Schlagwort-Archive: Martyn Brabbins

Die Weiten des Meeres

Hyperion, CDA68245; EAN: 0 34571 28245


Martyn Brabbins leitet die Aufnahme der „A Sea Symphony“ von Ralph Vaughan Williams sowie dessen kurzes Chorwerk „Darest thou now, O soul“. Es spielt das BBC Symphony Orchestra und der BBC Symphony Chorus, die Soli singen Elizabeth Llewellyn und Marcus Farnsworth
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Mit diesem Erstlingswerk auf dem Gebiet der Symphonik beweist Ralph Vaughan Williams höchste Ambitionen. Sechs Jahre dauerte der Prozess des Komponierens und heraus kam eine knapp 70-minütige Symphonie für volles Orchester mit großem Chor, die schon vieles seiner späteren Klangwelt erkennen lässt. Wie auch in den acht später komponierten Symphonien erleben wir ein Feuerwerk an Effekten und orchestralen Finessen, die auf überbordende Wirkung ausgelegt wurden; Vaughan Williams wusste genau, wie man einen Orchesterapparat mächtig und vielschichtig einsetzt. Es war das Scherzo der „A Sea Symphony“, das mich vor einigen Jahren auf die Musik des Engländers aufmerksam machte: Mich faszinierte der klangmalerische Stil, der die Wellen und den Wind so naturgetreu nachzustellen vermag und – zumindest in diesem Satz – in eine nachvollziehbare Form bringt.


Voll und effektgeladen trumpft auch das BBC Symphony Orchestra und der BBC Symphony Chorus unter Leitung von Martyn Brabbins auf. Der Dirigent stimmt Chor und Orchester dynamisch aufeinander ab und schafft einen homogenen Klang zwischen Stimme und Instrument. Vor allem im Kopfsatz schafft Brabbins ausgewogene Kontraste und formale Zusammengehörigkeit, was bei Vaughan Williams‘ ausladenden Sätzen stets eine besondere Herausforderung darstellt; im Finale mag dies nicht ganz funktionieren: die Musik fließt recht ereignislos voran, ohne das Ohr des Hörers wirklich fesseln zu können. Der zweite Satz, „On the beach at night alone“ besticht durch den zarten Wechsel zwischen Solo und Chor und zutiefst empfundenes Gefühl von allen Beteiligten. Wild und wuchtig, aber nicht ungezügelt, nimmt Brabbins das Scherzo, „The waves“, wodurch die Naturgewalten umso wirkungsvoller hervorbrechen.


Die Verbindung zu „Darest thou now, O soul“ herrscht durch den Textbezug, dieses Werk und die Symphonie basieren beide auf Texten von Walt Whitman aus Leaves of Grass. Anders als die Sea Symphony verzichtet das über 15 Jahre später komponierte „Darest thou now, O soul“ vollständig auf Effekt oder dynamischen Aufbau, sondern zeichnet ein Stimmungsgemälde voller Wärme und Einfachheit. Brabbins nimmt dieses Stück gelassen, würdevoll und beinahe sakral.


[Oliver Fraenzke, Dezember 2018]

Beispiellose Komplexität

NMC; LC 03128; EAN: 5 023363023122

Zum 75. Geburtstag des britischen Komponisten Brian Ferneyhough erschien auf NMC eine CD mit sehr gemischtem Programm. Von der „Missa Brevis“ (a cappella) über das Ensemblestück „Liber Scintillarum“ (Sextett) bis zu den beiden kaum jemals aufgeführten Riesenbesetzungen von „La Terre est un Homme“ und „Plötzlichkeit“ umfasst es fast ein halbes Jahrhundert hochkomplexer Musik – in exemplarischen Darbietungen.

   

Brian Ferneyhough steht als einer der wenigen Komponisten seiner Generation nach wie vor zu hyperkomplexen Strukturen in der Nachfolge des Serialismus der 1950er Jahre. Dabei ist seine Musik allerdings in ihrer klanglichen Ausprägung derart mannigfaltig, dass das dann längst nicht so dogmatisch wirkt, wie es bei näherer Betrachtung vielleicht doch – kompositionstechnisch – tatsächlich ist. Beispielhaft demonstriert wird seine New Complexity im Orchesterwerk La Terre est un Homme von 1976-79 (der Titel bezieht sich auf ein Gemälde von Roberto Matta aus dem Jahre 1942). Der unvorbereitete Hörer mag dieses simultane, brutale Hereinprasseln so vieler Eindrücke als Zumutung empfinden; es liegt Ferneyhough sicher fern, einfach nur provozieren zu wollen – die Uraufführung war allerdings ein Skandal. Die Dichte, innerhalb der jeder der 88 Spieler individuell Höchstschwierigkeiten zu bewältigen hat, mag zunächst wirklich verstören, erschlägt einen fast, wird nach mehrmaligem Hören jedoch transparenter. Auch Plötzlichkeit (2006) bewegt sich allein rhythmisch gleichzeitig auf bis zu 20 verschiedenen Schichten, ist jedoch durch das durchgehend ruhigere Tempo leichter fasslich. Die dauernden Perspektivwechsel bleiben interessant; der Gesang der drei Damensoli wirkt gegen Schluss hypnotisierend. Am schwierigsten vielleicht das neueste Stück Liber Scintillarum (2012), das vom Freiburger ensemble recherche unglaublich präzise dargeboten wird, aber durch seine bewusste Fragmentierung zerrissener wirkt, als man zu Beginn erwarten würde. Dass man sich in der Missa Brevis (1966-69, ohne Credo) auf festem Boden wähnt, täuscht. In diesem ausdrücklich nicht für den liturgischen Gebrauch bestimmten Werk entzieht sich das Individuum – in der musikalisch dringlichen Ausprägung der Einzelstimmen – ebenso einer wohligen Einbettung in ein Gesamt-Klangbild oder eine Theologie; für mich so etwas wie ein Gegenentwurf zur späten a cappella Messe Paul Hindemiths. Diese höchst individualistische Sichtweise muss man mögen – in jedem Fall liefern die 12 Solisten des dreigeteilten EXAUDI-Ensembles hier eine Glanzleistung ab. Und das gilt erst recht für das BBC Symphony Orchestra unter Martyn Brabbins, der die gewaltigen Klangmassen überzeugend zu bändigen weiß – unterstützt von einer exzellenten Tontechnik. Alles in allem harter Tobak, aber wirklich perfekt präsentiert: Ich kann mich dem Faszinosum dieser etwas chaotischen, aber immer hochvirtuosen Musik nicht mehr entziehen.

[Martin Blaumeiser, August 2018]

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Ein Pazifist gegen den Strom

Hyperion, CDA68203; EAN: 0 34571 28203 9

Die ersten beiden der insgesamt vier Symphonien des in London geborenen Komponisten Michael Tippett sind auf vorliegender CD von Hyperion in einer Aufnahme mit Martyn Brabbins und dem BBC Scottish Symphony Orchestra zu hören.

Die frühen Jahre des britischen Komponisten Sir Michael Tippett waren in vielerlei Hinsicht traumatisch: Er erlebte als Kind den ersten Weltkrieg, bekam den finanziellen Ruin seiner Familie unmittelbar mit, wurde missbraucht, und seine frühen „Kompositionen“ wurden als wildes „Klimpern“ abgetan. Es dauerte einige Zeit, bis Tippett seinen Vater überreden konnte, ihn Musik studieren zu lassen – und er schaffte schließlich seinen Bachelor im zweiten Anlauf, kehrte aber, unzufrieden mit seinen bisherigen Werken, ans College zurück und arbeitete vor allem an seiner kontrapunktischen Ausbildung. Alle früher entstandenen Werke zog er zurück. Der Bookletautor Oliver Soden schreibt, Tippetts Wahl, Musik zu studieren, sei nicht einer genuinen Begabung entsprungen, sondern dem Wunsch, als Pazifist, Linker und Homosexueller gegen das herrschende politische Klima anzutreten. Erste Erfolge stellten sich dann schnell ein, mit A Child of Our Time gelang ihm 1944 der Durchbruch, ein Jahr später beendete er seine erste gezählte Symphonie.

Gegen den Strom wirkt auch diese Musik, trotzige Eigenwilligkeit durchzieht sie. Die volle Orchestergewalt nutzt der Komponist effektiv aus, überrollt den Hörer in manchen Passagen geradezu mit mächtigen Tutti-Walzen. In den beiden viersätzigen Werken schimmern noch klassische Ideale durch, jedoch sind Form und Inhalt demgegenüber weit expandiert. Bildhaft gestaltet sich das Finale der 1945 beendeten Ersten Symphonie, die Melodie entschwindet in immer höhere und fernere Regionen, während sich wuchtige Paukenschläge in den Vordergrund drängen. Musikalische Reflexion des Krieges? Tippett hatte Schlimmes erlebt bei den Bombardierungen, wodurch diese Frage berechtigt erscheint. Die Zweite Symphonie weist elaborierteren Stil und abgeklärtere Kontinuität auf, profiliert sich allgemein schärfer und kantiger als ihr Vorgängerwerk. Am meisten bezaubert hier der zweite Satz, pure und aufwallende Emotionen ergeben ein Bild unverfälschter Zärtlichkeit – natürlich, wie meist bei Tippett, immer wieder unterminiert durch subtile Skurrilitäten.

Die Musiker des BBC Scottish Symphony Orchestras unter Martyn Brabbins spielen auf technisch hohem Niveau. Freude ziehen sie vor allem aus den Klängen der Zweiten Symphonie, die Erste wird eher stoisch exekutiert. Dabei legen sie ihr Augenmerk auf Fülle und Wucht des Klangs, musikalisch hat Brabbyns nur bedingt gearbeitet mit dem vorrangigem Ziel, den Anforderungen einer Aufnahme bezüglich instrumentaler Perfektionierung zu entsprechen.

[Oliver Fraenzke, März 2018]

Zwei erstaunliche Symphonien eines Filmkomponisten

Naxos, LC 05537, 8.571371; EAN: 7 47313 13717 6

Der gebürtige Rumäne Francis Chagrin war ab 1936 in Großbritannien vor allem als Filmkomponist aktiv, hinterließ aber für das Konzertrepertoire u.a. die beiden hier als CD-Ersteinspielung vorliegenden Symphonien. Mit dem BBC Symphony Orchestra unter Martyn Brabbins kann Naxos mit einem Spitzenensemble aufwarten, das den Werken in jeder Hinsicht gerecht wird.

Der vor allem durch ein sehr umfangreiches Schaffen für Film und Fernsehen – etwa zur seinerzeit in England sehr populären Nazi-Widerstands-Komödie The Colditz Story (1955) – bekannte Komponist Francis Chagrin entstammte einer wohlhabenden jüdischen Familie aus Bukarest, wo er 1905 als Alexander Paucker geboren wurde. Nach einem Ingenieurstudium in Zürich und erster musikalischer Ausbildung am dortigen Konservatorium ging er ab 1933 nach Paris, wo er u.a. von Paul Dukas und Nadia Boulanger unterrichtet wurde. Schon hier verdiente er sein Geld als Barpianist und mit kleineren Aufträgen für den Film. Nach einer missglückten Ehe und dem Zerwürfnis mit seiner Familie (Enterbung) nahm er den neuen französischen Namen an. Ab 1936 übersiedelte er schließlich nach England, wo er bei Matyas Seiber studierte und den Rest seines Lebens wirkte. Er arbeitete in verschiedenen Positionen für die BBC und setzte sich als Mitgründer der Society for the Promotion of New Music (SPNM) für die Aufführung zeitgenössischer Musik ein.

Man darf davon ausgehen, dass für einen überwiegend mit mehr oder weniger kommerzieller Musik befassten Komponisten das Schreiben von Symphonien sicher so etwas wie die Kür darstellt. Das mag wohl erklären, dass sich die Entstehung von Chagrins Symphonie Nr. 1 über den langen Zeitraum von 1946-1959 hinzog (nochmals revidiert 1965). Das tut der erstaunlichen Einheit des Werkes allerdings keinen Abbruch. Formal entspricht die erste – wie auch die zweite – Symphonie dem traditionellen viersätzigen Schema, wie man es seit der Wiener Klassik gewohnt ist. Besonderes Merkmal in der Symphonie Nr. 1 ist jedoch, dass alle Sätze in der Mitte durch einen, auch im Tempo stark kontrastierenden Teil gebrochen werden So bricht etwa in den 2. Satz, Largo, ein kurzes Allegro ein. Harmonisch ist schon in diesem Werk interessant, dass trotz unzweifelhafter Tonalität – als Haupttonart lässt sich doch so etwas wie G-Dur ausmachen – gleichzeitig eine hyperchromatische Hüllkurve für das Klangbild angestrebt wird, die alle zwölf Töne möglichst präsent hält. Dies geschieht sogleich in der Largo-Einleitung des Kopfsatzes, wo ein Zwölftonakkord aufgebaut wird, bevor das Allegro-Thema erscheint. Dieses ist einheitsstiftend für die gesamte Symphonie, deren Themen sich nicht nur rhythmisch in Partikeln darauf beziehen lassen. Auch lässt sich das Werk als Bogenform deuten: So taucht zum Ende des Finalsatzes erneut das Material der oben beschriebenen Einleitung auf, und der Zwölftonakkord wird dann in dessen Coda analog schrittweise abgebaut.

Ähnlich einheitsstiftende Elemente harmonischer wie texturaler Natur finden sich noch stärker in der Symphonie Nr. 2 (1965-71). So verwendet Chagrin hier eine Reihe von Sechstonakkorden, die paarweise alle 12 chromatischen Halbtöne enthalten, aber immer auch derart auseinandergepflückt werden, dass klare Dur- bzw. Mollakkorde bzw. übermäßige Dreiklänge hörbar werden. Dies erklingt dann für den Hörer – auch dank Chagrins wirklich phänomenaler Instrumentationskunst – in der Regel als gut nachvollziehbare Bitonalität, die sich aber kaum reibt oder unangenehm aufdrängt, sondern quasi perspektivisch auffächert. Besonders gelungen erscheint dies in den fast monumentalen choralartigen Passagen im IV. Satz Andante.

Was bleibt nun bei diesen Werken wirklich hängen? Chagrin hat unzweifelhaft die Fähigkeit, Kontraste gut heraus zu arbeiten und damit dem Verlauf eines Symphoniesatzes dramatisches Gewicht zu verleihen. Bei der Verarbeitung der Themen überzeugt vor allem rhythmisches und kontrapunktisches Raffinement. Die erste Symphonie ist dennoch etwas akademisch dem Neoklassizismus verpflichtet – was bei einem Schüler Nadia Boulangers allerdings nicht verwundert; man vergleiche etwa die frühe Symphonie Elliott Carters. Im Scherzo (III. Satz. Presto scherzando) finden wir dauernde Taktwechsel, die möglicherweise durch rumänische Volksmusik inspiriert sind, allerdings auch als Antwort auf Boris Blachers Idee der variablen Metren interpretiert werden könnten. Gleiches findet sich z.B. auch im Scherzo (II. Satz) von Hans Werner Henzes 2. Sinfonie (1949). Schwächer ist allerdings bereits die Themenbildung an sich. Hier ist Chagrin wenig individuell; das Streben nach Chromatik verhindert melodische Einfälle, die wiedererkennbaren Charakter haben. Tatsächlich erinnert etwa das prägnante Trompetenmotiv (nach Buchstabe B) im Kopfsatz der Symphonie Nr. 1 sofort an das Hauptmotiv von William Waltons 1. Symphonie b-moll (1932-35) – oder ist das gar als Hommage gedacht? So erweisen sich überhaupt die Ecksätze beider Symphonien trotz des darin gezeigten handwerklichen Könnens als zwar spannend, aber durchaus nichts Neues oder etwas, das durch eine wirklich persönliche Handschrift aufmerken lässt. Stärker sind die Mittelsätze: Die langsamen Sätze bauen Atmosphäre auf und die melodischen Einfälle entwickeln Eigenleben – und hier bleibt Chagrin seiner nie verlorenen Affinität zur französischen Musik treu. Die Scherzi beider Symphonien überzeugen durch unwiderstehlichen Rhythmus und Schwung. Trotz der Einwände: Mit den Symphonien anderer Filmkomponisten – für die britische Musik seien da natürlich vor allem William Alwyn und Malcolm Arnold genannt – kann Chagrin locker mithalten.

Beide Symphonien erscheinen bei Naxos als Ersteinspielung auf CD. Für die Symphonie Nr. 2 existiert bei der BBC eine alte Aufnahme des Bournemouth Symphony Orchestra unter Leitung des Komponisten, die aber nie auf Tonträgern erschien. Hier zeigt sich das BBC Symphony Orchestra unter Martyn Brabbins natürlich klar überlegen. Brabbins hat sich ja mittlerweile in mehr als hundert Einspielungen um britisches Randrepertoire besonders verdient gemacht. Klanglich wie interpretatorisch lässt diese Aufnahme vom November 2014 keine Wünsche offen. Die Schönheiten von Chagrins Orchestrierungskunst kommen ebenso zur Geltung wie die lyrischen Momente in den langsamen Sätzen und die Dramatik der Ecksätze mit all ihren Brüchen. Die Aufnahmetechnik sorgt für extreme Durchsichtigkeit und die erforderliche Dynamik ist stets vorhanden – leider heute auch bei Digitalaufnahmen keine Selbstverständlichkeit mehr. Überhaupt zeigt sich beim BBC Symphony Orchestra einmal mehr, wie gut nach wie vor unter der Obhut eines öffentlich-rechtlichen Rundfunks ein Spitzenorchester auf Weltklasseniveau reifen und dieses auch halten kann; hier gilt dies ganz besonders im Vergleich mit den anderen „großen“ Londoner Orchestern. Diese Aufnahme ist für die Freunde von Symphonik jenseits des Mainstreams schon fast ein Muss!

[Martin Blaumeiser, August 2016]