Archiv für den Monat: Oktober 2023

Welche Form hat der Kopfsatz von Busonis Klavierkonzert?

Zwei einander widersprechende Aussagen bringen mich dazu, der Frage nachzugehen, wie der erste Satz des Klavierkonzerts op. 39 von Ferruccio Busoni eigentlich aufgebaut ist.

Federico Celestini: „Von einem symphonischen Konzert im Sinne Brahms[´] unterscheidet sich Busonis Werk durch das Fehlen der Sonatenform und die Verwendung zahlreicher Themen.“

(Federico Celestini: „Zu Ferruccio Busonis Poetik: Das ‚Klavierkonzert mit Männerchor‘ op. 39“, in: Das Klavierkonzert in Österreich und Deutschland von 1900–1945 (= Studien zu Franz Schmidt XVI), hrsg. von Carmen Ottner, Wien 2009, S. 204.)

Robert Simpson: „The large classical concerto scheme with ritornello was never attempted by Nielsen: very few composers have felt inclined to risk it since Brahms and Dvořák. Elgar’s violin concerto […] attacks the problem, and the first movement of Busoni’s enormous piano concerto, together with Reger’s hugely comprehensive works for pianoforte and violin, are perhaps the most important examples of this difficult form since Brahms.“

(Robert Simpson: Carl Nielsen Symphonist, London 2009, S. 137.)

Wer es mit dem Wortlaut genau nimmt – und warum sollte man das nicht tun! – wird feststellen, dass in beiden Zitaten unterschiedliche Begriffe verwendet werden. Der Widerspruch wird erst deutlich, wenn wir dem Begriff des „large classical concerto scheme with ritornello“, von dem Simpson schreibt, auf den Grund gehen. Dies führt uns zu den erhellendsten Texten über die Formen konzertanter Musik des 18. Jahrhunderts. Sie stammen von Donald Francis Tovey, dessen Terminologie Simpson übernimmt. Zum einen handelt es sich um den Artikel „Concerto“ in Toveys Buch The Forms of Music, zum andern um den Aufsatz „The Classical Concerto“, der als Einleitung zum dritten Band seiner Essays in Musical Analysis dient, in welchem eine Anzahl Konzerte vorgestellt wird. Der letztere dieser beiden Texte befasst sich, wie es unmissverständlich durch eine Zwischenüberschrift deutlich gemacht wird, vorrangig mit „The Sonata-Form Concerto“, was nichts anderes ist als das, was Simpson meint. Man beachte freilich, dass Tovey den Begriff „sonata form“ in diesem Kontext sehr vorsichtig gebraucht. Im Artikel aus The Forms of Music scheint er mit Absicht vermieden zu sein, und auch in der Einleitung zu den Essays III wird er, kaum aufgekommen, sofort zu „sonata forms“ und „sonata style“ erweitert, nämlich so: „The best way to avoid a tiresome abstract of ordinary sonata form will be for us to base our analysis on the difference between the sonata forms and those of Bach. The cardinal difference between sonata-style movements and those of the time of Bach is that the sonata movement changes on dramatic principles as it unfolds itself, whereas the older forms grow from one central idea and change only in becoming more effective as they procede. You cannot, indeed, displace a bar without upsetting the whole; but the most experienced critic could not tell from looking at a portion out of its context whether it came from the beginning, middle, or end of the work. Yet almost any sufficient long extract from the first movement of a sonata by Mozart or Beethoven would give a competent musician abundant indications of its place in the scheme.“ Sonatenform ist also kein starres, abstraktes Modell, sondern das klingende Resultat einer bestimmten Kompositionsweise, des Sonatenstils. Diesen beschreibt Tovey stets als ein „dramatisches“ Prinzip in dem Sinne, dass der Wechsel von einer Tonart in die andere wie ein dramatisches Ereignis herausgestellt wird, sodass der Weg zurück zur Ausgangstonart nicht anders als durch weitere dramatische Ereignisse erreicht werden kann: „Johann Christian, the ‚London‘ Bach, initiated the all-important method of emphasizing a change of key so that it became a dramatic event irreversible except by other dramatic developments“, heißt es in The Forms of Music. Das klassische Konzert, wie wir es in vollkommenster Ausprägung bei Mozart finden, ist mithin das Ergebnis der Einwirkung des neuartigen Sonatenstils auf die ältere Konzertsatzpraxis, Orchesterritornelle und solistisch dominierte Passagen einander abwechseln zu lassen. Das „large classical concerto scheme with ritornello“ übernimmt vom barocken Konzertsatz die orchestrale Einleitung, welche in der Haupttonart verbleibt. Der Sonatenstil kommt in dem Abschnitt zum Tragen, der mit dem Einsatz des Soloinstruments anhebt. Hier entwickelt sich ein tonales Geschehen wie in der Exposition eines Sonatensatzes, welches zum Wechsel in die Kontrasttonart führt. Die anschließenden Abschnitte des musikalischen Verlaufs entsprechen dem zweiten Teil eines Sonatensatzes mit Durchführung und Reprise. Die Anfangsabschnitte eines solchen Konzertsatzes werden zuweilen als „doppelte Exposition“ bezeichnet. Dies mag dadurch gerechtfertigt erscheinen, dass das thematische Material des Tutti-Ritornells mit dem des Solos weitgehend übereinstimmt, ist letztlich aber doch irreführend, denn für den harmonischen Verlauf des Satzes erfüllen beide Abschnitte verschiedene Funktionen. Die Ähnlichkeit zu Expositionswiederholungen, wie sie in den Kopfsätzen klassischer Symphonien vorkommen, ist zufällig. Möchte man eine Bezeichnung für die Eröffnung des Kopfsatzes eines klassischen Konzerts vergeben, die mit der gängigen Terminologie für den Sonatensatz übereinstimmt, so schlage ich zwei Möglichkeiten vor:

1. Man bezeichnet das Orchesterritornell und den Abschnitt vom Einsatz des Soloinstruments bis zum Beginn der Durchführung gemeinsam als „Exposition“.

2. Man bezeichnet das Orchesterritornell als „Einleitung“, den Abschnitt vom Einsatz des Soloinstruments bis zum Beginn der Durchführung als „Exposition“.

(Ich werde im Folgenden beide Definitionen benutzen, je nachdem es zur Erfassung der Sache günstiger erscheint. Der Leser wird bemerken, was in welchem Fall wie gemeint ist.)

Wie verhält es sich nun mit Busoni? Liegt im Kopfsatz seines Klavierkonzerts eine Sonatenform vor? Oder fehlt sie, wie Celestini meint?

(Die nachfolgende Analyse basiert auf der bei Breitkopf & Härtel erschienenen Erstdruckpartitur des Werkes, die im Netz auf IMSLP zu finden ist.)

Zunächst fällt auf, dass Busoni sein Werk mit einer langen Einleitung eröffnet, in der das Soloinstrument schweigt. Es handelt sich, ganz wie Simpson schreibt, um ein Ritornell nach Art der Wiener Klassiker, denn Busoni achtet, so abwechslungsreich er die Harmonik auch gestaltet, sorgfältig darauf, die Haupttonart C-Dur nicht in Frage zu stellen. Sie ist über die ganzen viereinhalb Minuten, die die Einleitung dauert, nie weit entfernt. Nirgends wird eine Kontrasttonart etabliert. Alle Ausweichungen dienen nur dazu, die Rückkehr nach C-Dur umso interessanter zu gestalten. In diesem Orchesterritornell lassen sich drei verschiedene Themen unterscheiden: das Anfangsthema, eine Fanfare, die zuerst leise auf S. 4 in Klarinetten und Hörnern erklingt, und ein weiteres Thema, das aus einer Variante des Anfangsthemas abgeleitet wurde und das zuerst bei Ziffer 4 auf S. 11 auftaucht. Es sei aufgrund seines Anfangs auf starker Taktzeit das „abtaktige Thema“ genannt.

Das Klavier setzt bei Ziffer 5 auf S. 14 mit Akkordbrechungen ein, die es von den Streichern übernommen hat, welche zuvor die Fanfare untermalten. Im Bass erklingen Motive ähnlich der Fanfare, die sich allmählich als weit ausladender Gesang entpuppen, wie es auch oft bei Liszt vorkommt. Zweimal spielen Blasinstrumente dazu ein signalartiges Thema aus den Tönen eines subdominantischen Akkords (S. 17 und 18). Während das Klavier noch seine auf und ab wogenden Akkordbrechungen spielt, erklingen in den Bläsern punktierte Rhythmen und Sechzehntelfolgen, die das Klavier schließlich übernimmt (S. 19). In den Bläsern erklingt der Kopf des Anfangsthemas (S. 20), dann in den Streichern derjenige des abtaktigen Themas (S. 21, Ziffer 8). Wenn dieser vom Klavier in Triolen aufgelöst wird (S. 22), ereignet sich die Überleitung nach E-Dur, denn in der Zwischenzeit ist das passiert, was in klassischen Konzerten nach Einsatz des Soloinstruments zu passieren pflegt: Die Musik hat moduliert, die Haupttonart wurde verlassen, nun mündet sie in die Kontrasttonart ein. Busoni entscheidet sich für das vier Quinten über der Haupttonart liegende, mit ihr in mediantischer Beziehung stehende E-Dur und befindet sich damit in der guten Gesellschaft zahlreicher Komponisten seit Franz Schubert, die sich nicht mehr mit Dominant- oder Paralleltonarten für die Seitensätze ihrer Sonatenformen begnügen, sondern der Haupttonart entferntere Tonarten gegenüberstellen wollen.

Auf S. 23 beginnt Busoni nun den Seitensatz seiner Exposition, in E-Dur und mit einem Thema, das rhythmisch viel mit den bisher erklungenen Themen gemeinsam hat, nichtsdestoweniger aber neu ist. Es wird überwiegend von den hohen Holzbläsern, teilweise auch von den Hörnern vorgetragen. Der akkordische Satz geht auf S. 27 in ein Oboensolo über. Die Musik bleibt nicht in E-Dur, sondern moduliert weiter bis nach Fis-Dur, das auf S. 35 bei Ziffer 10 über eine Kadenz erreicht wird. Hier setzen die punktierten Rhythmen und Sechzehntelfiguren wieder ein: kurzatmige Floskeln, wie sie für Schlussgruppen von Expositionen bezeichnend sind. Einen deutlichen formalen Einschnitt möchte Busoni aber nicht, sondern moduliert weiter und lässt die Musik nach wenigen Takten durchführungsartigen Charakter annehmen. Es entfaltet sich auch nun ein Abschnitt, der nicht anders denn als Durchführung angesprochen werden kann.

Schauen wir zurück, so überblicken wir rund 9 Minuten Musik, deren Verlauf auffallend viel mit den Anfangsabschnitten Mozartscher Konzerte gemeinsam hat: Das Verweilen der Orchestereinleitung in der Haupttonart, das Modulieren nach Einsatz des Soloinstruments, die Vorstellung neuer Themen und Motive nach Einsatz des Soloinstruments bis hin zu einem Seitensatz, dessen Thema sich in der Einleitung nicht findet. Natürlich hat Busoni im Einzelnen Manches anders gemacht als Mozart, aber das Grundprinzip der musikalischen Formung ist das gleiche! Wir haben also in Busonis Konzert eine Konzertsatzexposition ganz nach klassischer Art gehört.

Die Durchführung genauer zu betrachten, ist hier nicht nötig. Es genügt für die Klärung unserer Frage festzustellen, dass sie vorhanden ist. Gibt es aber bei Busoni eine Reprise? Mozart pflegt in den Kopfsätzen seiner großen Klavierkonzerte alle Stränge in den Reprisen zusammenzuführen. Themen aus der Orchestereinleitung erklingen wieder, die seit Einsatz des Soloinstruments nicht mehr verwendet wurden, aber auch die vom Klavier eingeführten Themen sind präsent. Thematische Ungleichgewichte zwischen Einleitung und Exposition werden ausgeglichen. Im Kopfsatz des Busoni-Konzerts findet sich nichts dergleichen. Stattdessen führt Busoni den Hörer mit nahezu Haydnschem Humor aufs Glatteis, ohne dabei die ernste Miene zu verziehen: Über einem Dominantorgelpunkt kündigt er in mächtiger Steigerung mittels der Fanfare die Rückkehr nach C-Dur an (S. 57–61). Man kann es niemandem verübeln, der nun erwartet, das Anfangsthema setze in voller Pracht ein und eröffne eine möglicherweise in aller Ausführlichkeit gestaltete Reprise. Doch auf S. 61 wechselt die Dynamik plötzlich vom forte ins piano, dadurch die Erwartungen an einen machtvollen Repriseneintritt sofort zunichte machend. Statt des Anfangsthemas erklingt das abtaktige Thema, wenn auch „korrekt“ in der ausführlich vorbereiteten Haupttonart C-Dur. Das ist die ganze Reprise! Ihr folgen als Coda nur noch ein paar Fragmente des Anfangsthemas und der Fanfare, dann ist der Satz zu Ende. Zwischen dem Wiedereintritt der Haupttonart und dem Schlussakkord sind lediglich eineinhalb Minuten vergangen – ein extremes Ungleichgewicht zur neunminütigen Exposition des Satzes, die dadurch rund drei Fünftel seiner Spieldauer einnimmt!

Harmonisch ist der Satz komplett: Er ist von C-Dur ausgegangen, hat als Kontrasttonart E-Dur erreicht, nach einer Kadenz in Fis-Dur ausgiebig moduliert und ist am Ende, nach ausgiebiger Vorbereitung, wieder in C-Dur angekommen. In thematischer Hinsicht hat er extreme Schlagseite, denn es werden in der Exposition Themen vorgestellt, die im ganzen Satz nicht wieder zu hören sind. Wo bleibt das Thema des E-Dur-Seitensatzes, wo die Klavierkaskaden, wo das darüber gelegte Bläsersignal? Busoni hat in diesem Satz ein musikalisches Paradoxon auskomponiert: Er ist gleichzeitig vollständig und unvollständig. Die Antwort auf die Frage, warum das so ist, findet sich im letzten Satz, der Männerchorhymne aus Aladdins Wunderhöhle. Alles, was in der Reprise des Kopfsatzes fehlte, tritt hier erneut auf und erscheint durch den Gesang auf eine höhere Stufe gehoben. Es wurde nicht vergessen, sondern nur aufgespart, um in neuer Gestalt umso stärker zu wirken. Bezeichnenderweise beginnt der Chor mit dem Seitensatzthema in dessen originaler Tonart E-Dur und findet am Ende zum C-Dur des Anfangs zurück. Alle Widersprüche lösen sich harmonisch auf.

Um ein letztes Mal zur Ausgangsfrage zurückzukehren: Ist der Kopfsatz von Ferruccio Busonis Klavierkonzert op. 39 in Sonatenform geschrieben? Diese Frage ist unbedingt zu bejahen! Die Tatsache dass seine Reprise extrem verkürzt ist – ein Umstand, der sich aus dem Zusammenhang des ganzen Werkes heraus erklärt –, mag freilich manchen Betrachter in die Irre führen. Die wesentlichen Merkmale eines „large classical concerto scheme with ritornello“ sind aber nichtsdestoweniger vorhanden, womit der Satz getrost als Sonatensatz angesprochen werden kann.

[Norbert Florian Schuck, Oktober 2023]

Simon Rattle eröffnet mit Žuraj und Berio die neue Saison der musica viva

Chor und Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks starteten die neue musica viva Saison am Freitag, 13. Oktober 2023, erstmals in der Münchner Isarphilharmonie und unter der Leitung ihres neuen Chefdirigenten Sir Simon Rattle. Auf dem Programm standen die Uraufführung von Automatones des slowenischen Komponisten Vito Žuraj sowie Luciano Berios großangelegtes Meisterwerk „Coro“.

Sir Simon Rattle, Photo © Astrid Ackermann/BR

Nachdem sich der vor knapp vier Jahren verstorbene Mariss Jansons von den Symphoniekonzerten der musica viva erstaunlich zurückgehalten hatte, ließ es sich Sir Simon Rattle nicht nehmen, auch hierbei die Saison höchstpersönlich zu eröffnen. Damit bekundete er zudem seinen Willen, eine alte Tradition der Chefdirigenten beim Bayerischen Rundfunk weiterzuführen und sich für diese in der Neue-Musik-Szene nach wie vor einmalige Veranstaltungsreihe weiterhin ganz besonders zu engagieren. Dafür hatte man letzten Freitag – wohl nicht nur wegen der offenkundigen Unmöglichkeit, im gewohnten Herkulessaal die von Berios „Coro“ geforderte, besondere Sitzordnung zu realisieren – gewagt, erstmals die Isarphilharmonie zu bespielen. Was die Besucherzahlen betrifft, ging dies voll auf: Der HP8 war zwar nicht ausverkauft, jedoch kam schätzungsweise mehr Publikum als der Herkulessaal überhaupt hätte fassen können.

Vor dem eigentlichen Konzert, um 19:20 Uhr, durften im Foyer 24 Zwölftklässlerinnen des Münchner Max-Josef-Stifts unter der Leitung von Dietmar Wiesner ihre kollaborative Komposition Coro 2.0 zu Gehör bringen, Ergebnis eines u. a. von Cathy Milliken und Lucie Wohlgenannt aufwändig vorbereiteten musica viva-Education-Projektes. Hierbei entstand ein knapp 12-minütiges Stück, das sich zwar an Methoden und Prozesse von Berios Coro anlehnt, etwa ebenso Volksliedmaterialien einbezieht, aber als Musik- und Textcollage ganz eigenständig erarbeitet wurde. Schade, dass diese ansprechende Darbietung von Teilen des gerade hereinströmenden Publikums quasi ignoriert wurde und im Umgebungslärm beinahe unterging. Zeitpunkt und Ort waren somit leider ziemlich unvorteilhaft gewählt.

Die Anregung zu Vito Žurajs (*1979) großbesetzter, 25-minütiger Auftragskomposition Automatones findet sich in der aus der griechischen Mythologie weniger bekannten Geschichte über von Hephaistos und Dädalus erschaffene, belebte Metallstatuen von Tieren, Menschen und Monstern, die angeblich sogar fühlen und denken konnten. Unabhängig davon, wie diese antiken Illusionen im Detail gedacht gewesen sein mögen, bedient sich der Slowene Žuraj geschickt ausgeklügeltster Klangillusionen, sowohl aus harmonischer wie rhythmischer Sicht: Melodisch-harmonisch werkelt da etwa die berühmte Shepard-Skala, die dem Hörer eine unendlich auf- oder absteigende Linie vorgaukelt, und gleichermaßen trifft man auf rhythmische Strukturen, die nur scheinbar immer weiter beschleunigen bzw. ritardieren. Ein passender Vergleich aus der bildenden Kunst wären da Maurits C. Eschers bekannte Grafiken von „unmöglichen“ Geometrien. Dazu kommt eine enorm abwechslungsreiche, zugleich divergente Orchestrierung, selbstbewusst irgendwie zusammengehalten von Klavier, Akkordeon, Horn und Harfe – letztere durch Skordatur schon verfremdet.

Žuraj, der auch Musikinformatik studiert hat, nutzt bei der detaillierten Ausarbeitung seiner komplexen Klangwelten durchaus die Unterstützung eigener Computeralgorithmen, gibt aber nie das Heft menschlicher Entscheidung aus der Hand. Schmunzeln durfte man über witzige Seitenhiebe in Richtung der derzeit allgegenwärtigen Diskussion um künstliche Intelligenz, so in zwei Passagen, wo die Blechbläser nur ihre Mundstücke benutzten. Rattle und das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks spielten diese instrumental höchst virtuose Musik mit Präzision und sichtlichem Vergnügen. Freilich wurde hier keine Geschichte wie z. B. in Paul Dukas‘ Vertonung von Goethes Zauberlehrling erzählt, und die genannten wiedererkennbaren Effekte ermüdeten auf Dauer, wo substanzielle musikalische Aussagen fehlten. Das Publikum nahm diese Uraufführung dann auch eher erheitert zur Kenntnis.

Von ganz anderem Kaliber erwies sich naturgemäß Luciano Berios (1925–2003) Coro von 1975–77, neben der berühmteren Sinfonia eines der Hauptwerke des großen Italieners. Das Stück für 40 Sänger und 44 Instrumentalisten verlangt eine exakt festgelegte, gemischte Sitzordnung, so dass jedem Sänger des Chors des Bayerischen Rundfunks (Einstudierung: Peter Dijkstra und Max Hanft) ein bestimmtes Instrument zugeordnet ist, und sich diese bereits lokal sehr kommunikativen Paarungen als echte Duos bald bis ins Tutti erweitern. Dies geht also von solistisch tätigen Einzelstimmen – das Riesenwerk beginnt relativ harmlos wie ein schlichtes Kunstlied mit reiner Klavierbegleitung (sensibel und ausdrucksstark: Lukas Maria Kuen) – über Ensemblegruppen bis hin zur oft in gewaltigen, tatsächlich 40-stimmigen Clustern ausbrechenden Klangtotalen, insbesondere bei den immer wieder eingestreuten Zeilen Venid a ver… („Kommt zu sehen das Blut auf den Straßen“) des chilenischen Dichters Pablo Neruda.

Kontrastierend zur gewaltigen Anklage Nerudas stammen die übrigen Texte („documenti populari“, Berio) aus über den gesamten Globus verteilten Volksdichtungen, allerdings – abgesehen vom Hebräischen – jeweils in die fünf wichtigsten westeuropäischen Sprachen übersetzt. Diese handeln ganz elementar und mit fast ritueller Kraft von Liebe, Arbeit und Bedrohung. Den rituellen Bezug schöpfte Berio nicht zuletzt aus besonderen Techniken musikalischen Zusammenspiels („Klangmaschine“) der zentralafrikanischen Banda Linda – und gerade diese bildeten in der Interpretation Simon Rattles den Kitt, der verhinderte, dass das Ganze auch nur für einen Moment ins Episodische zu zerfallen drohte.

Bei der letzten Münchner Aufführung von „Coro“ – 2017 mit dem MusicÆterna Choir und dem Mahler Chamber Orchestra – hatte Teodor Currentzis ganz auf die Schockwirkung großer Gegensätze vertraut, wohingegen Rattles Sichtweise erfolgreich versuchte, die unterschiedlichen Ebenen zu verbinden – für Berio alles Aspekte menschlicher Existenz. Chor – mit meist hervorragender Textverständlichkeit – und Orchester formten dabei berührende, stimmungsvolle Mischklänge, die sich kontinuierlich transformierten. Ebenso agierten die Chorsolisten klangschön, temperamentvoll, aber emotional nie überhitzt, und die Tutti-Ausbrüche gingen umso mehr unter die Haut. Bei Rattle – der das nun 52-minütige Stück deutlich schneller dirigierte als noch 2010 in Berlin – hatte dann selbst der Schluss (Neruda!) wenig Desolates, eher betroffene Erhabenheit, bei allem Ernst immer noch mit einem Funken Hoffnung. Für die fabelhafte Leistung aller Beteiligten gab es verdient langanhaltenden Beifall. Rattles Fähigkeit, wirklich schwieriges Repertoire dem Publikum ohne Überforderung zu vermitteln, bleibt bewundernswert.

[Martin Blaumeiser, Oktober 2023]

Die ersten Blüten der Musik für Solocello im 20. Jahrhundert

Wergo, WER 7409 2, EAN: 4 010228 740929

Auf seiner neuen Solo-CD erforscht Julius Berger die Anfänge der Sololiteratur für Violoncello zu Beginn des 20. Jahrhunderts, fast zwei Jahrhunderte nach Bachs epochalen Suiten. Neben Max Regers Suite d-moll op. 131c Nr. 2 hat Berger hierfür die Passacaglia aus der Solosonate von Donald Francis Tovey sowie – als Weltersteinspielungen – zwei Solowerke von Adolf Busch sowie die Suite Nr. 2 h-moll von Walter Courvoisier ausgewählt.

Dass Johann Sebastian Bachs Suiten für Solocello Anfang des 20. Jahrhunderts durch Pablo Casals aus einem veritablen Dornröschenschlaf erweckt werden mussten, dürfte vielen Musikliebhabern geläufig sein. In der Tat spielte man sie im 19. Jahrhundert wenn überhaupt, dann höchstens mit zusätzlicher Klavierbegleitung, wovon übrigens eine historische Aufnahme der Sarabande aus der Suite Nr. 6 durch Julius Klengel ein ebenso spätes wie in mancher Hinsicht skurriles Zeugnis ablegt. Diese Skepsis gegenüber Musik für solistisches Violoncello (und überhaupt solistische Melodieinstrumente) und ebenso ihre allmählich einsetzende Renaissance zu Beginn des 20. Jahrhunderts lässt sich dabei ebenso deutlich anhand der Literatur für Solocello nachvollziehen. In der Tat gibt es nach einer Reihe von Werken aus der Zeit des Barock eine lange Pause in etwa zwischen 1750 und 1900, in der nahezu überhaupt keine Solowerke entstanden, abgesehen von einigen Beiträgen komponierender Cellisten, besonders bekannt etwa die Capricen von Alfredo Piatti.

Um 1915 ändert sich das Bild allmählich, und gemeinhin werden Kodálys großartige Solosonate sowie Max Regers Drei Suiten op. 131c als die Werke genannt, mit denen die moderne Literatur für solistisches Violoncello beginnt, die also am Beginn einer Renaissance stehen, die bis zum heutigen Tag eine enorme Vielfalt an neuer Literatur hervorgebracht hat. Dieser Scheidepunkt ist es, der Julius Berger auf seinem neuen Album interessiert, und der ihn gleichzeitig dazu animiert hat, die Situation genauer unter die Lupe zu nehmen – und so weitere Solostücke aus jenen Jahren zum Vorschein gebracht hat abseits der bekannten Namen, unter anderem in Form von drei Ersteinspielungen. Es gab also nicht nur Kodály und Reger, sondern auch Donald Francis Tovey, Adolf Busch und Walter Courvoisier, die seinerzeit Musik für Solocello schrieben. Für dieses Wiederaufkeimen einer über Jahrhunderte vernachlässigten Gattung hat Berger das schöne Bild der ersten Blumen auf den Bergen seiner Allgäuer Heimat zu Beginn des Frühlings gefunden, der Soldanellen (oder Alpenglöckchen); daher der Titel des Albums.

Am Beginn steht mit Regers Suite Nr. 2 d-moll, wie alle drei Suiten um die Jahreswende 1914/15 entstanden, ein Klassiker. Berger präsentiert in seinem ausführlichen und von großem Enthusiasmus getragenen Begleittext eine Reihe von Gedanken und Thesen rund um dieses Werk. Man muss gar nicht notwendigerweise allen davon vollumfänglich zustimmen, um seine Ausführungen als eine ungemein anregende Lektüre zu empfinden und Einblicke in seine intensive Beschäftigung mit dieser Musik zu erhalten, die zu einer sehr persönlichen und charaktervollen Lesart der Suite geführt haben. Berger begreift sie als die „schmerzensreiche“ in Regers Triptychon, unter anderem mit Bezügen zu Bachs Choral Wenn ich einmal soll scheiden, und dieser Ansatz ist bereits im Präludium exzellent nachvollziehbar. Berger nimmt den Satz relativ rasch, übrigens durchaus in Einklang mit Regers Metronomangabe (Viertel=54, was bei einem Largo mit Notenwerten bis hin zu Zweiunddreißigsteln nicht eben langsam ist), und das Resultat ist weniger ein breit strömender langsamer Satz als vielmehr ein konfliktreicher, ausgesprochen expressiver, ja teils agitiert deklamierender (vgl. die bereits erwähnten Zweiunddreißigstel im Mittelteil) Monolog. Man beachte in diesem Kontext unter anderem Bergers relativ kurze, teil fast staccatohafte Artikulation in Takten 6 bis 8, die exemplarisch für das Momentum, den dramatisch-passionierten Vorwärtsdrang seiner Interpretation stehen mag.

In Regers viersätziger Suite findet sich an dritter Stelle ein zweites Largo, und es ist interessant zu beobachten, wie Berger in seinem bewegteren Mittelteil den expressiven Duktus des Präludiums wieder aufgreift, andererseits aber den Kontrast zu den breit ausgesungenen, weiten Bögen der Eckteile vorzüglich herausarbeitet. Hier weiß Berger die innige, tief empfundene Gesangslinie exzellent zu realisieren, die großen Zusammenhänge dabei stets im Blick. Bei der Wiederkehr des Anfangsteils spielt Berger offenbar weite Teile auf der D-Saite, was der Musik einen entrückten, sanft gedämpften Charakter verleiht. Bergers grundsätzliches Verständnis der Suite zeigt sich aber auch in den beiden schnellen Sätzen: so ist die Gavotte an zweiter Stelle bei ihm ein sehr wohl helleres, aber nicht leichtfüßiges Intermezzo, stets von einer gewissen Schwerblütigkeit geprägt, die natürlich im etwas verlangsamten, von Berger dezidiert auch verhalten, zögernd begriffenen Mittelteil besonders zum Tragen kommt. Ähnliches gilt für die finale Gigue: Berger lässt sich hier eher Zeit, eilt nicht, sondern nimmt sich sogar im Gegenteil immer wieder Momente des Innehaltens heraus, baut ein gewisses Maß an Rubato auch in diesem Vivace-Finale ein, arbeitet die Harmonik und die dramatischen Höhepunkte klar heraus. Etwas überrascht war ich zunächst darüber, dass er den Schluss etwas verhaltener nimmt als möglich wäre (immerhin Fortissimo al fine), aber tatsächlich kommt die „schmerzensreiche“ Note dieser Musik so ausgezeichnet zur Geltung.

Donald Francis Tovey (1875–1940), der große britische Musikgelehrte, war – wie in den letzten Dekaden durch eine Reihe von CD-Einspielungen allmählich wieder ins Bewusstsein gerufen wird – auch ein exzellenter Komponist, der ein verhältnismäßig schmales, aber sehr dezidiert die Auseinandersetzung mit der großen Form und der Tradition suchendes Œuvre hinterlassen hat. Anfang der 1910er Jahre beschäftigte er sich intensiv mit Musik für solistische Streichinstrumente und publizierte 1913 jeweils eine Sonate für Solovioline und Solocello. Aus der letzteren, der Sonate für Violoncello solo D-Dur op. 30, hat Berger den Schlusssatz, eine großartige, monumentale, an Bach (und natürlich speziell der Chaconne aus der Partita d-moll BWV 1004) geschulte Passacaglia ausgewählt, die bei Berger allein bereits 20 Minuten in Anspruch nimmt. Die Ausdrucksspanne dieser Musik ist enorm, unter anderem mit einem teils geradezu dramatischen Mittelteil in Moll, einer veritablen Apotheose und schließlich einem wie befreit wirkenden finalen Allegro. Faszinierend dabei ganz besonders die klug disponierten Höhepunkte, die sorgfältig über lange Zeiträume aufgebauten Steigerungen – man beachte etwa die stetig zunehmende Bewegung über die ersten Minuten hinweg.

Es gibt mindestens zwei Einspielungen der gesamten Sonate. Interessiert man sich für Toveys Schaffen insgesamt, ist die recht solide, aber im Vergleich doch etwas blasse Einspielung von Alice Neary bei Toccata von natürlichem Interesse. Die (mutmaßliche) Ersteinspielung der Sonate hat indes um die Jahrtausendwende herum die amerikanische Cellistin Nancy Green vorgenommen. Green nimmt die Passacaglia ein gutes Stück zügiger als Berger und kommt auf eine Spieldauer von 14 Minuten (bei neun gekürzten Takten direkt vor dem Moll-Mittelteil). Sie betont dabei eher den Vorwärtsdrang, die Dynamik der Musik, während Bergers Lesart über weite Strecken meditativer, vielleicht sogar ein wenig archaisch wirkt und die große, weiträumige Architektur des Stücks in den Vordergrund stellt. Dass beide Varianten sich als ausgesprochen valide Ansätze erweisen, spricht für die Qualitäten und den Facettenreichtum von Toveys Musik.

Mit den Solowerken von Adolf Busch (1891–1952) betritt Julius Berger gänzlich neues Terrain, denn bislang lagen von diesen Kompositionen keine Einspielungen vor. Busch war natürlich vor allem einer der berühmtesten Geiger der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, hat aber auch sein Leben lang komponiert. Völlig vergessen war sein Schaffen zwar nie, aber eine besonders große Rolle haben seine Werke auf Tonträger lange Zeit nicht gespielt. In jüngerer Zeit ist speziell seine Kammermusik, die sicherlich einen der Schwerpunkte seines Schaffens darstellt, ein wenig stärker in den Fokus gerückt. Busch war mit Max Reger befreundet, und so ganz möchte ich Bergers Aussage, diese Freundschaft habe zu keiner Verwandtschaft der Kompositionsstile geführt, nicht folgen – es gibt schon eine ganze Reihe von Werken Buschs, die recht deutlich an Reger gemahnen. Was allerdings sehr wohl zutrifft, ist, dass Buschs kompakt gehaltene Suite op. 8a, um 1914 und damit zeitgleich oder sogar vor Regers Suiten entstanden, sich überraschend deutlich von diesen unterscheidet, unter anderem deshalb, weil die Bezugnahme auf das Vorbild Bachs in Buschs Suite zwar auch vorhanden ist, aber weniger deutlich erscheint als in den übrigen Werken auf dieser CD.

Schon das Präludium lässt aufhorchen, eine sich chromatisch windende, dunkel-vergrübelt gehaltene Fantasie, die eigentlich erst mit den letzten Takten g-moll als Grundtonart bestätigt (nicht umsonst trägt die Suite, obwohl um G zentriert, keine Tonartenbezeichnung). Sehr originell, widerborstig und bocksprüngig das kurze Scherzo an zweiter Stelle. Mit den beiden letzten Sätzen, Romanze und Tarantelle, hellt sich der Charakter des Werks auf, wird freundlicher, obwohl selbst die abschließende Tarantelle, nun in G-Dur, nicht unbedingt von Leichtigkeit geprägt ist: vielmehr dominiert auch hier eine gewisse Erdenschwere, sind es die Kanten, die dieser Musik ihr ganz eigenes Profil geben, von Julius Berger mit Nachdruck und viel Sinn für diese spezifische Atmosphärik in Szene gesetzt. Einige Jahre später, 1922 nämlich, ließ Busch seiner Suite noch ein Präludium und Fuge d-moll op. 8b folgen, ein Diptychon, das sich nun wesentlich expliziter auf die Tradition Bachs bezieht. Im eher ruhig gehaltenen Präludium erweist sich Berger einmal mehr als souveräner Gestalter mit sorgfältig durchdachter Artikulation; in der Fuge überrascht erst einmal seine erstaunlich gemäßigte Tempowahl angesichts eines Allegro energico, doch wo das Fugenthema m. E. zu einem rascheren Puls einladen würde, wird dies durch einige Sechzehntelpassagen wenig später wieder relativiert.

Der vermutlich am wenigsten bekannte Komponist, der auf dieser CD vertreten ist, ist der gebürtige Schweizer Walter Courvoisier (1875–1931), der zunächst Medizin studierte und als Arzt praktizierte, bevor er sich doch für die Musik entschied und in München u. a. Schüler von Ludwig Thuille wurde. Nur wenig später wurde er selbst ein gefragter Kompositionslehrer an der Münchener Akademie der Tonkunst. Courvoisiers Œuvre ist eher überschaubar und konzentriert sich insbesondere auf Vokalmusik (Lieder, Chorwerke sowie drei Opern); im Bereich der Instrumentalmusik beschäftigte er sich vor allem mit Variationswerken für Klavier und Solosuiten für Streicher. Seine sechs Suiten für Violine solo op. 31 hat der Geiger Hansheinz Schneeberger auf CD eingespielt. Zeitgleich mit diesen Suiten komponierte Courvoisier 1921 auch zwei Suiten für Violoncello solo, die jedoch unveröffentlicht blieben; vermutlich war auch hier ein Zyklus von sechs Suiten geplant, der jedoch nicht realisiert wurde. Die zunächst vorgesehene Opuszahl 32 hat Courvoisier später seiner Oper Der Sünde Zauberei zugeteilt. Erst 2021 hat Florian Schuck die beiden Suiten herausgegeben.

Julius Berger hat sich auf diesem Album für die Suite Nr. 2 in h-moll entschieden. Courvoisier bezieht sich hier bereits in der Satzfolge deutlich auf Bachs Vorbild: zwar steht am Beginn kein Präludium, sondern eine Introduction, aber die Abfolge der übrigen Sätze folgt genau der Struktur der Bach’schen Suiten, mit dem einzigen Unterschied, dass es gewissermaßen zwei „fünfte Sätze“ (im Sinne Bachs) gibt, nämlich sowohl Bourrée als auch Menuett. Dabei ist die Introduction eher eine Art dramatisch akzentuiertes Vorspiel als ein Präludium à la Bach (mit attacca-Übergang zur nachfolgenden Allemande), in der Bourée gibt es (anders als bei Bach) kein Trio bzw. eine Bourrée II, und während ansonsten alle Sätze (analog zu Bach) in h-moll gehalten sind, steht das Menuett (I) in D-Dur – insofern fallen diese Sätze also auch sonst ganz leicht aus dem Rahmen.

Stilistisch kombiniert Courvoisier deutlich erkennbar Elemente, Formeln und Referenzen an die Musik Bachs mit Mitteln der (nachromantischen) Tonsprache des frühen 20. Jahrhunderts, etwa in Sachen Rhythmik, Harmonik und Modulationen oder gelegentlicher Verwendung von Pizzicato; die spieltechnischen Anforderungen liegen eher im Rahmen der späteren Bach-Suiten. Anders als Bach gibt Courvoisier umfassende Anweisungen zur Dynamik, ganz wie bei Bach sind die Angaben zur Artikulation dagegen sehr sparsam, sodass sich für den Interpret hier zahlreiche Freiräume ergeben, so zum Beispiel in der Allemande mit ihren weitgehend kontinuierlichen Sechzehntelbewegungen. Ein eigenes Profil haben alle sieben Sätze, kleine Charakterstücke etwa die Courante (eine Art Scherzo im 9/8-Takt) oder die abschließende, regelrecht trotzig daherkommende Gigue. Besonders melodiös gehalten sind Bourrée und Menuett, Herzstück der Suite die tief empfundene Sarabande, die meditative Versenkung, ja ein gewisses Maß an Zeitlosigkeit ausstrahlt. All dies erfährt durch Berger eine sprechende, klangvolle, durchdachte Darbietung; in Bourrée und Menuett etwa könnte man teils eine etwas breitere Artikulation wählen, aber dies fällt letztlich unter die besagten Freiräume, die Courvoisier dem Cellisten mit auf den Weg gibt.

Erwähnt sei auch, dass Julius Berger sich für dieses Album für Darmseiten und eine Frequenz von 432 Hz entschieden hat, was den Einspielungen ein warmes, rundes, volles Timbre verleiht. Eine zusätzliche Erwähnung verdient auch noch einmal sein exzellenter, persönlich gefärbter und inspirierender Begleittext (übrigens stammt auch das Foto auf dem Cover der CD von Berger, wie auch ein kleines Gedicht als Geleit). Ob Toveys Sonate wirklich das erste Solowerk nach Bach war, scheint mir ein wenig in einer Grauzone zu liegen, selbst wenn man Solowerke komponierender Cellisten (wie Klengels Opus 43, vielleicht auch noch die 1901 erschienenen Präludien und Fugen des Monegassen Louis Abbiate) ausklammert. Weitgehend zeitgleich mit Toveys Sonate ist z. B. offenbar die Solosuite des (wie übrigens auch Tovey) von Casals hochgeschätzten Emánuel Moór entstanden – dies also ebenfalls eine „Soldanelle“. Ein weiterer Name, den man in diesem Zusammenhang wohl a priori überhaupt nicht vermuten würde, ist Jean Sibelius, der bereits um 1887 einen gut zehnminütigen Zyklus von Variationen über ein eigenes Thema für Solocello komponiert hat, faktisch noch zu seinen Juvenilia zählend.

In den vergangenen Jahren sind aus naheliegenden Gründen zahlreiche (und oft genug hochklassige) Alben für Soloinstrumente und speziell auch Solocello erschienen. Aus dieser Vielzahl sticht Berger „Soldanella“ nichtsdestotrotz noch einmal heraus. Ein Grund hierfür ist die gestalterische Souveränität dieser Einspielungen, vor allem aber ist es der Mut, den Berger hier aufbringt, der Pioniergeist, mit dem er sich für hoch interessante Musik einsetzt, die eben nicht auf Effekt setzt, die nicht populär sein will, sondern sich durch ihre große Ernsthaftigkeit auszeichnet. Es sind expressive, durchdachte, vielleicht nicht immer bequeme, aber in ihrem Bekenntnis zu künstlerischer Größe umso fesselndere Kompositionen, die auf diesen fast 80 Minuten Musik versammelt sind. Hierin liegt der ganz besondere Reiz dieses großartigen Albums.

[Holger Sambale, Oktober 2023]

Joachim Raffs „Samson“ in Bern – ein Interview mit Graziella Contratto und Philippe Bach

Stadttheater Bern

Am 8. September 2023 kam Joachim Raffs Oper Samson, die ein Jahr zuvor mit großer Verspätung im Deutschen Nationaltheater Weimar uraufgeführt worden war, zum ersten Mal in der Schweiz zur Aufführung. Das Werk erklang konzertant unter der Leitung von Philippe Bach im Stadttheater Bern, die Berner Symphoniker begleiteten ein hochkarätiges internationales Gesangsensemble (zur Besprechung siehe hier). Die Aufführung bildete den Endpunkt eines neuntägigen Aufnahmeprojekts für das Label Schweizer Fonogramm, produziert von Graziella Contratto. Im Anschluss an die Aufführung führte The New Listener mit Graziella Contratto und Philippe Bach das folgende Gespräch.

Wie sind Sie beide auf Joachim Raff gekommen?

Graziella Contratto: Ich stamme aus der gleichen Gegend wie Joachim Raff. Ich bin im Kanton Schwyz aufgewachsen und kenne den Ehrenpräsidenten der Joachim Gesellschaft, Res Marty, schon seit vielen Jahren. Meine erste Begegnung mit Raff hatte ich, als ich erfuhr, dass in Lachen in dem Haus, das heute am Ort seines Geburtshauses steht, ein Museum für ihn eingerichtet wurde. Ich habe später auch zwei, drei Werke von ihm dirigiert. Aber erst vor zwei oder drei Jahren ist mir zu Ohren gekommen, dass es die Oper Samson gibt – eine tragische Oper unter Raffs starkem Eindruck von Wagners Lohengrin und dessen Zürcher Schriften, die seit ihrer Entstehung über 170 Jahre in einer Schublade warten musste, bis sie letztes Jahr in Weimar in der Regie von Calixto Bieito uraufgeführt worden war. Und da dachte ich: Das müssen wir als Weltersteinspielung machen! 2017 hatte ich gemeinsam mit meinem Mann Frédéric Angleraux ein Label gegründet, Schweizer Fonogramm, das schon in den ersten Jahren vergessen gegangene Schweizer Kompositionen mit hochkarätigen Studioaufnahmen releasen durfte. Als unbekannte Schweizer romantische Oper war der Samson für uns daher ideal. Dazu brauchten wir natürlich auch ein Orchester, einen Chor, gute Solisten und Solistinnen, einen hervorragenden Kapellmeister und vor allem einen Ort, wo das Ganze als Schweizer Erstaufführung aufgeführt und als Studioproduktion aufgenommen werden konnte. Von den Finanzen spreche ich dann weiter unten….

Philippe Bach: Es ist eigentlich traurig, aber ich als Schweizer habe Raff erst in Thüringen kennengelernt, als GMD in Meiningen. In einem Gespräch mit Professor Wolfram Huschke von der Musikhochschule Weimar kamen wir darauf, dass man für Raff etwas machen müsste: Er sei doch Schweizer und wirkte in Thüringen. So habe ich ihn kennengelernt. Ja, es ist traurig, dass Raff bei uns so unbekannt ist, aber mit dem Jubiläumsjahr 2022 gab es für ihn zum Glück einen wichtigen „Push“, der ihn in der Schweiz auf die musikalische Landkarte gebracht hat.

Das heißt, die Schweizer wurden durch das Jubiläum erst richtig wachgerüttelt, was die Bedeutung von Raff betrifft?

Philippe Bach: Ein bisschen…

Graziella Contratto: …nicht genug! Wir haben in der Schweiz ein wenig das Problem mit dem eigenen musikalischen Kulturerbe, weil es eben nicht so wahnsinnig viel gibt vor dem 20. Jahrhundert. Man darf nicht vergessen, dass die Schweiz damals kulturell betrachtet eigentlich ein unterentwickeltes Land war, abgesehen von gewissen Industriezentren wie Zürich und Genf oder Basel. Die Schweizer galten während vielen Jahrhunderten als ein Bauernvolk, naturaffin, aber eben nicht als Ausgeburt der Raffinesse….. Viele ausländische Komponisten waren hier im Exil ( wie z. B. Richard Wagner), machten Bergtouren (wie Mendelssohn) oder befanden sich auf der Durchreise mit einem Besuch eines reichen Bekannten, und haben dann hier etwas komponiert, wie Brahms, der am Thunersee sein Doppelkonzert geschrieben hat. Wir hatten einfach weniger eigene Komponisten. In Genf, in der französischen Schweiz gab es schon einige, aber sie sind nicht sehr bekannt geworden, Josef Lauber etwa, geboren 1864. Er hat dasselbe Problem, obwohl er eine wichtige Persönlichkeit war, z. B. bei der Gründung des Schweizerischen Tonkünstler-Vereins. Ich glaube, deswegen sind die Schweizer nicht gewohnt, dass aus dem 19 Jahrhundert tatsächlich Trouvaillen da sind: Musik von Schweizern komponiert, zwei, drei Komponistinnen sind auch darunter.

Philippe Bach: Ich glaube, bei Raff kommt auch noch die Sache hinzu, dass er sehr jung ausgewandert ist: die ersten rund 20 Jahre in der Schweiz – danach in Deutschland. Er musste ja fast fliehen, hatte finanzielle Probleme. Und dann war er weg. Das ist vielleicht auch ein Grund, warum viele gar nicht wissen, dass Raff ein Schweizer Komponist ist.

Graziella Contratto: Dann war er ja auch Direktor des Frankfurter Hochschen Konservatoriums, seine Hauptwirkungsorte liegen in Deutschland.

Sie hatten schon das tragische Sujet erwähnt. Was, meinen Sie, gab für Raff den Ausschlag, sich für den Samson-Stoff zu entscheiden?

Graziella Contratto: Das habe ich mir auch überlegt. Er hat ja den Lohengrin als Assistent in Weimar bei der Uraufführung miterlebt, und ich habe ein bisschen den Eindruck – das ist natürlich eine küchenpsychologische Analyse –, Raff war auf der einen Seite fasziniert von Wagner, auf der anderen Seite wollte er sagen: „Ich kann das auch!“ Er hat gesehen, wie Wagner sich gerade jetzt auf diese mittelalterliche oder später deutsch-nordische Sagenwelt eingeschossen hat, und daher kann ich nachvollziehen, dass er – als Urschwyzer – auf einen alttestamentarischen Text zurückgriff. Er ist nicht nach Norden gegangen, sondern in die Vergangenheit zurück, ins alttestamentarische Kriegsgeschehen, mitten hinein in die Kämpfe zwischen Israeliten und Philistern. Er hat sich dieses Thema vorgenommen, hat sich in vielen Studien damit befasst, wollte darüber sogar doktorieren. Man sieht das auch in der Partitur: Die Regieanweisungen sind extrem detailliert. Auch der gesungene Text des von ihm selbst verfassten Librettos versucht, Biblisches mit Individuellem und Politischem zu vermengen, das ist alles sehr akribisch ausgearbeitet, z. B. in den Namenswörtern oder in den geographischen Angaben. Er hat viel recherchiert. Das war kein oberflächliches Zusammenbasteln. Es ist eine Mischung zwischen Drama, alttestamentarischen Sagen, Geschichte.

Philippe Bach: Ich glaube schon, dass das ein Glück für ihn war, dass er dabei sein konnte, als Liszt den Lohengrin uraufgeführt hat. Er hat Wagner nicht kopiert – dazu ist Raff in seiner Tonsprache zu eigen – aber er wurde ganz klar von Wagner inspiriert. Sehen Sie sich das Orchester an: Es hat genau die gleiche Größe wie beim Lohengrin, die Instrumente sind identisch. Was mir auch auffällt, ist der sehr solistische Einsatz der Blechbläser, gerade in der Begleitung von Rezitativen – Wagner war im Lohengrin der Erste, der das gemacht hat, das gab es vorher in der Opernliteratur kaum. Und das hat Raff beim Samson dann auch gemacht. Beethoven wurde auch inspiriert durch Mozart, Schubert durch Beethoven und so weiter. Junge Künstler suchen sich immer Vorbilder und wollen dem nachstreben. Raff hat das wirklich großartig gemacht, in seiner eigenen Sprache und seinen eigenen Ideen, aber er wurde zu dieser Oper ganz klar von Wagner inspiriert. Auch übernimmt er von Wagner die Motivtechnik…

Graziella Contratto: …wenn auch weniger konsequent.

Philippe Bach: Aber es leuchtet doch immer auf, etwa in dem Dialog zwischen Vater und Tochter. Da gibt es ein kurzes Motiv, nur einen Takt lang, aber es kommt immer wieder. Und dabei ändert sich so schnell die Farbe der Musik!

Bemerkenswert ist ja auch, wie Raff seine Szenen aufbaut, im ersten Akt etwa die Anrufungen der Göttin durch den Chor mit den sich steigernden Solo-Partien dazwischen, bis dann die Kriegsszenerie hereinbricht!

Graziella Contratto: Darin hat er sich von der Grand Opéra Meyerbeers anregen lassen. Diese Dramaturgie ist offenbar französisch inspiriert.

Philippe Bach: Ich glaube, das war wirklich eine goldene Zeit, als er in Weimar war! Er hat sehr viel miterlebt – Liszt war ja so offen – und es war sicher phänomenal für ihn, als junger Mensch dort zu sein.

Graziella Contratto: Aber es war schon hart, dass dann Samson et Dalila von Saint-Saëns ausgerechnet in Weimar zur Uraufführung kam, nachdem sein eigener Samson aufgrund von Theaterintrigen gegen Liszt, später wegen des überraschenden Todes des eigentlich von Samson begeisterten Ludwig Schnorr von Carolsfeld definitiv nicht zur Uraufführung kommen konnte.

In welchem Verhältnis sehen Sie die beiden Samson-Opern von Raff und Saint-Saëns?

Graziella Contratto: Saint-Saëns hat das Orientalische gekannt: Er war mit dem musikalischen Flair, dem Eros und dem damals florierenden Exotismus vertraut, konnte dies aus eigener Reiseerfahrung einbringen. Deswegen ist sein Werk insgesamt etwas parfümierter als bei Raff. Abgesehen von ein paar modalen Ansätzen ist Raffs Musik relativ europäisch. Bei Raff steht ein politisches, psychologisches Thema im Vordergrund, was sich auch in der Musik niederschlägt. In Samson et Dalila spürt man viel pariserisches Idiom, aber auch ein bisschen kulturellen Tourismus. Auch bei Saint-Saëns gibt es unglaublich tolle Musik, großartige Arien, aber diese Musik ist in einem anderen Fluss, bewegt sich in einem anderen kulturellen Setting.

Wie sehen sie den Samson im Gesamtkontext des Raffschen Schaffens?

Philippe Bach: Ich glaube, das ist ein unglaublich zentrales Werk. Wir wissen nicht – er hat ja nicht sehr viele Opern danach komponiert –, was passiert wäre, wäre die Uraufführung in Weimar damals zustande gekommen und ein riesiger Erfolg geworden, und er darauf vielleicht noch sehr viele Opernaufträge erhalten hätte… In der Karriere eines Musikers gibt es unglaublich viele Zufälle, und die entscheiden dann, ob es in diese Richtung oder in eine andere Richtung geht. Was wäre mit Wagner passiert, wenn nicht König Ludwig gewesen wäre? Das weiß man nicht. Vielleicht hätten wir keinen Ring! Und bei Raff ist es eigentlich eine Tragödie, dass diese Oper nicht viel früher schon gespielt wurde. Vielleicht hätte sie ihm viele Türen geöffnet. Es kam dann anders, und er hat dann später mehr im symphonischen Bereich gearbeitet. Ich muss sagen: Für mich war das Werk auch ein Türöffner, mich noch viel mehr mit ihm zu beschäftigen.

Könnten Sie sich vorstellen, ein weiteres Opernprojekt zu realisieren? Es ist ja noch genau eine Oper von Raff nicht aufgeführt: Die Parole. Wäre das eine Option für Sie, mit diesem Stück weiter zu machen, das offenbar einen ganz anderen Raff zeigen soll?

Graziella Contratto: Was man einfach wissen muss: Das ganze Samson-Projekt, also Aufnahme und Erstaufführung, steht am Ende eines zweijährigen Vorbereitungsprozesses. Es brauchte dazu sehr viel Ressourcen, Zeit und Geld. Es war nicht Teil eines normalen Saisonprogramms – dann wäre es viel einfacher gewesen. Weimar konnte letztes Jahr seine Aufführung als Eröffnungsprogramm der Saison ansetzen. Wir haben das hier außerhalb der Saison mit dem Berner Symphonieorchester zusammen gestemmt. So etwas ist sehr aufwendig, in jeder Hinsicht. Es musste eine Förderstruktur gefunden werden, die das Ganze finanziell unterstützt. Wir fanden zum Glück Unterstützung und Partnerschaften: von der Raff-Gesellschaft Lachen, von verschiedenen öffentlichen Instanzen, zum Beispiel dem Kanton Schwyz, der Herkunftsgegend. Hinzu kamen private Förderstiftungen, ein Crowdfunding und Mäzene und Mäzeninnen, die sich anstecken ließen vom Samson-Fieber. Uns ist aber auch aufgefallen, dass es in der Schweiz auf Bundesebene selber ein gewisses Umdenken braucht, um Tonträgeraufnahmen unter Studiobedingungen als eigene Kulturleistung anzuerkennen. Das ist nämlich noch nicht so sehr der Fall, mindestens nicht, was die historische Schweizer Musik betrifft. Die zeitgenössische Musik wird schon sehr unterstützt. Das ist auch richtig und wichtig! Aber die historische Musik, die eigentlich fast noch sensationeller ist, weil man sie noch gar nicht kennt und gar nicht weiß, was es alles gibt… Das steckt noch ein bisschen in den Kinderschuhen, glaube ich.

Philippe Bach: Man muss einfach auch sagen: Solche Studio-Aufnahmen von Opern gibt es eigentlich heute gar nicht mehr, das kann niemand mehr bezahlen. Aber das ist sehr schade, denn es sind doch wichtige Zeitdokumente, auf die man eben auch noch in 100 Jahren, so hoffe ich, zurückgreift. Es gibt doch Referenzaufnahmen, sagen wir: den Rosenkavalier unter Carlos Kleiber. Solche Sachen gibt es leider heute kaum mehr, da man heute immer Live-Mitschnitte auf CD oder DVD bringt. Aber ich finde es unglaublich wichtig für die Geschichte, dass man solche Studioaufnahmen mit der wirklich besten Qualität eben für die Ewigkeit aufnimmt. Aber wie Graziella gesagt hat: Es ist ein Kraftakt, so etwas zu stemmen! Wir hatten auch das Glück, dass uns das Stadttheater von Bühnen Bern neun Tage zur Verfügung stand. Welcher Opernintendant würde ein Opernhaus für neun Tage schließen! Sie konnten in der Zeit keine Aufführungen spielen. Dass wir an diesem Ort die Aufnahmen machen konnten, ist ein Glücksfall. Das muss man wirklich sagen!

Welche Möglichkeiten bietet ein solches Vorgehen verglichen mit einer szenischen Aufführung, die mitgeschnitten wird?

Philippe Bach: Man hat natürlich eine viel höhere musikalische Qualität. Jeder Musiker bringt Spitzenleistungen und gibt sein Bestes. Jeder weiss: Das ist für die Ewigkeit. Das Niveau ist unglaublich, das erreicht man selten, fast nie in einer Opernaufführung! Und eine konzertante Aufführung für mich etwas unglaublich Schönes. Alle konnten sich wirklich auf die Musik konzentrieren und hatten das Stück im Blut, da wir zehn Tage so intensiv gearbeitet haben. Das hat man selten. Natürlich gehört dieses Stück auf die Bühne, das ist klar: Es braucht Inszenierungen, verschiedene Inszenierungen! Ich glaube, das Stück lässt auch viel zu, man kann viel damit machen. Es wäre schön, wenn das Stück jetzt gespielt würde in verschiedenen Inszenierungen. Aber rein für die musikalische Qualität ist eine Unternehmung, wie wir sie hier durchführen konnten, etwas vom Besten was es gibt.

Das heißt, die Bühnen Bern haben durch die vorübergehende Schließung des Theaters einen ganz wichtigen Beitrag dazu geleistet, dass man überhaupt diese Aufnahme ins Werk sitzen konnte?

Graziella Contratto: Natürlich! Und wir haben noch ein sogenanntes Konzertzimmer einbauen lassen. Sie haben diese Konzertmuschel auf der Bühne gesehen. Sie musste extra eingerichtet werden, was einen Tag lang gedauert hat. 20 Arbeiter sind mit drei Sattelschleppern hergekommen und haben sie aufgestellt: oben die Segel, auf der Seite Stellwände und so weiter. Es war ein unglaubliches Abenteuer, aber auch toll, denn jetzt haben wir wirklich etwas Wichtiges zusammen geleistet, damit Raff auch als Opernkomponist wahrgenommen werden kann, und zwar weltweit. Man sagt immer, Live-Aufnahmen haben einen „Spirit“ aus dem Moment, es ist so emotional. Aber Emotion bedeutet auch manchmal Ungenauigkeit, Spontaneität statt Reflexion. Es können natürlich auch ungewollt Dinge passieren. Mich persönlich ärgert es dann, wenn so etwas für immer und ewig einfach aufgenommen ist und dann immer wieder gehört werden kann, und jeder merkt: Da gab es ein Problem, dort eine Unschärfe, intonatorisch gibt es etwas zu bekritteln usw. Dann verzichte ich lieber auf den Live-Moment und setze lieber auf eine ausgeklügelte, gut geführte Studioaufnahme.

Ein Herr aus dem Publikum hat zu mir gestern den Satz gesagt, Raff sei eigentlich das bedeutendste „Missing-Link“ des 19. Jahrhunderts, weil er gewissermaßen wie in einem Kreis zwischen seinen ganzen berühmter gewordenen Kollegen steht und jedem von ihnen die Hand reicht. Sehen Sie das ähnlich?

Graziella Contratto: Das ist sehr schön gesagt!

Philippe Bach: Ja, Raff war gewissermaßen bei beiden, bei den Neudeutschen um Liszt wie bei der anderen Linie von Mendelssohn, und hat versucht, auf seine Weise zu verbinden. Er hat eben nicht gesagt: „Nur das ist gut, und das ist schlecht!“

Herzlichen Dank für dieses Gespräch!

[Das Interview führte Norbert Florian Schuck, 9. September 2023]

Zur weiteren Information:

Die Weltersteinspielung der Oper Samson von Joachim Raff erscheint voraussichtlich im kommenden Dezember als 3-CD-Box bei www.schweizerfonogramm.com

Philippe Bach leitet das Berner Symphonieorchester und den Chor der Bühnen Bern, als Solisten wirken mit:

SAMSON – Magnus Vigilius

DELILAH – Olena Tokar

ABIMELECH – Robin Adams

OBERPRIESTER – Christian Immler

MICHA – Michael Weinius

Die künstlerische Aufnahmeleitung wurde ebenso wie das Editing und das Mastering übernommen von Frédéric Angleraux, Studio www.adcsound.ch

Konsequent durchdachte Mahler 6 mit Simon Rattle

Nach seinem offiziellen Einstand als neuer Chefdirigent des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks mit Haydns Schöpfung hatten sich die Musiker unter Sir Simon Rattle für die zweite Konzertreihe (28., 29. & 30. September 2023) in der Isarphilharmonie Gustav Mahlers Symphonie Nr. 6 a-Moll vorgenommen. Dazu gab es noch – als gemeinsames Auftragswerk vom BRSO, dem Orchestre de Paris und dem San Francisco Symphony Orchestra – das Orchesterstück »Latest« der inzwischen 97-jährigen französischen Komponistin Betsy Jolas. Der Rezensent besuchte die zweite Aufführung am Freitag, 29. 9. 2023.

Sir Simon Rattle und das BRSO in Mahlers Symphonie Nr. 6 (Foto vom 28.9.23), © BR/ Astrid Ackermann

Was für ein Statement: Gleich zu Beginn einer „normalen“ Abo-Reihe – und nicht etwa in der musica viva – die deutsche Erstaufführung eines 2021 entstandenen Auftragswerks einer Komponistin (!) zu bringen, macht deutlich, dass Sir Simon Rattle die Zeichen der Zeit erkannt hat und sie programmatisch umzusetzen gedenkt. Die Französin Betsy Jolas (*1926) wurde nach ersten Studien in den USA während der Flucht vor den Nazis dann – wieder in Paris – Schülerin u. a. von Darius Milhaud und Olivier Messiaen, später quasi dessen Nachfolgerin am Conservatoire. Längst hochdekoriert, bereits 1953 auch als junge Dirigentin, ist die Komponistin in Deutschland trotzdem allenfalls einem kleinen Kreis engagierter Pianisten bekannt gewesen, insbesondere wegen ihrer höchst individuellen Auseinandersetzung mit dem Serialismus – eindrucksvoll im Klavierwerk „B for Sonata“ (1973). Ihr knapp 14-minütiges Orchesterstück Latest zeigt erneut, dass Komponieren für die nach wie vor temperamentvolle Pariserin immer gleichzeitig eine Einbeziehung der Musikgeschichte zumindest des gesamten 20. Jahrhunderts bedeutet. Anfangs evozieren feine Schlagzeugeffekte zauberhafte, an Anton Webern gemahnende Melodiefragmente in den Streichern – klanglich zersplitterter Serialismus. Und obwohl strukturell erkennbar an Schönberg angeknüpft wird, erleben die Zuhörer ein atmosphärisch dichtes Spiel auch mit Räumlichkeit und wirklich faszinierende Instrumentationskunst, in der ein Geist der Freiheit anstatt formaler Strenge regiert. Den abschließenden Ausruf «Ô» aller Orchestermusiker nimmt das Publikum vergnüglich wohl als „Was? Schon zu Ende?“ wahr – mehr als nur freundlicher Beifall.

Mahlers Sechste Symphonie trägt nicht umsonst den Beinamen Tragische: Simon Rattle versteht es jedoch gleichermaßen, positive und hoffnungsvolle Elemente überzeugend ins rechte Licht zu rücken. Er dirigiert das Riesenwerk auswendig, ist all seinen Musikern stets völlig zugewandt. Bereits an der Tatsache, dass er dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks ungewöhnlich deutlich vorausdirigiert, erkennt man, welch enormes Vertrauensverhältnis hier schon jetzt herrscht. Und Rattle zeigt bei diesem Werk einfach alles, geht emotional sichtbar mit. Wer dabei freilich totalen Exhibitionismus à la Leonard Bernstein erwartet, liegt völlig daneben. Der Dirigent betont die gerade bei der Sechsten vorhandene Kontinuität klassischer symphonischer Traditionen, die bei der Viersätzigkeit anfängt und bei Strukturelementen der einzelnen Sätze längst nicht aufhört. Rattle hatte kürzlich in einem Interview bemerkt, dass er gerne innerhalb einer Aufführungsreihe mal unterschiedliche Tempi ausprobiert und Spontaneität durchaus Raum geben mag.

Das spürt man bereits bei der Wiederholung der Exposition des Kopfsatzes, die keineswegs ein Abziehbild des ersten Durchgangs ist, stellenweise eine Spur ruhiger genommen wird. Der dominierende Marsch – insgesamt weicher als bei anderen Interpreten – wirkt streng, energisch, aber noch nicht wirklich bedrohlich. Nicht nur beim Seitenthema gelingt Rattle eine schlüssige Agogik, im Piano reichen minimale Gesten aus. Die traumwandlerische Naturepisode mit den fernen Kuhglocken mündet schließlich in einen berückenden Erlösungsmoment der Solo-Violine. In der architektonisch klar modellierten Durchführung integriert Rattle spezielle „mahlerische“ Klangfarben, ohne sie hervorzuheben; die Steigerung vor der Reprise bleibt eher unaufdringlich. Hingegen lassen die später vorhandenen, fast bitonalen Reibungen – das harmonische Verständnis aller Musiker ist herausragend – sofort aufhorchen, die Tragik wird dennoch lediglich angedeutet.

Das von Rattle an zweite Stelle gesetzte Andante – hierbei folgt er Mahlers eigenen Aufführungen, nicht dem Erstdruck – demonstriert selbstbewusste Schönheit, mehr vorstädtische Nachtszenerie denn Hinterweltler-Idylle. Schon das Englischhorn-Solo ist innig, ohne jede Trägheit; Rattles Tempi bleiben über den ganzen Satz äußerst flüssig. Das bewusste Vermeiden jeglicher Schwelgerei erweist sich dann im Verlauf doch als etwas glattpoliert, der Streicher-Zusammenbruch gerät so künstlich. Wenn Mahlers Melodielinien große Intervalle beinhalten, fehlt die typische Stimmung des fin de siècle, was manche Zuhörer verärgern dürfte, dem Rezensenten allerdings so ausdrücklich gefällt. Mit der rhythmischen Unerbittlichkeit des ersten Satzes kippt dann im Scherzo – Rattle schließt danach das gewaltige, gut halbstündige Finale zudem quasi attacca an – die Stimmung an der richtigen Stelle. Das Tempo ist wiederum flott, die Situation ernst von Beginn, und die zwischendurch aufblitzenden, zärtlicheren Momente können sich nicht mehr durchsetzen. Alles wird schließlich zu einer Fratze im Zerrspiegel, wobei völlig offenbleibt, wohin das führen soll.

Schon das Anfangsmotiv des Finales wirkt wie ein schneidender Schmerz aus einem nebulösen Albtraum heraus. Der in der Symphonie auffällig genutzte Wechsel zwischen Dur und Moll wird nun zum zentralen Element. Schon der erste Bläserchoral erklingt stumpf; es bleibt ungemütlich. Rattles Übersicht zeigt sich besonders in einem erstaunlich geschickten Tempoaufbau: Die selbst während dieses – nicht nur verbatim durch die beiden berühmten Holzhammerschläge demonstrierten – niederschmetternden Überlebenskampfs weiterhin vorhandenen „Positiv“-Abschnitte kommen herüber wie im Flow. Umso erschreckender dann die immer gewalttätigeren Abbrüche. Man muss sich klarmachen, dass der zweite Hammerschlag (von ursprünglich dreien) gerade mal ungefähr in der Satzmitte erscheint. Dahinter liegt also noch eine gewaltige Strecke, deren Aufbau zwingend zu gestalten eine echte Herausforderung ist. Trotz des mehrfachen, fast unerträglichen Aufbäumens schafft Rattle dazu mit seinem Orchester ein immer durchsichtiges Klangbild: Gegen die akustischen Unzulänglichkeiten der Isarphilharmonie helfen kleinere Retuschen wie die Verwendung von bis zu vier Beckenpaaren. Die Empathie, mit der hier musiziert wird, bleibt absolut mitreißend. Die trügerische Beruhigung vor dem Schluss führt zu einem letzten Fortissimo-Ausbruch – wie eine mitleidlose Exekution. Nach einer zu Recht hochgelobten Darbietung der Neunten vor knapp zwei Jahren demonstriert Simon Rattle ein weiteres Mal, dass Gustav Mahler mit dem BRSO momentan kaum zu übertreffen ist: nicht enden wollende Begeisterung mit standing ovations im Publikum.

[Martin Blaumeiser, 1. Oktober 2023]

37. Jahrestagung und Konzert der Internationalen Draeseke-Gesellschaft in Coburg

Die 37. Jahrestagung der Internationalen Draeseke Gesellschaft e. V. Coburg findet vom 06. bis 08. Oktober 2023 in Coburg statt. Zu ihrer 37. Mitgliederversammlung treffen sich die aus ganz Deutschland anreisenden Mitglieder der Gesellschaft am Freitag, 06. Oktober 2023 im Landhaus Kaiser in Dörfles-Esbach. Im Rahmen dieser Versammlung wird auch das 10jährige Jubiläum der Alan Krueck Foundation gefeiert, eine Stiftung der IDG zur überregionalen Förderung von Draesekes Musik in öffentlichen Konzerten.

Am Samstag, 07.Oktober 2023, Draesekes Geburtstag, werden um 17.00 Uhr im Landhaus Kaiser zwei bisher ungedruckte Werke des Coburger Meisters in einer audio-visuellen Vorstellung gleichsam „uraufgeführt“. IDG-Mitglied Manfred Eibl aus Coburg hat für die Akademische Festouvertüre Op.63 (1890) wie auch für das Konzert-Stück für Harfe und Orchester Feenzauber WoO 36 die Partituren mit dem kompletten Aufführungsmaterial hergestellt und wird seine wertvolle Arbeit der Versammlung klanglich vorstellen. Manfred Eibls Material steht für künftige Aufführungen in Konzerten zur Verfügung.

In Zusammenarbeit mit dem Kunstverein Coburg e. V. wird die 37. Jahresversammlung der IDG am Sonntag, den 08. Oktober 2023 um 11.00 Uhr mit einer Klavier-Matinee beschlossen. Für diese musikalische Morgenfeier, die gleichzeitig als glanzvoller Schluss-Akkord der laufenden Ausstellung im Kunstverein gedacht ist, konnte die Pianistin Haruka Izawa aus Berlin verpflichtet werden. Die Künstlerin ist Preisträgerin beim III. Internationalen Hans-von-Bülow-Wettbewerb 2018 in Meiningen gewesen und wird von der IDG e.V. gefördert. Die junge Meisterpianistin eröffnet ihr Programm mit der Petite Histoire, einem Frühwerk von Felix Draeseke, und wird nach den Kinderszenen von Robert Schumann die große Sonate in B-Dur op. 106 von Ludwig van Beethoven, die berühmte und technisch höchst anspruchsvolle „Hammerklavier-Sonate“ interpretieren. Zu dieser musikalischen Morgenfeier mit Haruka Izawa und Spitzenwerken der Klaviermusik laden beide Vereine sehr herzlich ein.

Haruka Izawa begann das Klavierspiel im Alter von vier Jahren. Sie gewann zahlreiche Preise bei den japanischen Musikwettbewerben und war 2018 Preisträgerin beim III. Internationalen Klavierwettbewerb Hans von Bülow. Sie trat als Solistin mit dem Nagoya Philharmonic Orchester, dem Geidai Philharmonia Orchester und der Meininger Hofkapelle auf. Ihr Studium an der Universität der Künste in Tokyo schloss sie mit Auszeichnung ab und setzt derzeit weiterführende Studien an der Universität der Künste Berlin fort. Daneben erhält sie durch die Zusammenarbeit mit Alfred Brendel in den letzten Jahren unschätzbare Anregungen für ihre musikalische und gesamtkünstlerische Entwicklung.

Internationale Draeseke-Gesellschaft e. V.
Der Vorstand
i.A.
Udo-R. Follert, LKMD i.R.