Archiv der Kategorie: Buchrezension

Klaviersuche in Sibirien  

Gebunden: Zsolnay (Hanser Literaturverlage); ISBN 978-3-532-07205-3

Taschenbuch: Piper; EAN 978-3-492-31287-5

Sibirien wird meistens mit klirrender Kälte, mit einem Verbannungsort für politische Gegner, mit Gulag-Zwangsarbeit und vielleicht noch – im positiven Sinne – mit der das Land durchquerenden transsibirischen Eisenbahn assoziiert, sicher aber nicht mit Klavieren. Doch genau diesen Instrumenten und ihrer Bedeutung in dem riesigen russischen Gebiet zwischen Ural und Pazifik widmet sich die britische Reiseschriftstellerin Sophy Roberts in ihrem Debütbuch Sibiriens vergessene Klaviere.

Die Idee dazu kam ihr nach einer Begegnung mit der Pianistin Odgerel Sampilnorov: Die Mongolin, vom Baikalsee stammend und im italienischen Perugia ausgebildet, benötigte ein geeignetes Instrument, um in ihrer Heimat musizieren zu können. Für Sophy Roberts war es ein Anliegen, die Künstlerin bei der Beschaffung zu unterstützen und gleichzeitig der Beginn ihrer Mission, Klaviere – von deren Existenz sie oft durch Hörensagen erfuhr – aufzuspüren und alles Wissenswerte zu Herkunft, Hintergrund und den Besitzern zu erforschen: quasi ein kulturhistorischer, epochenübergreifender Streifzug im Kontext der russischen Geschichte, verquickt mit Stadtbeschreibungen und Naturschilderungen.

Dafür reiste sie quer durch das Land: keine Hürde war ihr zu schwer, keine Gegend zu entlegen.

Faktenreich erzählt sie, wie das Klavierspiel durch Katharina die Große am Zarenhofe eingeführt wurde, wie der Ire John Field um 1800 in den Salons der oberen Gesellschaft einen wahren Kult damit entfachte, den Franz Liszt bei seiner Tournee durch die Nation noch übertraf – und der auch in das dünnbesiedelte Sibirien durch die zunehmende „Kolonisierung“ überschwappte.

So ließ ein russischer Admiral 1817 als Dank dafür, dass sich der Gouverneur von Kamtschatka, Pjotr Rikord, erfolgreich für seine Freilassung aus japanischer Gefangenschaft eingesetzt hatte, dessen Frau ein Klavier als Geschenk übergeben. Der Transport aus St. Petersburg dauerte gut acht Monate. Als in Sibirien Strafkolonien eingerichtet wurden, brachten auch die Verbannten Musikkultur im europäischen Stil mit, die Klavierkunst eingeschlossen. 1826 folgte Maria Wolkonski, Ehefrau eines prominenten Dekabristen, ihrem Mann ins Exil nach Irkutsk und brachte auf einem Schlitten ihr Clavichord mit. Sie engagierte sich sozial, ließ einen Konzertsaal errichten und etablierte Musikunterricht in Schulen. Bekanntermaßen weniger glücklich endete das Schicksal der Zarenfamilie, die 1917 nach der Oktoberrevolution erst ins Exil nach Tobolsk, dann nach Jekaterinburg geschickt wurde. Privilegien hatte sie keine mehr, doch stand ihr bis kurz vor ihrer Hinrichtung ein Flügel zur Verfügung. In den Bereich der Legende dürfte allerdings die skurrile Geschichte über den Leichnam des Günstlings Rasputin fallen. Der soll nach seiner Exhumierung durch Bolschewisten in einem alten Klavier transportiert worden sein, um in einem Wald verbrannt zu werden.

Von der Vergangenheit in die Gegenwart: die Suche nach Instrumenten geht für Sophy Roberts einher mit dem Interesse für die Menschen dahinter, deren Lebensumstände sie in persönlichen Begegnungen kennenlernt. Eine wichtige Quelle an Informationen ist der Klavierlehrer Waleri Krawtschenko von der Halbinsel Kamtschatka. Er organisiert Konzerte fernab der Städte in wilder Landschaft und sagt: „Musik, Natur – für deren Wirkung gibt es keine Grenzen“. Im Altai-Gebirge trifft die Autorin den ehemaligen Aero-Flot-Navigator Leonid Kaloschin, der 41 gesammelte Klaviere in abgeschiedene Bergdörfer zur musischen Bildung der Kinder lieferte. Im südostsibirischen Chabarowsk lernt sie Nina Alexandrowna kennen, die durch Wissensdrang und die Liebe zum Klavierspiel Glück in ihrem entbehrungsreichen Leben fand. Dass das Piano, das ihr eine Tante schenkte, quer durchs Land per Bahn befördert wurde und dann nicht durch die Tür ihrer Wohnung passte, ist eine von vielen Anekdoten, die das Buch so lebendig machen.

Am seinem Ende schließt sich der Kreis. Durch die Vermittlung von Sophy Roberts und eines befreundeten Dokumentarfilmers erhält Odgerel Sampilnorov einen Grotrian-Steinweg. Er ist eine Gabe der Klavierstimmer-Familie Lomatschenko aus Nowosibirsk. Ihre Ausführungen zu den Charakteristika, zu Klang und Bauweise von Exemplaren solch bedeutender Firmen, wie Bechstein oder Ibach, sind ein weiterer Baustein in dieser vielschichtigen, mit Empathie und Herzblut geschriebenen musikalischen Sibirien-Annäherung. Die Lektüre ist gerade in diesen Zeiten so bereichernd wie anregend und deshalb unbedingt zu empfehlen.

[Karin Coper, August 2022]

Felix Draesekes Briefwechsel veröffentlicht

Felix Draeseke: Briefwechsel in zwei Bänden (= Veröffentlichungen der Internationalen Draeseke-Gesellschaft 9), hrsg. von Sigrid Brandenburg, Leipzig: Gudrun Schröder Verlag 2021, ISBN 978-3-926196-86-6. (838 Seiten)

Felix Draeseke war eine der markanten Figuren der deutschen Musikgeschichte in der zweiten Hälfte des 19. und den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts. Als Jüngling unter den Einfluss Richard Wagners und in den Kreis um Franz Liszt geraten, wurde er zunächst als Musikkritiker und -schriftsteller bekannt, fand in den 1860er Jahren zu einem persönlichen, das Erbe der Klassiker mit den Errungenschaften der „Zukunftsmusik“ verschmelzenden Kompositionsstil und lehrte seit 1884 am Dresdner Konservatorium. Als Gutachter des Allgemeinen Deutschen Musikvereins spielte er jahrelang eine wichtige Rolle bei der Auswahl der auf den Tonkünstlerversammlungen aufgeführten Novitäten. Seine 1906 veröffentlichte, gegen Richard Strauss gerichtete Streitschrift Die Konfusion in der Musik entfachte eine langwierige, intensiv geführte Debatte über die Problematik des musikalischen Fortschritts, an welcher zahlreiche namhafte Personen des deutschen Musiklebens teilnahmen. Das Leben dieses Mannes, dessen Biographie mit den musikgeschichtlichen Entwicklungen seiner Zeit so eng verflochten ist, bietet der Wissenschaft noch ein weites Feld für kommende Forschungen.

Am 16. Juni 2022 präsentierte die Internationale Draeseke-Gesellschaft (IDG) im Ausstellungspavillon des Kunstvereins Coburg ihre neueste und bislang umfangreichste Veröffentlichung. Es handelt sich um den Briefwechsel Felix Draesekes, der, herausgegeben von Sigrid Brandenburg, nun in zwei Teilbänden als Nr. 9 der im Leipziger Gudrun Schröder Verlag erscheinenden Schriftenreihe der IDG erschienen ist.

Drei Mitglieder der Gesellschaft teilten sich in die Präsentation: Geschäftsführer Udo-Rainer Follert führte durch die Veranstaltung, indem er Beispiele aus den Briefen des Komponisten vorlas und in den biographischen Kontext einordnete. Helmut Loos, 1. Vorsitzender der IDG, hielt als Herausgeber der Schriftenreihe einen kurzen Vortrag zur Bedeutung der Briefe und ihrer Edition. Der Pianist Wolfgang Müller-Steinbach, der als Verfasser zahlreicher Draeseke-Bearbeitungen hervorgetreten ist, spielte, passend zu den jeweiligen Stationen der Biographie, Klavierwerke des Komponisten.

Schmerzlich war zu bedauern, dass die Herausgeberin des Briefwechsels, Sigrid Brandenburg, nicht an der Veranstaltung teilnehmen und den verdienten Dank entgegennehmen konnte. Insgesamt 1542 Briefe, die sich über die gesamte Lebenszeit Felix Draesekes (1835–1913) erstrecken, hat sie über viele Jahre aus zahlreichen Sammlungen in Europa und Amerika zusammengetragen. Die Arbeit wurde durch eine schwierige Quellenlage erschwert, da zahlreiche Dokumente im Laufe der Zeit verloren gegangen sind – namentlich durch den Zweiten Weltkrieg – und aus teils problematischen Sekundärquellen erschlossen werden mussten. Markanteste Beispiele dafür sind die 207 Briefe und Brieffragmente, die ausschließlich durch die 1932 und 1937 in zwei Bänden erschienene Draeseke-Biographie Erich Roeders überliefert wurden. Roeder versuchte Draeseke im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie zu vereinnahmen, und schreckte, wie Nachforschungen in mehreren Fällen gezeigt haben, vor Verfälschungen seiner Quellen nicht zurück.

In die Edition aufgenommen wurden sämtliche erreichbaren Briefe von und an Felix Draeseke, sowie ausgewählte Briefe Dritter, die wertvolle Informationen zur Biographie des Komponisten liefern (so beginnt die Sammlung mit einem Brief von Draesekes Vater an dessen Schwager und endet mit Beileidsbekundungen an Draesekes Witwe). Unter jedem Brief findet sich die entsprechende Quellenangabe. Ein chronologisches Verzeichnis der Briefe sowie alphabetische Verzeichnisse der Empfänger und Absender gehen der Edition voran. Ihr folgen 67 Seiten mit Kommentaren zu den einzelnen Briefen. Ein Anhang mit einem Verzeichnis der verwendeten Literatur, den Bibliothekssiglen, dem Besitzernachweis, einem Register der in den Briefen erwähnten Personen und einer Auflistung der IDG-Schriften sowie der in Neudrucken verfügbaren Kompositionen Draesekes schließt die Veröffentlichung ab.

[Norbert Florian Schuck, Juni 2022]

Gegen das Vergessen -Verfolgte Komponisten in den Niederlanden: Biographien und CDs

Hentrich & Hentrich; ISBN 978-3-95565-379-8 

In einem bei Hentrich & Hentrich erschienenen Kurzbiographien-Band erinnern Carine Alders und Eleonore Pameijer an Komponistinnen und Komponisten aus den Niederlanden, die während des Zweiten Weltkriegs verfolgt und ausgegrenzt wurden. Das Buch steht in enger Verbindung mit einer bereits 2015 von Etcetera veröffentlichten 10-CD-Edition.

Verfemt, verfolgt, ins Exil getrieben, deportiert, ermordet: Von diesem Schicksal waren unzählige vorwiegend jüdische Kunstschaffende während des Nationalsozialistischen Regimes betroffen. Ihre Karriere wurde abrupt beendet und nur wenigen gelang es, in der Emigration eine neue Existenz aufzubauen oder nach dem zweiten Weltkrieg an frühere Erfolge anzuknüpfen. Die meisten gerieten in vollständige Vergessenheit. Erst in den 80er Jahren begann dank privater Initiativen, Forschungsprojekten und dem wachsenden Interesse von Musikwissenschaft und Dramaturgie die allmähliche Aufarbeitung und Auseinandersetzung mit dem Schaffen dieser Künstlergeneration. Eine Renaissance ihrer Werke läutete exemplarisch die Decca-Edition „Entartete Musik“ ein, beispielhaft sind auch die Aktivitäten des Berliner Vereins Musica reanimata oder des Wiener exil.arte Zentrums.

Ähnlich konzipiert ist die in Amsterdam ansässige Leo Smit-Stiftung. Schwerpunktmäßig widmet sie sich niederländischen Komponistinnen und Komponisten, die nach der Besatzung durch die Deutschen 1940 Repressalien aller Art ausgesetzt waren und deren Werke nicht mehr aufgeführt werden durften. Initiiert wurde sie 1996 von der Flötistin Eleonore Pameijer, nachdem sie auf Musik von Smit gestoßen war und ihre Stärke erkannt hatte. Mittlerweile integriert sie seine Stücke regelmäßig in ihre Konzertprogramme. Damit erfüllt sie eines der Ziele der Stiftung: verschüttete musikalische Schätze zu bergen, um sie ins heutige Repertoire einzubinden. Viel Arbeit steckt dahinter:  Nachlässe müssen gesichtet werden, aufgefundene, teils nur handgeschriebene Partituren eingerichtet werden.

Einen umfassenden Überblick über die bisherigen Forschungen gibt der Sammelband Verfolgte Komponisten in den Niederlanden, der 2015 von Pameijer zusammen mit der Musikwissenschaftlerin Carine Alders herausgegeben und kürzlich in deutscher Übersetzung im Hentrich & Hentrich Verlag erschienen ist. Er vereint Biographien von 34 Musikschaffenden – darunter fünf Frauen –, rekonstruiert durch Autorinnen und Autoren unterschiedlicher Profession, teilweise auch durch Verwandte. Diese Schilderungen, denen jeweils ein Foto vorangestellt ist, bringen zerstörte Lebensläufe ans Licht, erzählen von individuellen Schicksalen und dem künstlerischen Vermächtnis der Einzelnen, öffnen aber auch den Blick für das niederländische Musikleben, gesellschaftliche Querverbindungen und Zusammenhänge.

Aus der Gesamtheit ragt Leo Smit hervor, Namensgeber der Stiftung und innerhalb der „Jüdischen Miniaturen“ desselben Verlags mit der Biographie Unerhörtes Talent von Klaus Bertisch ausführlicher gewürdigt (ISBN 978-3-95565-070-4). Bereits seine ersten Orchesterstücke, die er während des Studiums komponierte, wurden vom Concertgebouw aufgeführt. Mitte der 20er Jahre zog er nach Paris und lernte dort die französische Musikeravantgarde kennen, deren Einflüsse fortan sein weiteres Schaffen – einiges für größeres Orchester, vorwiegend aber Kammermusiken in verschieden Besetzungen – prägte. Als er nach fast 10 Jahren 1937 nach Holland zurückkehrte, hatte sich die politische Lage bereits verschärft, so dass sich sein Wirkungskreis bald auf jüdische Institutionen beschränkte. Sein letztes und heute bekanntestes Werk, eine Sonate für Flöte und Klavier, vollendete er nur einige Tage vor der Deportation ins Vernichtungslager Sobibor, wo er Ende 1943 ermordet wurde.

Dieses Schicksal teilte Smit mit seinem begabten Schüler Dick Kattenburg. Er kam mit nur 24 Jahren in Auschwitz um, genauso wie der Synagogalkomponist und Chorleiter Simon Gokkes und das pianistische Wunderkind Mischa Hillesum. Dessen Schwester Etty hinterließ Tagebücher, die zu den bedeutendsten holländischen Zeugnissen der Besatzungszeit gehören.

Das Glück, zu überleben, hatten nur wenige. Beispielsweise Sem Dresden, Direktor des Konservatoriums in Den Haag, bedeutender Lehrer und einer der Leitfiguren des holländischen Musiklebens, der untertauchen konnte. Oder der deutsche Komponist und Pazifist Wilhelm Rettich, den eine frühere Klavierschülerin versteckte. Er gehört, wie auch die ungarischen Musiker Géza Frid und Zoltán Székely zur Gruppe jüdischer Tonkünstler anderer Nationalität, die hofften, in den bis 1940 neutralen Niederlanden, Schutz zu finden.

Andere gingen aktiv in den Widerstand: Marius Flothuis, vor und nach dem Krieg künstlerischer Direktor des Amsterdamer Concertgebouw, half untergetauchten Juden und wurde selbst interniert, Leo Kok, künstlerisch mehrfach begabt und politisch seit jungen Jahren aktiv, schloss sich der französischen Résistance an.

Auch Rosy Wertheim, die sich schon als junge Frau für sozial Schwache engagiert hatte, widersetzte sich den Anordnungen der Besatzung. Sie organisierte illegale Konzerte mit verbotener Musik, musste dann aber selbst untertauchen. Wertheims Biographie ist für ihre Zeit besonders bemerkenswert. Sie war eine der ersten Komponistinnen ihres Landes und lebte zeitweise in New York, Wien und Paris, wo sie einen Künstlersalon unterhielt, in dem führende Musiker ein- und ausgingen.

Forbidden Music in World War II (10 CD)

Etcetera, KTC 1530; Ean: 8711801015309

Im Anhang der Biographien, von denen hier nur ein Bruchteil skizziert werden kann, befinden sich Auflistungen der verwendeten Quellen und der erstaunlich umfangreichen Diskographie. Aus diesen Tondokumenten, die überwiegend bei kleineren Labels erschienen sind, stellte die holländische Firma Etcetera eine Kompilation zusammen. Sie heißt Forbidden Music in World War II und ist das quasi unverzichtbare musikalische Pendant zur Lektüre. Die Box enthält zehn prall gefüllte CD’s mit Musik von einem Großteil der im Buch Porträtierten. Die Bandbreite der zwischen 1900 und 1967 entstandenen Kompositionen reicht von großbesetzter Sinfonik über Solokonzerte bis zu Kunstliedern. Meist aber sind es kammermusikalische Werke in verschiedenen Kombinationen, angepasst an die Bedingungen unter denen sie entstanden. Was ihnen gemein ist: sie spiegeln die Vielfalt der damaligen zeitgenössischen Strömungen wider.

Dominierend ist der Blick nach Frankreich, zumal von denjenigen, die einige Zeit dort lebten und durch erste Hand inspiriert wurden. In Leo Smits farbschillernden Ballettmusik Schemselnihar sind die Impressionisten, Debussy und Ravel, allgegenwärtig, in Rosy Wertheims Streichquartett steht die auf Vereinfachung und Klarheit zielende Groupe de Six Pate und Leo Kok komponierte den Gesangszyklus Sept Mélodies Retrouvées im Stil der Mélodie francaise.

Zur Unterhaltungsmusik fühlte sich Dick Kattenburg hingezogen. Seine Kammermusik ist durchpulst von Jazzelementen und Tanzrhythmen, etwa in der Sonate für Flöte und Klavier mit ihrer Melodik, den süffigen Harmonien und dem Tangorhythmus im Mittelsatz. Andererseits setzte er sich musikalisch mit seinen Wurzeln auseinander. Lebensfreude in dunkler Zeit versprühen seine auf hebräische Melodien basierenden Palästinensischen Lieder.

Lex van Delden hingegen knüpfte in manchen Orchesterstücken an neoklassizistische Traditionen à la Strawinsky an, scheinbar unberührt von avantgardistischen Tendenzen. Der Komponist, der sich nach dem Krieg für die Belange niederländischer Musikschaffender einsetzte, erhielt selbst besondere Wertschätzung, als in den 60er Jahren einige seiner sinfonischen Werke vom Concertgebouw Orchester unter so bedeutenden Dirigenten wie Bernard Haitink, Eugen Jochum und George Szell aufgeführt wurden. Die erhaltenen Life-Mitschnitte sind ein bedeutender Teil der Anthologie.

Noch viel mehr gibt es zu entdecken in dieser schier unerschöpflichen musikalischen Fundgrube, nur einiges kann als Kostprobe erwähnt werden: Die aufs Wesentliche komprimierte Klavier-Sonate und das Streichquartett von Nico Richter, die sich in Richtung Wiener Schule orientieren und in ihrer Kürze an Anton von Webern erinnern; die freche Modern Times Sonata für Geige und Klavier von Ignace Lilien, die den Geist der 20er Jahre einfängt und mit seinem sozialkritischen Gesangszyklus Mietskaserne kontrastiert; eine spätromantische Konzertouvertüre und ein Nonett von Jan van Gilse; die fast gleichzeitig in den 50er Jahren entstandenen duftigen Dialoge für Harfe und Flöte von Theo Smit Sibinga und Marius Flothuis; effektvolle, klangfarbenreiche Solokonzerte für Flöte bzw. Klavier und Kammerorchester von Henriëtte Bosmans; französische Chansons von Marjo Tal, von ihr selbst vorgetragen.

Den Großteil der Einspielungen bestreitet ein Stamm von Musizierenden. An erster Stelle muss die Flötistin Eleonore Pameijer genannt werden. Sie hat sich mit Leib und Seele der Rehabilitation dieser Werke verschrieben und wirbt für sie mit ihrer ganzen spieltechnischen und interpretatorischen Kompetenz. Einher geht dieses Engagement mit der Partnerschaft zu einer Reihe von hochkarätigen Instrumentalisten und Instrumentalistinnen, die in unterschiedlichen Formationen aufeinandertreffen. Zu ihnen gehören die Sopranistin Irene Maessen, die Geigerin Marijke van Kooten, die Cellistin Doris Hochscheid, die Harfenistin Erika Waardenburg und die Pianisten Frans van Ruth und Marcel Worms. Ihre Vertrautheit beim Zusammenspiel ist stets spürbar, aber auch das Wissen um feine Abstimmungen, kluge Strukturierung, Klangfarben und Phrasierung.

Abgeschlossen ist der Wiedererweckungsprozess noch lange nicht. Doch sukzessive werden Lücken geschlossen und der Öffentlichkeit präsentiert. Ja, „Musik muss erklingen“. In dieser bemerkenswerten Anthologie tut sie es auf beispielhafte Weise.

Karin Coper [Juli 2021]

Wilhelm Altmann – Ein Leben für die Kammermusik

70 Jahre sind seit dem Tode des Historikers und Bibliothekars Wilhelm Altmann (1862–1951) vergangen. Als leidenschaftlicher Kammermusiker unternahm er es, die Literatur für Kammerensembles zu sichten und in mehreren Handbüchern den Streichquartett-, Klaviertrio-, Klavierquartett- und Klavierquintettspielern vorzustellen. Es ist an der Zeit, an diesen verdienten Mann zu erinnern, dessen Bücher einen Springquell musikalischer Anregungen darstellen.

Wilhelm Altmann 1905 als Oberbibliothekar in Berlin

Wilhelm Altmann wurde als Sohn eines Pfarrers am 4. April 1862 in der Kleinstadt Adelnau geboren, die damals zur preußischen Provinz Posen gehörte und heute unter dem Namen Odolanów Teil der Woiwodschaft Großpolen ist. Seine Eltern waren musikliebende Menschen, denen es selbstverständlich war, ihren Sohn von klein auf mit der Tonkunst in Berührung zu bringen. Der Junge erlernte Bratsche und Violine, spielte frühzeitig Kammermusik und wirkte während seiner Primanerzeit in Breslau als Orchestergeiger an Opernaufführungen mit. Nach dem Schulabschluss entschied er sich für eine Laufbahn als Historiker und studierte in Marburg und Berlin Geschichte, Philologie und Staatswissenschaften. An der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität, der heutigen Humboldt-Universität, wurde er 1885 Assistent des greisen Leopold von Ranke und promovierte im selben Jahr über Die Wahl Albrechts II. zum römischen Könige. Anschließend war er an den Universitätsbibliotheken in Breslau und Greifswald tätig. In Greifswald habilitierte er sich 1893 und arbeitete als Privatdozent. Er genoss bald den Ruf eines Spezialisten für die Geschichte des späten Mittelalters und wurde mit der Herausgabe der Urkunden Kaiser Sigmunds betraut, die 1896–1900 in der renommierten Reihe Regesta Imperii erschienen.

Während all dieser Jahre hatte Altmann die Musik keinesfalls zurückgestellt. Im Gegenteil: Jede sich in seiner Freizeit bietende Gelegenheit zu musikalischer Betätigung wusste er am Schopfe zu packen. Dies beschränkte sich nicht nur auf das Kammermusikspiel. So gründete er 1890 in Greifswald ein Liebhaber-Orchester und dirigierte es bis 1895. Um die Jahrhundertwende schließlich begann der musizierende Bibliothekar sich zu dem Musikbibliothekar und Musikschriftsteller zu entwickeln, als der er in bleibender Erinnerung geblieben ist. Regelmäßig veröffentlichte er nun Rezensionen neu erschienener Kammermusikwerke, die er zuvor gemeinsam mit befreundeten Amateur-, aber auch Berufsmusikern, aus eigener Praxis kennen gelernt hatte. Im Jahr 1900 wurde Altmann zum Oberbibliothekar der Königlichen Bibliothek in Berlin ernannt, seit 1905 durfte er sich Professor nennen. In dieser Position begann er, ein Projekt ins Werk zu setzen, für das er mit seinem 1903 in der Zeitschrift der internationalen Musikgesellschaft veröffentlichten Vortrag „Öffentliche Musikbibliotheken – Ein frommer Wunsch“ warb. Altmanns Ziel war die Einrichtung einer „Reichs-Musikbibliothek“, die „zum mindesten alle in Deutschland erschienenen musikalischen Werke in ihrer Urgestalt enthält, damit es endlich einen Ort gibt, wo man die Werke wenigstens jedes deutschen Komponisten, hoffentlich auch der meisten außerdeutschen, einsehen kann“. Die Musikverleger kamen seinem Aufruf, freiwillig Exemplare der bei ihnen erschienenen Musikwerke nach Berlin zu schicken, in solchem Maße nach, dass Altmann neue bibliothekarische Ordnungssysteme entwickeln musste, um das eingesandte Material effektiver einarbeiten zu können. 1906 konnte er die Gründung der „Deutschen Musiksammlung bei der Königlichen Bibliothek“ am Schinkelplatz verkünden. Als die Sammlung 1915 offiziell zur Musikabteilung der Bibliothek wurde, ernannte man Altmann zu ihrem Direktor. Dies blieb er bis zu seinem Eintritt in den Ruhestand 1927.

Seiner Dienstpflichten ledig, konnte er sich nun ganz auf die Musik konzentrieren und gab noch 1927 in Max Hesses Verlag, Berlin, sein Handbuch für Streichquartettspieler heraus. Den beiden Bänden, die die Quartettliteratur von Johann Sebastian Bach bis zu Günter Raphael und Kurt Thomas abdecken, folgte im Februar 1929 ein dritter Band über Streichtrios, -quintette, -sextette, und -oktette, Ende 1930 ein vierter zur Literatur für Streicher und Bläser. Zum Teil trug Altmann für diese Bücher Kritiken aus früherer Zeit zusammen, zum Teil sind sie die Frucht des intensivierten Musizierens, das dem Pensionär nun möglich war. „Daß ich schon jetzt diesen [dritten] Band vorlegen kann“, schreibt er 1929, „kommt nicht bloß daher, daß ich seit dem 1. Januar 1928 von allen Amtsgeschäften frei bin, sondern daß ich schon früher manche Vorarbeiten erledigt und in der glücklichen Lage mich befunden habe, selbst für die Oktette ohne weiteres geeignete Kräfte heranziehen zu können.“ Dem vierten Band schließlich gingen eineinhalb Jahre praktische Beschäftigung ausschließlich mit Musik für Streicher und Bläser voran.

Im Vorwort des Handbuchs legt Altmann ausführlich dar, was ihn zu dieser Arbeit bewog, und blickt zugleich auf sein Leben als nicht-berufsmäßiger Musiker zurück. Diese Ausführungen geben einen solch lebendigen Eindruck von der Persönlichkeit ihres Autors, daß im Folgenden ein längerer Auszug daraus wiedergegeben werden soll:

„Schon als ich in der Untertertia des Elisabeth-Gymnasiums in Breslau saß, hatte ich im väterlichen Hause als Bratschist u. a. sämtliche Haydnsche Quartette mitgespielt und mit besonderer Aufmerksamkeit damals und auch die nächsten Jahre den Quartettaufführungen gelauscht, die der leider später eingegangene Verein für klassische Musik vom 1. Oktober bis Ostern regelmäßig alle Wochen einmal durch tüchtige Künstler veranstaltete. Wenn ich in der Studentenzeit auch nicht ganz regelmäßig zum Quartettspielen gekommen bin, so habe ich es doch nie unterlassen; mitunter, da ich auch allmählich für die erste Geige herangereift war, habe ich das regelmäßige Wochenquartett möglichst durchgeführt, auch als ich 1900 nach Berlin übergesiedelt war und mich mehr und mehr als Musikkritiker und Musikschriftsteller betätigte; wenn ich Zeit hatte, habe ich auch gern in anderen Quartetten ausgeholfen. So mancher liebe Quartettgenosse und auch eine Künstlerin, die mit größter Hingebung bei mir zweite Geige jahrelang gespielt hat, ruht schon im Grabe. Allen aber, die mit mir durch „dick und dünn“, durch die Klassiker selbst bis zu den Atonalikern gegangen sind, kann ich gar nicht genug dankbar sein. Wir haben auch sehr viele in Vergessenheit geratene Werke gespielt und sind wohl an keinem, das irgendwelche Bedeutung hatte, vorbeigegangen.

Der Wunsch, den zahllosen Dilettanten-Quartettvereinigungen meine Erfahrungen mitzuteilen, ebenso auch Künstlerquartette, die oft von der einschlägigen Literatur viel weniger Kenntnis als Musikfreunde haben, auf beachtenswerte vergessene Werke hinzuweisen, trieb mich zur Abfassung des vorliegenden Werkes, das keinesfalls als eine wissenschaftliche Leistung angesehen und beurteilt werden darf. Es soll nur ein praktischer Führer sein, nicht etwa eine Geschichte des Streichquartetts, wenngleich ich es chronologisch nach dem Geburtsjahr der einzelnen Komponisten geordnet habe. […]

Meine zum Teil aus ganz verschiedener Zeit stammenden Urteile über die einzelnen Werke sollen durchaus als subjektive bewertet werden. Ich bin mir bewußt, daß manches Quartett, das ich als besonders wertvoll empfehle, von andern als belanglos beiseite geschoben wird. Trotzdem ich daran festhalte, daß die Klassiker, zu denen ich auch Brahms rechne, nach wie vor den größten Schatz des Quartettspielers bilden, habe ich doch stets den Quartetten wie überhaupt den Schöpfungen der lebenden Tonkünstler größtes Interesse gewidmet, den Auswüchsen der sogenannten Atonalitätsapostel gegenüber mich freilich ablehnend verhalten. Mag man mich deshalb als senil ansehen! Ich will und kann’s ertragen, umso mehr, als ich andererseits glaube, manchen lebenden Tonsetzer doch gefördert zu haben. […]

Vollständigkeit zu erstreben lag mir fern, ist auch kaum zu erreichen. Werke, die ich nicht gehört oder selbst gespielt habe, habe ich nur ausnahmsweise nach der Partitur besprochen, obwohl für mich ein bloßes Lesen, ohne den Klang zu hören, kein richtiges Bild abgibt.“

Dem Streichquartettspieler-Handbuch schlossen sich in den nächsten Jahren gleichartige Handbücher für Klaviertriospieler (1934), Klavierquartettspieler (1936) und Klavierquintettspieler (1937) an. 1935 gab Altmann zudem Albert Tottmanns in letzter Auflage 1902 erschienenen Führer durch den Violin-Unterricht, den er im Handbuch für Streichquartettspieler gelegentlich zitiert, in einer erweiterten Fassung, die auch die seit 1901 neu erschienenen Werke berücksichtigt, als Führer durch die Violin-Literatur neu heraus.

Altmann stand im 71. Lebensjahr, als 1933 die Nationalsozialisten an die Macht gelangten. Seine publizistische Tätigkeit blieb von den veränderten politischen Umständen zunächst unberührt. So würdigte er nach wie vor in seinen Büchern die Leistungen von Komponisten jüdischer Abstammung wie Felix und Arnold Mendelssohn, Friedrich Gernsheim, Robert Kahn, Erich Wolfgang Korngold, wobei er Anton Rubinstein vorsichtigerweise im Handbuch für Klaviertriospieler als „arischen Sibirier“ etikettierte. 1940 allerdings machten die nationalsozialistischen Autoren Herbert Gerigk und Theophil Stengel in ihrem Lexikon der Juden in der Musik publik, dass Altmann jüdische Vorfahren hatte und nach NS-Terminologie als „Halbjude“ zu gelten habe. Infolge dessen wurde ihm Publikationsverbot erteilt. Altmann gelang es jedoch zu erreichen, dass der Präsident der Reichskulturkammer, Propagandaminister Goebbels, ihm eine Sondererlaubnis zur weiteren schriftstellerischen Betätigung erteilte, die ihn bis zum Ende der nationalsozialistischen Herrschaft vor weiteren Repressalien schützte. 1945 siedelte Wilhelm Altmann aus dem zerstörten Berlin in das niedersächsische Dorf Wesseln über. Er starb am 25. März 1951, kurz vor seinem 89. Geburtstag, in Hildesheim.

Altmanns Handbuch für Streichquartettspieler, Ausgabe von Heinrichshofen’s Verlag 1972

Die Musik war die lebensspendende Ader in Wilhelm Altmanns Dasein. Über Jahre mag sie verdeckt im Untergrund geschlagen haben, doch trat sie nach und nach immer stärker hervor, bis sie zuletzt sein Leben voll und ganz bestimmte. So sind auch seine Bücher Zeugnisse innigster Liebe zur Musik und zum Musizieren. Bereits vom Umfang her beeindruckt dieses Textkorpus, und noch größer wird die Achtung vor seinem Verfasser, bedenkt man, dass er den allergrößten Teil der Werke, die er darin bespricht, aus eigener praktischer Erfahrung kannte. Die Kammermusik-Handbücher sind somit auch Zeugnis einer lebenslang nie versiegenden Wissbegier. Altmann wollte möglichst viel Musik kennen und möglichst viel guter Musik helfen, zum Erklingen zu kommen. Die Besprechungen zeigen ihn als grundehrlichen Charakter, der mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg hält und deutlich ausspricht, was ihm zusagt und was nicht. Oft legt er dabei auch ein gutes Wort für solche Werke ein, die ihm nicht der öffentlichen Aufführung wert erscheinen, die er jedoch zum häuslichen Musizieren durchaus für geeignet hält – und mehrfach kann man sein Bedauern spüren, wenn er feststellen muss, dass sich ein Meisterwerk neuerer Zeit aufgrund zu hoher spieltechnischer Herausforderungen Dilettantenkreisen nicht mehr empfehlen lässt.

Altmanns Interesse erstreckte sich immer auch auf die Musik seiner Zeitgenossen. Der jüngste im Handbuch für Streichquartettspieler besprochene Komponist, Erwin Dressel, war zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des entsprechenden Bandes 20 Jahre alt, 47 Jahre jünger als Altmann selbst. In der Beurteilung zeitgenössischer Werke zeigt sich freilich, dass Altmann keineswegs einem radikalen Avantgardismus das Wort redete. Modernes Empfinden war für ihn unlösbar mit der Tradition verbunden, und Musik, in der er diese Verbindung nicht finden konnte, fand vor seinen Ohren keine Gnade. War es ihm allerdings möglich, sich in den Stil eines zeitgenössischen Werkes hineinzuversetzen, bejahte er es ausdrücklich. So gestand er etwa Artur Schnabel zu, in seinem Ersten Streichquartett „harmonische Wege ein[zuschlagen], die möglicherweise die Musik und ihre Ausdrucksmöglichkeiten weiterbringen“. Angesichts des „polytonalen, von Intonationsschwierigkeiten strotzenden“ Dritten Quartetts von Frank Bridge fragte er sich zwar: „Was würde wohl Meister Joseph Joachim über dieses Quartett zu Bridge gesagt haben, der in seinem Londoner Quartett eine Zeit Bratsche gespielt hat?“, erblickte jedoch „seelische Werte“ in dem Stück und empfahl Künstlervereinigungen, nicht daran vorüberzugehen. Auch über Bartók, Wellesz, Toch, Milhaud, Jarnach und Hindemith äußerte er sich anerkennend, wenngleich nicht in jedem Fall völlig zustimmend. Arnold Schönberg, Anton von Webern und Ernst Krenek dagegen blieben ihm fremd.

Altmann hat nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass er über die Kompositionen, die er in seinen Büchern vorstellt, ganz subjektiv urteilt. Weder bei den „modernen“, noch bei den älteren Werken braucht man immer mit ihm einer Meinung zu sein. Aber man nehme seine Bücher als Anregungen, die Werkbesprechungen als Empfehlungen eines ungemein erfahrenen Musikers, der in seinem Leben viel gehört und viel gespielt hat! Darin besteht der immense Wert des Lebenswerkes, das uns Wilhelm Altmann hinterlassen hat.

Zur Zeit sind das Handbuch für Klaviertriospieler, das Handbuch für Klavierquartettspieler und das Handbuch für Klavierquintettspieler nur antiquarisch oder über Bibliotheken verfügbar. Keines dieser Bücher wurde bislang neu aufgelegt. Die vier Bände des Handbuchs für Streichquartettspieler wurden 1972, 45 Jahre nach der Erstausgabe der beiden ersten Bände, von Heinrichhofen’s Verlag, Wilhelmshaven, in zweiter Auflage herausgebracht, und sind heute über den Verlag Florian Noetzel GmbH zu beziehen.

[Nobert Florian Schuck, März 2021]

Ein Fenster ins Studio

Schott; ED 22116; ISBN: 978-3-7957-0872-6

In seinem Einführungswerk „Crashkurs Musikproduktion“ bringt uns Friedrich Neumann einem Gebiet näher, dass vor allem von klassischen Musikern weitgehend gemieden wird: Aufnahmetechnik. Was für einen Pop- oder Rockmusiker zumindest zu einem gewissen Teil als Alltag erscheint und dem Jazzer immerhin teilweise vertraut wirkt, mag klassische Musiker schon beim ersten Anblick abschrecken: verschiedenartige Kabel, Knöpfe, Anschlüsse, Geräte, diffizile Software und viel zu viele technische Möglichkeiten der Klangbearbeitung. Dabei will man doch nur den Instrumenten- oder Stimmklang so natürlich wie möglich festhalten! Doch dass man gerade dafür vielseitiges Wissen braucht, erklärt sich wohl von selbst. Und Friedrich Neumanns Buch darf als glänzende Möglichkeit angesehen werden, die Ängste vor diesem Gebiet zu überwinden und das Interesse an Aufnahmetechnik zu wecken.

Egal, ob man sich selbst ins Studio stellen will, oder einfach nur eine Übersicht über die gängigsten Prozesse der Musikproduktion erhalten will, dieses Büchlein stellt einen idealen Einstieg dar. Wir werden bewahrt vor einer Flut an für den Laien überflüssigen Informationen, die wir nicht verwerten könnten, sondern lesen ausschließlich über das, was für den Beginn von Nöten ist. Natürlich ersetzt der Crashkurs keine entsprechende Ausbildung in dem Bereich und gibt auch keinen Einblick in die tatsächliche Studioarbeit mit konkreten Programmen oder Geräten – doch wie Friedrich Neumann dazu schreibt: Soft- wie Hardware entwickeln sich so schnell weiter, dass das Buch veraltet wäre, bevor es überhaupt erscheinen kann. Entsprechend bleibt er bei einem generellen Überblick und schematisiert vor allem die Softwareoberflächen allgemeinverständlich, was man später in der Praxis gut auf die jeweiligen Programme übertragen kann.

Das Wissen wird kompakt und gut gegliedert vermittelt: Jedes Kapitel erhält eine andere Grundfarbe als Schema, so dass man auf den ersten Blick das Gesuchte findet. Eine Audio-CD mit einer Laufzeit von knapp fünfzehn Minuten zeigt praktisch, was theoretisch beschrieben wird. Schaubilder und schematische Darstellungen verbildlichen jeden Abschnitt, so dass eine vielseitige Informationsaufnahme gewährleistet wird. Auch als technikunerfahrener Leser versteht man jeden Schritt und jede der beschriebenen Funktionen; man muss erstaunlich wenig lesen, sondern kann vieles den Abbildungen entnehmen. Allgemein ist das Buch sehr aufwändig und wohlproportioniert gestaltet, wirkt mit einem Ladenpreis von 15,50 € im Shop von Schott gar als Schnäppchen.

Das Buch beginnt mit einem verknappten Einblick in die Aufnahmegeschichte vom Phonographen und dem Grammophon bis hin zu heutigen digitalen Medien; dabei konzentriert sich Neumann auf die wichtigen, marktführenden Apparaturen und lässt einige Versuche auf der Seite, die sich weniger etablieren konnten. Von dort steigen wir ohne Umwege in die Musikproduktion selbst ein, wobei Schritt für Schritt von der Aufnahme zum fertigen Mix vorgegangen wird. Deshalb fängt der Crashkurs mit der Mikrofonisierung an, stellt zunächst unterschiedliche Typen von Mikrofonen mit deren Eigenschaften sowie Vor- und Nachteilen vor, und widmet ein weiteres Kapitel den verschiedenartigen Aufstellungsmöglichkeiten, macht dabei vor allem auf geläufige Fehler aufmerksam. An dieser Stelle hätte ich mir noch ein paar CD-Beispiele gewünscht, auf dem Begleitmedium hören wir nur je zwei Möglichkeiten der Mikrofonisierung bei Gitarre und Kontrabass (Steg und Schallloch). Für besonders wichtig halte ich die vorgestellten Techniken zur Aufnahme mehrerer Musiker, die auch den Laien sofort vermeiden lässt, einen Teil des Klangkörpers im Schallschatten aufzustellen. Auch für gesprochenen Text lernen wir unter anderem die richtige Manuskriptaufstellung, die ansonsten wohl kaum bedacht werden würde.

Weiter geht es mit der Leitungstechnik. Wer einmal in einem Rockstudio war oder auch den Aufbau eines Stagesets beobachten konnte, weiß, wie viele unterschiedliche Kabel, Verlängerungen und Stecker es gibt. Nach nur vier Seiten dieses Buchs sind alle Rätsel diesbezüglich gelöst, wir kennen alle wichtigen Klinken und Kabeltypen, wissen sogar, welche Kabel gegen möglichen Datenverlust eine gewisse Länge nicht übersteigen dürfen.

Die Fakten über Akustik im Raum dürften wohl den meisten Musikern bekannt sein, schließlich muss der eigene Probenraum ja zumindest über ein paar der akustischen Eigenschaften verfügen, die den Klang lebendig werden lassen; dennoch inspiriert die Zusammenstellung der schnell umsetzbaren Kniffe für bessere Akustik, das Probenzimmer noch umzugestalten.

Nun verlassen wir die greifbare Ebene, denn die Signale werden an dieser Stelle digital umgewandelt, was besonders in Bezug auf das Audio-Interface besonders umfassend besprochen wird. Für sämtliche Anschlüsse wird die Leitungstechnik wiederholt, was einen sehr willkommenen Rückblick darstellt und zugleich einer praktischen Anleitung entspricht. Dem Abhören wird ein eigenes Kapitel gewidmet, wo auch auf Kopfhörertypen und die Aufstellung der Boxen im Abhörraum eingegangen wird: eine Bereicherung für jeden, der Musik hört und den Genuss durch optimierte Klangqualität erhöhen will.

Das digitale Aufnehmen von Tonspuren funktioniert über die sogenannte Digital Audio Workstation, der Friedrich Neumann das längste Kapitel zueignete. Wir lernen von den wichtigsten Bedienelementen, dem Loopen durch Kopier- und Einfügefunktionen (für die Popmusik unerlässlich), den Funktionen einer Audiospur wie Aussteuerung, Volumen, Panorama und aktuellen Status im Gesamtbild (Solo, Mute, Record). Anschließend bespricht Neumann das Midi-Recording, wobei vor allem das Quantisieren praxisrelevant erscheint, aber entsprechend einen großen Pool an Fehlerquellen bietet. Quantisieren bedeutet, dass man Midispuren automatisch den Takteinheiten anpassen kann, so dass feinste Ungenauigkeiten des Spiels (welche die Darbietung klassischer Musik und besonders das Musizieren in größeren Ensembles und Orchestern erst definiert) ausgebügelt werden und sogar eine genau taktgetreue Widergabe entstehen kann. In gewissem Maße angewandt ein großartiges Tool, bei welchem man sich jedoch vor Übertreibungen bewahren sollte. Abschnitte über den richtigen Schnitt bei einer digitalen Audiospur und über verschiedene Arten des Ein-, Aus- und Überblendens runden das Kapitel ab.

Besonders aufschlussreich fand ich das Kapitel über Abmischung. Gerne hält man diese für rein technische Spielerei, doch steckt viel mehr dahinter und selbst perfekt zusammenwirkende Bands oder Ensembles sind hierauf angewiesen, was die beigefügten Klangbeispiele unter Beweis stellen. Das Problem bei Aufnahmen ist, dass sich die Frequenzzentren der einzelnen Instrumente überlappen, wodurch gerade die gut hörbaren Bereiche überlagert werden und so vieles vom Klang verloren geht. Mit Hilfe des Equalizers werden unnötige Nebengeräusche herausgeschnitten und der Klang in den gut hörbaren Frequenzen beschränkt, so dass die einzelnen Stimmen entzerrt werden, somit besser herauszuhören sind und der Gesamteindruck erst ausgewogen erscheint. Ein weiteres Augenmerk legt Friedrich Neumann auf verschiedene Filtertypen sowie deren Anwendungsweisen vor allem zur Beseitigung unterschiedlicher Fehlerquellen wie Pfeiftöne und Netzbrummen.

Das letzte Kapitel widmet sich Signalprozessoren, also Effektgeräten, die zur Optimierung von einzelnen Klangspuren oder ganzen Aufnahmen dienen. Zunächst beschäftigt sich Friedrich Neumann mit Regelverstärkern, namentlich Kompressoren und Limitern. Der Kompressor dient dazu, die Gesamtspur in den besonders lauten Bereichen dynamisch einzudämmen, um schließlich die Gesamtlautstärke aus dem schwer hörbaren Bereich heraus anzuheben. Limiter wirken dem ersten Schritt ähnlich, nur beschneiden sie den zu lauten, übersteuernden Bereich vollkommen. Zuletzt werden Zeitprozessoren thematisiert, also Echo und Hall sowie die künstliche Version des Delays (Verzögerung). Auf der CD hören wir hierzu den gleichen Ausschnitt eines Musikstücks mit Hall aus unterschiedlichen Räumen: Einem Wohnzimmer mit etwa 0,4 Sekunden Nachhall, der Semperoper mit 1,6 und der Berliner Philharmonie mit 2 Sekunden sowie schließlich dem Kölner Dom mit 13 Sekunden Nachhall. Während die erste Aufnahme klar und deutlich klingt, wirkt das Instrument in den größeren Räumen recht verloren; im Gotteshaus schließlich versinkt die zu hörende Gitarre vollkommen im Nachhall.

So lernen wir nicht nur über die Aufnahme- und Umwandlungsprozesse, sondern auch über die Notwendigkeit verschiedener Nachbearbeitungsmethoden, die den allgemeinen Eigenschaften der digitalen Aufnahme geschuldet sind.

[Oliver Fraenzke, März 2021]

Klebstoff der Denunziation

‚Gottfried von Einem. Komponist der Stunde null’ von Joachim Reiber
Verlag Kremayr & Scheriau, Wien; ISBN: 97832180010870

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Am 24. Januar 2018 wird der 100. Geburtstag von Gottfried von Einem (1918-96) begangen. Einem war Österreicher, geboren in Bern, aufgewachsen nahe Plön in Schleswig-Holstein, ausgebildet in Berlin und nach dem Kriege Mitglied der Direktion der Salzburger Festspiele, und wirkte nach seinem politisch motivierten Rauswurf aufgrund des Eintretens für den ‚Kommunisten’ Bertolt Brecht bis zu seinem Lebensende in Wien, dem Waldviertel und Niederösterreich, aber auch ein Leben lang auf Reisen. Es passt zu seinem illustren Lebenslauf, dass sein erster Mentor Heinz Tietjen, Generalintendant der Preußischen Staatstheater, im marokkanischen Tanger, und sein entscheidender Lehrer in Berlin, der große Komponist Boris Blacher, im chinesischen Newchwang (heute Yingkou) geboren wurde. Dem Meister Blacher verdankte Einem gewissermaßen alles, er gab ihm Halt sowohl hinsichtlich der kompositorischen Technik als auch der Einstellung zu politischen Fragen. Später studierte Einem auch noch kurz Kontrapunkt bei Johann Nepomuk David, was Blacher mit bedingtem Enthusiasmus zur Kenntnis nahm. Blacher sagte über Einem, der bei seiner offiziellen Bewerbung fürs Kompositionsstudium in Berlin von Heinz Tiessen als fast schon hoffnungslos erscheinender Fall abgelehnt wurde, sinngemäß, er habe als blutiger Anfänger eigentlich schon alles besessen, was seine künstlerische Persönlichkeit ausmachte. Die Privatstunden in den Jahren 1941-43 begannen immer mit der rituellen Einnahme eines ‚Leichenschnapses’ (also in Ermangelung besserer Alternativen verdünnter reiner Alkohol aus der heutigen Charité) und dem Abhören der verbotenen Auslands-Rundfunksender. Blacher ist – wie übrigens auch Tiessen, der andere große Berliner Mentor – legendär dafür, dass er jeden jungen Komponisten maximal darin förderte, seinen ureigenen Ausdruck zu finden, was sich ja auch an der so unterschiedlichen Prägung seiner Schüler ablesen lässt, zu welchen neben Einem u. a. Heimo Erbse, Isang Yun, Fritz Geißler, George Crumb, Claude Ballif, Günter Kochan, Giselher Klebe, Francis Burt, Noam Sheriff, Rudolf Kelterborn, Kalevi Aho, Peter Ronnefeld, Aribert Reimann oder Klaus Huber zählten. Auch Einem unterrichtete später an der Wiener Musikhochschule, auch er brachte bemerkenswerte Schüler hervor – HK Gruber ist der prominenteste unter ihnen – und zeichnete sich in seinem Unterricht durch ausgesprochene Freizügigkeit aus, sofern die Studenten bereit waren, seine praktischen Ratschläge zu befolgen, zu welchen vor allem das aufmerksame Verfolgen von Proben gehörte. Er zog sich sehr plötzlich vom Hochschulbetrieb zurück, als ihm infolge eines absurden Prüfungstribunals das ganze Ausmaß des akademischen Schwachsinns klar wurde.

Gottfried von Einem gehörte, obwohl noch ganz jung, aufgrund seiner familiären Situation zu den privilegierteren Künstlern des Dritten Reichs. Seine Mutter bewegte sich virtuos auf dem Parkett von Hochfinanz und Politik und machte große Gewinne in risikoreichen Geschäften, über die sie nichts durchblicken ließ. Als sie dann aber von der Gestapo verhaftet wurde, erfuhr Gottfried im Verhör von dem Beamten, dass der Vater, dem er sich so fremd fühlte, gar nicht sein Vater war. Er war der Spross des ungarischen Grafen László Hunyady, den er zwei Mal in seinem Leben gesehen hatte. Dieser wurde auf einer gemeinsamen Reise mit der Mutter in Ägypten während einer Großwildjagd von einem Löwen getötet, und Jahrzehnte später fand Gottfried bei Aufräumarbeiten in Ramsau eine alte, blutige, zerrissene Hose – mutmaßlich das letzte Kleidungsstück seines leiblichen Vaters, dessen Geschlecht im Magen des Löwen gelandet war.

In Blacher also fand Einem 1941 seinen wahren Lehrer für die Musik und fürs Leben (Blacher verfasste dann auch die Libretti für Einems Opern ‚Dantons Tod’ nach Büchner, ‚Der Prozess’ nach Kafka, ‚Der Zerrissene’ nach Nestroy und ‚Kabale und Liebe’ nach Schiller, teils in Kollaboration und durchweg in genial verknappender Weise, wobei Blacher stets betonte, er habe „nur gekürzt“). Durch ihn dürfte Einem mit dem Dirigenten Leo Borchard in Kontakt gekommen sein, einem messerscharfen Gegner des Nationalsozialismus, der in Deutschland kaum noch dirigieren durfte, jedoch im März 1943 mit den Berliner Philharmonikern die erste Einem-Uraufführung, das Capriccio für Orchester, herausbrachte und dem 23jährigen einen Sensationserfolg bescherte (Borchard wurde dann nach dem Kriege zum Stellvertreter des gesperrten Furtwängler ernannt, jedoch bald darauf von einem amerikanischen Soldaten bei einer Kontrolle ermordet). So knüpfte Einem, zeitlebens ein brillanter Kommunikator und Netzwerker, seine Bande in die Widerstandsbewegung in Berlin, und unter hohem persönlichen Risiko verschaffte er dem jüdischen Musiker Konrad Latte falsche Papiere und rettete so sein Leben, was man ihm posthum in Yad Vashem mit der Ernennung zum ‚Gerechten der Völker’ vergalt. Nun wissen wir aber auch, dass, wer in einem totalitären System etwas bewirken will, dafür auf gute Kontakte, also auf ein gewisses Maß an Einfluss und Macht angewiesen ist. Die reine, weiße Weste ist eine Illusion, und hier kann man die neu erschienene Biographie wohl nur als entweder naiv oder hinterhältig kritisieren.

Wer Joachim Reibers neue Einem-Biographie ‚Komponist der Stunde null’ liest, sollte vorher zumindest die ‚Einem-Chronik’ von Friedrich Saathen und die Autobiographie des Komponisten ‚Ich hab’ unendlich viel erlebt’ gelesen haben, um nicht allen Bären auf den Leim zu gehen, die ihm aufgebunden werden. Und Reibers Buch ist undenkbar ohne Thomas Eickhoffs besser recherchiertes Kompendium ‚Politische Dimensionen einer Komponisten-Biographie im 20. Jahrhundert – Gottfried von Einem’, wobei wir eben auch gerade hier bereits die große kollektive Charakterschwäche der heutigen ‚Forschung’ feststellen müssen: Eickhoff wurde nach einem Symposion unterstellt, er sei ein Apologet von Einems, und nichts fürchten die vielen Feiglinge des wissenschaftlichen wie journalistischen Milieus mehr als den Vorwurf, sie seien womöglich nicht objektiv, sie seien von Sympathie korrumpiert. Also muss der Gegenstand der Verehrung wenigstens angepinkelt werden! So hat es Eickhoff dann auch in beschämender Weise gemacht, indem er die Vorwürfe der von Einem kritisierten ‚Avantgardisten’ als ästhetische Selbstverständlichkeit übernahm und damit in selbstverleugnender Art Zuflucht beim Zeitgeist suchte, also in der schützenden Masse der Mehrheitsmeinung der Musikintellektuellen der 1960er bis 80er Jahre. Man traue nur den Ohren nicht und vertraue auf das, was zwischen ihnen nicht vorhanden ist!

Joachim Reiber treibt dieses feige Spiel noch viel weiter. Natürlich hat Einem auch viel laviert, wenn es um Politisches ging, er hat aber stets klar und couragiert Position bezogen, wenn er schreiende Ungerechtigkeit erkannte, und dafür sehenden Auges schwere Nachteile, Rückschläge und Ächtung in Kauf genommen. Wie hätte man im Dritten Reich in relativ hervorgehobener Stellung offen opponieren können? Hinter den Kulissen konnte man desto mehr bewirken, je mehr Vertrauensvorschuss man sich erworben hatte. Und in einem sind sich alle einig: Einem hat sich nie als Denunziant betätigt, hat keinen ans Messer geliefert, sondern ist immer für seine Überzeugungen eingestanden, die aber nicht in blindem Fanatismus ein für allemal feststehen mussten. Er war eine zutiefst menschliche, wandelbare, auch kapriziöse und sehr feurige Persönlichkeit, und er war ausgesprochen mutig und gewandt. Es ist wohl auch einfach Neid im Spiel, wenn man nur mal kurz auf die eigenen ‚Meriten’ schaut, und dann wieder auf ihn… Reiber, der nunmehr fast ein Vierteljahrhundert im Wiener Establishment-Sumpf mitmischt, betreibt nun eben öffentlich Hobbypsychologie. Er prätendiert, als wisse er über Einem besser Bescheid als dieser selbst und seine lebenslangen Freunde. Und er hat darüber hinaus musikalisch so gar keine Ahnung, ist nicht ansatzweise imstande, den qualitativen Unterschied zwischen Furtwängler und Karajan nachzuvollziehen, auch die scharfe Trennlinie zwischen dem, was einen ausgezeichneten Dirigenten und oberflächlichen Musiker in Personalunion (also Karajan) ausmacht. Und da er so gar nichts von Musik versteht, schreibt Reiber auch nur über das Leben, die ‚Psychologie’ (mit triumphierender Holzhammerlogik) und die Opern und Kantaten, denn da gibt es ja Gottseidank den Text, an dem man sich entlang hangeln kann. Das Instrumentalwerk, das alleine Einem als Komponisten unsterblich macht, wird so grundlegend ignoriert, dass man den Eindruck haben könnte, er habe hier fast nichts geschrieben (man denke nur an den Reichtum vielfältigster Orchesterwerke inkl. 4 Symphonien oder an die 5 Streichquartette, die in subtilster Meisterschaft die große Tradition weiterentwickeln). Na ja, man sollte eben, wenn man eine Musiker-Biographie schreibt, ein Minimum an musikalischem Interesse und fachlicher Bildung aufweisen. Wenigstens das, wenn schon keine Intuition vorhanden ist.

Reiber hat, wie ja immer wieder mal völlig unabhängig von Fragen der charakterlichen und fachlichen Qualifikation der eine oder andere Autor, ganz grundsätzlich davon profitiert, dass ihm ein riesiger Schatz an Quellen (im Einem-Archiv im Wiener Musikverein) zugänglich gemacht wurde, und er hat geflissentlich darauf gesehen, auch noch die beiläufigste flüchtigste Notiz gegen den Verdächtigen, den er allmählich wie einen Angeklagten aussehen lässt, zu verwenden. Dass dies, wenn schon, kein fairer Indizienprozess ist, kann man unschwer erkennen, indem das Negative plakativ herausgestrichen und das Positive meist abgewertet oder unterschlagen wird. Das heuchlerische Moralin des Biographen stinkt nach Sensationsgosse, und letztlich gelingt es ihm damit nur, einen schlechten Geschmack über das ganze Leben seines längst verstorbenen Opfers auszubreiten, ohne dass ihm irgendein triftiger Nachweis gelänge, der die posthume Demütigungsaktion rechtfertigte. Ein kleiner Mensch, zu feige, es mit den Lebenden aufzunehmen (an die Witwe Lotte Ingrisch, die Textdichterin der geistlichen Oper ‚Jesu Hochzeit’, traut er sich nicht heran…), aber immerhin noch ‚mutig’ genug für Leichenschändung. Dies ist ein grauenhaft schlechtes Buch, das der Verlag mutmaßlich unbesehen aufgrund der kulturell privilegierten Stellung des Täters herausgebracht hat. Man muss sich auch fragen, wie es passieren konnte, dass vom Komponisten ausgerechnet ein Photo aufs Cover gelangte, das ihm mittels eines kräftigen Schlagschattens auf den ersten Blick die verdächtige Anmutung eines Hitler-Bärtchens unterstellt (oder sollen wir hier an Charlie Chaplin denken…?). Und damit man sich möglichst schwer mit der Überprüfung der Fakten tut, sind weder die Fußnoten unten auf den Seiten zu finden noch gibt es ein Schlagwortverzeichnis. Natürlich auch kein Werkverzeichnis, aber dafür jede Menge selbstverliebte Amateururteile über das Leben, die Gesinnung, die verdrängten Motive, die ästhetische Haltung, das musikalische Können, den nirgendwo ansatzweise beschriebenen Personalstil eines der bedeutendsten Komponisten des 20. Jahrhunderts. Denn das ist Gottfried von Einem, und das wäre er auch ganz ohne seine Opern, und um dies zu erkennen, bedürfte es unvoreingenommener Wahrnehmung, ehrlicher Beschreibung des Beobachteten und eines gewissen Mindestmaßes an Wachheit, Anstand, Empathie und Menschlichkeit.

All das findet sich bei Gottfried von Einem, und nichts davon bei Joachim Reiber. Und so gerät eine schillernde Dame, die schon in den kafkaesken Fängen opponierender politischen Interessen fast aufgerieben worden wäre (das gegen sie in Frankreich in Abwesenheit erlassene Todesurteil wurde nach dem Kriege, nach langer Haft, in einen Freispruch umgewandelt), posthum in die Mühlen der pseudophilosophisch dilettantischen Demontage-Kampagne des profilierungsbesessenen Deuters: Gerta Louise von Einem, die Mutter des Komponisten, der viele Menschen verdankten, dem Zugriff der Nazi-Schergen entkommen zu sein, wird – als Erscheinung mit primitivem Moralismus nicht fassbar – der Nachwelt als eine willkürlich böse Frau präsentiert. Als wäre Herr Reiber dabei gewesen. Dabei hat er nur, bar jeglicher Selbstreflektion, im Nachlass – oder dem, was davon übrig geblieben ist – herumgewühlt und aus den Puzzlestücken seine willkürlich schlussfolgernde Version zusammengestellt. Die öffentlich-rechtliche Tagespresse, die so gern den selbsternannten Experten, die sie anscheinend von der Notwendigkeit der unvoreingenommenen Überprüfung der Faktenlage im Licht der Geschichte freistellen, glaubt, übernimmt dann meist in ihrer oberflächlichen Schnelllebigkeit nur zu gerne vorschnell solche Urteile, wie bereits bedauerlicherweise geschehen in der Buchbesprechung im Deutschlandfunk. Von Hinterfragung, von Achtung vor einem Menschenleben, das wie jedes gewiss außer Licht auch Schatten beinhaltete, keine Spur. Der Leser wird zur geistigen Komplizenschaft eingeladen. Wenn er nicht hellwach ist, bleibt der Klebstoff der Denunziation haften. Vielleicht ist in Wahrheit diese Art der raffiniert eloquenten Anschwärzung ja, über das offenbar tiefsitzende Ressentiment von Herrn Reibers Frauenfeindlichkeit hinaus, ein Ausdruck dessen, was wir als ‚das Böse’ zu benennen versuchen. Im Gewand des ‚Guten’, wie so oft. Und möglicherweise weiß der Täter gar nicht, was er tut. Vor den Folgen bewahrt uns solche Unschuldsvermutung nicht. Man möchte weinen vor Beschämung.

[Annabelle Leskov, Dezember 2017]

Musikgeschichte der 1920er Jahre aus erster Hand

UE – Die ersten 37 ½ Jahre – Eine Chronik des Verlags von Hans W. Heinsheimer (1975)
erstmals herausgegeben von Eric Marinitsch
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Universal Edition, Wien 2017 (UE 26333)
ISBN: 9783-7024-75130
Die Universal Edition, der legendärste Verlag neuer Musik im 20. Jahrhundert und bis zur nationalsozialistischen Gleichschaltung und ‚Säuberung’ Österreichs das Mekka der fortschrittlichen und der substanziellen konservativen Komponisten gleichermaßen, wurde im Jahr 1900 in Wien als Aktiengesellschaft gegründet. Nach eher gewöhnlichem Beginnen setzte sich ein Mann durch, der als Musikverleger das 20. Jahrhundert prägen sollte wie kein anderer: der in Budapest gebürtige Emil Hertzka (1869-1932), der eine unvergleichliche Fähigkeit besaß, Originalität und Qualität von Derivativem und Oberflächlichem zu unterscheiden – und dies, obwohl er gar keine solide musikalische Ausbildung genossen hatte. Bis zu seinem Tode 1932 leitete Hertzka die Geschicke des illustren Hauses und musste die Verhöhnung und Verhinderung weiterer Pionierarbeit durch Hitlers eifrige Schergen nicht mehr erleben. 1923 trat Hans Walter Heinsheimer (1900-93) in den Verlag ein und wirkte bis 1938 als Leiter der Bühnenabteilung. Daher sollte er später der wichtigste Zeitzeuge der stürmisch kreativen Jahre sein und wurde 1975 – längst nach New York ausgewandert und seit 1972 Vizepräsident des dortigen Musikverlags Schirmer – von der UE (so das allgemein verwendete Kürzel für Universal Edition) gebeten, eine Chronik zu schreiben. Diese wurde aus nicht bekannten Gründen nie fertig, wodurch es auch zu keiner Veröffentlichung kam. Doch immerhin: bis zum Tode Hertzkas erzählt Heinsheimer seine Geschichte, mit vielen Vorausblicken auf weitere Ereignisse der dreißiger Jahre, und mit dem Rückblick auf die frühen Jahre, wo mit der Inverlagnahme von Symphonien Gustav Mahlers und – postum – sämtlicher Bruckner-Symphonien das Qualitätsmaß gesetzt und der Grundstein zum Welterfolg gelegt wurde.
Heinsheimer war ein vorzüglicher Erzähler, mit Intellekt, Beobachtungsgabe und der Häme, ohne die sich viele von uns einen reüssierenden Wiener (Heimsheimer war Karlsruher!) gar nicht vorstellen können. Heinsheimers Stärke war auf jeden Fall auch seine fachliche Beschlagenheit und seine ausgeprägte Geschäftstüchtigkeit. Seine Schwäche war ein nicht weniger ausgeprägter Zynismus, der sich darin niederschlug, dass er nicht die gleiche, erfolgsunabhängige Liebe zur Sache hatte wie sein legendärer Chef Hertzka – an welchem Heinsheimer den Riecher für das Richtige bewunderte, den er – aufgrund dessen nicht vorhandener Musikausbildung – als „instinktiv“ bezeichnete. Das würde ich dann doch eher als intuitiv und eben auch als Niederschlag eines hellwachen Bewusstseins beschreiben wollen! Natürlich konnte ein Heinsheimer Hertzkas zutiefste Schätzung für Heinrich Kaminski nicht verstehen, und entsprechend konnte er sich auch nicht aus Überzeugung dafür einsetzen. Ein Name wie Ottorino Respighi (immerhin ist das wunderschöne Concerto gregoriano bei der UE erschienen) kommt gar nicht vor, und auch der als Komponist gleichermaßen geniale Eduard Erdmann wird nur als Pianist Krenek’scher Werke erwähnt. Überhaupt schien Heinsheimer überall da die Überzeugung zu fehlen, wo es nicht wie am Schnürchen lief – aber das ist ja auch typisch für den Leiter einer Bühnen- (und eben nicht Konzert-) Abteilung.
Diese Chronik, von Herausgeber Eric Marinitsch liebevoll und sorgfältig mit vielen weiteren Zusatzdokumenten versehen, ist interessant und aufschlussreich für jeden, der sich mit der Musikgeschichte zwischen den beiden Weltkriegen befasst, und auch für alle, die mehr über die Menschen hinter den Komponisten wissen wollen – man erfährt vieles über Schönberg, Alban Berg, Schreker, Schillings, Bartók, Janácek, Krenek, Eisler, Szymanowski, Webern, aber auch heute so unbekannte Figuren wie Julius Bittner oder Erwin Stein, der eine Schlüsselfigur im Verlag war und hinter der Zeitschrift ‚Pult & Taktstock’ stand, werden hier pittoresk und eingehend beschrieben. Herausgekommen ist ein erstrangiges Zeitdokument, das ich jedem empfehlen möchte, der gerne hinter die Kulissen des Musiklebens in der stürmischsten und kreativsten Zeit des Umbruchs im vergangenen Jahrhundert schauen möchte. Natürlich feiert sich damit der Verlag auch selbst, aber dazu besteht unstrittig nach wie vor Anlass, denn welches vergleichbare Haus hätte schon solch künstlerisch goldene Jahre in einer solchen Vielfalt vorzuweisen wie die Universal Edition. Nein, das ist keine Eigenwerbung, das ist ein substanzieller Beitrag zur Musikgeschichtsschreibung vor allem jener wilden, unsicheren, revolutionär aufrüttelnden Jahre, die in Deutschland als ‚Weimarer Republik’ in die Geschichtsbücher eingegangen sind. Und es ist Musikgeschichte aus erster Hand, von einem, der sich, ohne sich selbst als Komponist, Aufführender oder Kritiker in der Öffentlichkeit behaupten zu müssen, mittendrin in dem Treiben befand und maßgeblichen Einfluss – insbesondere auch als Ratgeber in Libretto-Fragen – auf die Tonschaffenden ausübte. Zugleich ist es dadurch ein faszinierender, oftmals kaltschnäuziger, bei entsprechender Sympathie auch wieder liebevoll schildernder Blick hinter die Kulissen der mondän schillernden Musikwelt einer legendären Epoche.
[Christoph Schlüren, November 2017]

Beethovens ‚Eroica’ „mit 180 Instrumentisten“

Symphonierezeption in deutschsprachigen Periodika von 1798 bis 1850. Eine Quellensammlung in 3 Bänden, herausgegeben von Jin-Ah Kim und Bert Hagels

Ries & Erler, Berlin 2017; ISBN: 9783876760339

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Dies ist eine äußerst verdienstvolle Publikation in 3 Bänden mit fast 1.400 Seiten. Bis auf ein kurzes, sachlich erläuterndes Vorwort enthält sie ausschließlich zeitgenössische Quellen, die mit einem Minimum ergänzender Kommentare versehen sind. Was in deutschen Periodika zwischen 1798 und 1850 erschienen ist und von den beiden herausgebern ausfindig gemacht werden konnte, ist hier an Kritiken symphonischer Musik enthalten – mit Ausnahme dessen, was bereits 1987 in Stefan Kuntzes ‚Ludwig van Beethoven. Die Werke im Spiegel seiner Zeit’ und 2002 in ‚Hector Berlioz in Deutschland. Texte und Dokumente zur deutschen Berlioz-Rezeption’ (herausgegeben von Günter Braam und Arnold Jacobshagen) zugänglich gemacht wurde. Trotzdem gehören natürlich auch in dieser dreibändigen neuen Kompilation Beethoven und Berlioz zu den meistrezensierten Komponisten (Beethoven mit 164 und Berlioz mit 45 Seiten), und es dürfte die Kenner überwiegend nicht überraschen, wer sonst hier viel Platz einnimmt: Félicien César David (vor allem dank seiner symphonischen Ode ‚Le Désert’), Niel Wilhelm Gade, Joseph Haydn, Johann Wenzel Kalliwoda, Franz Lachner, Felix Mendelssohn Bartholdy, Wolfgang Amadeus Mozart, Ferdinand Ries, Franz Schubert, Robert Schumann und Louis Spohr (Letzterer auf 107 Seiten!) – wobei zu vermuten ist, dass Spohr, Kalliwoda und Ries auch aufgrund der editorischen Arbeit von Herausgeber Hagels besonders ins Blickfeld genommen wurden. Zwei heute als Symphoniker kaum bekannte Namen sind frappierend umfangreich dokumentiert: der als Organist berühmte Breslauer Meister Adolf Friedrich Hesse (1809-63, Schüler Spohrs und Lehrer Widors, Guilmants und Lemmens’, auf 21 Seiten) und der Böhme Johann Friedrich Kittl (1806-68, Schüler Tomascheks, auf 24 Seiten). Doch kann man Kittels Zweite, seine Jagd-Symphonie, auf Youtube nachhören, und sie beweist sein Können und hat Elan und Eleganz. Hesses Symphonien im gelehrten fugierten Stil hingegen, deren scholastische Ausrichtung immer wieder beanstandet wurde, wie auch die offenkundige Anlehnung an seinen Lehrer Spohr (vergleiche hierzu die beiden Kritiken Robert Schumanns, der durchaus zunehmende Eigenständigkeit erkennt), sind für uns ein Rätsel, bei dessen Lösung das Studium seiner Orgelmusik nur bedingt helfen dürfte. Wenn wir nur wüssten, was wirklich der genaueren Erforschung wert ist! Hierunter dürfte auf jeden Fall der genialische Schubert-Freund und Salieri-Schüler Anselm Hüttenbrenner zu sählen sein, dessen ungedruckt gebliebene E-Dur-Symphonie 1819 in einer Grazer Besprechung gewürdigt wird. Die wissenschaftliche und editorische Erschließung seiner Orchesterwerke steht noch aus, und ich habe keinen Zweifel, dass dies ein lohnendes Kapitel ist, das uns auch zeigen wird, in welcher Umgebung wir Schuberts Schaffen betrachten können.

Im Großen und Ganzen ist, nun wirklich nicht überraschend, festzustellen, dass der Beruf des Musikkritikers damals mit mehr Ernst und Bildung betrieben wurde, und zugleich herrschte auch schon vor 1850 ein erhebliches Gefälle, was uns immer wieder besonders froh sein lässt, wenn sich eine echte Autorität wie Robert Schumann zu Wort meldet. Auch fällt auf, dass man größeres Interesse hatte, die Kritiken der Kollegen zur Kenntnis zu nehmen, was sich andererseits bei weniger selbständigen Kommentatoren in der Übernahme von Vorurteilen niederschlug – aber auch das kennen wir von heute, wenngleich die meisten Kritiker unserer Zeit gar nicht mehr wissen, von wem sie welche Ansichten übernehmen.

Die vorliegende Anthologie ist besonders hilfreich sowohl für all jene, die mehr über die Rezeptionsgeschichte bestimmter Komponisten und Orchesterwerke wissen wollen, als auch für die Neugierigen, die sich Inspiration für die Entdeckung heute völlig unbekannter Meister und Symphonien holen wollen. Natürlich spielte bei der kritischen Betrachtung die scholastische Ausbildung eine dominierende Rolle, und vieles, was wir heute als genial oder eigentümlich wahrnehmen, erschien den damaligen Beurteilern als verworren und befremdlich, wie auch vieles, was einst als hochbedeutend empfunden wurde, heute Leere und Prätention offenbart. Die seriösen Kritiker haben stets die natürliche und einzig ernstzunehmende und faire Reihenfolge von 1) Beobachten, 2) Beschreiben und 3) (gegebenenfalls) Beurteilen einzuhalten gewusst, und doch ist diese aufrichtige und verantwortungsbewusste Haltung, in der sich Selbstbewusstheit mit Bescheidenheit vereint, zu keiner Zeit allgemein verbreitet gewesen – denn dann kann der Kritiker nicht mehr eine Kompetenz vorgaukeln, die nicht in der Bemühung um Objektivität und dem Respektieren der eigenen Grenzen des Urteilsvermögens verankert ist.

Natürlich gewährt diese Sammlung auch viele Einsichten in höchst Kurioses, und wir erfahren beispielsweise, dass der Hamburger Opernkapellmeister Carl August Krebs 1841 Beethovens ‚Eroica’ „mit 180 Instrumentisten in zwei Gesammtproben’ einstudierte und aufführte. Auch das ist „historische Aufführungspraxis“, wenngleich im 24. Jahr nach dem Tod des Komponisten!

Es liegt hier mit Überraschungen gespicktes, in seinem Umfang respektgebietendes Kompendium vor, das selbstverständlich weiter komplettiert werden kann, uns jedoch erstaunliche Einsichten in die Musikkultur der Zeit gewährt. Und wir möchten wünschen, dass es eine Fortsetzung gibt, die wohl die Jahre 1851-1900 umfassen könnte. Wer sich für die Aufführung und Komposition von Orchestermusik der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum und ihre Rezeption interessiert, findet hier jedenfalls einen reichhaltigen Fundus vor, der alle Erwartungen an ein solches Unternehmen übertrifft.

[Christoph Schlüren, Oktober 2017]

Zwischen zwei Welten

Der russische Pianist  ANDREJ HOTEEV – Zwischen zwei Welten
Herausgegeben von Gabriele Helbig

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Staccato Verlag ISBN 978-3-932976-70-4

Nie vorher gehört, den Namen Hoteev, aber entsprechend neugierig machte ich mich an die Lektüre dieses Buches. Dass Hoteev die Original-Fassungen der drei Klavierkonzerte von Pjotr Ilitsch Tschaikowsky entdeckt hat und als erster auch einspielte, war die erste spannende Information, denn eigentlich glaubt doch jeder, dass die Fassungen, die man – vor allem vom 1. und 2. Konzert – kennt, dass diese die „richtigen“, die originalen sind, aber weit gefehlt…

Also wollte ich doch mehr wissen über einen russischen Pianisten, der seit 1993 in Hamburg zu Hause ist, dessen Werdegang eben in diesem sehr detailreichen und spannenden, gut zu lesenden Buch nunmehr dankenswerterweise in deutscher Übersetzung dargestellt wird: vor allem durch ihn selber, anscheinend angeregt durch die Herausgeberin  Gabriele Helbig, der an dieser Stelle schon einmal ein Lob gebührt. Denn was der Leser nicht nur über den Pianisten Hoteev erfährt, sondern vor allem über die russische Mentalität, Lebensart, Pädagogik und sonstige Umstände im Leben eines Künstlers, eines Pianisten, das ist so informativ wie unterhaltsam und lässt die Gegensätze zwischen hier und dort sehr klar und machvollziehbar werden.

Natürlich kommen alle wichtigen Zeitgenossen, Lehrer, Musiker und auch die entsprechenden Politiker vor, die es ja teilweise – vor allem durch die kafkaesk allmächtige „„Bürokratia“ (sozialitische Bürokratja) unzähligen Künstlern verdammt schwer gemacht hat. Man denke nur an Schostakowitsch oder Weinberg…

Dass selbst so berühmte Männer wie Svjatoslav Richter in einer winzigen Wohnung hausen musste, wie viele andere seiner Kollegen samt ihren Familien auch, können wir uns heute nur schwer vorstellen. Dem gegenüber steht dennoch eine Art von Verbundenheit, wie sie vermutlich nur ein solches System als Gegenströmung hervorbringt.

Hoteevs Urteile über seine „Favoriten“  – Richter und Gilels z. B. –, aber auch über seine Lehrer, von denen er allerdings eine ganze Anzahl „verschliss“, wenn seine Mutter, über die er den Kontakt zur deutschen Sprache und zur deutschen Kultur bekam, mit ihnen nicht mehr so recht einverstanden war, gehen über übliches ”name-dropping“ weit hinaus. Man spürt die ganze Liebe und Hochachtung, die Verbundenheit mit ihnen allen sehr deutlich. Die Unterschiede zwischen der „Landstadt“ St. Peterburg und der „Hauptstadt“ Moskau spielen eine große Rolle.

Mit am spannendsten allerdings ist dann die Suche nach den Originalen der drei(!) Klavierkonzerte Tschaikowskys, an denen der Herausgeber und bedeutende Komponist Sergej Tanejew in besten Absichten die meisten „Sünden“ beging, die teilweise allerdings auch auf den Zustand der hinterlassenen Manuskripte zurückzuführen sind. Jedenfalls ist es Hoteev gelungen, die originalen Fassungen nach vielen Recherchen und Forschungen zu rekonstruieren und auch einzuspielen.

Ein sehr empfehlenswertes Buch für alle, denen Klaviermusik und die Biographie eines ihrer bemerkenswertesten Zeitgenossen am Herzen liegt. Sie werden die Lektüre nicht bereuen.

[Ulrich Hermann, September 2017]

Nicht unterkühlt [Rezensionen im Vergleich]

FINNLANDS DIRIGENTEN – VESA SIRÉN
Von Sibelius und Schnéevoigt bis Saraste und Salonen

Leskov0008
SCOVENTA 2017; ISBN 978-3-942073-42-4

Ein dicker, fast 1000 Seiten umfassender Wälzer über Finnlands Dirigenten? Wer liest denn so was? Habe ich mich am Anfang auch gefragt, als ich das kiloschwere Werk in der Hand hielt… Aber nach kurzer Lektüre war das gar keine Frage mehr, eher: Wie kann man in der heutigen klassischen Musikwelt ohne die finnische „Übermacht“ an Dirigenten überhaupt so ein Buch nicht schreiben und dann eben auch nicht lesen. Denn dem Autor Vesa Sirén gelingt es nicht nur, diesem Phänomen auf den Grund zu gehen, nein, dieses dicke „Ding“ liest sich ausgesprochen gut und trotz aller Materialfülle erstaunlich flüssig und unterhaltend. Dazu tragen auch die vielen umfassenden Interviews und Statements sowohl der Dirigenten als auch der betroffenen Musiker bei, die dem Ganzen das Akademische oder Langweilige austreiben. Ob man einem, und welchem der vorgestellten Meisterdirigenten man nun den Vorzug gibt, ob den Älteren wie Kajanus, Sibelius oder Schnéevoigt oder den Jüngeren wie Salonen oder Saraste oder den noch Jüngeren wie Oramo, Lintu, Storgårds oder Mälkki, alle werden mit großer Ausführlichkeit und großem Sachverstand vorgestellt, kommen teilweise auch selbst zu Wort und geben dem ganzen Buch eine „undeutsche“ Leichtigkeit, die man sich bei Büchern dieser Art des Öfteren wünscht.

Wer also dem Thema der heute in aller Welt vertretenen finnischen Dirigenten nachspüren will, darüber hinaus einen tiefen Blick in die finnische Mentalität und Art des Vermittelns und Weitergebens erfahren will, der ist mit diesem dicken Buch bestens bedient. Und erfährt unter anderem, warum die Überlegenheit so sich entwickeln konnte, denn Finnland hat nicht allein das beste pädagogische System, was das Schulwesen angeht, wie alle Pisa-Studien seit Jahren zeigen, auch die Musik-Vermittlung ist allen anderen Ländern meilenweit voraus. Warum, diese Frage wird im Buch von Vesa Sirén genauestens beantwortet und zeigt auch, warum nicht nur finnische Dirigenten so begehrt sind: auch finnische Musiker – z. B. hier an deutschen Musikhochschulen – genießen als Lehrer und Musiker einen besonders guten Ruf.

Was läge also näher, als dieses umfassende Buch den entsprechenden Lesern dringend ans Herz zu legen, was hiermit geschehen ist.

[Ulrich Hermann, Juni 2017]

Standardwerk eines Musiktauben zum finnischen Dirigentenphänomen [Rezensionen im Vergleich]

Vesa Sirén: Finnlands Dirigenten. Von Sibelius und Schnéevoigt bis Saraste und Salonen (finnische Erstausgabe von 2010 erweitert, gekürzt und aktualisiert vom Autor und übersetzt von Ritva Katajainen, Benjamin Schweizer und Roman Schatz)

Leskov0008
Scoventa Verlag, 2017; ISBN: 9783942073424

Nichts läge näher und mehr im musikalischen Trend der Zeit, als ein Buch über die Dirigenten (übrigens auch die Komponisten) Finnlands zu schreiben: ein Land mit ca. 5 Millionen Einwohnern produziert mittlerweile mehr international bedeutende Kapellmeister als Deutschland, Österreich, Frankreich, die Schweiz und Italien zusammen. Das ist ein bisschen so, als kämen die alle aus dem Großraum Berlin oder Wien, aus Paris oder Rom… Vesa Sirén, alteingesessener Kritiker bei einer der beiden großen Tageszeitungen in Helsinki und lange schon auf den Fersen der Maestri, hat sich an die Aufgabe gewagt und ein hinsichtlich Informationsmenge und historischer Panoramasicht beeindruckendes Kompendium von fast 1.000 Seiten verfasst. Für alle, die durchblicken wollen beim finnischen Dirigentenphänomen, ist dies ein Standardwerk, und es ist zugleich für jedermann unterhaltsam und in vieler Hinsicht hochinteressant zu lesen. Geschrieben in laienhaft feuilletonistischer Manier, liegt die große Stärke des Buchs in der mühevoll zusammengetragenen Fülle von Originalzitaten, historischen Fakten, Kommentaren von Zeitzeugen (Dirigentenkollegen, Orchestermusiker, Kritiker), was äußerst wertvoll ist, und die biographischen Beschreibungen der Karrieren und Wechselwirkungen.

Also: das Buch lohnt die Anschaffung, wenn man Bescheid wissen und mitreden will, wenn man sich über einzelne Dirigentenpersönlichkeiten kundig machen will (höchst lesenswert sind z. B. die Kapitel über Kajanus, Sibelius, Schnéevoigt, Funtek, Berglund oder Segerstam). Doch zugleich ist es mit Skepsis, mit Vorsicht und Abstand zu lesen. Denn fortwährend beweist Sirén entwaffnend, dass er von Musik so gut wie gar nichts versteht. Peinliche Fehlurteile kommen stapelweise, und die amateurhaft-kompetenzgierige Argumentation bei der Besprechung von Aufnahmen und der Schilderung von Konzerteindrücken zeigt auf Schritt und Tritt, dass nur musikfremde Konventionalität und peinlich einengende Ideologien, Prominenz und das Absichern an vermeintlichem common sense die Grundlage der subjektiven Urteile bilden. Daher wird natürlich Esa-Pekka Salonen in peinlicher Weise vergöttert, und andere – wie Hannu Lintu oder gar John Storgårds – kommen ziemlich bis offenkundig schlecht weg. Dafür gibt es jede Menge Gossip, der Ton des Autors neigt zu verächtlicher Häme, wo der wahrscheinliche Rückschlag sich in Grenzen hält. Sirén ist ein Angeber und Feigling, und im Grunde versteht er wie viele Kritiker schlicht nicht die Grundlagen dessen, wovon er schwadroniert. Anscheinend mangelt es nicht nur hierzulande an verantwortungsbewusst kompetenten Kritikern! Dass John Storgårds’ bahnbrechende Gesamtaufnahme der Sibelius-Symphonien mit dem BBC Philharmonic in einem Satz als „Manchester-Tunke“ herabgewürdigt wird, schlägt dem Fass den Boden aus. Und ein weltweit unübertroffener Meister der Streichorchester-Kultivierung und Pionier substanziellen Repertoires wie Juha Kangas, der Gründer des Ostrobothnian Chamber Orchestra, wird mit hauptstädtischer Ignoranz so nebensächlich und unspezifisch abgehandelt, dass man sich fragen muss, ob die finnischen Meinungsmacher überhaupt etwas von dem mitbekommen, was in ihrem Land abgeht. Das geht so weit, dass Kokkola auf der Karte der wichtigsten finnischen Musikstädte nicht auftaucht. Nein, Vesa Sirén ist entweder ein bösartig schwatzender Manipulateur oder einfach nur musiktaub, ahnungslos autoritätshörig und dumm. Der Kaiser ist nackt. Trotzdem, all dessen eingedenk, ist das Buch zwar oft sehr ärgerlich, aber doch höchst informativ zu lesen. Und es gibt (noch) keine Alternative zu dieser geschickt und flüssig formulierten Fleißarbeit. Und was er nicht beurteilt oder proportional entstellt, also was objektive Tatbestände betrifft, ist dieses schön und solide aufgemachte Buch jetzt die maßgebliche Quelle für den deutschen Leser.

Folgende Dirigenten werden behandelt: Robert Kajanus, Jean Sibelius, Georg Schnéevoigt, Armas Järnefelt, Leo Funtek, Toivo Haapanen, Martti Similä, Tauno Hannikainen, Simon Parmet, Nils-Eric Fougstedt, Jussi Jalas, Paavo Berglund, Jorma Panula, Ulf Söderblom, Leif Segerstam, Okko Kamu, Atso Almila, Esa-Pekka Salonen, Jukka-Pekka Saraste, Osmo Vänskä, Juha Kangas, Sakari Oramo, Mikko Franck, Pertti Pekkanen, Petri Sakari, Ari Rasilainen, Markus Lehtinen, Tuomas Ollila, Tuomas Hannikainen, Hannu Lintu, John Storgårds, Susanna Mälkki, Ralf Gothóni, Olli Mustonen, Jaakko Kuusisto, Pekka Kuusisto, Jari Hämäläinen, Ville Matvejeff, Boris Sirpo, Nikolai van der Pals, Miguel Gómez-Martinez, Muhai Tang, Jean-Jacques Kantorow, Sergiu Comissiona, Leonid Grin, Valery Gergiev, Pietari Inkinen, Dima Slobodeniouk, Santtu-Matias Rouvali

[Annabelle Leskov, Juni 2017]

GINASTERA und das Eldorado der Musik

Volker Tarnow – GINASTERA und das Eldorado der Musik

Boosey & Hawkes, Berlin 2017; ISBN 978-3-7931-4164-8

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Vor circa einem halben Jahr bekam ich Nicolas Slonimskys Autobiographie „Perfect Pitch“ in die Hände und las sie mit allergrößtem Vergnügen. Ich kannte vorher weder den Autor noch die Rolle, die er in der Musik des 20. Jahrhunderts spielte. Sein „zweites Bein“ als Verfasser verschiedenster lexikographischer Bücher bescherte mir kurze Zeit später sein „Music of Latin Amerika“. Es öffnete mir die Augen für die ungeheure Fülle mir bis auf Villa-Lobos und wenige andere unbekannter Musiker und ihrer Musik. Diese Tatsache teile ich vermutlich mit den meisten anderen Europäern.

Und da kam im April 2017 das Buch über den größten argentinischen Komponisten Alberto Ginastera. Von dem hatte ich bei einem Konzert hier in München von Hugo Schuler, dem jungen argentinischen Pianisten, die „Danzas Argentinas“ gehört. Der Name Ginastera war mir als Gitarrist durchaus geläufig, aber von seiner Musik hatte ich eben bislang wenig bis gar nichts gehört.

Welche Rolle Alberto Ginastera in der argentinischen und allgemein in der amerikanischen Musik spielte und spielt, das ist das große Thema in Volker Tarnows neuem Buch. Wie auch seine beiden anderen Bücher über „“Das romantische Schweden“ und über „Jean Sibelius“ liest es sich hervorragend.

Nimmt man es in die Hand, so wundert man sich zu allererst einmal über das Gewicht. Man ist bei heutigen Büchern selten überrascht, was das Papier angeht, aber bei Volker Tarnows neuem Buch hat der Verlag (Ginasteras Exklusivverlag Boosey & Hawkes) weder am Papier noch an der Aufmachung gespart. Hin und wieder denkt man, man hätte zwei Seiten umgeblättert, bis einem aufgeht, dass es wirklich so ein exquisites Papier ist. Das gelbe Lesebändchen als Orientierungsgeber gehört natürlich auch dazu.

Neben den „Äußerlichkeiten“ überzeugt das Buch aber vor allem durch seinen Inhalt, durch die Bilder und Fotografien, durch Lebenslauf, Werkverzeichnis und Anmerkungen. Bei allem ausgebreiteten Wissen über Leben, Werk, Werdegang und die einzelnen Kompositionen liest es sich flüssig und ist durchaus unverkennbar mit dem Tarnow’schen Humor gewürzt, der mir auch in seinen anderen beiden Büchern schon so gut gefallen hat. Natürlich kennt sich der Autor nicht nur in musikalischen Dingen hervorragend aus, er lässt vor uns den ganzen Reichtum der südamerikanischen Musikkultur entstehen, angefangen mit der präkolumbianischen über die peruanische bis zur aktuellen argentinischen. Ginasteras Leben wird im Zusammenhang mit der politischen Situation in Buenos Aires und dem ganzen Land geschildert, seine Aufs und Abs als Musiker, auch als Leiter der verschiedensten musikalischen Institutionen, seine Auslands-Aufenthalte und die Freundschaften mit den verschiedensten Musikern vor allem in den USA, später dann auch in Europa, wo er in Genf mit seiner zweiten Frau – der Cellistin Aurora Nátola – lebte.

All das wird mit leichten Ton geschildert, dazwischen natürlich die Beschreibung seiner einzelnen Kompositionen, seien sie für Orchester, seien sie kammermusikalisch, seien sie für die Bühne oder für den Film. Bei einem Lebenswerk von „nur“ 60 Opera ist die Verschiedenheit der Kompositionen doch erstaunlich, auch drei gewaltige Opern sind dabei, und das Werkverzeichnis listet sie natürlich alle chronologisch auf. Die Verbindung – mal mehr, mal weniger – zur ursprünglichen indianisch oder invasorisch gauchoesk gefärbten indigenen Musik und ihren Instrumenten wird ausführlich dargestellt, auch die Verbindung zu seinen Kollegen in Brasilien oder Mexiko, in Peru oder Kolumbien.
Und Tarnow räumt mit einem Vorurteil auf, welches die Musikwissenschaft lange immer wieder aufs Neue tradierte: Auch die Inkas kannten weit mehr als die in der Forschung aufgedeckte Pentatonik primitivster Art. Wobei wir natürlich leider ob der oftmals schlechten Quellenlage originale Inka-Musik nur in geringem Maß erkunden können. Zu barbarisch haben die Eroberer in Süd- und Mittelamerika gehaust und gewütet. Was heute an „Volksmusik“ aus den Andenregionen und von anderswoher zu uns kommt, ist weitestgehend bloßer Kommerz wie die nervenden Bläsergruppen vor den Kaufhäusern.

Was dieses neue Buch so spannend macht, ist die Tatsache, dass es einen Komponisten umfassend sichtbar und erlebbar macht in seinem ganzen Lebensumfeld und seinem Werdegang. Die nächste Stufe wird also sein, dass ich die Musik dieses bedeutendsten argentinischen Komponisten neben dem viel einfacheren Astor Piazzolla suchen und hören werde. Denn Volker Tarnows Buch hat das geschafft, was ein Buch über ein staunenswertes „Phänomen“ – einen bisher ziemlich unbekannten Musiker namens Alberto Ginastera – so lebendig werden lässt, dass das Anhören seiner Musik der zwangsläufig nächste Schritt sein muss.

[Ulrich Hermann, Mai 2017]

Zielen auf Unausgeschöpftes

Mensch und Musik von Hans Erik Deckert (Novalis-Verlag, 2016)
Novalis; ISBN: 978-3-941664-48-7

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„Mensch und Musik“ zielt auf in der Zeit nach unserer Jahrtausendwende auf neue Weise Unausgeschöpftes. Die Essays des Buches aus den Jahren 1981 bis 2015 widmen sich bei hohem geistig-seelischem Anspruch dem musikalischen Weg zum Selbst, zum teamwork, zur Gemeinschaft, der sozialen Potenz der Musik, der anthropologischen Potenz der Musik, mithin spirituellen Potenzen der Musik.

Die scheinbar nüchterne Phänomenologie der Tonalität wird gestreift bei der Erörterung der Intervalle, der tonalen Kohärenz, der Bildung von Tongestalten und musikalischer Formprozesse. Die Funktion derartiger Elemente der Musiklehre und zudem die Funktion der Notenbeispiele des Buches (Beethoven, Mendelssohn, Schostakowitsch, Martinu) erfüllen sich bei Deckert erst dann, wenn sie sich in einem höchst verantwortlichen Umgang  realisieren – einem erneuerten Umgang mit und in der Musikkultur. Deckert arbeitet im besten Sinne idealistisch heraus, was Musik, die ihren Namen verdient, eigentlich heißt, bedeutet und fordert! Dezent verbindet der Autor dies mit Fähigkeiten und Werten wie Staunen, Hingabe, Demut, Dankbarkeit, Heiligkeit. Nicht umsonst erscheint Arnold Schönbergs Wort vom „Priester der Kunst“ als kardinales Zitat.

Damit verbunden ist für Deckert die Abwendung von Unterhaltung und die Kritik oder Verdammung des heute fast omnipräsenten Happy Sound, der die Menschen bei vielerlei täglichen Verrichtungen vielerorts umspült – solange man nicht mit Deckert versucht, gegen den ein oder anderen modischen mainstream zu schwimmen.

Deckerts Abgrenzung von Rock und Pop muss man zumindest dezidiert, ja radikal nennen. Rock-Musik und ihre Varianten werden im Anschluss an den 1940 geborenen Jan W. Morthenson unter den Verdacht faschistoider Gesellschaftsbildung gestellt (auch knüpft Deckert an das Diktum „Hinrichtung der Sinne“ an, das Urs Frauchiger geprägt hat , mit dem Deckert übrigens auch die Hochschätzung Sergiu Celibidaches verbindet).

Gerne möchte ich Deckert zustimmen, dass jedwedes Militärische (ein Musiker wie Arturo Toscanini wird nicht explizit genannt, könnte aber mitgemeint sein) das Gegenteil von Musik im emphatischen Sinne ist.

Wenn Deckert die Gegenwart in einer tiefen Krise sieht, werden meines Erachtens sehr berechtigte Sorgen wachgerufen durch Stichworte wie Reizüberflutung und eine Abstumpfung, deren musikalische Kehrseite mancherorts interpretatorische Egomanie war. Abstumpfung, Leerlauf, Trägheit, Wertezerfall umschreiben einen Teil dessen, wodurch Deckert sich herausgefordert fühlt. In der Verbannung der popular music indessen geht der Autor, der Rudolf Steiner verpflichtet ist, (mir) zu weit.

Hier gebe ich zu Bedenken: Kann nicht auch ein chorisch arrangierter Satz wie „Viva la vida“ (Coldplay) oder eine konzertant freilich immer nur elektrisch verstärkt dargebotenes Songbook etwa einer Melody Gardot gerade unsere heutigen Jugendlichen zu Erfahrungen führen, die auf die vielleicht noch tiefere Welt des Musikalischen wenigstens vorzubereiten vermögen? Das Sprichwort, demzufolge man manchmal mit dem Teufel über die Brücke gehen muss, bis man drüben ist, bliebe Deckert wohl eher fremd. Vielleicht ist aber gerade das digitale Zeitalter voller solcher Notwendigkeiten?

Insgesamt ist diesem Buch ein Leserkreis zu wünschen, der im Kreis von Instrumentallehrern, Lehrern an allgemeinbildenden Schulen und Instituten Aufmerksamkeit erregen möge. Deckert, der als junger Mann noch bei Pablos Casals und in Frankfurt bei Kurth Thomas gelernt hat, gibt genügend Anregung – nicht zuletzt bei der (ent)spannenden Frage nach den Vorteilen der Stimmtonhöhe von 432 oder 435 Hertz, mit der der Autor aufgewachsen war.

[Matthias Thiemel, Januar 2017]

Treuer Wegweiser im Abenteuer der Musik

„Mensch und Musik“ von Hans Erik Deckert
Novalis; ISBN: 978-3-941664-48-7

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Unter dem Titel „Mensch und Musik“ hat Hans Erik Deckert ein für die heutige Zeit aufrüttelndes Buch geschrieben, eine Art Testament seines über siebzigjährigen, vielfältigen musikalischen Wirkens. Als Cellist, Dirigent und Hochschulprofessor kann er in seinem Erfahrungsschatz bis zu Pablo Casals und Wilhelm Furtwängler zurückblicken. Darin zeigt sich eine außergewöhnliche Biographie.

„Mensch und Musik“ ist ein brennendes Plädoyer für die Musik, um den Menschen von heute wieder bewusst zu machen, wovon eigentlich die großen Musiker seit jeher wussten und was sie zielstrebig verfolgt haben: Von J.S. Bach ist uns überliefert: „Alle Musik soll zur Ehre Gottes und zur Rekreation des Gemüts sein. Wo dieses nicht in Acht genommen wird, da ist’s keine eigentliche Musik, sondern nur ein teuflisches Geplärr und Geleier“. Beethoven sagte: „Musik ist höhere Offenbarung als alle Weisheit und Philosophie“. Auch bei Denkern wie Rudolf Steiner oder Goethe findet Deckert klare Bekenntnisse zur Musik, und schmückt damit durch aussagekräftige Perlen seinen Diskurs.

Viele Aspekte unseres Umgangs heute mit Musik werden in diesem Buch ans Licht geholt: Wie Musik mit elektronischen Mitteln (CD, Lautsprecher) vermittelt wird.  So hören wir z.B. bei der Trauung eines Ehepaares die geistlichen Lieder von einer CD gesungen, sogar bei der Beerdigung von Sergiu Celibidache, einer der größten Gegner von Aufnahmen, wurde vom Messner eine Schallplatte aufgelegt. Auf welchen Kammerton ‚a‘: 432, 440 bis 445 Hz – sollen die Instrumente gestimmt werden? Und warum eigentlich immer höher? Die Kunst des Instrumentalspiels, das zu einer faszinierenden technischen Meisterschaft gewachsen ist, als Selbstzweck zu pflegen, und immer schneller: ist das, wohin der Weg heutiger Musiker führen sollte? In all diesen Phänomenen zeigt sich, dass der Begriff „Musik“ mit seinem Kleid, dem Klang, gleichgesetzt wird, anstatt zu verstehen, dass aus Klang Musik entstehen kann, Klang jedoch oftmals nichts mit Musik zu tun hat.

Ein zentrales wertvolles Thema ist Deckerts Auffassung der Kammermusik als soziale Kraft, und wie sie das Solistische sowie das Orchestrale befruchten kann. Hier kann sich eine Tür zur Menschenbildung öffnen.

Konkreter zeigt er, welche Rolle die Technik im Instrumentalspiel einnimmt, und welche Gefahren es mit sich bringt, wenn sie getrennt von einer musikalischen Vorstellung gepflegt wird. Auch auf dem pädagogischen Gebiet können wir in diesem Buch wertvolle Gedanken für den Lehrer-Alltag finden.

Mit Notenbeispielen gibt uns H.E. Deckert aus seinem Erfahrungsschatz kostbare Orientierungshilfen für die Phase der Aneignung eines Musikstücks. Vor welcher Verantwortung steht doch zum Schluss jeder Musiker, wenn es um das Vermitteln des musikalischen Phänomens als geistige Realität geht!

Wir halten hier ein Buch mit vielen wunderbaren Anregungen in Händen, das als treuer Wegweiser dienen kann, um das wunderbare Abenteuer des Musizierens zu beflügeln.

[Rudolf Kuhn, Dezember 2016]

Die Musik in Gefahr?

Novalis; ISBN: 978-3-941664-48-7

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Mensch und Musik heißt Hans Erik Deckerts Anthologie von Aufsätzen aus den Jahren 1981 bis 2015. Der Cellist, Dirigent und Musiktheoretiker geht auf die Wirkung der Musik im Menschen, auf ihre Heiligkeit, auf die Folgen der aktuellen Musiknutzung, auf die Kammermusik und auf weitere Phänomene ein.

Ist die hörbare Kunst in ernsthafter Gefahr? Immer wieder tritt diese Frage, die Mahnung in den Aufsätzen von Hans Erik Deckert hervor. Es ist bei weitem nicht die einzige Frage, die diese umfassende wie weitreichende Anthologie umfasst, aber doch ist es die aktuellste – die, die einen jeden heute betrifft. Die Begründung dieser Befürchtung: mehr als frappierend und definitiv denkwürdig. Die Grundannahme, von der Deckert ausgeht, ist, dass es eine objektive Existenz der Musik gibt und dass sie in uns allen als eine Art Heiligtum prädisponiert ist. Deckert geht dabei auf die Sphärenharmonie Pythagoras‘ zurück, welche die Musik in Musica Mundana (Musik der Welt), Musica Humana (Musik im Menscheninneren) und Musica Instrumentalis (Stimme und Musikinstrument) unterteilt. Somit sind wir ständig umgeben von diesem kostbaren Gut, zudem ist es in uns selbst verankert – und erst in dritter Instanz können wir sie bewusst erzeugen. Doch wie hat sich die Musik durch die Möglichkeit der Tonaufnahme gewandelt, wie wird sie nun dargestellt und was macht sie mit uns? Wir werden belastet von einer Dauerbeschallung, ob in Film und Werbung, im Kaufhaus oder auf der Straße, in manchen Städten wie München gar in den U-Bahn-Stationen. Musik ist jederzeit wieder-abrufbar, die Einmaligkeit der Aufführung wird durch Reproduktion mit endloser Laufzeit ersetzt. Die Folgen für die Musiker unterminieren frühere Praxis und führen von der Gestaltung des unwiederbringbaren Moments hin zu einer Fixierung auf technische Brillanz und Makellosigkeit, die für eine ‚verewigte’ Aufnahme angeblich nötig sei. So wird auch im Konzertsaal versucht, an die Perfektion einer geschnittenen Aufnahme heranzukommen. Die Seele der Musik wird preisgegeben für einen schönen Körper. Nicht geringer, vielleicht sogar noch gravierender, sind die Konsequenzen für den Hörer. Er lernt das „Weghören“, gewöhnt sich an die stumpfe Hintergrundberieselung und nimmt diese irgendwann überhaupt nicht mehr wahr – entsprechend verlernt er das „Hinhören“, die Konzentration auf den erlebbaren Zusammenhang der Musik. Daraus resultiert, wie Deckert sagt, eine rein triebgebundene Musik, welche auf Zuständen statt auf entwickelnder Form basiert, die Musik zur Droge, zum vereinzelten Gefühl oder zum ’schönen Geräusch‘ abwertet. Auch wenn ich an dieser Stelle nachdrücklich eine generelle Verteufelung der so genannten ‚Unterhaltungs-Musik‘ fragwürdig finde und die Ablehnung für übertrieben halte, sollte sich der Hörer doch bewusst des musikalischen Gehalts und wahrhafter künstlerischer Leistungen bewusst werden, sollte sich nicht von Oberflächlichkeiten und schon gar nicht von Gewohnheiten blenden lassen, sondern lieber auf tieferen Ebenen suchen, um auch bei leichter Muse nicht vom wachen Zugang in einen benebelten Zustand abzugleiten.

Doch wie nun kommt man heraus aus diesem Teufelskreis der musikalischen Abstumpfung, die uns dieses Heiligtums zu berauben droht? Vollständig, so die ernüchternde Antwort, vermutlich gar nicht, denn zu stark werden wir bereits von außen mit Hintergrund- und Zustandsmusik beschallt, um nicht die natürlichen Abwehrreflexe im Sinne von bewusstem wie unbewusstem Weghören auszubilden. Verbessern können wir den Zustand zum einen natürlich durch veränderte Gepflogenheiten des Musikhörens, indem wir das „Hören“ zum Zentrum und nicht zum Hindergrund oder zum Teilaspekt eines Multitasking machen, vor allem aber wieder Konzerte hören anstelle von Aufnahmen. Denn nur live versprüht die Musik unverfälscht (ohne künstliche Membran etc.) ihre volle Lebendigkeit und die unwiederbringliche Einmaligkeit des Moments, das echte Erlebnis. Zum anderen ist es selbstverständlich das bewusste Musizieren selbst: Deckert nennt vor allem die Kammermusik als quasi heiligen Gral der Musik. Nur hier kann die „notwendige Durchdringung des Individuellen mit dem Sozialen“ stattfinden, kann der Mensch sich als gleichwertiger Teil eines Ganzen mit tragender Aufgabe finden. Aktives Hören ist in der Kammermusik unentbehrlich, um sich einfügen zu können. Über die Wege, wie nun eine musikalische Gemeinschaft gebildet und ausgebildet werden kann wie auch über das, was unbedingt beim Musizieren zu vermeiden ist, schreibt Deckert ausführlich. Vor allem dem Thema „Zu hoch, zu schnell, zu laut“ schenkt er notwendigerweise ein ganzes Kapitel, in welchem auf die verheerenden Auswirkungen unserer heutigen Musizierpraxis eingegangen wird: Auf den zu hohen Kammerton, der besonders den Sänger Überlastung der Stimmbänder beschert; auf zu schnelle Tempi, die all die herrlichen Details unhörbar machen; sowie auf zu heftige Lautstärke, die die Ohren der Musiker (wie auch des Publikums) belasten und schädigen.

Natürlich handelt es sich bei „Mensch und Musik“ nicht um ein Buch, welches ausschließlich auf Probleme eingeht und unsere heutige Praxis kritisiert – das Hauptanliegen ist viel eher, uns die besonderen Kräfte der erlebten Musik – gespielt wie gehört – nahezubringen, uns die „Heiligkeit“ der Musik zu vermitteln und uns dazu anzuregen, Musik wieder bewusst wahrzunehmen und sie als Teil von uns in uns aufzunehmen. Dies alles mit einer nun beinahe neunzigjährigen Lebenserfahrung, die so viele Veränderungen der Musikwahrnehmung und -ausführung aktiv mitbekommen hat, ergibt ein umfassendes Bild über das Wesen der Musik. Es lässt den Leser so einiges kritisch überdenken und kann helfen, die Liebe zur Musik noch weiter zu entfachen.

[Oliver Fraenzke, Januar 2017]