Archiv für den Monat: April 2018

Verschmelzende Gegensätze

Hyperion, CDA68189; EAN: 0 34571 28189 6

Marc-André Hamelin und Leif Ove Andsnes spielen Musik von Igor Strawinsky für zwei Klaviere. Auf dem Programm stehen die Bearbeitung des Sacre du Printemps, das Konzert für zwei Klaviere, Madrid, Tango und die Circus Polka.

Unterschiedlicher könnten die Partner für das vorliegende Programm kaum sein: Leif Ove Andsnes, der sein Spiel bewusst zügelt, zurückgenommen und zart musiziert, trifft auf Marc-André Hamelin, der gerne die Virtuosität triumphieren lässt und dessen Repertoire gefühlt alles umfasst, was im Volksmund als „unspielbar“ gilt. Ein Meister der Beethoven-Konzerte trifft auf einen Alkan-, Busoni- und Godowsky-Kenner. Was die beiden Pianisten eint, ist ihre spürbare Liebe zum Detail, ihr fanatischer Fokus auf das Innermusikalische. Keiner der beiden würde jemals ein Werk lieblos vortragen, nur um sein Können zu präsentieren; trotz allen Erfolgs handelt es sich in keiner Weise um Showmen, sondern um ernstzunehmende und wahrhafte Musiker.

Und das Aufeinandertreffen funktioniert: Die beiden so grundverschiedenen Spielweisen harmonieren und vereinen sich zu einem tief ergründeten Kunstwerk. Die vierhändige Fassung des Sacre du Printemps ist berüchtigt für ihre horrenden Anforderungen technischer Natur, entsprechend üblich sind da virtuos-halsbrecherische Darbietungen, die ausschließlich der Selbstdarstellung und nicht der Musik dienen. Wie viel Farbe doch in dem Auszug steckt, beweisen Andsnes und Hamelin auf eindrucksvolle Weise: Selbst wenn die originale Orchesterversion nicht bekannt wäre, würde man orchestrale Färbungen im Spiel der beiden Pianisten ausmachen. Beide setzen die spezifischen Charakteristika der Orchesterinstrumente auf dem Klavier um, transzendieren entsprechend den Klang über den eines reines Tasteninstruments hinaus. Der vollstimmige Satz bleibt transparent, die einzelnen Stimmen heben sich klar voneinander ab. Zu keiner Zeit wird die Musik geräuschhaft, sie bleibt durchweg menschlich und natürlich, selbst in ihren archaischsten Momenten. Die anderen Stücke der Aufnahme sind auf dem selben überragenden Level vorgetragen: Das sperrige Konzert für zwei Klaviere nimmt klare Konturen an, erscheint – was wirklich selten ist – auf Anhieb verständlich, und die drei kleinen Piècen Madrid, Tango und Circus Polka geben sich als echte Perlen mit Charakter und Substanz zu erkennen.

[Oliver Fraenzke, März 2018]

Trauer und Lebensfreude

SWR classic, SWR19055CD; EAN: 7 47313 90558 4

Vorliegende CD enthält remasterte Aufnahmen mit Karel Ančerl und dem Südwestfunk-Sinfonieorchester Baden-Baden aus dem Jahr 1967. Zu hören ist die Symphonie Asrael von Josef Suk sowie die Serenata von Iša Krejči.

Die Symphonie mit dem Titel „Asrael“ gilt als Hauptwerk des tschechischen Komponisten Josef Suk. Ursprünglich in Gedenken an seinen Schwiegervater Antonin Dvořák geschrieben, wurde es nach dem Tod seiner Frau neu zu Ende konzipiert. Die ersten drei Sätze waren bereits vollendet, das begonnene Adagio wurde gestrichen; an dessen Stelle traten nach einer Trauerzeit von einem Jahr zwei neue Sätze. Auf diese Weise teilt sich die Symphonie eigentlich in zwei Teile, drei Sätze für sein künstlerisches Leitbild und zwei weitere für die Liebe seines Lebens. Suk war die Bedeutung seines Werkes bewusst, sein gesamtes vorheriges Schaffen degradierte er zu „Vorstudien“ zu eben dieser Symphonie. Düsterheit durchzieht sie, lediglich die letzten Takte ebnen den Weg in Richtung einer Aussöhnung mit dem Schicksal – wenngleich diese bis zum allerletzten Akkord immer wieder sabotiert wird.

Ganz anders gestaltet sich Iša Krejčis dreisätzige Serenata für Orchester: Pure Lebensfreude und Frohmut charakterisiert sie, das Presto wirkt stellenweise gar wie eine Persiflage auf Tschaikowsky. Diese Serenata ist klassisch ausgewogen, beschwingt und doch nicht ohne Anspruch, sie ist eine vollendete Form „leichter“ Musik.

Karel Ančerl, Nachfolger des bedeutenden Dirigenten Václav Talich als Chefdirigent der Tschechischen Philharmonie, ist bis heute dadurch prominent geblieben, sein Orchester zu globalem Erfolg geführt zu haben. Im Mai 1967 war er als Gastdirigent beim Sinfonieorchester des Südwestfunks in Baden-Baden und nahm vorliegende Einspielungen auf. Dabei führte er das Orchester in erstaunlich kurzem Zeitfenster in die Musik seines Heimatlandes ein und machte die Musiker so vertraut damit, dass niemand auf die Idee käme, es wäre kein tschechisches Orchester, das hier spielt. Asrael nahm er nie für eine Plattenproduktion auf, vielleicht aus Ehrfurcht vor der Einspielung Talichs. Zu diesem finden sich auch eindeutige Parallelen im Stil des Dirigierens. Es entsteht eine Ausgelassenheit und Musizierfreude, der deutlich anzuhören ist, welch detailgetreue Partiturkenntnis Ančerl besaß. Trotz der minutiösen Arbeit an Nuancen bleibt eine Natürlichkeit erhalten, die ungezwungener nicht erscheinen könnte, so dass es scheint, die Musik würde erst in diesem Augenblick erschaffen werden.

[Oliver Fraenzke, März 2018]

Frühlingskonzert des Jugendorchesters der Bayerischen Philharmonie

22. April 2018 im Carl-Orff-Saal im Gasteig

David Frühwirth, Violine; Henri Bonamy, Pianist und Leitung

An einem schönen Sonntag-Nachmittag begann das Konzert des Münchner Jugendorchesters im Carl-Orff-Saal der Münchner Philharmonie mit Mozarts Ouvertüre zu „La Clemenza di Tito“ KV 621, sehr energisch dirigiert von Henri Bonamy, der das Orchester der Bayerischen Philharmonie seit 2011 leitet. Beim nächsten Stück, dem dritten Klavierkonzert in c-moll op. 37 von Ludwig van Beethoven, setzte sich der Dirigent selber an den Flügel und war eben in Personalunion Solist und Dirigent. Das ist zwar heute nicht mehr außergewöhnlich, ist aber noch immer eine ganz besondere Herausforderung für Pianist und Orchester. Diese Herausforderung gelang in hohem Maß, die Aufführung glänzte durch spontanes Zusammenwirken und alle Beteiligten spielten mit größter Intensität und Aufmerksamkeit, und ließen so wieder einmal erleben, welch eine Musik aus Beethovens Komposition strömt und wie sie uns unwiderstehlich mitnimmt. Das Largo des zweiten Satzes gelang vorzüglich, auch dem Rondo des letzten Satzes fehlte es weder an rhythmischer Präzision noch an melodischer Eindringlichkeit. Hochverdienter Beifall für Henri Bonamy und das Jugendorchester der Bayerischen Philharmonie.

Nach der Pause dann die eigentliche Überraschung: Intendant Mark Mast sagte an, dass es sich beim Komponisten Schubert eben nicht um den berühmten Franz handle, sondern um einen der tragisch verschollenen Komponisten des 20. Jahrhunderts: Heinz Schubert, geboren 1905 in Dessau, gefallen in den letzten Kriegstagen 1945 im Oderbruch. Sein Werk harrt bis heute der Wiederentdeckung. So war die Begegnung mit seiner  Komposition „Concertante Suite für Violine und Kammerorchester“ von 1931/32 eine grandiose Erfahrung. Der Solist David Frühwirth – bei den anderen Stücken der Konzertmeister des Orchesters – begann mit zupackender Intensität, die durchaus vertrackten Herausforderungen dieses viersätzigen Werkes nicht nur zu bewältigen, sondern sie in all ihrer kompositorischen Größe darzustellen. Wunderbar begleitet vom Kammerorchester war vor allem der dritte Satz, eine Aria, eine wahre Offenbarung. Daran hatten auch die drei Holzbläser ihren Anteil. Vom beginnenden Rezitativ bis zur finalen Gigue gelang ein überzeugender Blick auf ein Werk der einstigen Moderne, das polyphon meisterlich gearbeitet, harmonisch komplex und durchgehend inspiriert ist. Es macht Lust auf mehr Musik des leider so tragisch früh Verstorbenen, von dem es auf Tonträger gar nichts gibt. Bravourös die Leistung vom Geiger David Frühwirth, der sich in dem heikel virtuosen Werk als Solist von Weltrang präsentierte, aber auch vom an die Grenzen geforderten Orchester. Bravos und großer Applaus!

Zum Abschluss Joseph Haydns Londoner Symphonie Nr. 99, die in allen vier Sätzen ansprechend gelang. Mit Verve und großer Begeisterung zeigte das Orchester, dass es im vergangenen Jahr nicht ohne Grund zu einem großen Festival in Italien eingeladen wurde. Das tänzerische Menuetto. Moderato überzeugte genau wie die anderen Sätze, dass der „alte“ Haydn nun wirklich einer der unübertrefflichen Großmeister war und ist.

Schluss-Applaus auch für die einzelnen Orchestergruppen, die allesamt auf beachtlichem Niveau uns diesen Sonntag-Nachmittag im Carl-Orff-Saal zum reichen Geschenk machten.

[Ulrich Hermann, April 2018]

Die Macht der Rhythmik

NEOS 10819; EAN: 4 260063 108198

Der japanische Perkussionist Isao Nakamura spielt Werke für Schlagzeug solo. Es erklingen zwei der Acht Stücke für vier Pauken von Elliott Carter, Saëta und Improvisation, „dasselbe ist nicht dasselbe“ von Nicolaus A. Huber, Mauricio Kagels Solo aus Exotica, Ta-Ryong IV (Die Kehrseite der Postmoderne) von Younghi Pagh-Paan, Thunder aus Triangel von Peter Eötvös, Rebonds von Iannis Xenakis sowie Sen VI von Toshio Hosokawa.

Erst im 20. Jahrhundert wurde das Schlagwerk als Soloinstrumentarium entdeckt. Zuvor gab es Werke für gestimmte Pauken und Schlagstabspiele wie Xylophon oder Metallophon, die sich früh großer Beliebtheit erfreuten, doch die Rhythmik verlor erstaunlich spät die Bindung an die melodischen Komponenten. Und das, obgleich die Symphoniker schon im frühen 19. Jahrhundert dem Schlagwerk immer größere Bedeutung zumaßen, man denke alleine an die Pauke in Beethovens Violinkonzert oder die erweiterte Schlagzeugbesetzung in Berlioz‘ Symphony fantastique.

Isao Nakamura verbannt die Melodie auf vorliegender CD in den Hintergrund, abgesehen von Pauken verwendet er kein Instrument mit definierbarer Tonhöhe. Die Pauke kommt bei Carter zum Einsatz, dessen komplex durchkonstruierte Kompositionsstudien „Acht Stücke für vier Pauken“ ihren Reiz aus der Beschränkung des Materials ziehen. Durch diese entstehen phantastische Effekte, die Carter nicht überreizt und darüber hinaus sogar dezidiert vorschreibt, maximal vier der acht Stücke in einem Programm zu spielen. Eötvös reduziert noch weiter, in Thunder kommt lediglich eine einzige Basspauke zum Einsatz. Das „Donnern“ entsteht durch Verstimmen des Instruments mit Hilfe des Fußpedals, wodurch der Klang in kürzester Zeit mehrere Ganztöne fallen oder steigen kann. Die Beschränkung auf nur ein Instrument findet sich auch in Hubers „dasselbe ist nicht dasselbe“ für Snare Drum, was mit einer Viertelstunde Laufzeit allerdings eine spürbare Überlänge aufweist, die wenigen Effekte der Snare Drum nutzen sich zu schnell ab, um die Spannung so lange Zeit aufrecht zu erhalten. Ähnlich lang, doch dichter und kurzweiliger gestalten sich die Rebonds von Xenakis, der mit genauen Proportionen und dem Wechsel zwischen verschiedenartigen Schlaginstrumenten einen hypnotischen Bogen spannt. Hosokawa schreibt zahlreiche gestische Anweisungen vor, die Stille ist omnipräsent. Vieles dieser Musik ist bedauernswerterweise ohne optische Dokumentation nicht darstellbar, und doch bezaubern die spärlichen Klangereignisse eben dadurch, dass sie sich rar machen. Die meisten unterschiedlichen Klänge erleben wir in Pagh-Paans Ta-Ryong IV – vielleicht sogar zu viele, um die Form noch schlüssig ausfallen zu lassen. Kagel besticht durch gezielte Skurrilitäten, der Text für einen obligaten Gesangspart darf frei erfunden werden: Lacher sind vorprogrammiert. Kagel nahm sich selbst nicht allzu ernst, das verleiht ihm Frische und Unverbrauchtheit.

Die Zuneigung zu allen Stücken spiegelt das Spiel von Isao Nakamura wider, voller Inbrunst stürzt er sich auf jedes einzelne Stück dieses Programms. Er versteht, den Klang minutiös zu differenzieren und so lange an ihm zu feilen, bis exakt das Resultat erscheint, was er sich herbeigewünscht hat. Nakamura kann sekundenschnell zwischen Ernst und Witz changieren, seine Begeisterung für beide Welten ist offenkundig. Die Komponisten könnten sich keinen geeigneteren und passionierteren Interpreten für ihre Stücke wünschen, nicht zufällig sind drei der hier aufgenommenen Stücke Nakamura gewidmet.

[Oliver Fraenzke, März 2018]

Wort und Ton

„Das lyrische Wir“ sind die Brüder Pirmin und Maik Styrnol. Während der eine Gedichte aus unterschiedlichen Epochen vorträgt, komponiert der andere Musik dazu, wodurch die beiden die Gattung des Melodrams wiederbeleben. Gesprochen wird Lyrik von Marie Luise Kaschnitz, Christopher Schmall, Friedrich Nietzsche, Paul Celan, Matthias Claudius, Jens Peter Jacobsen, Rainer Maria Rilke, Pablo Neruda, Albert Vöhringer und Hermann Hesse.

Das Melodram ist hauptsächlich eine Gattung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Dahinter steht die Idee, Lyrik durch Musik zu illustrieren, zu kommentieren, eine atmosphärisch verstärkende Ebene hinzuzufügen, ohne dass der Sprachduktus durch eine gesungene Vortragsweise verändert wird. Die Gattung des Melodrams ist nicht gebunden an bestimmte Formkonzepte: während die schwedischsprachigen Beiträge von Sibelius meist Liedformat aufweisen, umfasst Schuberts „Die Zauberharfe“ drei Akte und über 300 Partiturseiten. Herausragende Melodramen schufen neben zahlreichen anderen Zdeněk Fibich, Robert Schumann (als Teil des dramatischen Gedichts Manfred), Edvard Grieg, Max Schillings und der junge Richard Strauss. Sibelius und Strauss wirkten allerdings beinahe antiquiert mit ihren Gattungsbeiträgen, das Melodram war zu jener Zeit bereits größtenteils verschwunden. Einen Ausläufer der Gattung finden wir in Schönbergs Überlebendem aus Warschau, in welchem die Stimme immer wieder zwischen Sprechen und Singen changiert. Neuere Formen gibt es beispielsweise bei Lachenmann, wobei er den Text so sehr verzerrt, dass er nicht mehr verständlich bzw. als solcher erkennbar ist.

Nun beleben die Gebrüder Styrnol die Gattung wieder, zehn Gedichtsvertonungen vom 18. bis zum 21. Jahrhundert füllen ihr Debutalbum tenebra. Maik Styrnol macht sich als Komponist die Mittel der Filmmusik zu Nutze, um flächige und stimmungsvolle Untermalungen für die Gedichte zu schaffen. Dabei begnügt sich die Musik nicht mit reiner Kommentarfunktion, sondern steht als eigenständiges Kunstwerk gleichauf. Die Instrumente werden durch Stimmen und elektronische Klänge ergänzt, wodurch ein breites Spektrum an Ausdrucksmöglichkeiten offensteht und Einsatz findet. Pirmin Styrnol trägt währenddessen die Texte vor, gibt jedem Gedicht eine eigene Stimmfärbung, hebt manche Verse durch Veränderung seiner Stimmlage und Klangfarbe hervor und durchlebt mit seinem Sprachgestus die jeweiligen Situationen. So entsteht ein erzählerischer Spannungsbogen, der sich mit der musikalischen Untermalung vereint. Wort und Ton fusionieren zu einem Gesamtkunstwerk.

[Oliver Fraenzke, März 2018]

Zurück in den Kontext

Hyperion, CDA68209; EAN: 0 34571 28209 1

Kirchenmusik von Gabriel Fauré vereint die neueste CD von David Hill und der Yale Schola Cantorum mit dem Organisten Robert Bennesh. Neben dem Requiem op. 48, in einem Arrangement des Dirigenten für Chor, Orgel, Violine, Cello und Harfe, hören wir Messe basse, Maria mater gratiae op. 47/2, Ave Maria op. 67/2, Ave verum op. 65/1, Fuge a-Moll und e-Moll op. 84/3 und 5, Ave Maria op. post, Tantum ergo op. 65/2 und op. 55 sowie Cantique de Jean Racine op. 11.

Berühmt geworden ist das Requiem von Gabriel Fauré in seiner Fassung für großes Orchester und Chor. Erst seit den Editionen der 1980er Jahre kam uns ins Bewusstsein, dass dieses Stück ursprünglich klein besetzt war. Dem kammermusikalischen Gestus wird David Hill in seinem Arrangement gerecht, das neben der unverzichtbaren Orgel zwei Streicher verlangt und die Harfe hinzufügt. Die Streicher mischen sich mit dem flächigen und fließenden Klang der Sänger, während die Harfe sich in ihren feinen Figurationen abhebt und den Klang bereichert.

Die vorliegende Vokalmusik erfreut durch beinahe klassische Einfachheit des Ausdrucks und ihren versöhnlichen Gestus. Sie erhebt nicht den Anspruch, zu erneuern, wie es Faurés jüngerer Kollege Claude Debussy zur gleichen Zeit tat und wie es Faurés Schüler Ravel, Enescu oder Koechlin jeder auf seine Weise fortsetzen sollten. Faurés Prägung rührte eher von Camille Saint-Saëns her, seinem verehrten Lehrer aus Jugendtagen, mit dem er lebenslang befreundet war, oder von Jules Massenet, dessen Nachfolge er am Pariser Konservatorium antrat. Es ist sinnliche Musik, melancholisch geprägt und von innigstem Feingefühl.

Die Darbietungen durch David Hill und der Yales School Cantorum zeichnen sich durch ihre Zurückgenommenheit aus. Nach auftrumpfenden Höhepunkten suchen die Musiker nicht, ebenso schmettern und dröhnen sie nicht, an Stelle dessen tritt ein gebändigter Ausdruck, der milde versöhnt. Dies unterstreicht die Wirkung von Faurés Musik, der nicht umsonst die aufbrausenden Passagen des Requiems nur abgedämpft vertonte, sich statt dessen auf die lichteren Aspekte stützte. Die Sänger betören mit klarer Linienführung und dynamischer Fülle, subtil untermalt die Orgel. Fauré schrieb eine Musik, die den Glauben bestärkt und mit Hoffnung unterfüttert; unweigerlich wird man als Hörer hineingezogen in den transzendierenden Fluss der Töne.

[Oliver Fraenzke, März 2018]

Zugängliche, neue amerikanische Solokonzerte

Naxos, LC 05537; EAN: 636943980729

Drei neuere Konzerte des amerikanischen Komponisten und GRAMMY®-Preisträgers Michael Daugherty in vorzüglichen Darbietungen dreier weiblicher Solisten und dem in Sachen zeitgenössischer Musik hochaktiven Symphonieorchester aus Albany unter seinem langjährigen Chef David Alan Miller erschienen jetzt auf Naxos in der Reihe „American Classics“.

Michael Daugherty (* 1954) hat sich in den letzten drei Jahrzehnten zu einem der meistgespielten lebenden amerikanischen Komponisten gemausert. Während seiner Ausbildung legte er besonderen Wert auf umfassende Einblicke in Musik aller Stilrichtungen. So finden sich in seiner Musik neben typischen Errungenschaften klassischer Orchestermusik des 20. Jahrhunderts auch Elemente des Jazz, der Popularmusik oder ethnisch konnotierte Merkmale. Egal, ob man dies jetzt vorwiegend als eklektizistisch, postmodern oder mit welchen Schlagworten auch immer beschreiben wollte: Nichts davon würde der Brillanz und unmittelbaren Wirkung seiner Musik gerecht. Typisch für seine Kompositionen sind ebenfalls literarische, technische oder historische Motive als Inspirationsquelle, die dann aber in der Musik keineswegs nur einfach ‚bildhaft‘ umgesetzt werden; alles hat auch ein stabiles, strukturell klar durchdachtes Fundament. So erinnert Daugherty noch am ehesten an den großen Leonard Bernstein.

Für die hier vorgelegte Einspielung dreier ungewöhnlicher Solokonzerte konnten die jeweiligen Uraufführungssolistinnen gewonnen werden: die Flötistin Amy Porter für Trail of Tears (2010), die Schlagzeugerin Evelyn Glennie für Dreamachine (2014) und die Tubistin Carol Jantsch für Reflections on the Mississippi (2013).  Trail of Tears bezieht sich auf eines der schändlichsten Ereignisses der amerikanischen Geschichte: Während der Zwangsumsiedlung von 15000 Tscherokesen im Winter 1838/39 kamen auf einem 800-Meilen-Marsch über 4000 Indianer ums Leben. Die Flöte reflektiert dies höchst empathisch aus der Sicht der Opfer. Daugherty verwendet wohl keine indigenen Melodien; die wenigen mikrotonalen Wendungen in der Soloflöte bringen aber die Grundstimmung von Trauer auf eine äußerst direkte Art auf den Punkt. Im dritten Satz erwächst aus der Rückbesinnung auf den berühmten, rituellen sun dance so etwas wie neue Hoffnung. Die vorzügliche Amy Porter darf hier aus dem Vollen schöpfen: ein in jeder Hinsicht dankbares Flötenkonzert. Dreamachine (2014) verarbeitet lustvoll-phantastisch technische Visionen von Leonardo da Vinci über die Nonsense-Maschinen eines Rube Goldberg bis zu Mr. Spock, der hier als technokratischer Star-Trek-Gegenspieler von Captain Kirk porträtiert wird. Dabei wird natürlich die Vielfalt der Möglichkeiten des Schlagwerks ausgekostet, wobei sich aber jeder Satz auf ein eng umrissenes Instrumentarium konzentriert. Dass Evelyn Glennie, immer noch der einzige weibliche Percussion-Weltstar, hier alles perfekt umsetzt, ist eigentlich selbstverständlich. Noch überzeugender demonstriert allerdings Carol Jantsch die Flexibilität der Tuba: Das Mississippi-Porträt zeigt von der ausladenden Kantilene bis zum virtuos-synkopiertem Finale die ganze Bandbreite eines Instrumentalkonzertes. Ob das nun bereits in die Kategorie easy-listening gehört oder auch höhere Ansprüche erfüllt, mag der Hörer selbst entscheiden. Spaß bereitet diese Musik allemal!

Das im Bundesstaat New York angesiedelte Albany Symphony Orchestra unter David Alan Miller setzt sich recht kompromisslos und erfolgreich für zeitgenössische amerikanische Musik ein, wie mittlerweile auf zahlreichen CDs belegt. Die Klarheit des Klanges, die Miller erreicht – unterstützt von guter Aufnahmetechnik – zeigt sich gerade auch an den massiven Höhepunkten, die Daugherty manchmal setzt. Hier bleibt trotzdem die nötige Transparenz gewahrt und verhindert, dass die Musik sich in Plattitüden ergeht. Die Dynamik aller Sätze ist sorgsam abgestuft und gibt den Solistinnen jederzeit den Spielraum, sich unangestrengt durchsetzen zu können. Diese Darbietung setzt die Reihe maßstabsetzender Daugherty-Einspielungen bei Naxos somit nahtlos fort.

[Martin Blaumeiser, März 2018]

Die Kunst der Improvisation

Gramola, 99142; EAN: 9 003643 991422

Die Austrian Art Gang arrangiert und improvisiert über Fugen aus Johann Sebastian Bachs Kunst der Fuge, namentlich die Nummern 1, 4, 5, 7, 10, 12, 13 und 17.

Die Kunst der Fuge gilt nicht zu Unrecht als gewichtigstes Fugen-Kompendium in der Musikgeschichte. Bachs neunzehn Fugen über ein einziges, wenngleich variables Thema erkunden alle nur erdenklichen Möglichkeiten der Fugentechnik und verlangen dem Musiker ein geradezu übermenschliches Bewusstsein über vier autonom geführte Stimmverläufe ab. Das Werk blieb unvollendet, die finale Tripelfuge bricht noch vor dem geplanten Höhepunkt ab, welcher alle drei Themen parallel behandeln hätte sollen.

Die Austrian Art Gang trägt acht dieser Fugen vor, allerdings nicht auf einem Instrument und auch nicht als homogenes Ensemble, sondern bewaffnet mit Saxophonen, Klarinetten, Gitarre, Fagott, Cello und Kontrabass. Die Fugen werden auch nicht notengetreu wiedergegeben, sondern dienen als Ausgangspunkt für Improvisationen der fünf Musiker Klaus Dickbauer, Daniel Oman, Wolfgang Heiler, Thomas Wall und Wolfram Derschmidt, die alle in unterschiedlichen Genres der Musik verwurzelt sind und so jeder für sich ein eigenes Element in die Kombination einbringen.

Was zunächst beinahe absurd scheint, entpuppt sich als uneingeschränkt empfehlenswert. Der Übergang zwischen Barockfuge und freier Improvisation bleibt unhörbar, die Symbiose ist verfließend. Da stimmen die Musiker noch „brav“ die erste Fuge an und sind plötzlich schon in ganz anderen Welten, die bis hin zu Latin und Jazz reichen. Doch selbst hier in der Improvisation beackern die fünf dichten Kontrapunkt und wohlfunktionierende Vielstimmigkeit. Das klangliche Resultat bleibt stets stil- und geschmackvoll und technisch gekonnt, zeitgleich kommt ein „Spirit“ unseres Jahrhunderts hinein – die Musiker tragen eine aktualisierte Herangehensweise an Bach heran, die auch bei Nicht-Klassikhörern sehr beliebt werden könnte. Gunar Letzbor, welcher das Geleitwort verfasste, resümiert trefflich: „Ob Bach sich im Grab umgedreht hat? Blöde Vorstellung – der hat sicher ein Tänzchen gewagt und sich einen Liter seines Lieblingsweines eingeschenkt!“

Oft wird diskutiert, wie man junge Hörer an die „ernste“ Musik heranführen kann, ob mit David Garrett, Lindsey Stirling oder anderen Musikern zwischen Pop und Klassik. Wohl kaum im Ernst. Eine neue und künstlerisch in allen Belangen höchst anspruchsvolle Alternative bietet nun die Austrian Art Gang, die Bach zum Grooven bringt und ihn gleichzeitig Bach sein lässt.

[Oliver Fraenzke, April 2018]

Beethoven einmal wirklich „klassisch“

Nach ihrem Auftritt im KUBIZ Unterhaching am 8. Mai spielt das Bruckner Akademie Orchester unter Jordi Mora am 9. Mai im Herkulessaal der Münchner Residenz ein Programm bestehend aus der Ruy Blas-Ouvertüre op. 95 von Mendelssohn, Beethovens Drittem Klavierkonzert c-Moll op. 37 und Mahlers Sinfonie Nr. 4 G-Dur. Solistin im Klavierkonzert ist Ottavia Maria Maceratini, die Sopranpartie im Mahler-Finale singt Mireia Pintó.

Das Bruckner Akademie Orchester hat seit über einem Vierteljahrhundert den weit über München hinausragenden Ruf, als Laienorchester nicht nur auf überragendem Niveau zu spielen, sondern altbekanntem Repertoire neue Frische und Lebendigkeit zu verleihen. Als einer der langjährigsten Schüler Sergiu Celibidaches vermittelt Jordi Mora uns heute die Idee der musikalischen Phänomenologie, die sein Lehrer auf Grundlage seines Studiums bei Heinz Tiessen entwickelte. Phänomenologie ist keine Lehre, sondern die Haltung, jeden musikalischen Kontext individuell nach dessen Phänomenen zu erkunden und diese zum Klingen zu bringen. Das Wissen um Grundgesetze von Spannung und Entspannung aufgrund der natürlichen Ordnung der Obertonreihe ist Grundlage, um aus dem Hören ein Erlebnis werden zu lassen, das die aufgeschriebene Musik mit jeder Darbietung in einmaliger Lebendigkeit erstehen lässt.

Die Phänomenologie wird von Mainstream-Gelehrten gerne nicht „für voll genommen“ oder auch leichtfertig abgelehnt: Belegt werden kann sie schließlich nach deren Meinung nur anhand von Tonaufnahmen als Vermächtnis eines eines Toten, welche mit damaliger Technik nur einen Teil dessen abbilden können, was tatsächlich erklungen ist. Der Spott dürfte dem schnell vergehen, der ein Konzert mit Jordi Mora besucht und live erlebt, wie durchschlagend die Präsenz der Musik doch ist und wie zwingend die Werke vom allerersten zum allerletzten Ton zusammenhängen.

Die erste Hälfte des Konzerts steht ganz im Zeichen des klassischen Ideals. Mendelssohns Ruy Blas-Ouvertüre und Beethovens Drittes Klavierkonzert hören wir meist als pompöse Werke der aufkeimenden Romantik mit Pauken und Trompeten, hart und wirkungsvoll. Heute nicht! Jordi Mora rückt sie beide in das Licht der späten Klassik, nimmt Kraft und Lautstärke zurück, um transparent und fein zu bleiben. Wie strahlend doch das Blech bei Mendelssohn durchkommt mit den kleinen Crescendi und welch rhythmische Energie doch in den Geigenstimmen steckt! Beethoven sorgt ebenfalls für Aufsehen: Die Orchestereinleitung bleibt ungewohnt lange im Pianobereich und die kleinen Sforzati stechen nicht heraus, sondern unterstreichen subtil bestimmte Noten, wodurch die gesamte Gewalt in innig aufwallendes Brodeln verwandelt wird. Obwohl er extrem langsam dargeboten wird, besticht der Mittelsatz mit unglaublicher Kompaktheit und Griffigkeit. Der Schlusssatz ist ausgelassen, aber nicht übermütig, erinnert in der beschwingten Darbietung eher an eine Mozart’sche Eingebung denn an die manische Besessenheit, die Beethoven so gerne zugeschrieben wird. Ottavia Maria Maceratini fesselt durch ihre Präsenz: Wenn sie spielt, ist sie anwesend „in“ der Musik. Jede Note ist ausgewogen und abgestimmt, vor allem auch diejenigen, denen meist keine Beachtung geschenkt wird. Die Unterstimmen kommen heraus und geben ständigen Kontrapunkt zur Melodie, wobei besondere Bedeutung den „Zwischennoten“ zukommt, die nicht auf dem betonten Schlag liegen. Als Zugabe gibt es den Persian Love Song von John Foulds: Eine fragile Melodie, die auf einem Bordunbass aus repetierenden Akkorden schwebt. Diese Miniatur sollte als wahrer Schatz gewürdigt und in die Konzertprogramme aufgenommen werden, denn in nur etwa drei Minuten öffnet Foulds die Tore zu einer unendlichen orientalischen Welt, verströmt meditative Ruhe und reinen Gesang. Das Stück wird auf der nunmehr dritten Solo-CD von Maceratini, die Anfang kommenden Jahres erscheinen soll, erstmals eingespielt.

Nach der Pause bietet das Orchester noch die Vierte Symphonie Mahlers dar, welche die kleinste Besetzung aller Mahlersymphonien aufweist. Die hohe Qualität der ersten Hälfte bleibt bestehen, einziger Wermutstropfen ist die dauer-vibrierende Sopranistin, die sich wohl besser als Walküre denn als Solistin eines Mahler-Liedes ausnehmen würde. Das Bruckner Akademie Orchester nimmt die Symphonie beinahe kammermusikalisch intim, bleibt selbst in den tosenden Passagen transparent. Das gesamte Konzert über präsentiert sich dieses Orchester in hinreißender Plastizität: Ober- und Unterstimmen erhalten gleichberechtigte Bedeutung, wobei jede Stimme eigenständig wirkt. Resultat ist ein wahrhaft dreidimensional gestalteter Klang, der in jedem Moment räumlich spürbar ist.

[Oliver Fraenzke, April 2018]

Immer bewusster Teil des Ganzen

Das Bruckner Akademie-Orchester unter Jordi Mora spielt im Herkulessaal der Münchner Residenz Felix Mendelssohn Bartholdys ‚Ruy Blas’-Ouvertüre, Beethovens 3. Klavierkonzert und Gustav Mahlers 4. Symphonie. Solistin ist Ottavia Maria Maceratini.

Einige meiner wenigen wirklich glaubhaften Informanten aus München haben mich in den letzten Jahren immer wieder auf die italienische Pianistin Ottavia Maria Maceratini hingewiesen, haben mir von ihren seltenen pianistischen und musikalischen Gaben berichtet, und ich muss gestehen, dass ich skeptisch war. Schon wieder so ein junges Sternchen der geistig verdorrenden Klassikszene, noch so eine ‚Hoffnungsträgerin’ der jungen Generation – wie oft schon sind wir dann von der klingenden Realität bitter enttäuscht worden, wie oft hat man versucht, uns Blech als Gold zu verkaufen. Diesmal aber war ich fest entschlossen, die lange Anreise auf mich zu nehmen, denn der katalanische Dirigent Jordi Mora hatte Frau Maceratini eingeladen, mit seinem Bruckner Akademie-Orchester im Münchner Herkulessaal aufzutreten, und erstens ist Mora ein wahrhaft fundierter Erarbeiter der musikalischen Struktur und phänomenaler Orchestererzieher, und zweitens lässt er sich nach meiner Erfahrung keine gehypten Jungstars aufschwatzen und schlägt sich nicht freiwillig mit hohlen Tastenvirtuosen herum. Hier zählt die Substanz.

Um es vorweg zu nehmen: ich habe diese Reise bei keinem Ton bereut, und es dürfte im erfreulich zahlreich erschienenen Publikum kaum jemand gewesen sein, dem es anders ergangen wäre.

Das Konzert begann mit der vielleicht formal bezwingendsten – und zweifellos einer der dramatischsten, erfindungsreichsten, dichtesten und feurigsten – Ouvertüre von Felix Mendelssohn Bartholdy: der 1839 entstandenen Konzertouvertüre zu Victor Hugos ‚Ruy Blas’. Mora verstand es vorzüglich, die opponierenden Charaktere charakterstark zu entfalten und dabei stets den Zusammenhang des Ganzen im Auge zu behalten, wodurch sich eine unwiderstehliche Entwicklung vom majestätisch-furiosen Beginn bis zum triumphalen – jedoch zugleich elegant und biegsam bleibenden – Ende mit einer Klarheit offenbarte, die den Hörern das Innerste der Musik offen darlegte. Die subtile Beschleunigung der Schlussphase ist dabei einer jener intuitiv überzeugenden Kunstgriffe, die nicht um des momentanen Effekts willen inszeniert werden, sondern der inneren Notwendigkeit der harmonischen Entwicklung entspringen. Das Orchester spielte mit Verve, Reaktionsschnelligkeit, fein schattierter Zärtlichkeit und gesanglicher Anmut auf – gerade auch in den strahlend-machtvollen Tuttiauftürmungen –, dass es ein Fest der organischen Gestaltwerdung war.

Dann Beethovens Drittes Klavierkonzert in c-moll op. 37. Man kann das musikalisch nicht besser erfassen. Das gemessene Tempo des untergründig feierlichen Kopfsatzes mit seiner machtvollen Konfrontation der beiden opponierenden Themenwelten, der aus tiefster Versenkung sich aufbauende Largo-Mittelsatz in himmlischer Innigkeit, und das Finale diesmal nicht als grimmiger Parforceritt, sondern vor allem mit all dem Schalk und wagemutigen Humor, den die wenigsten Klang werden zu lassen verstehen! Ottavia Maria Maceratini spielt all dies nicht nur mit phänomenaler pianistischer Meisterschaft, die uns keine technische Klippe spüren lässt und den Klang sowohl im markigen Fortissimo als im delikatesten Pianissimo immer als Ganzes formt (kein Moment eindimensionaler Oberstimmendominanz!), immer Platz für plastische Phrasierung der Melodie hat (das Klavier singt unentwegt); sie ist vor allem eine unerhört reife Musikerin, deren Aufmerksamkeit der unaufhaltsamen Durchdringung des Gesamtverlaufs gilt und damit zu einer Einheit der großen Gestalt vordringt, die auf der bewusst gerichteten Mannigfaltigkeit der divergierenden Elemente beruht. Auch die fesselnde Kadenz im Kopfsatz (Original-Beethoven) dient in keinem Moment der Zurschaustellung pianistischer Attitüden und ist mit unerschütterlicher symphonischer Kontinuität durchgestaltet als Teil eines Ganzen, das so unausweichlich korreliert ist, als könne es gar nicht anders sein. Und das alles fern jedem bitteren Ernst, jeder didaktischen Gelehrsamkeit, wie ein spontanes Naturereignis, stets auf des Messers Schneide gespielt mit dem Mut zum vollen Risiko. Kein Moment interpretatorischer Willkür, nebulösen Fabulierens oder billiger Kraftmeierei findet sich in diesem Spiel, das zugleich völlig organisch dem Wechselspiel mit dem Orchester und seinen Solisten eingegliedert ist. So großartig die Solistin ihr Metier beherrscht, agiert sie doch nie selbstherrlich, sondern ist immer bewusster Teil des Ganzen, das sie ebenso begreift und gestaltet wie der Dirigent und seine Musiker. Das ist echte Hingabe von allen Seiten. Ist eine andere Stimme wichtiger, so tritt sie dezent zurück. Und doch ist das nie eine bloße Begleitung, sondern stets wache Gegenstimme, jederzeit bereit, wieder für einen Moment hervorzutreten. Das ist nicht einfach ein souveräner Auftritt, der Sicherheit, Brillanz und Kompetenz bewiese, sondern das ist wirklich Dienst am Werk, am Komponisten, an der Gemeinschaft, an der Musik, in der alle Mitwirkenden völlig aufgehen, ohne sich in Stimmungen zu verlieren, denn innere Balance und das unbestechliche Bewusstsein dafür, an welchem Punkt der musikalischen Entwicklung wir uns gerade befinden, liegen dem zugrunde. Es war ein echter Triumph nicht nur für Ottavia Maria Maceratini, sondern für alle Beteiligten, und wer dabei war, dürfte nicht vergessen, welche durchgehende Spannungslinie im ersten Satz gestaltet wurde, wie still es im Publikum wurde, welch ein erfülltes Aufatmen nach dem letzten Ton durch die Reihen ging. Solche Konzerte belohnen alle ernsthaft suchenden Hörer unverhofft für unzählige Stunden des Durchhaltens in gepflegtem Mittelmaß, in billiger Ekstase, in virtuosem Geklingel. Als Zugabe spielte sie in diesem insgesamt dramaturgisch exzellent konzipierten Programm die Miniatur ‚Persian Love Song’ von John Foulds, dem wohl originellsten britischen Meister der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – ein Wunderwerk, den Préludes eines Debussy oder Miniaturen eines Bartók ebenbürtig, in ganz und gar eigenem Ton, und pianistisch höchst anspruchsvoll mit den tiefen pianissimo-Tremoli und dem melancholischen Gesang, der sich darüber erhebt und uns aus dem alltäglichen Zeitempfinden in eine entrückte Welt entführt. Ottavia Maria Maceratini hat alles, um als eine der ganz Großen auf den Bühnen der Welt ein- und auszugehen.

Nach der Pause dann Gustav Mahlers Vierte Symphonie. Und auch hier: nie habe ich eine Aufführung dieses Werkes gehört, wo ein durchgehender Zusammenhang so zum Greifen nahe schien wie hier. Besonders ergreifend der unendlichem Fluss ausmusizierte langsame Satz. Alles ein unendlicher Gesang. Herrlich musiziert auch der Kopfsatz mit seiner untergründig stets vorhandenen Rubato-Geschmeidigkeit, die sich dann immer wieder in offenkundigen Tempoverwandlungen niederschlägt. Hier zeigt sich auch seltene dirigentische Meisterschaft, alles in freiem Wechselbezug bis in die feinste Detailgestaltung durchzuformen und ohne Rigidität synchron zu halten und den Rhythmus zu „atmen“, und das Orchester geht mit wie ein zusammenhängendes Wesen. Nicht weniger charakteristisch wurde die Bizarrerie des Scherzos erfasst. Das Schlusslied sang Mireia Pintó. Wohl auch hier, in der ganzen Mahler-Symphonie, kaum ein Hörer, der nicht tief ergriffen war von der Poesie und dem Drama dieser innerlich so zerrissenen Musik, die den Bogen so gerne überspannt, deren große Herausforderung darin besteht, das Episodische zum Zusammenhang zu bündeln, indem sie eben nicht auf Sicherheit getrimmt, nicht unpoetisch strikt gestrafft wird, aber auch nicht wie so oft tränenrührig zerfließt, sondern unsentimental ausgekostet wird in allen Fasern ihres vielschichtigen Daseins. Jordi Mora erwies sich hier einmal als einer der feinsten, vornehmsten und bewusstesten Meister seiner in grundsätzlichen Fragen so uneinigen Zunft. Dazu muss man kein Star sein, und das wäre auch das Letzte, was er wünscht. Besonders hervorzuheben aus dem exzellent einstudierten und mit verfeinerter Leidenschaft musizierenden Orchester ist der exzellente Konzertmeister Joel Bardolet, der ebenso an der Spitze unserer besten Orchester sitzen könnte. Eines der besten Konzerte der letzten Jahre.

[Annabelle Leskov, April 2018]

Neues, Unbekanntes und Bewährtes in Stavanger

Am 5. April 2018 findet die Uraufführung von Knut Vaages neuem Orchesterwerk „Orkesterdialogar“ statt, Veranstaltungsort ist das Konserthus in Stavanger. Es spielt das Stavanger Symfoniorkester unter Eivind Gullberg Jensen. Nach der Uraufführung hören wir das Klavierkonzert D-Dur op. 13 von Benjamin Britten mit Leif Ove Andsnes und die Erste Symphonie e-Moll op. 39 von Jean Sibelius.

Als Gründungsmitglied des Musikkollektivs Avgarde kam Knut Vaage in Kontakt mit einer Generation junger, aufstrebender Komponisten um Ketil Hvoslef, der älter und erfahrener als seine westnorwegischen Kollegen ist, sich jedoch stets als Freund auf Augenhöhe verstand und nicht als Mentor auf dem Geniepodest. Zu Avgarde gehörten auch Torstein Aagaard-Nilsen, Glenn Erik Haugland, Ricardo Ordiozola und Jostein Stalheim – musikalische Resultate dieser Zeit finden sich unter anderem auf einer Solo-CD des ebenfalls der Gruppe zugehörigen Pianisten Einar Røttingen. Schnell profilierte sich Knut Vaage als einer der herausragenden Komponisten des Landes und erhielt zahlreiche, teils internationale Aufträge. So zählen heute zu seinem Œuvre drei Opern und ein Ballett, etliche Orchesterwerke – teils mit Solisten oder Elektronik -, Solo- und Kammermusik sowie eine Reihe von Lehrwerken; CDs erschienen bei Lawo, Aurora und Hemera, Norsk Musikforlag A/S hat bis jetzt dreizehn seiner Werke verlegt.

„Orkesterdialogar“ heißt sein heute uraufgeführtes Werk, übersetzt aus dem Neunorwegischen „Orchesterdialoge“. Es handelt sich um einen Auftrag des Norsk Musikforlag A/S und des Stavanger Symfoniorkester, die es auch verlegen beziehungsweise uraufführen. Mit einer Länge von etwa dreizehn Minuten entspricht Orkesterdialogar im Umfang einer klassischen Konzertouvertüre, welche erhebliche Ansprüche an die Beteiligten stellt, so dass es beinahe den Anschein eines Konzerts für Orchester hat. Im Zentrum steht die Betrachtung des dialogischen Austauschs, der zunächst zwischen zwei Solisten stattfindet, sich allerdings immer mehr über ganze Orchestergruppen ausbreitet. Die verschiedenen Konversationen unterteilt Vaage durch Abschnitte Senza misura, in denen das Stück zur Ruhe kommt und das Atmen als Lebenselixier in den Fokus rückt, indem die Bläser tonlos in die Instrumente pusten. Über weite Strecken erheben sich die Dialoge über ausgehaltenen Liegetönen, wodurch Kontinuität und Volumen auf klanglicher Ebene entstehen. Nach und nach wird die Musik eruptiver und rhythmisch belebter bis hin zu wahrhaften Explosionen, doch fällt sie immer wieder zu ihrem ruhigen Ausgangspunkt zurück. Wie er es in vielen seiner Werke tut, überrascht Knut Vaage auch in den Orkesterdialogar mit etwas Unerwartetem: Kurz vor dem Ende lichtet sich die Musik für wenige Sekunden auf, offenbart homophone, beinahe heitere Züge. Danach schließt sich der Kreis und das Material des Anfangs kehrt wieder. Es scheint, als wolle Knut Vaage mit der Aufhellung denen eine lange Nase zeigen, die ihn als kategorisierbaren Modernisten einordnen wollen – denn eben diese Passage resultiert logisch aus dem, was bislang geschah! Es ist ein eindrucksvolles und reifes Werk, welches Knut Vaage uns heute präsentiert. Der aufführende Dirigent, Eivind Gullberg Jensen, arbeitete nicht nur mit dem Orchester, sondern auch mit dem Komponisten eng zusammen und war gewissermaßen beteiligt an dieser Komposition. Die rhythmisch anspruchsvollen Passagen ziehen den Hörer nach vorne, nur um ihn durch das Atmen zurück in die Ruhe zu führen. Nicht die technischen Mittel machen die Orkesterdialogar modern (die Effekte von Clustern und geblasener Luft zählen eigentlich schon zur Konvention), sondern die schlüssige Struktur in Kombination mit souveräner Orchesterbehandlung. Vaage schlägt eine Brücke zwischen vergangenen Epochen und visionärem Blick in die Zukunft.

Standing Ovations gibt es für das nächste Stück, was einerseits verwundert, da es sicherlich kaum jemand im Saal je zuvor gehört hat, andererseits aber auch verständlich ist, reißt es doch mit ansteckender Energie mit und wird von allen Beteiligten bravourös dargeboten. Die Rede ist von Brittens Klavierkonzert D-Dur op. 13, seinem einzigen Klavierkonzert, dem jedoch in den kommenden Jahren noch Young Apollo für Klavier und Streicher sowie Diversions für Klavier linke Hand und Orchester folgen sollten. Das Konzert strotzt vor jugendlichen Kraft und rhythmischer Präsenz, welche in allen Sätzen vorhanden sind. Die Gesamtform ist ungewöhnlich mit den Satzbezeichnungen Toccata, Walzer, Impromptu und Marsch, was dem Werk allein schon eine gewisse Eigentümlichkeit verleiht. Der heutige dritte Satz ersetzte bei einer Revision von 1945 Rezitativ und Arie der originalen Fassung von 1938, jene Teile also, welcher von der damaligen Kritik als energetisches Hemmnis für die Gesamtform angesehen wurden. Impromptu ist eigentlich ein irreführender Begriff, handelt es sich doch um eine strenge Variationsform, in welcher das Thema omnipräsent bleibt. Charmant gestaltet sich der Walzer, eine beinahe Ravel’sche Inspiration mit Witz und subtilen Orchestereffekten, über die sich immer wieder das Soloklavier schiebt. Die Rahmensätze beeindrucken mit Wucht und Stärke, fordern pianistische Höchstleistungen und stellen orchestrale Effekte zur Schau, zeigen den jungen Komponisten als Virtuosen und als Orchestrator, der sich bereits zu jenem Meister entwickelt, der später das War Requiem oder Death in Venice komponieren wird.

Leif Ove Andsnes kam früh in Kontakt mit Brittens Klavierkonzert, es war damals seine erste Begegnung mit dem Engländer – in Form der legendären Aufnahme mit Svjatoslav Richter als Solist und Britten selbst als Dirigent (die LP gemeinsam mit dem von Mark Lubotsky gespieltem Violinkonzert wurde wiederveröffentlicht als CD bei: London 417 308-2, Decca, EAN: 0 28941 73082 4). Seine Begeisterung war von Beginn an so stark, dass er das Konzert schon in jugendlichem Alter studierte und aufführte. Nachdem Andsnes das Konzert jahrelang ruhen ließ, holte er es nun wieder hervor und führt es mit verschiedenen Orchestern in zahlreichen Städten auf. Wir hören den für Leif Ove Andsnes so charakteristischen Anschlag, der bei aller dynamischen Vielfalt und allem energischen Drängen eine gewisse Innigkeit und Introversion nicht verleugnet. Die Musik bleibt frisch und unverbraucht, seine detailgenaue Kenntnis jeder einzelnen Note verleitet Andsnes nicht zur Routine, sondern hält ihn dazu an, bei jeder Aufführung alles neu entstehen und das Ereignis zuzulassen. Seine Vorstellungen überträgt er auch auf das Orchester, das symbiotisch mit ihm harmoniert. Als Zugabe bietet uns Andsnes noch Debussy dar: Jardins suis la pluie aus den Estampes, Tribut an den 100. Todestag des unaufdringlichsten aller Revolutionäre. Dass Andsnes‘ Spiel gezügelt und innig bleibt, kommt Debussys Klangwelt sehr zugute, und so erleben wir zerbrechliche Farben, sinnlich-bildhafte Kaskaden und Finesse in reinster Form.

Nach der Pause erklingt die Erste Symphonie von Jean Sibelius, die zu den meistgespielten Werken aus Finnland gehört. Nun habe ich die Freude, den Künstler noch einmal aus einer anderen Perspektive zu erleben: Leif Ove Andsnes sitzt jetzt im Publikum und lauscht der Symphonie. Er hat den Platz neben mir und so spüre ich, wie sich der Fokus und die Präsenz seines Hörens auf sein Umfeld überträgt. Einmal mehr wird mir klar, dass ein guter Künstler nur dann wirklich gewissenhaft mit der Musik umgeht, die er spielt, wenn er ebenso gewissenhaft hört und jeden Moment sich erfüllen lässt. Der Zusammenhang ist frappierend und doch logisch, kann ein Musiker schließlich nur das aktiv umsetzen, was er auch wahr- und aufnehmen kann.

Die Erste Symphonie ist nicht, wie oft kolportiert, das symphonische Erstlingswerk des jungen Finnen: Zuvor entstand bereits Kullervo, ein Koloss von beinahe 80 Minuten Spieldauer mit drei rein orchestralen Sätzen, einem mit Chor sowie einem beinahe halbstündigen für Solisten, Chor und Orchester. Doch Sibelius zog das Werk nach der Uraufführung zurück, es wurde erst nach seinem Tod entdeckt. Auch an seiner Ersten Symphonie feilte Sibelius noch im Jahr nach der Uraufführung, die ursprüngliche Fassung ist nicht mehr erhalten. Es lässt sich von einer wahrhaft „finnischen“ Symphonie sprechen, ein Idiom, welches er bereits in Kullervo ergründet hat. Der erste Satz steht nach der langsamen Einleitung im 6/4-Takt, kein untypisches Metrum für Finnland, und auch der zweite Satz kehrt zwischendurch zu diesem Metrum zurück. Das Scherzo steht im 3/4-Takt, doch besteht eindeutige Zweitaktigkeit – zudem findet sich im Thema ein Auftakt, der nur selten realisiert wird, vielleicht da er ungewöhnlicherweise gegen die scheinbare Anatomie des Themas ankämpft. Alleine die Öffnung nach der Einleitung reicht, den Hörer in den Bann zu ziehen: Es scheint, als ginge die Sonne auf, wenn die Violinen über rasche Repetitionen erstmalig das Hauptthema vortragen und steigern. Die markante Rhythmuspräsenz zieht sich sogar durch den langsamen Satz, der nicht weniger energiegeladen ist als die ihn umrahmenden Sätze. Das Scherzothema stellt die Pauke vor, das Orchester folgt, wodurch es archaisch, aber keineswegs banal auftritt. Komplex ist das Finale quasi una fantasia, in welchem Sibelius noch einmal dem Hörer Durchhaltevermögen abverlangt, ihn aber mit hinreißender Musik belohnt.

Der Bezug zur Musik fesselt, mit dem Eivind Gullberg Jensen dirigiert. Er setzt das Jugendliche um und gewährt parallel Einblick in das schon zu diesem Zeitpunkt ausgefeilte Geschick als Komponist, das Sibelius besitzt und mit einer Inspiration vereint, die seinen Freigeist und seine Liebe zur Natürlichkeit offenlegt. Gullberg Jensen hat den Mut, das umzusetzen, was in der Partitur steht, so beispielsweise die zahlreichen Feinheiten in der Artikulation, welche die meisten Dirigenten unbeachtet lassen. Im Mittelsatz das Thema nicht verwaschen dahinfließen zu lassen, sondern gemäß der Bindebögen auch kurz abzusetzen und ihm so Profil und Kontur zu verleihen, bedeutet für mich, sich aktiv der üblichen Vortragsweise entgegenzustellen zu Gunsten einer Klarheit, die zweifelsohne in der Musik enthalten ist. Dynamisch setzt er den Schwung frei und entfesselt den Drang nach vorne, Musizierfreude und der eindeutig „nordische Ton“ bleiben stets präsent. Körperlich und geistig geht Gullberg Jensen auf die Musik ein und in der Musik auf.

Es ist ein denkwürdiges Konzert, welches ich heute in Stavanger erleben darf, und gerne wäre ich noch geblieben, es am folgenden Abend ein weiteres Mal hören zu können. Die Musikkultur und deren Institutionen in Norwegen sind nicht nur staatlich ausgezeichnet gefördert, was auch in Deutschland auf breiterem Feld wünschenswert wäre, die Musiker sind auch freisinniger und bereit, der musikalischen Sache auf den Grund zu gehen, sie nicht nur oberflächlich darzustellen. Es ist keineswegs so, dass man mehr Proben hätte als in Mitteleuropa (nach wie vor eine bedauerliche Tatsache, welche den Konventionen der internationalen Professionalität zu verdanken ist), der Hauptunterschied ist, dass das Individuum bereit ist, sich mit dem ganzen Kollektiv in den Dienst von etwas Größerem zu stellen: der Musik selbst.

[Oliver Fraenzke, April 2018]

Hebräische Suiten

Delos, DE 3498; EAN: 0 13491 34982 4

Bratschenmusik von Ernest Bloch hören wir auf der neuen Veröffentlichung des Duos Paul Neubauer und Margo Garrett. Auf dem Programm stehen die Suite für Bratsche und Klavier (1919), die unvollendete Suite für Bratsche Solo (1958), die Suite Hébraïque (1951) sowie Meditation and Processional (1951).

Die frühe Karriere des aus der Schweiz stammenden jüdischen Komponisten Ernest Bloch weist gewisse Eigenwilligkeiten auf: Trotz außergewöhnlicher Begabung im Violinspiel und Unterricht bei namhaften Musikern wie Eugène Ysaÿe wollte Bloch einfach nicht der Durchbruch gelingen. Immer wieder erlebte er Misserfolge; durch einen solchen strandete er schließlich mittellos in Amerika. Trotz unterschiedlichster Unterstützungen stellte sich weiterhin kein Erfolg ein, und erst die Drei Jüdischen Gedichte brachten ihm rasante Popularität, als sie von Dirigenten wie Leopold Stokowski und Karl Muck aufgeführt wurden. Mit neuem Mut versehen, reiste er zurück nach Europa, um seine Familie mit nach Amerika zu bringen, und schloss einen Vertrag mit dem New Yorker Verlag Schirmer ab. Zurück in den USA, erhielt er eine Lehrstelle an der renommierten Mannes School of Music. Bis heute zählt Bloch in Amerika zu den führenden Komponisten, wird in Europa allerdings eher als Randerscheinung wahrgenommen.

Wenn heute etwas mit Ernest Bloch verbunden wird, dann ist es das Jüdische in der Musik. Tatsächlich ist dies auch zentrales Element seiner Musik und scheint in jedem Werk – selbst in den nicht explizit danach benannten – unverkennbar durch. Bloch genießt die ruhigeren Tempi in dunkel schwelgerisch brütendem Gestus, nimmt sich Zeit, seine kühnen Harmonien zu entfalten. Punktierte Rhythmen und 3-gegen-2-Konflikte verleihen der Musik eine prägnante Würze. Im Klavier gehören wellenartige Bewegungen und eigenständiger Kontrapunkt gegenüber dem reinen Melodieinstrument zu den wesentlichen Charakteristika.

Paul Neubauer und Margo Garrett konzentrieren sich in erster Linie auf den atmosphärischen Aspekt in Blochs Musik. Sie tauchen förmlich ein in die hebräischen Klänge und kosten sie voll aus, reißen so auch den Hörer mit. Etwas verloren geht darüber allerdings die strukturelle Feingliedrigkeit der Musik mittels dynamischer Finessen: Die subtilen Crescendi und Decrescendi werden unzureichend realisiert, extreme Dynamiken nivelliert. Auf diese Weise ergibt sich eine gewisse Gleichförmigkeit. Positiv hervorzuheben ist die Klarheit der Bratschenstimme, die nicht im Vibrato ertränkt wird, sondern sich feinhörig auf die musikalischen Situationen einzustellen vermag. Garrett stimmt sich aufmerksam auf ihren Violapartner ein, überrumpelt ihn nicht durch übertriebene Lautstärke und erweist sich doch als gleichwertiger Partner in den kontrapunktischen Verflechtungen.

[Oliver Fraenzke, März 2018]

Kein Püppchen, sondern eine reife Musikerin

Ars Produktion Schumacher, ARS 38 753; EAN: 4 260052 387535

Zala Kravos spielt für Ars Produktion Schumacher die vier Balladen op. 10 von Johannes Brahms, Franz Liszts zweite Ballade in h-Moll S 171, Frédéric Chopins vier Impromptus opp 29, 36, 51 und 66 sowie „Crystal Dream“ von Albena Petrovic-Vratchanska.

Die zur Zeit der Aufnahme gerade einmal 14-jährige Zala Kravos wählte ein heikles Programm für ihre Debut-CD aus: herausfordernd nicht nur in Bezug auf die mechanisch-technischen Anforderungen, sondern auch hinsichtlich des poetischen und musikalischen Gehalts in den zu ausgewählten Werken. Die Balladen op. 10 von Brahms und die beiden Balladen von Liszt, es erklingt deren zweite, sind düstere und innerlich rumorende Werke, die Reife und Ausdrucksstärke mit meist nur schlichten Mitteln verlangen. Das Virtuosentum steht dabei ganz im Hintergrund, der Fokus liegt auf tönender Aussagekraft. Die vier Impromptus von Frédéric Chopin sind leichteren Gemüts, fordern entsprechendes Zartgefühl, innere Ruhe und Reflektiertheit. Keines dieser Werke gehört in das übliche dankbare Repertoire eines Wunderkindes, welches sich der Welt als meisterlicher Tastenakrobat präsentieren will. Eben dies ist, was hier Aufsehen erregt.

Das letzte Werk der CD ist von Albena Petrovic-Vratchanska, eine effektvolle kleine Fantasie, die ihre Wirkung aus einer auf die tiefen Saiten gelegten Halskette bezieht und – der Pianistin gewidmet – über den Namen „Zala“ komponiert wurde.

Das düstere, zwiespältige Cover wirkt beinahe gespenstisch: Auf der einen Hälfte die schöne kindliche Gestalt, auf der anderen das gruselige Negativ mit invertierten Farben. So eindrucksvoll dieses Cover einerseits erscheint, so hätte es mich doch beinahe etwas abgeschreckt. Zu viele Künstler und vor allem Künstlerinnen, die sich so oberflächlich „püppchenhaft“ und wirkungsvoll düster darstellen, spielen wie ein klingendes Pendant zu den Bildern. Doch nicht so Zala Kravos.

Die junge slowenische Musikerin fesselt mit überraschender, ja gar überwältigender Reife und Präsenz. Bewusst über die poetische Aussage steuert Zala Kravos zielsicher durch die komplexen Formen, wodurch selbst die rhapsodisch verzweigte Liszt-Ballade Bündelung und Geschlossenheit aufweist. Die Brahms-Balladen bleiben erdverbunden und unprätentiös in der Darstellung. Verblüffend, wie reflektiert und erfahren sich Zala Kravos den beiden Giganten Brahms und Liszt nähert! Hier tritt kein typisches Wunderkind auf, sondern eine seriöse Musikerin, der es um die innermusikalischen Werte geht. Selbst die Reise zu der farbenreichen Welt Chopins ist bereits weit fortgeschritten, wenngleich der Anschlag noch nicht die Zartheit und die musikalische Wirkung noch nicht die mannigfaltige Introversion und vieldeutige Innerlichkeit aufweist, welche als die wohl wichtigsten Gegensätze zu seinem Zeitgenossen Liszt gelten können. Doch bin ich mir sicher, dass Zala Kravos auch diese Welt schnell für sich gewinnen und mir ihrer erstaunlichen Intuition durchdringen kann. Persönlich halte ich diese Pianistin für eine der vielversprechendsten Entdeckungen der letzten Zeit und hoffe sehr, dass sie den eingeschlagenen Weg weiterverfolgen wird. Wenn sie weiterhin die Musik und nicht das Showbusiness vor Augen hat, dürften wir wohl bald einer neuen Größe mit zeitlosen Qualitäten in unseren Konzertsälen begegnen.

[Oliver Fraenzke, Februar 2018]

Auf die Schnelle

Orfeo, C 929 181 A; EAN: 4 011790 929125

Zum Jubiläumsjahr publizierte Orfeo eine CD mit Werken Gottfried von Einems. Neben der Philadelphia Symphony op. 28 hören wir die Geistliche Sonate op. 38 und das Stundenlied op. 26 nach Bertolt Brecht. Franz Welser-Möst dirigiert die Wiener Philharmoniker und den ausschließlich im Booklet erwähnten Singverein der Gesellschaft der Musikfreude in Wien. In der Geistlichen Sonate singt Ildikó Raimondi, außerdem spielen hier Gábor Boldoczki an der Trompete und Iveta Apkalna an der Orgel.

Es wirkt doch alles recht auf die Schnelle zusammengeworfen: Die Aufnahmen der drei Stücke stammen aus unterschiedlichen Jahren, 2009, 2011 und 2016, und stehen weder inhaltlich noch bezüglich der Besetzung in einem schlüssigen Zusammenhang. Dieses Jubiläum wurde wohl etwas spät bedacht von den Verantwortlichen; da wurde also genommen, was gerade verfügbar war.

Am beachtlichsten gelingt dabei die Geistliche Sonate für Sopran, Trompete und Orgel op. 38, hier unzusammenhängend zwischen zwei Orchesterwerken platziert. Zwar ist ein gewisses Übermaß an Vibrato in der Singstimme zu beklagen, doch überzeugt die Triosonate im Gesamtbild durch Vitalität und Unverbrauchtheit. Gábor Boldoczki musiziert glasklar und nutzt die dynamisch-klanglichen Möglichkeiten seines Instruments souverän aus, Iveta Apkalna hält die Orgel kammermusikalisch im Zaum und besticht durch feine Registrierung.

Franz Welser-Möst belässt in den beiden Hauptwerken die Musik ungeschliffen, beinahe primitiv. Und wenn er doch einmal eingreift, herrscht Willkür – dass die Eingriffe aus einer tieferen Kenntnis der Werke hervorgingen, kann ich nicht erkennen. Die Philadelphia Symphony erstrahlt in Haydn’schem Witz, zeigt der fortschreitenden Avantgarde durch provozierend reine Tonalität die lange Nase. Warum also übertreibt Welser-Möst jede dynamische Akzentuierung und sabotiert dadurch die humoristischen Züge? Wieso fehlt dem Mittelsatz jegliche Unbeschwertheit und Sanglichkeit? Und weshalb muss das Finale zwingend so uncharmant und ernst wirken, wenn Einem die Symphonie dezidiert in klassischem Gestus schrieb und sie im Programm eher als Ouvertüre denn als Hauptwerk fungieren soll? Dies sind nur drei der vielen Fragen, welche diese Aufnahme in mir aufwirft, und die ich gerne verstehen würde.

Bekanntheit öffnet Türen, ob verdient oder nicht, doch von dieser Aufnahme würde ich letztlich abraten – wäre da nicht der Repertoirewert: drei hochkarätige Werke eines scheinbaren One-Hit-Wonders, der sich nicht nur als großartiger Opernkomponist, sondern in seinem gesamten Schaffen einschließlich Orchester- und Kammermusik als feinfühliger, umfassend begnadeter wie präzise formulierender Komponist entpuppt.

[Oliver Fraenzke, März 2018]

Ein Pazifist gegen den Strom

Hyperion, CDA68203; EAN: 0 34571 28203 9

Die ersten beiden der insgesamt vier Symphonien des in London geborenen Komponisten Michael Tippett sind auf vorliegender CD von Hyperion in einer Aufnahme mit Martyn Brabbins und dem BBC Scottish Symphony Orchestra zu hören.

Die frühen Jahre des britischen Komponisten Sir Michael Tippett waren in vielerlei Hinsicht traumatisch: Er erlebte als Kind den ersten Weltkrieg, bekam den finanziellen Ruin seiner Familie unmittelbar mit, wurde missbraucht, und seine frühen „Kompositionen“ wurden als wildes „Klimpern“ abgetan. Es dauerte einige Zeit, bis Tippett seinen Vater überreden konnte, ihn Musik studieren zu lassen – und er schaffte schließlich seinen Bachelor im zweiten Anlauf, kehrte aber, unzufrieden mit seinen bisherigen Werken, ans College zurück und arbeitete vor allem an seiner kontrapunktischen Ausbildung. Alle früher entstandenen Werke zog er zurück. Der Bookletautor Oliver Soden schreibt, Tippetts Wahl, Musik zu studieren, sei nicht einer genuinen Begabung entsprungen, sondern dem Wunsch, als Pazifist, Linker und Homosexueller gegen das herrschende politische Klima anzutreten. Erste Erfolge stellten sich dann schnell ein, mit A Child of Our Time gelang ihm 1944 der Durchbruch, ein Jahr später beendete er seine erste gezählte Symphonie.

Gegen den Strom wirkt auch diese Musik, trotzige Eigenwilligkeit durchzieht sie. Die volle Orchestergewalt nutzt der Komponist effektiv aus, überrollt den Hörer in manchen Passagen geradezu mit mächtigen Tutti-Walzen. In den beiden viersätzigen Werken schimmern noch klassische Ideale durch, jedoch sind Form und Inhalt demgegenüber weit expandiert. Bildhaft gestaltet sich das Finale der 1945 beendeten Ersten Symphonie, die Melodie entschwindet in immer höhere und fernere Regionen, während sich wuchtige Paukenschläge in den Vordergrund drängen. Musikalische Reflexion des Krieges? Tippett hatte Schlimmes erlebt bei den Bombardierungen, wodurch diese Frage berechtigt erscheint. Die Zweite Symphonie weist elaborierteren Stil und abgeklärtere Kontinuität auf, profiliert sich allgemein schärfer und kantiger als ihr Vorgängerwerk. Am meisten bezaubert hier der zweite Satz, pure und aufwallende Emotionen ergeben ein Bild unverfälschter Zärtlichkeit – natürlich, wie meist bei Tippett, immer wieder unterminiert durch subtile Skurrilitäten.

Die Musiker des BBC Scottish Symphony Orchestras unter Martyn Brabbins spielen auf technisch hohem Niveau. Freude ziehen sie vor allem aus den Klängen der Zweiten Symphonie, die Erste wird eher stoisch exekutiert. Dabei legen sie ihr Augenmerk auf Fülle und Wucht des Klangs, musikalisch hat Brabbyns nur bedingt gearbeitet mit dem vorrangigem Ziel, den Anforderungen einer Aufnahme bezüglich instrumentaler Perfektionierung zu entsprechen.

[Oliver Fraenzke, März 2018]