ehemann der Pianistin Monique Haas, greift Melos und Rhetorik der Bach’schen Suiten ganz bewusst auf, gestaltet seine Sonate wenigstens teilweise durchaus suitenhaft (fünf Sätze zu je drei bis fünf Minuten) und lehnt sich auch in der tonalen Homogenität an Bach an (alle Sätze enden in c-moll). Selbstverständlich geht es Mihalovici aber nicht darum, Bach lediglich zu kopieren, und so kontextualisiert er die barocke Rhetorik neu, schön zu beobachten etwa im langsamen vierten Satz, der den Charakter Bach’scher Sarabanden mit einer Melodik kombiniert, der etwas von einem volkstümlichen Klagelied innewohnt. Auch die tonale Struktur ist bei näherem Hinsehen differenzierter: ist der erste Satz noch ganz in c-moll gehalten, so gehen die späteren Sätze zunächst von anderen tonalen Zentren aus und beschreiben Bögen, die am Ende dann doch wieder zur faktischen Grundtonart der Sonate zurückführen. Ein sehr schönes und interessantes Werk, das hier offenbar sogar erstmals aufgenommen wurde.

Ebenfalls suitenhaft angelegt ist die Partita op. 31 des großen türkischen Komponisten Ahmed Adnan Saygun (1907–1991), 1955 entstanden und dem Andenken Friedrich Schillers gewidmet. Saygun, eines der prominentesten Mitglieder der Türkischen Fünf, jener Gruppe etwa gleichaltriger Tonkünstler also, die als die ersten professionellen türkischen Komponisten gelten dürfen, bezieht sich in seiner Partita nicht direkt auf Bachs Idiom; Bach steht hier vielmehr Pate für die Umwandlung von (in diesem Falle eben türkischer) Tanzmusik in Soloformen. Florian Schuck weist im Beiheft zurecht darauf hin, dass der vierte Satz sicherlich der „westlichste“ des Werks ist, eine Art Siciliano im phrygischen Modus. Hier darf man sicherlich eine Parallele zum dritten Satz seiner nur wenige Jahre zuvor entstandenen Ersten Sinfonie ziehen, der in ganz ähnlicher Weise Menuett und türkische Folklore miteinander kombiniert. Am Rande sei angemerkt, dass Saygun auch ein ganz wundervolles Cellokonzert komponiert hat, ein lyrisch-melancholisches Spätwerk aus dem Jahre 1987.

Die anderen drei Werke auf der CD bedienen sich der Zwölftontechnik, die allerdings teils sehr frei gehandhabt wird, so etwa in der 1967 entstandenen Solosonate von Sándor Veress (1907–1992), einem intensiven, ausdrucksstarken Werk in drei Sätzen. Veress, Student von Bartók und Kodály, fand im Schweizer Exil zu einer eigenen Lesart der Dodekaphonie, die insbesondere auch Einflüssen ungarischer Folklore gegenüber offen ist und so trotz moderneren Vokabulars sehr wohl in Kontinuität zu seinen frühen Werken steht. Interessanterweise kann man bei seiner Solosonate stellenweise an die Solosonate seines eigenen Schülers György Ligeti denken (beide Werke beginnen überdies mit einem Dialogo). Ob Veress dieses Werk, dessen Rezeptionsgeschichte eigentlich erst 1979 wirklich begann, gekannt hat, erscheint aber eher fraglich, aber sowohl der frühe Ligeti als auch der reife Veress beziehen sich natürlich insbesondere auch auf Bartók und Kodály.

Wie Veress kombiniert auch der Argentinier Alberto Ginastera (1916–1983) zwölftönige Verfahren mit Folklore, im Falle seiner für Rostropowitsch komponierten Puneña Nr. 2 op. 45 (1976) besonders der präkolumbianischen Zeit (was natürlich zumindest teilweise hypothetisch zu verstehen ist: hier geht es nicht um Rekonstruktion, sondern eher um Imagination, Beschwörung). Das Resultat ist ein phänomenal farbenreiches Diptychon aus Liebeslied und wildem Tanz, in welchem das Cello unter anderem die Klänge von Flöten, Trommeln, aber auch Gitarren suggeriert. Ohne Folklorebezüge, aber wiederum mit einer eigenen Variante von Dodekaphonie kommen schließlich Ursula Mamloks (1923–2016) konzise Fantasy Variations aus dem Jahre 1982 daher, konzentrierte, facettenreiche, manchmal allerdings vielleicht ein wenig spröde Musik.

Natürlich ist bei einer solchen Zusammenstellung allein schon Adele Bitters Pioniergeist hervorzuheben, aber auch an ihren Darbietungen selbst gibt es vieles zu loben. Ihr Ton ist insgesamt kraftvoll und agil, und zahlreiche Details werden sorgfältig herausgearbeitet. Bitters Interpretation von Mihalovicis Sonate ist wie erwähnt offenbar konkurrenzlos und besticht insbesondere durch ihre an der Beschäftigung mit barocker Musik geschulte Gestaltung von Phrasen, eine „sprechende“ Darbietung. Sayguns Partita hat erst jüngst verstärkt Aufmerksamkeit gefunden; im Vergleich etwa zu Sinan Dizmens solider Lesart bietet Bitter die deutlich variablere, dramatisch akzentuiertere, in den Details z. B. der Artikulation feiner gearbeitete und dadurch charaktervollere Einspielung (exemplarisch z. B. am vierten Satz nachzuvollziehen). Sayguns Musik ist kontrastreich, oft von unerwarteten Wendungen geprägt (man vergleiche etwa den plötzlichen Wechsel nach Des ganz am Endes des zweiten Satzes), was sich in späten Werken wie der Fünften Sinfonie noch verstärkt, reich an Farben, die aber in der Regel eher dem dunkleren Spektrum angehören, immer auch etwas zurückgenommen-hintergründig, und diese Typika fängt Bitter insgesamt sehr gut ein.

Veress’ Sonate ist u. a. von Miklós Perényi (Hungaroton) eingespielt worden. Unterschiede (durchaus reizvoller Natur, denn die Sonate erlaubt verschiedene Lesarten) ergeben sich dabei bereits durch den Ton beider Cellisten: Perényi ist für sein feines, nuancenreiches Spiel bekannt, Bitter ist im Vergleich zupackender, unmittelbarer. Wo Perényis Interpretation allerdings ihre Vorzüge hat, ist in der Gestaltung größerer Zusammenhänge, etwa der wiegenden Figuren im Mittelteil des ersten Satzes, die er konsequenter in den Gesamtzusammenhang integriert, besonders aber im Finale, das er im Wesentlichen als Perpetuum mobile realisiert, während der Satz in Bitters Interpretation manchmal etwas zu episodisch wirkt. Ginasteras Puneña hat u. a. auch Maximilian Hornung auf CD herausgebracht; seine Interpretation wirkt erst einmal brillanter, virtuoser als Bitters, die aber wiederum in der expressiven Ausgestaltung etwa der Gesangslinien des ersten Satzes sehr wohl ihre Meriten hat. Ein ähnliches Bild ergibt sich im zweiten Satz, der bei Bitter eine fast rituelle Dimension erhält, etwas zu beiläufig dann allerdings der Schluss.

Ein besonderes Lob gebührt Florian Schucks ausführlichem, mit gründlich recherchierten Hintergrundinformationen aufwartendem, Details und Charakteristika der Musik auch jenseits des Offensichtlichen exzellent erläuterndem Begleittext. Auch Adele Bitter selbst hat ein persönlich gefärbtes, ansprechendes Geleitwort beigesteuert. Insgesamt fällt an der Präsentation der CD die Priorität, die hier der Musik selbst, den Komponisten und ihren Werken eingeräumt wird, sehr angenehm auf. Das Label eda records wird manchem Musikliebhaber übrigens noch unter seinem alten Namen Edition Abseits ein Begriff sein.

Jedem, der sich für Musik für Solocello aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts interessiert, sei dieses Album unbedingt empfohlen.

[Holger Sambale, Juli 2022]