Archiv für den Monat: September 2020

Beethoven flott, hart und zaghaft

Musikproduktion Dabringhaus & Grimm; MDG 903 2135-6; EAN: 76062321356

Das Duo FlautoPiano (Helen Dabringhaus, Flöte, und Fil Liotis, Klavier) bietet einen Überblick über das Schaffen des jungen Beethoven. Zu hören sind: die Sonate B-Dur WoO Anhang 4, die Serenade op. 41, das Duo für zwei Flöten WoO 26 (Flöte II: Vukan Milin), sowie Bearbeitungen der Hornsonate op. 17 und des zweiten Satzes aus dem Klavierkonzert op. 15.

Die Querflöte hatte, nicht zuletzt durch Beethoven, ihren festen Platz im Orchester gefunden, doch neigte der Komponist, wie einst auch Mozart, wenig dazu, ihr solistische Aufgaben zuzudenken. Zu unvollkommen erschienen ihm die damaligen Flöten, und ein großer Virtuose, der ihn vielleicht hätte anregen können, fand sich nicht ein. Dass Beethoven die Flöte in der Kammermusik nicht ganz gemieden hat, ist unter diesen Umständen sehr erfreulich.

Lediglich zwei der fünf eingespielten Werke sind keine Bearbeitungen: Das sechsminütige Duo für zwei Flöten, das Beethoven bei seiner Abreise aus Bonn 1792 als Abschiedsgeschenk für einen Freund komponierte – Helen Dabringhaus spielt es zusammen mit ihrem einstigen Lehrer Vukan Milin –; und die Sonate B-Dur, ein viersätziges Werk, das der einzigen erhaltenen Abschrift zufolge von einem gewissen „Bethoe“ stammt. Der Vermutung, es handele sich um ein Frühwerk Ludwig van Beethovens aus dessen Bonner Zeit, kann man durchaus zustimmen. Zwar ist das Stück den ersten mit Opuszahlen veröffentlichten Sonaten Beethovens im Rang nicht ebenbürtig, doch stammt es von einem Komponisten, der seine Einfälle überzeugend zu ausgedehnten Verläufen entwickeln kann, und außerdem im abschließenden Variationssatz zeigt, dass er sein Thema gut genug kennt, um sich nicht mit bloß figurativen Veränderungen begnügen zu müssen. Die Serenade op. 41, ein Meisterwerk leichten Charakters in sechs knappen Sätzen, ist eine von Beethoven selbst durchgesehene und korrigierte Bearbeitung seiner Serenade für Flöte, Violine und Viola op. 25. Dagegen entstanden die die hier eingespielten Arrangements der Hornsonate op. 17 und des langsamen Satzes aus dem Ersten Klavierkonzert nach Beethovens Tod. Im Gegensatz zu dem anonymen Bearbeiter der Sonate, dessen Tätigkeit sich weitestgehend auf Transposition beschränkte, stand Theobald Böhm bei der Bearbeitung des Konzertsatzes vor der schwierigeren Aufgabe, ein Werk für Klavier und Orchester für Flöte und Klavier umzuschreiben. Er hat sie geschickt und für beide Instrumente dankbar gelöst.

Könnte man die auf der Platte zu hörenden Darbietungen genauso loben wie den umfangreichen, ausführlich über die Entstehungsumstände der Kompositionen und Bearbeitungen informierenden Begleittext von Joachim Draheim, so hätten wir eine rundum gelungene Veröffentlichung vor uns. Nicht dass an den Fähigkeiten von Helen Dabringhaus und Fil Liotis im rein Technischen irgendetwas zu bemängeln wäre! In dieser Hinsicht bewältigen sie die Musik ohne Probleme. Sie bewältigen sie, aber durchdringen sie nicht. Die Feinheiten der Beethovenschen Formungskunst kommen kaum zum Erklingen. Zwar wird die Musik weder über den Sportplatz gehetzt, noch durch extreme Temposchwankungen verzerrt, doch stellt sich den gut gewählten, gleichmäßig durchgehaltenen Zeitmaßen zum Trotz kein rechter Vorwärtsdrang ein. Was den Musikern offensichtlich fehlt, ist die Übersicht über die großen Linienzüge. Es klingt, als dächten sie nur von Takt zu Takt, mitunter nur von Taktteil zu Taktteil. Gebunden vorgetragen wird, was unter Bindebögen steht, aber der wesentlich wichtigeren Aufgabe, die Spannungen auch von Phrase zu Phrase auf- und abzubauen, die Formung ausgedehnter Perioden und das kontrapunktische Zusammenwirken der Stimmen erlebbar werden zu lassen, schenken sie zu wenig Aufmerksamkeit. Dazu passt, dass häufig, wenn nicht ausdrücklich Legato verlangt wird, der Vortrag zum Staccato tendiert. So geraten die raschen Sätze zu hübscher, flotter Musik mit gelegentlichen harten Akzenten (die dann im Zusammenhang oft übertrieben wirken). Auffallend zaghaft und kraftlos muten dagegen die langsamen Sätze an. Als beispielhaft für all dies sei der Variationssatz der Serenade genannt: Das Thema zerfällt in seine einzelnen Taktteile, das Figurenwerk der Variationen wirkt spieluhrartig, und einzelne akzentuierte Töne stechen nadelspitz hevor. In der Einleitung zum Finale desselben Werkes entgeht Dabringhaus und Liotis ganz, wie Beethoven hier Freiluftmusik (Waldhörner) nachahmt. Ein Verharren in Kurzatmigkeit verhindert die Ausweitung des Raumes.

Als Fazit lässt sich dies mehr oder weniger auf die ganze CD anwenden; am wenigsten auf die Ecksätze der bearbeiteten Hornsonate, mit der das Duo von allen eingespielten Werken am besten vertraut zu sein scheint.

[Norbert Florian Schuck, September 2020]

Kodálys frühe Meisterwerke mit unaufgeregter Überzeugung

Naxos 8.551443; EAN: 7 3009914443 8

Der junge Cellist Gabriel Schwabe widmet sich zusammen mit seiner Gattin Hellen Weiß dem selten gespielten Duo für Violine & Violoncello von Zoltán Kodály. Dazu gibt es auf der neuen Naxos-CD noch dessen umfängliche Sonate für Cello solo aus der gleichen Zeit. Ebenfalls folkloristisch angehaucht ist der knappe, zweisätzige Solobeitrag des damals jungen György Ligeti. Ein äußerst anspruchsvolles Programm, mit dem sich die beiden Künstler einer starken Konkurrenz stellen.

Gabriel Schwabe hat auf Naxos in den letzten Jahren zu Recht Furore gemacht: etwa mit den Saint-Saëns-Cellokonzerten sowie einer unglaublich frischen und entschlackten Lesart des Brahms-Doppelkonzerts (siehe die Kritik hier). Nun wagt er sich auf der ersten gemeinsamen CD mit seiner Frau, der Geigerin Hellen Weiß, an zwei in jeder Hinsicht außergewöhnliche Werke von Zoltán Kodály (1882-1967), die zu Beginn des ersten Weltkriegs entstanden sind, als der Komponist zusammen mit Béla Bartók in der Musikabteilung des k.u.k. Kriegsministeriums in Budapest arbeitete. Mit ihm hatte der fast gleichaltrige Kodály bereits zehn Jahre zuvor umfangreiche Feldforschung über das ungarische Volkslied betrieben und 1907 darüber promoviert. Wesentlich introvertierter veranlagt als sein Kollege, kam der kompositorische Erfolg für Kodály deshalb deutlich später. So sind auch das Duo für Violine & Cello op. 7 und die gewaltige Sonate für Cello solo op. 8 eher selten im Konzert zu hören – aber ebenso wegen der enormen Herausforderungen an die Ausführenden wie den Hörer. Schade – denn die Literatur für Violine & Cello ohne Begleitung bewegte sich noch im 19. Jhdt. vorwiegend im pädagogischen Bereich; Kodálys Duo ist einer der ersten eindeutig für den Konzertsaal bestimmten Gattungsbeiträge – und bis heute ein musikalischer Gipfel.

Weiß/Schwabe müssen sich hier mit der unlängst erschienenen, grandiosen Einspielung von Jonian Ilias Kadesha und Vashti Hunter (Avi-music 8553017, 2019) messen. Kodály greift natürlich auf seine ungeheure Kenntnis der ungarischen Folklore zurück – trotzdem ist das Duo stimmungsmäßig vielschichtig und formal elaboriert. Kadesha/Hunter spielen schon in den ersten Anfangsgesten des Kopfsatzes die divergierenden Charaktere einzelner Elemente entschiedener aus als Weiß/Schwabe und benutzen dabei deutlich breiter unterschiedlichste klanglich-technische Möglichkeiten im Zusammenspiel der Instrumente. Das extreme Dynamikspektrum, das Kodály ausdrücklich notiert, wird wörtlich genommen, viele Details wirken eindringlicher – das liegt dann nur zum kleineren Teil an einer ebenfalls besseren Aufnahmetechnik, die zudem mehr Klangfülle an Stellen bietet, wo beide Streicher Doppelgriffe spielen. Die Intonation ist bei beiden Duos toll – lediglich die hohe Geigenstelle im 2. Satz (vor Ziffer [2]) klingt bei Kadesha abgeklärter, zugleich dramatischer. Insgesamt vertrauen Weiß/Schwabe weniger dem quasi rhapsodischen Diskurs als ihre Konkurrenz, führen uns etwas unaufgeregter durch den heiklen Parcours – aber auch sie schaffen es, keine Sekunde zu langweilen, gerade im Finale. Eloquenter und letztlich beeindruckender ist jedoch klar das Duo Kadesha/Hunter.

Bei den beiden Sonaten für Solocello habe ich als Vergleich zu Matt Haimovitz (DG 00289 477 5506, 1990-93) gegriffen – da erscheinen die Verhältnisse eher umgekehrt. Haimovitz ist vielleicht technisch ein wenig überlegen, betreibt aber bei Kodály fast zu viel musikalischen Exhibitionismus, was dann – so manches Vibrato im langsamen Satz wie auch etliche andere klangliche Effekte werden demonstrativ übertrieben – teilweise doch sehr aufgesetzt wirkt. Hier folgt Schwabe ganz der immanenten kompositorischen Logik des Komponisten; alles ist organisch, der große Ausdruck authentisch ohne zusätzlich erhobenen Zeigefinger. Probleme bereitet ihm allerdings der lange, mäandernde Schluss des ersten Satzes; hier geht die musikalische Spannung in der Tat etwas verloren. Dafür kann er bei den folkloristischen Momenten des Finales klar punkten, spielt schnörkellos musikantischer. Ligetis früher Beitrag – die zwei Sätze seiner knappen, völlig tonalen Solosonate entstanden mit einigem Abstand 1948 bzw. 1953 – gelingt beiden Cellisten überragend. Doch auch hier liegt Schwabe für mich ein wenig vorn. Das Capriccio nimmt er nicht so extrem flott wie Haimowitz, fördert aber mehr Details zu Tage. Im ersten Satz will dieser die wenigen imitatorischen Stellen so deutlich herausstellen, dass sie – da zu kurz – fast ins Leere laufen. Schwabe geht einen goldenen Mittelweg; elegische Innigkeit ist ihm wichtiger als zu aufgeladene Emotion oder überbetonte Struktur. Schon allein wegen der Solosonaten ist die Naxos-CD allemal eine Empfehlung wert – das unterrepräsentierte Kodály-Duo kann man eh‘ nicht oft genug hören.

[Martin Blaumeiser, September 2020]

Warum?

Ars Produktion Schumacher, ARS 38 573; EAN: 4 260052 385739

Wir hören eine Aufnahme von Franz Schuberts Winterreise nach Gedichten von Wilhelm Müller durch den Bariton Benjamin Hewat-Craw und den Pianisten Yuhao Guo.

Ich verstehe die Begeisterung, die man für Franz Schuberts Winterreise empfinden kann – habe sie selbst am Klavier in Feuereifer erarbeitet und sogar Auszüge im Konzert vorgetragen. Die angedeutete Geschichte, die unmittelbar ansprechende Topoi behandelt und jeden Hörer gefangen nimmt, die formale Stringenz und das vielseitig auslegbare Ende, dazu eine an Perfektion grenzende Musik voll harmonischen Feingefühls, hinreißenden Melodien und gespickt von präzise abgewogenen Überraschungen, die das Hören nie verleiden lassen.

Und dennoch frage ich mich: Wie viele Aufnahmen dieses Zyklus‘ braucht es noch? Ohne Statistiken dazu gesehen zu haben, bin ich der festen Überzeugung, dass kein anderer Liederzyklus so oft eingespielt wurde; und jedem dürften wohl auf den Schlag ein halbes Dutzend überzeugender Darbietungen einfallen. So sehr ich mich im Konzert immer wieder auf eine Winterreise freue, glaube ich doch, nur die eigenständigsten und aussagestärksten Künstler sollten noch an eine Einspielung dieser denken. Ähnlich wie für Pianisten die beliebtesten Beethovensonaten für Einspielungen nahezu verübelt werden durch den gewaltigen Druck der bereits im Regal stehenden Konkurrenz (was uns gerade in diesem Jahr dennoch nicht von einer Flut absolut mittelmäßiger Aufnahmen schützt), so ist es für Sänger die Winterreise: Und dazu kommt, dass man als Pianist naturgemäß ein wesentlich größeres Repertoire pflegen kann als ein Sänger. Alleine von Schubert könnte man noch hunderte andere Lieder entdecken, von denen mindestens zwei Drittel ebenso lohnende Qualität besitzen; eine Aufzählung an selten aufgeführten Großmeistern des Liedes könnte endlos weitergeführt werden: Braunfels, Mattiesen, Grieg (schrieb hunderte Lieder, von denen höchstens zehn regelmäßig erklingen), Wetz, Erdmann (als Pianist übrigens einer der überragendsten Schubert-Spieler; übrigens markierte er in seiner kritischen Schubert-Gesamtausgabe über 400 Lieder als von außerordentlicher Qualität), Reger, Keußler, Lalo, Magnard, Weingartner, Reichardt, Sträßer und viele mehr. Warum also immer das selbst Stück bei solch einer überwältigenden Vielfalt an Repertoire, das ich teils noch nie live hörte, das teilt noch nie auf CD erschien?

Die hier vorliegende Aufnahme soll unter diesem Aspekt auch überhaupt nicht abgewertet werden. Die beiden Musiker offenbaren ein gutes Gespür für Stimmung und Abwägung der Intensität – aber gerade deshalb würde ich mir von ihnen auch einmal unbekanntes Repertoire wünschen. Teils nehmen Benjamin Hewat-Craw und Yuhao Guo die Tempi zu hektisch, um all die harmonischen Finessen hörbar umzusetzen, besonders auffällige Wechselpunkte überakzentuieren die beiden dafür, obgleich man sie auch in dezenterer Ausführung wahrgenommen und möglicherweise noch stärker mitempfunden hätte. Sehr angenehm klingt die Stimme des Baritons Benjamin Hewat-Craw, voluminös und rund im Klang, in welchem zahllose Facetten stecken, die für einen vielseitigen Vortrag gefiltert werden können.

[Oliver Fraenzke, September 2020]

Verdienstvoll engagierter César Franck mit Längen

Naxos 8.573955; EAN: 7 4731339557 6

Von César Francks späten symphonischen Dichtungen findet nur „Le Chasseur maudit“ ab und zu in die Konzertsäle. Jean-Luc Tingaud hat nun auf Naxos außerdem „Les Éolides“ und – als eine der ganz wenigen vollständigen Aufnahmen – „Psyché“ mit dem Royal Scottish National Orchestra neu eingespielt. Man spürt dabei sowohl die unverkennbaren Stärken als auch manche Schwäche dieser Musik. 

Der aus Lüttich stammende César Franck (1822-1890) begann – was einigermaßen unbekannt geblieben ist – quasi als Wunderkind am Klavier, wovon einige erstaunliche, frühe Klavierwerke („Ballade“) zeugen. Er studierte schon mit 15 am Pariser Conservatoire, u.a. bei Reicha, und war dann für gut 40 Jahre vor allem als Organist und Lehrer (etwa von D’Indy und Chausson) aktiv. Abgesehen von seinen Orgelwerken blieb er als Komponist weitgehend unbeachtet; erst in den 1880er Jahren brachten ihn jedoch einige unbestrittene Meisterwerke – vor allem die Symphonie d-moll und die Violinsonate A-Dur – noch zu unverhofftem Weltruhm.

Zu den ambitionierten Orchesterwerken dieser produktiven Spätphase gehören drei symphonische Dichtungen, die hier vom Royal Scottish National Orchestra, das sich schon insbesondere durch die Gesamtaufnahme der Symphonien Albert Roussels unter Stéphane Denève als feinfühliger Klangkörper für französisches Repertoire empfohlen hat, auf einer CD präsentiert werden. Besonders erwähnen muss man die Tatsache, dass uns Naxos damit eine der ganz wenigen vollständigen Aufnahmen von Psyché gönnt: Die letzte liegt nun bereits 25 Jahre zurück (unter Tadaaki Otaka, Chandos), davor muss man schon bis in die 1960er suchen (Jean Fournet). Die komplette Version mit Chor wird von den meisten Dirigenten verschmäht: Man begnügt sich mit den vier instrumentalen Hauptsätzen – so Ashkenazy (Decca) oder Armin Jordan (Erato) –, und selbst diese werden nicht selten gekürzt (Barenboim, DG). Dafür gibt es selbstverständlich Gründe: Das komplette Stück hat mit über 45 Minuten tatsächlich seine Längen, besonders der anfängliche Abschnitt Le Sommeil de Psyché kommt nicht wirklich in die Gänge – und auch Jean-Luc Tingaud hat zu kämpfen, da musikalische Stringenz hereinzubringen. Immerhin lässt – nicht nur hier – der Klangsinn von Dirigent und Orchester aufhorchen. Die Aufnahmetechnik kann ebenfalls total überzeugen: angenehmes Klangbild, Dynamik und Durchsichtigkeit werden der großen Besetzung gerecht. Die Verbindung von quasi wagnerischen Panoramen mit bereits aufblitzenden Vorboten des Impressionismus kommt nicht zuletzt dadurch gut heraus. Tingaud bleibt aber bei den doch erotischen Anklängen – die D’Indy energisch bestritten hat – eher zurückhaltend.

In die Vollen gehen darf der Dirigent natürlich beim berühmten Chasseur maudit: Der Graf, der es wagt, am heiligen Sonntag der Jagd zu frönen, und dadurch in einem Höllenritt der Verdammnis anheimfällt, steht in bester Tradition der symphonischen Dichtungen Liszts. Starke Kontraste, orchestrale Virtuosität und Wucht entfalten beim Hörer ihre Wirkung. Obwohl Tingaud auch dabei ein wenig flotter ist als die Konkurrenz, wirkt die wilde Jagd fast zu kultiviert, weniger bedrohlich als etwa bei Riccardo Muti (EMI) oder François-Xavier Roth (Cypres) – trotzdem macht das Stück aber Spaß. Weniger problematisch ist Les Éolides (1875) – neben zarten Wagner-Anklängen gibt es hier Passagen, die zehn Jahre später Saint-Saëns in seiner Orgelsymphonie inspiriert haben dürften. Tingaud gelingt eine luftige, gediegene Darbietung, wie sie unter den üblichen, stressigen Probenbedingungen solcher Produktionen kaum besser möglich ist – da ist der Franzose längst ein erfahrener Routinier. Insgesamt ist diese Zusammenstellung somit momentan auf CD eigentlich konkurrenzlos.

[Martin Blaumeiser, September 2020]

„Viele haben Angst vor Kreativität und eigener Persönlichkeit.“

Ein Interview mit dem Pianisten Martin Ivanov

Gramola 99222; EAN 9003643992221

Der gebürtige Bulgare Martin Ivanov ist einer der interessantesten Pianisten der jüngeren Generation. Als einer der letzten Studenten Oleg Maisenbergs in Wien scheint er die traditionellen Werte des professionellen Klavierspiels zu verkörpern wie nur wenige andere in der heutigen Zeit. Im Interview mit www.the-new-listener.de gibt Ivanov interessante Einblicke in seinen Werdegang und in seinen Interpretationsansatz. Dieses Interview erscheint anlässlich der Veröffentlichung der Gesamteinspielung von Franz Liszts „Ungarischen Rhapsodien“, die Martin Ivanov für sein langjähriges Stammlabel gramola aufgenommen hat. Es ist die erste Gesamtaufnahme dieses Zyklus seit mehr als vier Jahren und allein deswegen schon ein Ereignis. Doch Martin Ivanov zeigt mit diesem Doppel-Album auch, dass er bereit ist, schon bald zu den Großen seines Fachs gezählt zu werden.

The-new-listener.de: Herr Ivanov, sieht man sich Ihre Biografie an, kann man dort viele Superlative finden: Bereits im Alter von vier Jahren haben Sie mit dem Klavierspiel begonnen, haben im Laufe der Zeit an mehr als 50 Klavierwettbewerben teilgenommen und haben allein im Jahr 2016 international 32 Klavierrezitale gegeben, eine Zahl, die seither sicherlich noch angestiegen ist. Ist für Sie das Spielen vor Publikum der Schlüssel zur Entwicklung als Künstler? Zumindest scheint es ja für Ihre bisherige Karriere ganz entscheidend gewesen zu sein.

Martin Ivanov: Das Spielen vor Publikum war mir immer eine Freude. Selbst die Vorbereitung eines Programmes, wissend, dass es im Konzertsaal dargeboten wird, ist für mich ein sehr inspirierender Prozess – dabei habe ich genügend Zeit, um nachzudenken, wie genau ich jedes Stück oder gar jede Passage spielen möchte, damit das Publikum immer ein unvergessliches Erlebnis bekommt: jeder Auftritt muss ja effektvoll und brillant sein, sonst macht es für mich keinen Sinn. Ob das Spielen vor Publikum der Schlüssel zur Entwicklung als Künstler ist … – ja natürlich, es ist ein Teil davon. Die größte Entwicklung sollte aber noch in der Kindheit jedes Künstlers stattfinden, damit man in seinen “stärksten” Jahren mit der Musik Spaß hat – da gehört das musikalische und vor allem das technische Können richtig gelernt.

The-new-listener.de: Wie gehen Sie dann mit der aktuellen Zeit der Einschränkungen von öffentlichen Konzerten in Zeiten der Corona-Krise um? Das muss schlimm für Sie sein.

Martin Ivanov: Wirtschaftlich gesehen ist die Corona-Krise für keinen Künstler einfach zu bewältigen. Einerseits führte der Lockdown der Konzertsäle für viele dazu, dass kein Einkommen erwirtschaftet werden konnte, und für einige führte es auch zu einer Art Depression. In dieser Zeit gingen nicht nur Engagements verloren, sondern auch Kontakte zu den verschiedensten Veranstaltern und zukünftigen Projekten. Andererseits bietet diese Zeit auch die Gelegenheit, entweder sein künstlerisches Niveau zu verschlechtern, indem man aufgrund mangelnder Motivation nicht genug Zeit mit dem Instrument zu Hause verbringt oder, ganz im Gegenteil, – man findet endlich die Zeit dazu, um neues Repertoire einzustudieren und sucht nach neuen Wegen, um sich zu präsentieren. Ich habe persönlich erstens Förderern aus meinem Publikum, die mich auch finanziell unterstützen wollten, angeboten, ihnen Kompositionen zu widmen, so dass ich mich einen guten Teil meiner Zeit auf meine kreative Seite fokussierte. Zweitens habe ich mich auch auf einige Klavierkonzerte und die Nocturnes von Chopin, die ich im Herbst aufnehmen möchte, konzentriert. Drittens habe ich mir einen langjährigen Traum erfüllt, und zwar ein Tonstudio zu gründen, mit dem ich mich sowohl als Künstler als auch als Tontechniker profilieren kann.

Seit einiger Zeit sind Sie sehr aktiv im Aufnahmestudio. Wie empfinden Sie den Prozess der Albumaufnahme im Vergleich zum Live-Konzert? Empfinden sie es als positiv, weil man sich Zeit nehmen kann, um die ideale Interpretation einzuspielen oder fehlt Ihnen die Rückkopplung mit dem Publikum?

Martin Ivanov: Der Aufnahmeprozess ist eine andere Art des Musizierens. Er ist kein Konzert oder Wettbewerb und auch nicht wie Üben zu Hause. Eine Aufnahme sehe ich als die einzige Möglichkeit, das Repertoire eines Künstlers zu “speichern” und für die Nachwelt im Archiv zu dokumentieren. Daher sind vor allem Geduld und eine sehr präzise Vorbereitung erforderlich, um die “ideale” Interpretation zu erreichen.

The-new-listener.de:  Seit 2017 haben Sie beim Label gramola jedes Jahr ein neues Album vorgelegt. Dabei fällt auf, dass Sie sich offenbar ganz und gar auf das romantische Klavierrepertoire konzentrieren. Würden Sie sagen, dass die musikalische Romantik Ihr bevorzugtes Genre ist?

Martin Ivanov: Es steht außer Frage, dass mir die Musik der Romantik besonders am Herzen liegt. Vor allem sie berührt den Geschmack vieler Menschen ganz unmittelbar und erlaubt dadurch, dass man als Künstler ein hohes Maß an Kreativität und Individualität zeigen kann. Auf der anderen Seite stellt ein Repertoire wie Schumanns „Novelletten“, Liszts „Paganini-Etüden“ oder die „Ungarischen Rhapsodien“ eine technische Herausforderung dar: trotz ihrer Schwierigkeiten soll diese Musik “jung und frisch” klingen. Daher finde ich, dass jetzt die richtige Zeit für mich ist, mich mit diesen, auch nicht so häufig aufgenommenen, Klavierstücken zu beschäftigen.

Gleichzeitig umfasst mein Repertoire aber nicht nur Musik der Romantik, sondern auch alles, was zur bedeutenden Klavierliteratur vom Barock bis zum 20. Jahrhundert zählt. Als ein Beispiel darf ich hier die 32 Sonaten von Beethoven nennen, die ich in den nächsten Jahren sukzessive aufzunehmen gedenke.

The-new-listener.de:  Mit Ihrem Chopin- und Ihrem Schumann-Album haben Sie noch Werke erkundet, die zwar zweifellos zu den Meisterwerken der Klaviermusik zählen, im Œuvre der beiden Komponisten zumeist aber durch noch bekanntere Kompositionen überschattet werden. Mit Ihrem ersten Liszt-Album im vergangenen Jahr hat sich das geändert, und Sie haben unter anderem die große h-Moll-Sonate dargeboten, nun folgen die ebenfalls meisterhaften und beim Publikum sehr beliebten ungarischen Rhapsodien. Sind Ihre CD-Alben also auch ein Abbild Ihrer Entwicklung als Künstler?

Martin Ivanov: Ich glaube nicht, dass die Reihenfolge meiner CD-Alben etwas mit meiner Entwicklung als Künstler zu tun hat. Die Musik, die ich bisher aufgenommen habe, umfasst Klavierkompositionen, die ich sehr mag und von denen ich meine Interpretation auf CDs festhalten wollte.

Was mir jedoch noch vor meiner ersten Platte klar wurde, war, dass ich immer ein ganzes Album einer bestimmten Gattung eines Komponisten widmen müsste, um eine wichtige CD zu veröffentlichen, und seitdem war das immer der Fall. Das allein hat sicherlich meine künstlerische Entwicklung beeinflusst, da es mir geholfen hat, die Musik aus einer größeren Perspektive zu betrachten.

The-new-listener.de: Wenn ich einmal ins Detail gehen darf: Was mich besonders begeistert, ist Ihr Umgang mit dem Rubato. Das Rubato ist ja eine hohe Kunst, die viele jüngere Interpreten aber sehr frei und teilweise im Übermaß gebrauchen, wodurch die Interpretation schnell aus dem Ruder geraten kann. Sie hingegen scheinen sich über das Thema Rubato präzise Gedanken gemacht zu haben und setzen das Stilmittel ausgesprochen sicher und pointiert ein. Was raten Sie Ihren Klavierschülern für gewöhnlich zum Umgang mit Rubato?

Martin Ivanov: Das Thema Rubato kann sicherlich von vielen Künstlern und Musikwissenschaftlern intensiv diskutiert werden, und ich vermute, dass es eine genaue theoretische Definition gibt, wie man richtig Rubato spielen soll. Darüber habe ich aber ehrlich gesagt nie nachgedacht. Es muss vor allem natürlich gespielt werden – so, dass es nicht den Charakter, das Tempo und die Linie der musikalischen Phrase zerstört. Das ist prinzipiell viel leichter gesagt, als getan.

The-new-listener.de: Sie haben zunächst bei Ihrer Mutter und bei Sultana Markovska, anschließend beim legendären Oleg Maisenberg studiert. Wie unterscheiden sich die Persönlichkeiten Ihrer Lehrer/innen und inwiefern hat Sie selbst das musikalisch geprägt?

Martin Ivanov: Die Ausbildung eines Künstlers ist in mehrere Phasen unterteilt, und davon ist die erste Phase, in der die Hände eines zukünftigen Pianisten erstmals auf das Klavier gelegt werden, die allerwichtigste. Während dieser Phase ist vor allem die technische Ausbildung des Schülers für seine spätere Entwicklung entscheidend. Ich bin sehr glücklich, dass meine Kindheit in Bezug auf den Klavierunterricht mit meiner Mutter und Frau Markovska verknüpft war, weil sie mit mir immer darauf hingearbeitet haben, die maximale Qualität jeder einzelnen Note zu erreichen. Beispielsweise arbeitete ich regelmäßig mit einer von ihnen stundenlang nur an einem einzigen Takt, damit er schön klingt. Ich sollte auch jeden Tag, seit ich vier Jahre alt war, mit Tonleitern in verschiedensten Varianten beginnen. Dieser Lernprozess war für mich als Kind nicht immer leicht, aber er hat sich schon unsagbar ausgezahlt.

Meine spätere Ausbildung bei Oleg Maisenberg habe ich sehr genossen. Ich bin vor allem wegen ihm nach Wien gekommen. Er ist ein großartiger Künstler, der sich einfach, aber immer sehr bedeutsam ausdrückte; und er hat mich stets motiviert, mein Repertoire zu vergrößern und jede Woche ein neues Stück vorzubereiten. Nachdem er in den Ruhestand ging, beschloss ich, ausschließlich selbständig zu arbeiten und meine Ausbildung selbst weiterzuführen.

The-new-listener.de: In Ihrem Stil finde ich viele Tugenden, unter denen ich Authentizität, Persönlichkeit, Charakter und Werktreue besonders hervorheben würde. Auf mich wirken Ihre Interpretationen in einem sehr positiven Sinne fast aus der Zeit gefallen: Während ja viele Ihrer jungen Kollegen heutzutage offenbar vor allem versuchen, Neuland zu suchen, von der vermeintlichen „Norm“ abweichende und besonders „revolutionäre“ Interpretationen vorzulegen, hat man bei Ihnen immer den Eindruck, Sie knüpften bewusst an die große Schule von Interpreten wie Gilels, Rubinstein oder Serkin an. Wie sehen Sie selbst sich denn in unserer schnelllebigen Zeit und in dieser ausgesprochen diversen Klavierszene von heute? Oder anders gefragt: Wie möchten Sie selbst gesehen werden?

Martin Ivanov: Ich war immer der Meinung, dass das Spiel eines Musikers immer überzeugend sein muss. Egal was man macht, soll man immer versuchen, Langweiligkeit zu vermeiden. Das kommt heutzutage leider nicht sehr oft vor. Viele haben Angst vor Kreativität und eigener Persönlichkeit und versuchen daher, alles perfekt und ohne Risiko oder falsche Töne zu spielen. Doch ein falscher Ton ist nicht immer schlecht! Er zeigt ja nämlich, dass dieser Künstler ein Mensch ist.

Es ist selbstverständlich, dass alle Künstler einen eigenen Weg gehen, und alle wollen sich bestmöglich entwickeln. Mir ist es am wichtigsten, die Liebe und die ehrliche Emotion für die Musik nie zu verlieren, weil sie davon lebt.

The-new-listener.de: Im Internet ist eine ganz unglaubliche Live-Darbietung von Balakirevs „Islamey“ von Ihnen zu finden. Ich muss sagen: Ich glaube, ich habe dieses Stück vielleicht noch nie in einer so großartigen Interpretation gehört! Wäre das etwas, was Sie gern auch einmal aufnehmen möchten? Vielleicht im Zusammenhang mit einem „russischen Album“?

Martin Ivanov: Gute Idee.

The-new-listener.de: Abschließend – trotz Corona-Krise – die Frage nach Ihren Plänen für die Zukunft? Gibt es in nächster Zeit Konzerte oder andere Pläne?

Martin Ivanov: Ich habe viele Konzerte und andere Pläne vor mir und ich hoffe, dass die Corona-Krise bald vorbei ist, damit sie stattfinden. Ich bin auch auf dem Weg, ein eigenes Festival in Österreich zu gründen und wenn die Welt ab nächstem Jahr hoffentlich wieder normal läuft, erwarten mich Auftritte in mehreren Europäischen Ländern.

Das Interview führte René Brinkmann

„Es tut gut, nach einem Konzert in glückliche Augen zu blicken!“

Die Pianistin Shoreena Tsintsabadze pflegt ein gesundes Bewusstsein für die Vielfalt der Welt. Es zahlt sich aus, an unterschiedlichen Orten zu leben und dabei zu wachsen. In Moskau geboren, zog es sie über den Umweg der USA in die Heimat ihrer Familie, nach Georgien. Da wirkt sie seit Jahren am Aufbau eines Musiklebens tatkräftig mit – für diese idealistische Künstlerin ein selbstverständlicher Bestandteil einer internationalen Biografie! Zudem legt sie gerade ihre erste reine Solo-CD vor – mit Schumanns Symphonischen Etuden, Drei Intermezzi von Johannes Brahms sowie Frédéric Chopins Andanta spianato und Grande Polonaise brillante.

Was genießen Sie am meisten an Ihrer „neuen“ Heimat in Georgien?

Die Nähe zu meiner Familie. Ich ich freue mich sehr darauf, hier in kultureller Hinsicht etwas aufzubauen. 

Sie haben in Moskau studiert und danach eine längere Zeit in den USA verbracht. Was für Unterschiede zwischen den Kulturen haben Sie empfunden?

Nachdem ich in Moskau groß geworden bin, kam bei mir der Wunsch auf, mich neu zu erfinden und mir neue Lebensmittelpunkte zu erschließen. Ich habe dann in den USA gelebt und studiert. Hier hat mich vor allem die Weltoffenheit der Menschen begeistert.

In die georgische Heimat meiner Familie zieht es mich aber schon lange. Hier gibt es viel aufzubauen und das Dasein als Musiker ist erst mal, vor allem ökonomisch schwierig.

In Georgien werden Lehrtätigkeiten in Musikschulen immer noch recht schlecht bezahlt. Aber dafür fasziniert mich hier so vieles. Die Kultur in Georgien ist einzigartig. Wir haben eine eigene Schrift, Tanz und Musik sind auch völlig anders als etwa im Nachbarland Armenien. Die Vielfalt der Kaukasusrepubliken untereinander ist extrem spannend. Es gibt aber auch viele Gemeinsamkeiten …

Was möchten Sie hier bewirken?

Ich möchte diesen Ort mit aufbauen und helfen, ihn zu wandeln: Ich fühle mich hier gebraucht. Hier fühle ich mich frei, kann meine eigenen Projekte gestalten. Auch gibt es viele bessere Möglichkeiten als Solist, weil der Markt nicht so umkämpft ist. Damit werden die vergleichsweise schwierigen Lebensbedingungen für klassische Musiker aufgewogen.

Ich möchte durch mein Beispiel vielen jungen Musikern in unserem Land zeigen, dass es nicht notwendig ist, Georgien für immer zu verlassen, um Konzerttätigkeiten durchzuführen und das zu tun, was man liebt. Trotz vieler Hindernisse kann man alles erreichen, wenn man an sich glaubt und sich jeden Tag Schritt für Schritt seinem Ziel nähert.

Im Jahr 2015 haben wir die „Young Musicians International Association of Georgia“ gegründet. Es geht darum, flächendeckend die vielen jungen Talente zu fördern, Wettbewerbe ins Leben zu rufen, Festivals zu gründen. Besonders stolz sind wir auf die „Music International Summer Academy“ und natürlich auf unser „Georgian Youth Symphony Orchestra“.

Ich arbeite jetzt mit viel Energie daran, ein Netzwerk aus Förderern und Sponsoren aufzubauen. Dieses Jahr haben wir einen Zuschuss der Europäischen Union für ein neues Projekt „Opera Past“ erhalten. All dies ist viel harte Arbeit, aber auch ein großes Geschenk, dies überhaupt tun zu können.

Es klingt fast so wie eine kulturelle Gründerzeitstimmung. Genießen Sie das?

Ja, alles fühlt sich neu und unverbraucht an. Es tut so gut, nach jedem Konzerte in so viele glückliche Augen zu blicken. Ständig werden dabei neue Freundschaften geschlossen; das ist ein fruchtbarer Nährboden für Netzwerke. Wir haben bereits ein Festival ins Leben gerufen, welches in einer der schönsten Regionen dieses Landes stattfindet. Im Idealfall finden Konzerte überall im Lande Verbreitung, wodurch es am besten gelingen würde, Talente in den jeweiligen Regionen aufzuspüren und damit unsere Projekte zu bereichern. Wir arbeiten sogar schon mit drei weiteren Ländern zusammen, nämlich Serbien, Montenegro und die Niederlande. Wir hoffen sehr und sind sogar überzeugt, dass sich bald mehr Länder anschließen werden.

Lassen Sie uns über die neue CD sprechen. Sie haben sich für den Dreh Ihres Promovideos ja sogar in die Stadt, in der Robert Schumann lebte, begeben.

Es war schon ein besonderes Gefühl, in der Heimatstadt von Robert Schumann zu sein. Aber es störte gewissermaßen einen Mythos. So vieles Alte ist in der Stadt Düsseldorf durch den Krieg zerstört und neu gebaut worden. Es sieht kaum noch nach einer Stadt mit solch einer Historie aus, von einigen wenigen Dingen abgesehen.

Was war Ihre Intention, Schumann, Brahms und Chopin auf einer CD zu integrieren?

Ich wollte drei verschiedene charakteristische Werke aus einer Epoche miteinander verbinden. Die drei Komponisten sind so unterschiedlich, aber rangieren doch auf einer gemeinsamen Augenhöhe, um die romantische Idee zu idealisieren. Da strahlen Ideale in unsere Gegenwart hinein – in eine Zeit, in der sie nicht mehr in dieser Form da sind!

Nicht mehr da? Hat nicht jeder Mensch ganz tiefe Empfindungen, die sich durch eine solche Musik wecken lassen?

Ja, Musik kann das. Deswegen machen wir das ja. Musik hilft uns, zu überleben in diesen Routinen des Alltags. Wenn Sie mich fragen, ob man die kompositorischen Elemente dieser drei Komponisten vergleichen kann, würde ich ja sagen, obwohl sie so unterschiedlich sind. Aber die Idee dahinter bleibt gleich.

Schumann nannte seine Etuden erst „pathetisch“. Danach strich er diesen Untertitel und wählte das Attribut „sinfonisch“.  Sind das für Sie auch unterschiedliche Qualitäten?

Zu Anfang wollte Schumann sie pathetisch nennen wegen der Tiefe und Ernsthaftigkeit ihrer Tonsprache. Pathetisch hat ja auch etwas Wertendes, deswegen hat er wohl nach einer treffenderen Definition gesucht. Robert Schumann war von Grund auf ein Sinfoniker. Er hat in seinen Partituren von jedem einzelnen Instrument eine Klangvorstellung. Darüber gibt es viele Zeugnisse aus seiner Zeit als Kapellmeister.

Färbt Schumanns orchestrale Klangvorstellung auf Sie als Pianistin ab?

Ich denke immer sehr orchestral. Wenn mich jemand nach meinem Lieblingsinstrument fragt, würde ich sagen, es ist das Orchester. Das Klavier ist mein Beruf, aber ich liebe jedes Instrument im Orchester. Trotzdem würde ich keine Dirigentin sein wollen: Ich weiß, dass ich dafür nicht der Typ bin. Also imaginiere ich alle Orchesterinstrumente, wenn ich die sinfonischen Etuden spiele. Aber mich regt hier nicht nur die Idee der Instrumente an; Schumann war ja nicht nur ein außerordentlicher Komponist, sondern ebenso ein großer Denker und liebevoller Ehepartner, Vater und vieles mehr. Er vereint in seinem Wesen so viel, etwa so, wie ein Maler die Farben auf einem Bild. Aber Musik kann noch viel differenzierter die tiefsten menschliche Regungen wieder geben. Es ist überliefert, dass Schumann immer auf ganz verschiedene Weise gespielt hat. Ich versuche, mich mit meinem eigenen Denken und Spielen dieser Variabilität anzunähern. Dadurch kommen immer mehr Möglichkeiten und Facetten ins Spiel und deswegen ist es unmöglich, immer genau gleich zu spielen.

Über Ihre Interpretation von Johannes Brahms Intermezzi schrieb ein Kritiker, sie währen sehr lebensbejahend und gar nicht so jenseits-gewandt wie es für den späten Brahms gesagt wird. Wie finden sie dieses Urteil?

Das Lebensbejahende zum Ausdruck bringen, war mir ein großes Anliegen. Brahms ruhte sehr stark in sich selbst, was sich in den Intermezzi widerspiegelt. Obwohl die Stücke recht kurz sind, leben  viele Erinnerungen und Prägungen aus der Vergangenheit. So klingt ein reiches Leben; das ist schon ein gewisser Kontrast zu Robert Schumann. Dessen Motto war bekanntlich: Frei aber einsam. Brahms hat es geändert, so dass diese Parole für ihn lautete: „Frei aber glücklich“, und auf keinen Fall einsam. Schumann war ein viel komplizierterer Charakter, introvertiert im Leben und extrovertiert in der Musik.

Was möchten Sie Ihrem Publikum vermitteln?

Jeder, der in ein Konzert geht, erwartet ein neues Erlebens und keine Kopie von bereits Vorhandenem. Deswegen ist es jeden Tag immer wieder eine neue Erfahrung, mein Repertoire zu spielen. Ich erfinde mich einfach gerne neu. Aus diesem Grund mag ich es gar nicht so sehr, meine alten Aufnahmen zu hören. Das sind Momentaufnahmen von etwas Vergangenem.

[Interview mit Stefan Pieper]

Spanische Flut

Nimbus Records, NI 1711; EAN: 0 710357 171123

Auf vier CDs spielt der englische Pianist Martin Jones Klaviermusik von Isaac Albéniz: Champagne Waltz, Estudio Impromptu op. 56, die Sonate Nr. 5 op. 87, Suite Española op. 47, Rapsodia Española op. 70, Pavana op. 83, Tango aus op. 165, Cantos d’españa op. 232, La vega aus “Die Alhambra”, España Souvenirs, das Prelude aus Azulejos (vom Pianisten vervollständigt), Navarra (ebenso vom Pianisten vervollständigt) sowie das vierbändige Werk Iberia.

Warum spielen heute so wenige Pianisten Albéniz? Schließlich gehörte er nicht nur zu den außerordentlichsten Pianisten seiner Zeit, dessen Werdegang sich wie ein musikalischer Abenteuerroman ließt, sondern gilt als stilprägender Komponist, dessen Iberia zu einem Leitbild der spanischen Musik avancierte und ebenso als eines der schillerndsten Werke des sogenannten Impressionismus zählt. Die Gründe für das Fehlen im heutigen Repertoire sind zweierlei: 1) Den frühen Kompositionen wird oftmals unbegründet ihre Wertigkeit abgetan, indem sie abwertend als „Salonkompositionen“ bezeichnet werden, da sie leicht ins Ohr gehen und aufgeweckt munteren Charakter besitzen. Dabei übersieht man gerne, dass auch Meister wie Chopin oder Liszt im Grunde Salonkomponisten waren und Verständlichkeit nicht gleichzusetzen ist mit Bedeutungslosigkeit. 2) Das zweifelsohne grandiose Spätwerk mit Iberia als Gipfelpunkt wird gekennzeichnet von einer maßlosen Verfeinerung, die in einer Flut aus Vorzeichen, Artikulationsbezeichnungen und Dynamikangaben bis zum fünffachen Pianissimo oder Fortissimo mündet. Somit muss sich der Pianist mehr mit dem bloßen Lesen als mit der tatsächlich technischen Bewältigung befassen, bevor er musikalisch in die tiefgründigen Klangwelten eindringt. Bei kaum einem anderen Komponisten glaube ich mehr, dass bei Entschlackung an Vortragsbezeichnungen und Vorzeichen Pianisten eher bereit wären, dieses Unterfangen auf sich zu nehmen.

Die vorliegende Box präsentiert das Schaffen des Spaniers auf eindrucksvolle Weise von den hinreißend leichtfüßigen Frühwerken über die folkloristisch inspirierten Weisen bis hin zu den sinnierenden Spätwerken in schillernder Farbigkeit und einer Bildlichkeit, wie sie ansonsten nur Debussy erreichte. Überrascht war ich von der jugendlich-ambitionierten Klaviersonate Nr. 5 (von den acht Sonaten überdauerten nur die Nummern 3-5), die mit ausgewogener Aggressivität und monumentalen Wuchtigkeit Zeugnis für Albéniz‘ pianistischen Fähigkeiten ablegt. In der Zusammenstellung fällt auf, wie vielseitig sich Albéniz von der spanischen Folklore hat inspirieren lassen und wie umfangreich diese in sein Werk Einzug fand.

Leichtfüßig und doch bewusst geht Martin Jones an die Klavierwerke des Spaniers heran, besticht durch feinfühlig markantes Spiel, das tatsächlich an die Gitarre erinnert, für die viele von Albéniz‘ Werken transkribiert wurden. Jones besitzt einen bemerkenswert ausgehörtes Pianissimo mit zahllosen Schattierungen und Abstufungen bis nahe an die Unhörbarkeit. Technisch bleibt er überlegen, wobei lediglich die Pausen vor den Sprüngen aufstoßen: dem fällt natürlich das berühmte Asturias zum Opfer. Zudem nuscheln manche rasanten Passagen, dass man die einzelnen Elemente der Musik nicht mehr wahrnimmt, so in Cadíz. So vielseitig der Anschlag von Jones doch ist, so bleibt er doch meist monochrom, was gerade im Bezug auf die Gesamtspieldauer von vier Stunden ermüdend wirkt: dem Forte fehlt das Volumen, dem Pian(issim)o der „Duft“, der zart und doch bestimmt Farben und Bilder in uns hervorruft und mit einem einzigen Ton bereits verzaubern kann. Mit anderen Worten fehlt es an orchestraler oder vokaler Imagination des Pianisten, den Klang von seinem Instrument zu abstrahieren, um so erst den Zauber entstehen zu lassen, der diese vieldimensional inspirierte Musik ausmacht.

[Oliver Fraenzke, September 2020]