Schlagwort-Archive: Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks

Die Rückkehr orchestraler Opulenz – Werke von Lim, Verunelli und Dusapin bei der musica viva

Liza Lim und Franck Ollu © Astrid Ackermann/BR

Anschließend an die – für 2021 nachgeholte – Verleihung der „Happy New Ears“ Preise in der Bayerischen Akademie der Schönen Künste spielte am 12.5.2023 das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks im Herkulessaal bei der musica viva den 2. Teil des Annunciation Triptychs: „Mary / Transcendence after Trauma“ der Preisträgerin für Komposition, Liza Lim. Anschließend erklangen die Uraufführung von Francesca Verunellis „Accord, chord and tune“ für Akkordeon und Orchester (Solist: Krassimir Sterev) sowie „Morning in Long Island“ von Pascal Dusapin. Es dirigierte Franck Ollu.

Auch die Verleihung der im 2-Jahres-Turnus vergebenen Happy New Ears Preise der Hans und Gertrud Zender-Stiftung für 2021 konnte coronabedingt erst jetzt in der Bayerischen Akademie der Schönen Künste nachgeholt werden. Wolfgang Rathert hielt die Laudationes und betonte bei der Preisträgerin für Komposition, der Australierin Liza Lim, die Weltbezogenheit und das politische Engagement ihrer Musik. Der Preisträger für Publizistik zur Neuen Musik, der italienische Musikwissenschaftler Gianmaria Borio, wurde für sein umfangreiches Schaffen beiderseits des Atlantiks – darunter eine 4-bändige Geschichte der Darmstädter Ferienkurse – gewürdigt. Die kurzen, umso prägnanteren Danksagungen der Ausgezeichneten hielten diese in perfektem Deutsch – und erstmals in diesem Rahmen erklang ein kleiner musikalischer Beitrag: Matthew Sadler spielte Lims faszinierendes Trompetensolo Wild Winged-One.

Das Symphoniekonzert beginnt mit Liza Lims 2. Teil ihres Annunciation Triptychs: Mary / Transcendence after Trauma (2020/21), mit dem nun hoffentlich die Reihe der „verpassten“ musica viva Uraufführungen – das Triptychon wurde stattdessen 2022 in Köln von Cristian Măcelaru aus der Taufe gehoben – endet. Ganz im Gegensatz zu Lims zuletzt im Herkulessaal gespielter, hochpolitischer Performance instrumentalen Theaters Extinction Events and Dawn Chorus (wir berichteten) beschäftigt sich Lim hier mit dem Mysterium von Mariä Verkündigung und bedient sich dabei einer gewaltigen Palette orchestraler Klangfarben, deren Opulenz sie mit einer Meisterschaft beherrscht, die in jedem Detail absolut überzeugt. So gut wie nichts ist dabei konventionell oder gar ein Rückgriff in die Kiste der Neo-Romantik. Vom zarten Beginn der Spring Drums und Streicher bis zu ehrfurchtgebietenden Blechbläserglissandi – die die Komposition inspirierenden Texte schlagen von der Geschichte der Verkündigung eine Brücke bis zur Reflexion der Offenbarung – zeugt das gesamte, ca. 18-minütige Stück von tiefer spiritueller Versenkung, auch gerade in eher lauten Abschnitten. Ergreifend der kurze, zentrale Moment Her wild consent – nur mit Basstrommel, Horn und Klavier und die folgenden apokalyptischen Visionen. Lim benutzt gekonnt vierteltönige Einfärbungen und beeindruckende spektrale Klänge, besonders in den Bläsern. Dies alles kontrolliert der französische Spezialist Franck Ollu – er dirigiert ohne Taktstock und mit links – mittels klarer Impulse und genauer dynamischer Führung, bleibt dafür emotional recht unbeteiligt, vor allem im folgenden Beitrag.

Francesca Verunelli (*1979) erhielt 2020 den Förderpreis der Ernst von Siemens Musikstiftung. In ihrem Uraufführungsstück mit dem technischen, neutral erscheinenden Titel Accord, chord and tune geht die Komponistin entschieden radikalere Wege: Konsequente Mikrotonalität erhält hier eine im wahrsten Sinne des Wortes unerhörte Bedeutung. Der Solopart wurde eigens auf das spezielle Viertelton-Akkordeon Krassimir Sterevs abgestimmt. Ein Solistenkonzert im traditionellen Sinne hören wir jedoch nicht: Die besondere Klanglichkeit wird in einen einheitlichen Organismus von Solist und Orchester integriert; das Akkordeon tritt praktisch kaum jemals in den Vordergrund. Aus den nahezu unbegrenzten Möglichkeiten werden beständig neuartige Klänge synthetisiert, wo lediglich die Harfen stellenweise vertraute Akzente setzen. Mit seiner Überladenheit an instrumentalen Effekten, wodurch immerhin ein unterbrechungsloser, stimmiger Klangstrom gelingt, gehört Verunellis Stück zu den vielen „überinstrumentierten“ Orchesterwerken der letzten Jahre, die dann doch ohne jede Emotionalität irgendwie auf der Stelle treten. Das Publikum ist allerdings wohl anderer Meinung und bedenkt die Beteiligten mit großem Applaus.

Nach der Pause kommt Pascal Dusapin mit seinem gut halbstündigen „Konzert Nr. 1 für großes Orchester“ Morning in Long Island von 2010 zum Zuge. Dusapin (geb. 1955), Schüler u. a. von Iannis Xenakis, gehört seit langem zu den wichtigsten Komponisten Frankreichs; entsprechend groß ist seine Souveränität im Umgang mit dem Orchester. Inspiriert durch einen Spaziergang an den eiskalten Strand Long Islands im Jahre 1988 schildert Dusapin nicht etwa konkrete Naturstimmungen, sondern setzt die Erinnerungen an seine damaligen Empfindungen musikalisch um. Der stark durch Literatur – namentlich Flauberts – geprägte Komponist begibt sich auch hier auf eine Metaebene, nie simpel programmatisch. So etwas mag heutzutage dennoch altmodisch wirken – gute Musik ist es trotzdem. Nun ist Franck Ollu, höchst vertraut mit Dusapins Schaffen, endgültig in seinem Element, geht insbesondere im rhythmisch mitreißenden, positiv energetischen Schlussabschnitt (swinging) mit seinen amerikanischen Tanzrhythmen voll mit. Dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks muss man an erster Stelle aber für eine höchst gelungene Darbietung des langen, langsamen Mittelteils (simplement) danken, der farblich ungemein ausdifferenziert herüberkommt. Ollu scheint nun glücklich mit dem ganzen Abend zu sein und erhält zusammen mit dem Komponisten verdient begeisterte Zustimmung.

[Martin Blaumeiser, Mai 2023]

Julian Andersons »Exiles« und ein phänomenaler Schostakowitsch unter Manfred Honeck

Am 30./31. März und 1. April 2023 konzertierten Chor- und Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Leitung von Manfred Honeck in der Münchner Isarphilharmonie. Gespielt wurden die Kantate „Exiles“ des britischen Komponisten Julian Anderson (Sopransolo: Julia Bullock) sowie Dmitri Schostakowitschs 5. Symphonie d-Moll op. 47. Unser Rezensent besuchte das erste Konzert am Donnerstag.

© BR/ Astrid Ackermann

Ein Konzertprogramm an drei Abenden nur aus Werken des 20. bzw. 21. Jahrhunderts: Das klappt nun beim BR auch wieder mit den Abos in der Isarphilharmonie – und wie! Vor der Pause spielt das BRSO unter Manfred Honeck samt Chor (Einstudierung: Peter Dijkstra) die eigentlich in München als Uraufführung für Januar 2022 geplante Kantate »Exiles« des Briten Julian Anderson (* 1967). Wegen Corona fiel dieser Termin leider aus, das Stück wurde dann in Berlin aus der Taufe gehoben, und man darf froh sein, dass es jetzt mit absoluten Spitzenkräften doch noch hier zu hören ist. Anderson studierte bei John Lambert, Alexander Goehr, später auch beim französischen Spektralisten Tristan Murail, was großen Einfluss auf die außerordentliche Farbigkeit seiner Orchestersprache hat.

Die etwa 40-minütige Kantate besteht aus fünf Sätzen, von denen nur der zweite und fünfte von der kompletten Besetzung vorgetragen werden. Der knappe erste – für Sopransolo und Orchester – handelt vom inneren „Exil“ des marokkanisch-französischen Komponistenkollegen Ahmed Essyad während der Corona-Lockdowns, vertont dessen prosaischen Email-„Notruf“, der aber ohne Weiteres für die damalige Erstarrung gerade der Kulturszene insgesamt stehen darf. Die US-amerikanische Sängerin Julia Bullock zeigt von Beginn an eine ungemein eindringliche, glaubwürdige Bühnen- und Stimmpräsenz, gewinnt sofort das Publikum, das gerne die ganze Zeit an ihren Lippen hängt. Sie vermag die musikalische Bedeutung des höchst anspruchsvollen Gesangsparts weit über den Text hinaus mit hinreißender Empathie herüberzubringen, auch wenn sie trotz gewaltigen Stimmvolumens und -umfangs stellenweise gegen ein doch riesiges Orchester ziemlich ankämpfen muss. Der relativ weit hinten und oberhalb des Orchesters platzierte Chor des BR hat es in dieser Hinsicht allerdings sogar schwerer – bekannte Einschränkungen des HP 8.

Anderson erweitert dann seine Beschäftigung mit der Vokabel Exil weit über die allen noch präsente Isolation der Corona-Wirren hinaus: auf die Verfolgung des Volkes Israel, Befindlichkeiten während des Exils oder auf dem Weg dorthin. Im zweiten Satz werden hebräische Psalmtexte mit Versen des rumänischen Komponisten Horatio Radulescu – ebenfalls ein Protagonist des Spektralismus im Umfeld Gérard Griseys – verknüpft. Dabei erreicht Manfred Honeck eine fast makellose Synchronisation der Stimmen mit dem übrigen, dichten Geschehen. Dies demonstriert – von beinahe tonalen Passagen über teils aleatorische Klangflächen bis zu die Hörer in einen wohligen Schauer einhüllenden, spektralen Supernovae – erneut Andersons fantastische Orchestrierungskunst. Gerade bei leisen, zugleich komplexen Abschnitten – auch im dritten Satz (doppelchörig a cappella), der die Rettung vieler jüdischer Künstler durch den Diplomaten Varian Fry in Erinnerung ruft – behält Honeck den Überblick, modelliert sicher den Klang und stellt sowohl dessen Härten als auch die oft unfassbaren Schönheiten völlig überzeugend heraus. Bei der Behandlung des Chors merkt man, wie der anwesende Komponist an beste britische Traditionen – von Benjamin Britten bis Jonathan Harvey – anschließt und recht ökonomisch erstaunliche Feinheiten aus den Stimmen herauskitzelt, was der BR-Chor souverän meistert.

Der vierte Satz, diesmal rein instrumental unter Einbeziehung obertonreicher musique concrète vom Soundtrack, schildert die tragische Flucht des später berühmten Musikwissenschaftlers Harry Halbreich vor den Nazis 1942 in die Schweiz. Großartig schließlich der letzte Teil, in dem Psalm 108 mit Apollinaire und Vítězslav Nezvals herrlichem Gedicht Sbohem a šáteček – teils tschechisch, teil englisch – kombiniert wird! Hier gäbe es allerdings den einzigen Kritikpunkt an Andersens Komposition: Die teilweise engmaschige musikalische Vernetzung von gleich drei oder vier Sprachen – Nezval ist schon alleine kaum adäquat ins Englische oder Deutsche zu übersetzen; warum nicht einfach nur beim Original bleiben? – macht dem Hörer das Verständnis unnötig schwer. Dennoch ist das Münchner Publikum, nicht zuletzt wegen der grandiosen Leistung aller Sänger, zu Recht komplett begeistert. Andersons Werk hätte weitere beeindruckende Schätze parat: zum Beispiel Heaven is Shy of Earth

Lässt sich das noch toppen? Antwort: Ja, denn Honecks Darbietung von Schostakowitschs 5. Symphonie von 1937 sollte sich am Donnerstag als wirklich maßstabsetzend erweisen. Hier kommen mehrere glückliche Umstände in idealer Weise zusammen. Das BRSO kennt über Mariss Jansons seinen Schostakowitsch sehr gut, und Honeck hat mit dem Pittsburgh Symphony Orchestra, dessen Chef er seit bald 15 Jahren ist, für eine Einspielung dieses Werks von 2013 schon einen Grammy erhalten. Der Dirigent bleibt seinem Konzept treu, das sich im Detail merklich von dem Jansons unterscheidet: Honeck wählt hier ungewöhnlich zurückhaltende Tempi, bis auf den letzten Satz. Er erzeugt, vor allem durch Pianissimos ohnegleichen, die in dieser Tonqualität nur Spitzenorchester hinkriegen, enorme dynamische Kontraste – emotional immer tragfähig. Das beginnt mit der großen Steigerung des Kopfsatzes, die nach trügerischer Ruhe total unter die Haut geht. Die Nähe zu Gustav Mahler wird in beiden Mittelsätzen bewusst zelebriert, wobei die unterschwellig stets karikierende Art des russischen Komponisten im Allegretto wunderbar schräg wirkt. Das Largo verströmt eine Ruhe, wie sie der Rezensent dort noch nie so intensiv empfunden hat: gnadenlose Erhabenheit der Natur. Und Honecks Lieblingsstelle, die einsamen Holzbläsersoli über sibirisch frostigen Streichertremoli, wird so zum ergreifenden Höhepunkt der gesamten Symphonie. Das monströs martialische Finale gelingt mit ironisch überpointiertem Schluss schlicht phänomenal, danach folgt selten einmütiger, minutenlanger tosender Applaus für Orchester und Dirigent.

[Martin Blaumeiser, 1. April 2023]

Matthias Pintscher als grandioser Motivator beim BRSO

Im Symphoniekonzert der musica viva vom Freitag, 17. März 2023, brachte das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks neben „Shaar“, einem Streicher-Klassiker Iannis Xenakis‘ (1922–2001) noch zwei großbesetzte Werke zu Gehör, die während der bzw. als Reaktion auf die Corona-Lockdowns von 2020 entstanden sind: Chaya Czernowins „Atara“ mit den beiden Gesangssolisten Sophia Burgos und Holger Falk. Außerdem dirigierte der Komponist Matthias Pintscher sein eigenes Stück „Neharot“.

© BR/ Astrid Ackermann

Die Besucherzahlen der musica viva Symphoniekonzerte im Münchner Herkulessaal haben wohl endlich die Corona-Delle hinter sich gelassen und die Neugier des Münchner Publikums auf ganz moderne Klänge scheint wieder ungebrochen. Wenn dann noch der Komponist und Dirigent Matthias Pintscher zu Beginn einen wegweisenden, mittlerweile als Klassiker geltenden Iannis Xenakis aufs Programm setzt, sind Vorfreude und Erwartungen entsprechend hoch. Shaar (1982), für ein teilweise komplett aufgefächertes, großes Streicherensemble – hier mit 52 Spielern musiziert –, arbeitet mit Clustern, rhythmisch impulsiven Repetitionen und ausladenden Glissandi. Insbesondere letztere, von ihm früher geradezu inflationär eingesetzt, hat der Komponist dabei dermaßen kultiviert, dass man statt von einer Klangflächen– besser von einer Klangraumkomposition sprechen muss, die eigentlich ganz logisch ihre dichtesten Momente im Unisono erreicht. Unter berufenen Dirigenten – wie etwa Lothar Zagrosek – lief das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks bei Xenakis schon immer zu Höchstform auf. Das energetische Stück kann unter Pintschers strukturell glasklarer, emotional immer mitgehender Leitung wieder von Anfang an begeistern: ein genüsslicher Klangschauer.

Zu Pintschers besonderen Fähigkeiten als Komponist gehört längst der differenzierte Umgang mit der ganzen Palette an Orchesterfarben und modernen Spielweisen. Dabei ist der Einsatz des riesigen Instrumentariums aber nie Selbstzweck, sondern eher ökonomisch auf das Erreichen ausdrucksstarker Höhepunkte hin angelegt, wie man sie nicht zuletzt in guter Filmmusik vorfindet. Entstanden angesichts des großen Sterbens in New York im Frühjahr 2020, dominieren in Neharot – hebräisch für Flüsse wie Tränen stehend – dunkle Farben, die sich gerne mal gespenstisch zusammenballen und sofort wieder quasi ins Leere auflösen können. Zentral wird für den 24-Minüter dann ein Trauer-Kaddish der Solotrompete, das Ganze schließlich zum „Tombeau“, gleichzeitig jedoch irgendwie tröstlich. Pintscher lenkt die ungeheuren Energieströme punktgenau – das BRSO folgt dem offenkundig mit Hingabe, klingt fantastisch – und erhält folglich enormen Beifall für ein überaus gelungenes Orchesterstück.

Wie Pintscher lehrt und lebt Chaya Czernowin (* 1957) nun hauptsächlich in den USA. Und ebenso wurde Atara – der Titel bezieht sich auf das integrierte Gedicht Zohar Eitans – durch den menschlichen Kontrollverlust angesichts dann doch immer noch nicht zu bändigender Naturgewalten inspiriert. Noch dunkler als in Neharot – anfangs grummeln tiefste Bässe vom Sampler-Keyboard – setzt die Komponistin ein unvorhersehbares Spiel der Kräfte in Gang. Ausdrücklich als Lamento bezeichnet, wirken hierbei die beiden nach einer Viertelstunde einsetzenden verstärkten Stimmen meist irritierend zerbrechlich – souverän, aber vielleicht selbst nicht völlig überzeugt von dem, was sie da vokal anbieten müssen: Sophia Burgos und Holger Falk. Sowohl die vokalen Effekte als auch die enorm einfallsreiche, abstrus zerfaserte Orchestrierung geraten so – durchaus gewollt – unorganisch, unberechenbar und eher verstörend. Chernowins Kunst liegt gerade darin, über fast 40 Minuten zumindest Spannung aufrecht zu erhalten und immer wieder Neues zu bringen, obwohl dadurch der Zerfall ins Episodische vorprogrammiert ist – erstaunlich wahrhaftig, trotzdem ein wenig ermüdend. Musikalisch grandios in jedem Falle die Leistung des hochmotivierten BRSO und des Dirigenten Matthias Pintscher, den man bei Neuer Musik auch in München nicht mehr missen möchte: Die musica viva lebt!

[Martin Blaumeiser, 18. März 2023]

Mehr und weniger gelungene Uraufführungen bei der musica viva

Auch im Symphoniekonzert der musica viva am Freitag, 17. Februar 2023, präsentierte das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks wieder zwei Uraufführungskompositionen: „In der Farbe von Erde“ von Nikolaus Brass – mit Tabea Zimmermann als Solistin an der Bratsche – sowie „…the Brent geese fly in long low wavering lines…“ von Hans Thomalla. Zuvor erklangen noch die legendären Quattro pezzi su una nota sola des Italieners Giacinto Scelsi. Am Pult stand der aus Simbabwe gebürtige Dirigent Vimbayi Kaziboni.

Vimbayi Kaziboni, Photo © BR/ Astrid Ackermann

So langsam arbeitet man die Auftragskompositionen der musica viva ab, die sich durch Corona mittlerweile aufgestaut haben, und deren Uraufführungen eigentlich viel früher geplant waren. Am Pult steht an diesem Abend der aus Simbabwe stammende Dirigent Vimbayi Kaziboni, der in den USA (Los Angeles) und Deutschland (Frankfurt) ausgebildet wurde, schon länger auf zeitgenössische Musik spezialisiert ist und derzeit eine Professur in Boston innehat. Souverän und mit ruhigen Bewegungen leitet er das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, das in allen drei Stücken trotz vollgestellter Bühne des Herkulessaals in gar nicht mal so großen Besetzungen spielt. Bei Scelsi und Thomalla kann er leider rein technisch nicht allzu viel von seinen Fähigkeiten zeigen, da der Ablauf hier relativ unproblematisch zu kontrollieren ist.

Giacinto Scelsi (1905–1988) hatte nach einer mithilfe fernöstlicher Spiritualität überwundenen psychischen Krise ab Anfang der 1950er Jahre damit begonnen, Aspekte des Einzeltons näher zu erforschen. Dazu nahm er Improvisationen an der Ondiola, einem frühen elektronischen Instrument, auf Tonband auf und ließ diese dann von anderen Musikern transkribieren, was natürlich bis heute zu Diskussionen über die Authentizität gerade seiner Orchesterwerke führte. Die Quattro pezzi su una nota sola von 1959 treiben dies titelgemäß auf die Spitze, indem jedes der kurzen Stücke, kaum mehr als Orchesterstudien, tatsächlich nur jeweils einem Ton gewidmet ist – mit Schwankungen von mikrotonalen Schwebungen bis hin zum Ganzton (Doppelkreuz). Die Konzentration richtet sich also komplett auf Klangfarbe, Dynamik und Rhythmus. Kaziboni gelingt diese Gratwanderung zwischen „Eintönigkeit“ und musikalisch sensibler Aktion ausgezeichnet, vielleicht sogar besser als Hanz Zender 2006 an gleicher Stelle.

Obwohl Nikolaus Brass (*1949) nun wieder in seiner Geburtsstadt Lindau lebt, darf man ihn getrost zu den Münchner Komponisten rechnen. Seinem Ruf als nachdenklicher Spätentwickler wird er mit In der Farbe von Erde (2021) erneut gerecht. Ursprünglich als Musik für 44 Solostreicher geplant, ergab sich nach Kompositionsbeginn die Erweiterung um einen – nun zentralen – Solopart für die Bratschistin der Uraufführung, Tabea Zimmermann. Der Titel bezieht sich auf die Inspiration durch einen Text des schweizerischen Dichters Philippe Jaccottet, der aber keinesfalls als Vorlage einer „Vertonung“ verstanden werden soll. Die Streicher spielen in Gruppen mit unterschiedlichen, feinen Skordaturen und reagieren mit diesen Unebenheiten auf den von Beginn an hochdifferenzierten Solopart, der mit technischen Schwierigkeiten nur so gespickt ist, ohne dabei äußerlich virtuos zu wirken. Die Expressivität von Frau Zimmermann ist einmal mehr grandios. Unglaublich, wie sie dazu fähig ist, in Sekundenbruchteilen Klang und Stimmung glaubwürdig komplett zu modifizieren. Feinheiten sind es auch, die der gesamten Komposition Sinn einhauchen. So wirken besagte Skordaturen keineswegs wie Fremdkörper, sondern organische Bestandteile lebendig gewordenen musikalischen Materials. Lediglich im letzten Tutti nach der großen Kadenz führen sie zu einer gewissen Sprachverwirrung. Überzeugend auch die Idee, zwei Vibraphone als Pedalinstrumente einzusetzen, die den Hörer den Raum als solchen deutlicher wahrnehmen lassen. Das kaum 14-minütige, intensive Wechselspiel zwischen Solistin und Orchester – vom Dirigenten mit Hingabe geführt – begeistert jedenfalls das gesamte Publikum: einfach sehr schön!

Konnte Hans Thomalla (*1975) mit seiner Ballade für Klavier und Orchester 2017 den Rezensenten noch positiv beeindrucken, erweist sich „…the Brent geese fly in long low wavering lines…“ als schlicht langweilig. Knapp 40 Minuten quält uns der Komponist mit einem immerhin recht farbigen Minimalismus, der dabei emotional keinerlei Spuren hinterlässt. Lässt man mal den eher nachträglich gefundenen Titel – aus einem Gedicht von Juliana Spahr – außer Acht: Rhythmisch basiert das komplette Stück auf einem durchgehenden Achtelpuls, der zwar durch einige – jedoch mehr oder weniger identische – metrische Modulationen modifiziert wird, dennoch starr wirkt. Harmonisch bzw. melodisch gibt es ein (!) äußerst simples Motiv, das Dreiklänge umspielt, die sich so als das jeweilige tonale Zentrum etablieren. Mittels verstärkter Klaviere und Vibraphone wirkt dieses zudem zunächst als omnipräsentes, stabiles Gerüst, bald zunehmend wie unbewegliche Säulen, die uns quasi signalisieren: Hier führt kein Weg hinaus; es gibt nicht mal einen Blick über den Tellerrand! In der Tat ist das Stück wegen der recht anspruchsvollen Partien vor allem der Bläser durchaus ein Konzert für Orchester. Trotzdem scheint sich Thomalla an bewährte Rezepte bestimmter amerikanischer Komponisten dranzuhängen, ohne deren Entwicklungsmöglichkeiten auch nur annähernd auszunutzen: also John Adams für Arme? Nein, aber ein viel zu lang geratener Rohrkrepierer, für den es völlig zu Recht entsprechend zurückhaltenden Applaus gibt, der wohl mehr Vimbayi Kaziboni – bei Thomalla fast zu einem taktschlagenden Automaten degradiert – und dem Orchester gilt.

[Martin Blaumeiser, 18. Februar 2023]

Uneitler, berührender Bruckner mit Herbert Blomstedt

Am Donnerstag, 12. 1. 2023 und Freitag, 13. 1. 2023, spielte das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Herbert Blomstedt Bruckners 4. Symphonie sowie Mendelssohns unverwüstliches Violinkonzert e-Moll mit dem Solisten Leonidas Kavakos. Unsere Rezension bezieht sich auf das Konzert vom Donnerstag.

© Astrid Ackermann für BR

Wenn ein Konzert mit dem nun 95-jährigen Herbert Blomstedt angesagt ist, haben wohl mittlerweile alle begriffen, dass dann musikalische Glanzleistungen zu erwarten sind und es um jedes verpasste Konzert mit diesem charismatischen Dirigenten wirklich schade wäre. Vor den Türen des Herkulessaals standen nach langer Zeit tatsächlich wieder etliche Leute an, die noch Karten für das offensichtlich ausverkaufte Event suchten. Trotzdem blieben im Saal ein paar Plätze frei, was am Ehesten der anhaltenden Erkältungswelle geschuldet sein dürfte.

Blomstedt, der nach einem unangenehmen Sturz im Sommer vorerst im Sitzen dirigieren muss, ist hellwach, wirkt in seiner präzisen Zeichengebung auch manuell fit wie ein Turnschuh und versetzt die Zuhörer mit seiner absolut überzeugenden Klangregie in atemloses Staunen. Bedeutsamer allerdings, wie souverän und intelligent er seine vortreffliche Agogik unmittelbar aufs Orchester überträgt – dies wird bereits bei Mendelssohns Violinkonzert e-Moll deutlich. Nur direkt zu Beginn herrscht bezüglich des Anfangstempos wenige Sekunden leichte Uneinigkeit zwischen ihm und dem wie immer fantastischen Solisten Leonidas Kavakos. Der agiert ebenso uneitel wie Blomstedt, stellt die zweifellos vorhandene Virtuosität überhaupt nicht heraus, sondern gestaltet insbesondere die lyrischen Stellen überlegen. So erklingt das Seitenthema des Kopfsatzes innigst, ohne übertriebene Geste, die Kantilene im zweiten Satz quasi unschuldig unsentimental: dies völlig glaubwürdig. Fast schon jenseitig gelingt ihm der zauberhafte Schluss vor dem überleitenden Allegretto non troppo. Den 3. Satz begleitet das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks erneut mit perfekter Dynamik. Toll, wo die Streicher das kokette Thema des Solisten später mit breitem Strich unterfüttern. Blomstedt steuert neben der Präzision des Augenblicks jedoch immer gleichzeitig das große Ganze, sorgt für klare Strukturen und fortwährende Spannung der musikalischen Entwicklung. Nichts wirkt dabei erzwungen, behält eine umso mehr befreiende Leichtigkeit. Kavakos bedankt sich für den tosenden Applaus mit zwei Sätzen aus Bachs Solopartita h-Moll.

Bruckners Vierte dirigiert der schwedische Maestro auswendig; er kennt jedes Detail, zeigt genauestens selbst kleinste dynamische Schattierungen an, gibt alle wichtigen Einsätze und Impulse. Der Blick aufs Ganze ist hier absolut vonnöten, sollen die langen musikalischen Entwicklungsbögen nicht – wie leider bei allzu vielen Bruckner-Dirigenten – in akademisch sture Periodik zerfallen, wo das Publikum dann ab und an durch brachiale Blechorgien erschreckt wird. Blomstedt hat jedes Motiv als klanglich in sich bereits sinnhaftes Element mit dem Orchester genauestens erarbeitet. Wie phänomenal seine Proben ablaufen, hat das BRSO dankenswerterweise auf Youtube zugänglich gemacht – und mit der ergreifenden Aufführung der Romantischen ernten die Musiker nun die Früchte dieser Anstrengung. Man hört an keiner Stelle falsches Pathos, selbst die Fortissimo-Massierungen sind organisch und fein austariert. Vor allem versteht man endlich diejenigen Passagen, die schon vieles vom späteren „Naturlaut“ bei Mahler vorwegnehmen – vom geheimnisvollen Beginn der Ecksätze bis zu den gewaltigen Eruptionen, wo Motive mehrfach übereinander geschichtet werden: Alles strahlt Erhabenheit aus, wobei Blomstedts Tempi niemals zäh werden. Selbst die beiden Abschnitte im Andante, in denen sich eine Melodie sehnsüchtig und nicht enden wollend über einem Pizzicato-Teppich ausbreitet, wobei der Rezensent in anderen Darbietungen kaum ein Gähnen unterdrücken konnte, langweilen hier keine Sekunde.

Blomstedt beachtet durchaus Bruckners typische Terrassendynamik, gönnt ihr jedoch differenzierte Zwischenstufen, die fürs jeweilige musikalische Material optimiert sind. Verschleppen duldet er hingegen überhaupt nicht. Sehr bestimmt und dennoch flexibel im Tempo wird ständig die Spannung am Köcheln gehalten. Der Dirigent vertraut seinem Prinzip, Form über – äußerliche – Emotion zu stellen und gewinnt damit. Den Bläsersolisten – hier natürlich allen voran den Hörnern – gebührt mal wieder ein Extralob. An diesem Abend darf jeder sein besonderes „Schmankerl“ erfolgreich präsentieren. Und bei den großen Tutti-Höhepunkten fügen sich alle höchst aufrichtig zu einem riesigen, aber stets kultiviertem Organismus zusammen. Derart wirkungsvoll – gerade im grandiosen Finale – und zugleich unaufgeregt wie klangschön hat man die Romantische in München lange nicht mehr gehört: Herbert Blomstedt reiht sich damit völlig zu Recht in die Reihe geschätztester und äußerst erfahrener Bruckner-Interpreten wie Jochum, Wand oder Skrowaczewski ein. Hoffentlich bleibt uns dieser Dirigent noch einige Zeit erhalten. Seine Aura begeistert das Publikum im Herkulessaal auch diesmal wieder, so dass Standing Ovations für ein hinreißendes Konzerterlebnis eine Selbstverständlichkeit sind. Man merkt, wie Blomstedt – der auf dem Weg von und zum Podium ein wenig gestützt werden muss – gerne öfter auf- und abtreten würde, es aber bei einem Mal belässt. München freut sich auf ein baldiges Wiedersehen.

[Martin Blaumeiser, 15. Januar 2023]

Seong-Jin Cho mit „Rach 3” beim BRSO

Seong-Jin Cho, James Gaffigan, BRSO · © Astrid Ackermann für BR

Der Sieger des Warschauer Chopin-Wettbewerbs von 2015, Seong-Jin Cho, versuchte sich am 3. und 4. November 2022 in der Isarphilharmonie an Rachmaninows Klavierkonzert Nr. 3 d-moll op. 30. Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks spielte unter James Gaffigan, der relativ kurzfristig für den erkrankten Zubin Mehta einsprang, danach noch Richard Strauss‘ Tondichtung Also sprach Zarathustra. Unser Rezensent besuchte das Konzert am Donnerstag, 3. 11. 2022.

Da selbst der Bayerische Rundfunk über einen Schwund bei den Abonnenten seiner Symphoniekonzerte klagt: Ja, dafür dass ein absoluter Shooting-Star – der junge Koreaner Seong-Jin Cho – hier ein echtes Kultstück vortragen soll, schmerzt es, dass die Isarphilharmonie nicht bis auf den letzten Platz ausverkauft, allerdings immerhin zu schätzungsweise 90% gefüllt ist. Zu bedenken ist hierbei jedoch, dass der angekündigte Dirigent des Abends – kein Geringerer als Maestro Zubin Mehta – kurzfristig krankheitsbedingt abgesagt hatte und durch James Gaffigan, designierter Generalmusikdirektor der Komischen Oper Berlin, ersetzt werden musste. Dafür sieht man viele junge, asiatische Gesichter, die offenkundig nicht alle Abonnenten sind, jedoch wohl Karten extra wegen Cho erworben haben.

Auch der Rezensent gehört seit Chos Sieg beim Warschauer Chopin-Wettbewerb 2015 zu dessen Fangemeinde, hat jedoch den ersten Auftritt des koreanischen Pianisten beim BRSO – als Einspringer für Lang Lang – vor knapp vier Jahren verpasst. Auf Deutsche Grammophon glänzte Cho bislang natürlich mit Chopin sowie mit Mozart und einer beeindruckenden Einspielung von Liszts Sonate h-Moll. Doch bei Rachmaninows 3. Klavierkonzert, das nicht nur technisch nochmal ein ganz anderes Kaliber darstellt, soll sich zeigen, dass der 28-Jährige durchaus noch entwicklungsfähig ist.

Das Thema des ersten Satzes – das Orchester ist von Beginn an zu laut – nimmt Cho zunächst bewusst schlicht: Man darf keinesfalls gleich die große folgende Entwicklung „verraten“. Das zweite Thema ist leicht marschmäßig, dabei zugleich kokett. Dies spielt Cho leider ohne jeden Charme; erst beim „Nachfassen“ entwickelt Rachmaninow daraus eine verträumte Kantilene, wo der Koreaner endlich in seinem Element ist: Singen auf dem Flügel, damit kann er überzeugen. Selbstverständlich ist Cho dem als Markstein pianistischer Gemeinheiten berühmt-berüchtigten „Rach 3“ technisch gewachsen: Alles greift er traumhaft sicher, die schnellen Passagen sind vom Tempo her meist schon am Limit. Ob er merkt, dass er vom Orchester ständig dynamisch zugedeckt wird? Anders ist kaum zu erklären, wie er – und dies widerspricht geradezu seinem sonst durchgehend feinen, hochdifferenzierten Anschlag – dann zunehmend vor allem eine Reihe von Bass-Oktaven bzw. -akkorden derart brachial und teils musikalisch unmotiviert reindrischt, dass es keine Freude mehr ist. Die fette Kadenz – mit etwas zu viel Pedal – gelingt ihm gut, bei den beidhändigen Akkordkaskaden meißelt er gekonnt zwei Klangterrassen heraus. Die folgenden Dialoge mit den Holzbläsern sind himmlisch. Bei der verkürzten Reprise/Coda nimmt das Orchester die Dynamik anscheinend selbst in die Hand – was funktioniert; der Schluss bleibt, wie gefordert, unnachgiebig.

Die Darbietung des zweiten Satzes ist am stimmigsten: Gleich mit der Orchestereinleitung erschließt Gaffigan das elegische Thema – tolles Oboensolo! – klanglich engagiert und emotional spannend, ohne ins Sentimentale abzugleiten. Cho hält sich an diese Vorgabe, selbst da, wo Rachmaninow richtig pathetisch aufdreht. Das Poco più mosso (nach Zif. [32]) mit seinen gefürchteten Repetitionen ist brillant, aber das hat man schon spritziger, verrückter gehört. Doch dann nimmt das Übel seinen Lauf: Bereits die Überleitung zum Finale wirkt zu brutal und übertrieben, was sich leider so fortsetzt. Der dritte Satz wird deutlich zu rasch genommen; die andauernde, mörderische Orgie von Achteltriolen in einem schnellen Alla breve gerät so zur Farce, bei der alle Details verschwimmen. Die merkwürdige „kavallereske“ Passage (Più mosso vor Zif. [43]) – zugegebenermaßen einer von Rachmaninows vielleicht schwächsten Einfällen überhaupt – wird keineswegs besser, wenn man über sie hinweg rast; die spätere Parallelstelle ist zudem alles andere als perfekt zusammen. Selbst das hübsche Scherzando danach wirkt überhastet, die Schlussapotheose unehrlich und ermüdend – was für ein Krampf! Das erinnert ein wenig an die – in allen drei Sätzen – katastrophale Münchner Aufführung von Yuja Wang 2011 mit dem Royal Philharmonic Orchestra und einem völlig überforderten Charles Dutoit. Immerhin: Wang hat daraus gelernt und ihr „Rach 3“ mittlerweile enorm kultiviert. Fazit: Cho zeigt sehr schöne Ansätze, besitzt die nötige „Pranke“. Die ersten beiden Sätze kann man gerne so verkaufen, das Finale ist jedoch noch völlig unausgegoren. Und eine hochkarätige Aufführung dieses geliebten Monstrums klappt nur mit einem viel aktiver eingreifenden Dirigenten: Erst kürzlich beim ARD-Wettbewerb hat das BRSO mit dem 4. Konzert bewiesen, was da möglich wäre.

Natürlich darf man dankbar sein, überhaupt kurzfristig einen Einspringer für ein so schwieriges Programm zu bekommen. Gaffigan leistet dies beim BRSO nun schon zum zweiten Mal. Bei Strauss‘ Also sprach Zarathustra hört man leider, dass er keinesfalls auf Augenhöhe mit Zubin Mehta agiert. Zwar versteht der Amerikaner, wie die Dramaturgie dieser Tondichtung funktioniert; er weiß genau, wie er etwa auf einen Höhepunkt – davon gibt es hier einige – zusteuert, welches die richtigen Tempi sind. Was fehlt, ist vor allem eine genauere Führung der Feindynamik, der klanglichen Staffelung innerhalb des riesigen Orchesterapparats. Anfangs vermisst man eine echte Orgel. Zwar sind die elektronischen Konzertorgeln von ihrer Charakteristik her mittlerweile nah am Original. Als Bassfundament des bekannten „Universum“-Themas scheitern sie unweigerlich an den Lautsprechern, die da lediglich heiße Luft blubbern. Bei den „Hinterweltlern“ müsste man sofort die vielfach geteilten Streicher, aber ebenso das Holz sorgfältiger austarieren. Gaffigan bleibt in seinem Bewegungsrepertoire erschreckend pauschal. Mit der linken Hand dirigiert er über weite Strecken parallel, gibt viele Einsätze ohne zu anzuzeigen, „wie“ und vor allem „wie laut“ zu spielen ist. Sein Grundambitus ist zu groß, um dynamische Abstufungen schnell zu provozieren. Etwa zu den Bässen oder zum Schlagzeug entsteht kaum Kontakt. So fehlt der Fuge („Von der Wissenschaft“) einerseits das Geheimnisvolle, andererseits die ironische Überzeichnung; auch mangelt es bald an Klarheit. Herr Barakhovsky spielt sein Violinsolo im Tanzlied hinreißend süffig, danach gerät der Abschnitt jedoch – erneut mangels Differenzierung – zu billiger Schrammelmusik. Und spätestens, wo es dann auf „Ganze“ geht – noch vor dem Glockeneinsatz – klingt alles wie ein einziger Brei. Schade, dass bei einem dem Orchester so vertrauten Werk heute nur Mittelmaß zu hören ist. Das Publikum zeigt sich dennoch beeindruckt.

[Martin Blaumeiser, 4. November 2022]

Uraufführungen von Milica Djordjević und Nicolaus Richter de Vroe im Herkulessaal

Chor & Symphonieorchester des BR unter Johannes Kalitzke
© Astrid Ackermann für musica viva/BR

Im ersten musica viva Konzert der neuen Saison im Münchner Herkulessaal mit Chor & Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter der Leitung von Johannes Kalitzke gab es am 28. 10. 2022 wieder zwei größere Uraufführungen: „Mit o ptici“ für Chor und Orchester von Milica Djordjević und ein neues Violinkonzert von Nicolaus Richter de Vroe mit dem Weltklassesolisten Ilya Gringolts. Wohl als Beitrag zum Zentenarium Iannis Xenakis‘ (1922–2001) erklang zudem erneut dessen Ensemblestück Jalons.

Zum 100. Geburtstag des griechischen, dann in Frankreich tätigen Komponisten und Architekten Iannis Xenakis, der mit seinem extremen Konstruktivismus bei zugleich überbordender musikalischer Energie bis zu seinem Tode 2001 einer der großen Erneuerer der Nachkriegszeit blieb, spielt das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks nochmals dessen Ensemblestück Jalons von 1986. Eine Verlegenheitsgeste? Das Stück stand erst im Oktober 2020 auf dem Programm (siehe unsere Kritik), freilich zur Zeit der Corona-Beschränkung auf 200 Zuhörer eine fast traurige Angelegenheit. Beim jetzigen Konzert, das zwar nicht ausverkauft, aber doch zum Glück wieder sehr gut besucht ist, dirigiert der technisch ungleich versiertere Johannes Kalitzke.

Das Zusammenspiel der 15 Musiker – Xenakis schrieb Jalons für das von Boulez gegründete Ensemble Intercontemporain zum 10-jährigen Bestehen – erscheint perfekter als unter Peter Rundel, dabei allerdings kälter. Die sich unversöhnlich perspektivisch gegeneinander verschiebenden Klangebenen – absolut toll mal wieder die Bläser – erhalten Vorrang vor Emotionalität, die ja laut Xenakis bei seiner Musik nie Intention ist, auch wenn sie sich unvermeidlich beim Hörer einstellen mag, gerade bei den geradezu beschwichtigenden Harfeneinwürfen. So wirkt diese Darbietung klar, gelassen und fast ein wenig zu routiniert: Schönheit der musikalischen Architektur, die für sich selbst spricht. Trotzdem hätte sich der Rezensent angesichts der immer hochrangigen Xenakis-Aufführungen des BRSO zum Jubiläum doch lieber eines jener großbesetzten Stücke gewünscht, die man bisher noch nie gespielt hat. Davon gäbe es einige, aber angesichts der aufwändigen Probenarbeit an gleich zwei Uraufführungen diesmal wohl nicht realisierbar.

Die Serbin Milica Djordjević – 2016 Komponistenpreisträgerin der Ernst von Siemens Musikstiftung – war schon immer fasziniert von der Dichtung Miroslav Antićs: In Mit o ptici (Mythos des Vogels) für Chor und Orchester geht es um einen von einem Künstler erschaffenen Vogel, der freigelassen zum Monster mutiert und „nicht mehr aus der Welt zu schaffen“ ist. Der über weite Strecken dialogisch geführte Text ist zunächst klar auf die verschiedenen Chorgruppen verteilt, aber die Entropie der Entwicklung über vier längere Abschnitte bringt auch dies zunehmend in Unordnung. Inwieweit die junge Lettin Krista Audere – sie erhielt 2021 den Eric Ericson Preis – bei ihrer Einstudierung die Besonderheiten der serbischen Sprache vermitteln konnte, sei dahingestellt. Für Djordjević ist Textverständlichkeit hier nicht vorrangig, jedoch hält sie gewisse dem Serbischen innewohnende onomatopoetische Qualitäten für unverzichtbar. Das Klanggeschehen im Chor ist von Beginn an hochdifferenziert: Die Frauenstimmen zunächst mit heller Textur; die Herren erinnern stellenweise an die Eindringlichkeit von Strawinskys Zvezdolikij. Selbst bei der brutalen, rauen Steigerung des dritten Abschnitts mit sagenhafter interner Beschleunigung bleibt es dennoch organisch. Im großbesetzten Orchester erscheint ebenso vieles als lautmalerische Mimesis (Flügelschlagen? etc.), von Kalitzke sorgfältig hörbar gemacht. Insgesamt eine poetische, nachvollziehbare Textausdeutung, wobei das musikalische Material für den Hörer allerdings weitgehend unter dem Schirm bleibt. Die Komponistin erfährt dafür einhellige Zustimmung beim Publikum.

Von 1988 bis zu seiner Pensionierung als Violinist beim BRSO tätig, ist der aus Halle stammende Nicolaus Richter de Vroe (*1955) als Komponist auf den bedeutendsten Festivals für Neue Musik gespielt worden. Angesichts des ungewöhnlich breit aufgestellten Repertoires des russischen Stargeigers Ilya Gringolts verwundert es nicht, dass Richter de Vroe in sein 40-minütiges, neues Violinkonzert so ziemlich alles hineingepackt hat, was seit 400 Jahren auf der Geige möglich ist: von Skordaturen bis zum ganzen Arsenal moderner, verfremdender Spieltechniken. Begleitet wird der Solist dabei von einem Kammerorchester – bei den Streichern nur doppelt besetztes Quintett –, erweitert um Klavier bzw. Cembalo, Gitarre bzw. E-Gitarre sowie die japanische Mundorgel Sho, die eine längere, die Violine faszinierend kontrastierende Passage gestaltet.

Das durchgehende Werk ist quasi symmetrisch in sieben Abschnitte gegliedert, mit einem zentralen „Hauptsatz“, der allerdings eher Traditionen karikiert. Gringolts changiert sehr präzise und bewusst zwischen Ton und Geräusch – und wie immer nimmt man diesem Tausendsassa einfach alles ab, egal wie seltsam und im Kontext unerwartbar es vielleicht erscheinen mag. Da Richter de Vroes Bestreben klar in Richtung Klangkomposition geht, hört man sofort Klanggesten in Hülle und Fülle, Laute anstelle „musikalischer“ Motive. Im langen Hauptsatz geht es dann sehr lebendig, wild, schnell und akzentuiert zu. Später gibt es hier eine Reihe von verfremdeten Zitaten bzw. Allusionen „alter“ Musik: vom Barock – daher das Cembalo – bis zu eindeutigen Bezügen zu Bergs Violinkonzert. Nach und nach zerfällt die Spannung – Rückblenden oder gar ein Abschiednehmen vom Orchester? Am Schluss („Zwei Ausgänge“) verlässt Gringolts die Bühne und geht spielend nach hinten durch den Herkulessaal, wobei er geschickt und unsichtbar vom Konzertmeister vorne verdoppelt wird: eine wirkungsvolle räumliche Irritation. Für das ein wenig ausufernde Spektakel instrumentalen Theaters gibt es einzelne Buhs, für den fabelhaften Gringolts, Orchester und Dirigent natürlich den absolut angemessenen, großen Beifall.

[Martin Blaumeiser, 30. Oktober 2022]

Asiatische Opulenz und christliche Zerbrechlichkeit

Wu Wei, Unsuk Chin & Shiyeon Sung, © Astrid Ackermann für musica viva/BR

Als letztes Konzert in der Saison 2021/22 der musica viva erklangen am 1. Juli 2022 im Münchner Herkulessaal Isang Yuns Réak, das Sheng-Konzert Šu der koreanischen Komponistin Unsuk Chin (Solist: Wu Wei) sowie Mark Andres Klarinettenkonzert „… über …“ mit Jörg Widmann, in dem auch das Experimentalstudio des SWR mit komplexer Live-Elektronik zum Einsatz kam. Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks spielte unter Leitung der ebenfalls aus Korea stammenden Dirigentin Shiyeon Sung.

Mal ohne eine Uraufführung beendet dieses Konzert die laufende Saison der musica viva. Der Koreaner Isang Yun (1917–1995) lebte, nachdem er bereits Ende der 1950er Jahre an den Darmstädter Ferienkursen teilgenommen hatte, ab 1964 in Berlin. Réak – 1966 bei den Donaueschinger Musiktagen unter Ernest Bour aus der Taufe gehoben – brachte dem Komponisten den internationalen Durchbruch. Das 13-minütige, großbesetzte Orchesterwerk scheint sich bei oberflächlicher Betrachtung recht nahtlos in die damalige westliche Avantgardemusik einzufügen. Unter der Oberfläche werkeln jedoch vor allem asiatische Form- und Klangprinzipien, die eng an altkoreanische Zeremonialmusik (so eine Übersetzung des Titels) anknüpfen. Harmonisch basieren die Klangschichtungen auf Akkorden, wie sie von der koreanischen Mundorgel Saenghwang – eine Variante der chinesischen Sheng – hervorgebracht werden können. Verschiedene musikalische Materialien, die man bestimmten Instrumentengruppen, auch explizit deren spezifischer Materialität zuordnen könnte, verdichten sich zu einem ziemlich affirmativen Schluss. Das-BR-Symphonieorchester durchdringt die anspruchsvolle Partitur unter der ebenso souveränen Dirigentin Shiyeon Sung mit Hingabe. Die klangliche Sensibilität kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Yuns streckenweise durchaus gewalttätige Musik für an Werken der 1960er geschulte Ohren dann doch wenig spektakulär wirkt.

Ganz anders Unsuk Chins (*1961) Konzert Šu (2009/10): Schon die Exotik der chinesischen Mundorgel Sheng macht natürlich sofort neugierig. Der hinreißend mitgehende Virtuose Wu Wei spielt allerdings eine so erst ab den 1980ern gebaute, gegenüber dem seit Jahrtausenden tradierten Instrument in seinen technischen und musikalischen Möglichkeiten stark erweiterte Sheng mit 37 Bambuspfeifen. Von archaisierenden Klängen – einstimmige Melodik gibt es zwar kaum – bis zu frenetisch-bissigen Grooves oder eigenwilligen Clustern, die sich teils wie Elektronik anhören, sowie Quasi-Glissandi kommt hier eine Bandbreite zum Vorschein, die sogleich ungläubiges Erstaunen hervorruft. Formal zwingend und mit exzellenter Orchestrierung gelingt Chin ein modernes Solokonzert der Superlative – das bislang einzig Wu Wei bewältigen kann. Der verfügt über einen unglaublichen Atem, um das relativ kleine Instrument lauter als ein modernes Akkordeon erklingen lassen zu können. Das Publikum ist entsprechend begeistert: tosender Applaus.

Mark Andre (*1964) fühlt sich in seiner Musik, die stets Türen zu metaphysischen Sphären öffnet, christlicher Mystik verbunden. Sein Klarinettenkonzert mit Live-Elektronik „…über…“ von 2015 bezieht seinen Titel aus dem Schlusssegen der evangelischen Liturgie, in dem das Wort über bekanntlich zweimal vorkommt. Wie immer interessieren den Komponisten fragilste, instabile Klänge und deren Verschwinden, symbolisch für den Verschwundenen – den auferstandenen Jesus Christus – und seine transzendente Präsenz als Heiliger Geist stehend. Es gibt hier aber noch andere, ganz weltlich „Verschwundene“: die Musiker des 2016 aufgelösten Freiburger Orchesters des SWR, deren geflüsterte Vornamen elektronisch auf reale Resonanzkörper einiger Orchesterinstrumente übertragen werden. Was Andre an kaum für realisierbar gehaltenen Klängen – Jörg Widmann hat hierfür ausgiebig mit dem Komponisten experimentiert – vom Solisten fordert, ist erschreckend neu (etwa diverse Multiphonics) und eine stetige Gratwanderung an der Hörbarkeitsgrenze. Die Präzision, mit der das BR-Symphonieorchester dabei Frau Sungs klarer Schlagtechnik folgt und sich in die vom Experimentalstudio des SWR genauestens austarierte Live-Elektronik – bravo an alle Beteiligten! – einbetten lässt, bleibt über fast 40 Minuten jederzeit faszinierend. Und selbst während des absehbaren Endes, wo Widmann minutenlang alleine und beinahe unhörbar bleibt, könnte man eine Stecknadel fallen hören. So wird Neue Musik quasi zur Andacht, der das Publikum bereitwillig und hochkonzentriert folgt. Die demonstrative Entäußerung von Mark Andres Klangkunst bleibt über jeden Zweifel erhaben. Der Beifall entbrandet zögerlich, zeugt dann jedoch von absoluter Zustimmung für ein bewegendes Konzert.

[Martin Blaumeiser, 4. Juli 2022]

Die Musica viva feiert Wolfgang Rihms 70. Geburtstag

Am Freitag, 11. 3. 2022, spielte das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks im Musica-viva-Konzert unter Ingo Metzmacher ein der Musik Wolfgang Rihms gewidmetes Programm: Erster Doppelgesang, Wölfli-Lieder, Die Stücke des Sängers und IN-SCHRIFT. Die Solisten waren Lawrence Power (Viola), Nicolas Altstaedt (Violoncello), Georg Nigl (Bassbariton) und Magdalena Hoffmann (Harfe).

Magdalena Hoffmann und Ingo Metzmacher – © Astrid Ackermann für musica viva/BR

Zwei Tage vor dem siebzigsten Geburtstag Wolfgang Rihms endete die dem wohl produktivsten lebenden deutschen Komponisten gewidmete Woche mit insgesamt vier Veranstaltungen in München mit einem Konzert des BR-Symphonieorchesters. Der schon länger mit einer schweren Erkrankung kämpfende Jubilar war unter den Zuschauern und durfte einen Abend mit wirklich exzellenten Darbietungen miterleben. Angesichts der unfassbaren Kriegsereignisse in der Ukraine bat der künstlerische Leiter der musica viva, Winrich Hopp zunächst um eine Schweigeminute – Totenstille im endlich wieder gut gefüllten Herkulessaal. Die erlaubten 75%-Auslastung wurden augenscheinlich erreicht – sicherlich dem Bekanntheitsgrad Rihms geschuldet; und auch, weil dieser Abend nach langer Zwangspause wieder über die Abos lief. Dass das schon lange so geplante Programm mit überwiegend älteren Werken des Komponisten perfekt zum schockierenden Weltgeschehen passte, sollte sich schnell zeigen.

Wolfgang Rihms Schaffen hat mittlerweile einen so unglaublichen Umfang erreicht, dass kaum eine Handvoll Spezialisten da noch durchblicken kann. Rihm, der sehr früh zu komponieren begann, konnte bereits Ende der 1970er seinen Ausdruckswillen in allen Musikgattungen perfekt umsetzen. Ihn – wie häufig sehr polemisch geschehen – als typischen Vertreter einer Postmoderne oder gar unpolitisch zu verorten, war schon damals reichlich kurz gegriffen bzw. schlicht falsch. Sein Erster Doppelgesang, ein Doppelkonzert für Bratsche und Violoncello, gibt den beiden Solisten – Lawrence Power und Nicolas Altstaedt meistern ihre höchst virtuosen Parts atemberaubend – reichlich Gelegenheit zum Duettieren. Allerdings bedient dieses Stück nicht das traditionelle Narrativ: Individuen kontra Kollektiv. Vielmehr provozieren bereits die Soloinstrumente – Rihm hat auf die Gewalttätigkeit des Paares Rimbaud–Verlaine hingewiesen – zunehmend perkussive Ausbrüche im Orchester; am Schluss zerschlagen Maschinengewehrsalven der kleinen Trommel – 1980 bahnte sich der Erste Golfkrieg an – jeglichen „Gesang“.

Ingo Metzmacher ist mit breitestem Repertoire und jahrzehntelangem Einsatz für moderne Musik genau der richtige Dirigent für Rihms Verknüpfung von Intellektualität und subjektivem Ausdruck. Rhythmisch immer körperlich mitgehend, dabei gleichzeitig gespannt wie elastisch, verfügt er über eine völlig unmissverständliche Schlagtechnik und kann musikalische Entwicklungen minutiös und planvoll gestalten, ohne Solisten in ihrer Freiheit einzuengen. Gerade in der folgenden Orchesterfassung der Wölfli-Lieder (1981) erzielt er Klangwirkungen, denen man sich kaum entziehen kann. Der schizophrene schweizerische Künstler Adolf Wölfli (1864–1930) erweckte ab den 1970ern erneut das Interesse der Kulturszene. Rihms Liederzyklus knüpft oberflächlich scheinbar an das romantische Kunstlied an – quasi schubertsche Gefäße, gefüllt mit Blut und Wahnsinn. Georg Nigl gelingt mit Riesenstimme, klarster Artikulation und dämonischer Unwägbarkeit der Emotionen ein eindringliches Porträt aus der Nervenheilanstalt. Das Orchester enthält sich hier einer Wertung, überhöht dafür die Brüche, überlässt das Publikum einem Wechselbad zwischen Schauder und Empathie – großartig!

Der Titel Die Stücke des Sängers meint nicht etwa Musikstücke, sondern die Überreste des von den Mänaden zerrissenen Sängers Orpheus. Das Harfenkonzert von 2001, das Wolfgang Rihm 2008 etwas erweitert hat, ist gleichzeitig ein vierteiliges Epitaph für den Dichter Heiner Müller. Im eher kleinen, dunkel timbrierten Orchester (Bläser!), das womöglich den Styx repräsentiert, konzertiert die Harfe meist ergänzt durch Klavier – leider stellenweise etwas zu laut – und Schlagzeug; eine von Rihm mehrfach erprobte Kombination. Wie im vorigen Stück grollt gegen Schluss tiefes Schlagwerk. Magdalena Hoffmann, die phänomenale Solo-Harfenistin des BRSO,begeistert mit oft sehr robusten, geradezu plastischen Klängen, ungemein engagiert und dabei meilenweit entfernt von üblichen Topoi des Instruments; dafür gibt es tosenden Beifall.

Und auch im letzten, umfangreichsten Werk des Abends, IN-SCHRIFT (1995), zu dessen Beginn Röhrenglocken auf den Uraufführungsort – San Marco in Venedig – verweisen, dominieren die dunklen Farben: Es gibt keine hohen Streicher, dafür 4 Hörner, 6 Posaunen plus Kontrabasstuba, die sich bei ihrem Eintritt zunächst unisono wie ein potenziert bedrohlicher Fafner winden, um schließlich hochenergetische Chorallinien herauszubrüllen. Ein herrlicher Moment der je 7-geteilten Celli und Bässe evoziert Erinnerungen an Renaissance-Polyphonie, und erneut scheint eine reine Schlagzeug-Stelle – die wohl für das Einmeißeln von Schrift steht – das Ganze zum Kippen zu bringen. Flöten und vor allem die Harfe, die IN-SCHRIFT beendet, verkörpern hingegen anscheinend das Diesseitige, Lebendige; es ist immer wieder erstaunlich, wie klar sich Rihms Klänge vom Zuhörer emotional fassen lassen. Metzmacher und das Orchester realisieren diese im Detail kompliziert changierende Musik mit ungemeiner Präzision und total kontrollierter dynamischer Abstufung: musica viva in Bestform. Der Schlussapplaus gilt dann natürlich trotzdem vorrangig dem doch etwas gerührten Komponisten, dem man nur weiter solch überbordende Schaffenskraft wünschen möchte.

[Martin Blaumeiser, 13. März 2022]

Mark Andre: Drei exemplarische Uraufführungen der musica viva auf CD

BR Klassik 900637; EAN: 4 035719 006377

BR Klassik hat in der Reihe musica viva drei Uraufführungen von Werken des Deutsch-Franzosen Mark Andre aus den Jahren 2017 und 2018 mitgeschnitten. iv 13 (Miniaturen für Streichquartett), iv 15 (Himmelfahrt) für Orgel und woher…wohin für Orchester. Es spielen das Arditti String Quartet, Stephan Heuberger (Orgel) sowie das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter der Leitung von Matthias Pintscher.

Die Musik des zunächst in Paris ausgebildeten, heute in Berlin lebenden Deutsch-Franzosen Mark Andre (Jahrgang 1964) hat in den letzten beiden Jahrzehnten zu einer ganz persönlichen und mittlerweile unverwechselbaren Klangsprache gefunden: Nur unter technischen Aspekten spürt man noch Einflüsse seiner Lehrer Claude Ballif und des Spektralisten Gérard Grisey. Stärker scheinen noch Eigenheiten durch, die Andre in den 1990ern bei Helmut Lachenmann perfektionieren durfte: höchste klangliche Differenzierung bei gleichzeitiger Reduktion bis an die Grenzen des Hörbaren sowie eine gewisse Vorliebe für starke Kontraste. Jedoch wurde Mark Andre – entgegen erster Befürchtungen des Rezensenten – keineswegs zum Epigonen von Lachenmanns Verweigerungsästhetik, die dort immer mit erheblichem Provokationspotential einherging. Andre zwingt sein Publikum zwar zu enormer Konzentration, öffnet aber gleichzeitig immer eine Tür zu metaphysischen und religiösen Sphären – auf beeindruckend zwingende Weise. Die drei auf der 37. Folge der „musica viva“ CD-Edition des BR vorgestellten Uraufführungen für ganz unterschiedliche Besetzungen belegen exemplarisch, wie stark Mark Andres Musik nun gereift ist.

Zwei der Stücke gehören zur mittlerweile 19teiligen Werkreihe »iv«, wobei das Kürzel für »introvertiert« steht. Die zwölf – sicher nicht zufällig wieder eine „heilige“ Zahl – Miniaturen (iv 13) für Streichquartett sind mit zusammen 24 Minuten jeweils deutlich länger als Anton Weberns epochale 6 Bagatellen op. 9 von 1911. Dennoch scheint ein Echo Weberns durch Andres Werk zu uns hinüber zu wehen. Die Spieltechniken – insbesondere verschiedenste Möglichkeiten der Dämpfung – sind penibelst notiert, dafür selten „normal“; die Grunddynamik ist extrem leise. Das Arditti Quartet ist bei solchen Herausforderungen natürlich in seinem Element, realisiert die Partitur präzise ohne bei den bewusst gesetzten Momenten des Verschwindens – ein zentrales Merkmal von Mark Andres Musik – jemals in ein Loch zu fallen: höchst beeindruckend!

Im Orgelstück Himmelfahrt (iv 15) gelingt Andre die Realisierung einer Ästhetik der Instabilität durch Techniken wie etwa das Ausschalten des Motors, wodurch der Winddruck nachlässt, und oft gleichzeitig stattfindende, originelle Registrierungen, die zu fast paradox erscheinenden Effekten führen können: „eine Präsenz des Göttlichen, die im Verschwinden erkannt wird und im Erkennen verschwindet“, wie es Christof Breitsamer in seinem Booklettext treffend beschreibt. Stephan Heuberger spielt auf dem Mitschnitt der Uraufführung der elektrischen Registrierfassung mit Verständnis und Hingabe – und es ist geradezu phänomenal, wie er überhaupt in der Lage ist, mit der äußerst kritischen Akustik der Pfarr- und Universitätskirche St. Ludwig in München zurechtzukommen: ohne die nun mehr als 20-jährige Erfahrung mit der dortigen Beckerath-Orgel von 1960 ein Ding der Unmöglichkeit. Auch der Tontechnik des SWR Experimentalstudios (Joachim Haas) muss man in diesem Zusammenhang größten Respekt zollen.

Höhepunkt der CD ist dann jedoch Andres Orchesterstück „woher…wohin“, das im Rahmen der Happy New Ears Preisverleihung der Hans und Gertrud Zender-Stiftung 2017 vom Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter dem sensationell mitreißend agierenden Matthias Pintscher im Herkulessaal dargeboten wurde. Das Werk bezieht sich auf das Johannes-Evangelium, Kap. 3, Vers 8: „Der Wind weht, wo er will; du hörst sein Brausen, weißt aber nicht, woher er kommt und wohin er geht. So ist es mit jedem, der aus dem Geist geboren ist.“ Hierzu sei auf meine Besprechung besagten Konzerts verwiesen, das hier vom BR – aufnahmetechnisch gleichermaßen perfekt – mitgeschnitten wurde. Die aufschlussreiche Zusammenstellung mit gutem, sich der jeweiligen Programmhefte bedienenden Booklet erscheint dem Rezensenten dann ebenfalls durchaus preiswürdig.

[Martin Blaumeiser, Februar 2022]

Antonio Pappanos erster Auftritt in der Isarphilharmonie

Sir Antonio Pappano trat an drei Abenden (17.–19.2.2022) zum ersten Mal mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks in der neuen Isarphilharmonie auf. Auf dem Programm standen Dvořáks Othello-Ouvertüre op. 93, Liszts Klavierkonzert Nr. 1 Es-Dur mit Yuja Wang sowie Nielsens 4. Symphonie „Das Unauslöschliche“. Die Rezension bezieht sich auf das dritte Konzert vom Samstag, 19.2.2022.

Yuja Wang und Sir Antonio Pappano; Konzertfoto vom 17.2.2022 © Astrid Ackermann

Wohl aus organisatorischen Gründen hatte sich der Bayerische Rundfunk entschieden, nach einer erneuten, coronabedingten Zwangspause bis Ende Februar bei 50% Saalauslastung – erlaubt wären bereits 75% – zu bleiben. Unter dieser Prämisse schienen die Konzerte mit Antonio Pappano ihr Publikum gefunden zu haben – vielleicht gerade wegen der chinesischen Starpianistin Yuja Wang, die zwar in München schon öfter mit den Philharmonikern zu hören war, tatsächlich beim BRSO mit diesem Programm debütierte.

Der charmante, irgendwie immer noch jugendlich erscheinende Musikdirektor des Royal Opera House (Covent Garden) in London beginnt mit der mittlerweile selten aufgeführten, knapp viertelstündigen Konzertouvertüre Othello von Antonín Dvořák– nicht nur von der Länge her fast eine symphonische Dichtung. Pappano ist musikalisch ein Ästhet; handwerklich – auch er dirigiert neuerdings ohne Taktstock – sowieso. So erklingt bei ihm der Beginn weich und innig, dabei immer hochpräzise. Für den Rezensenten ist dies der zweite Besuch in der Isarphilharmonie – diesmal eher im Zentrum (Reihe 10) des Geschehens. Die Streicher wirken hier einerseits homogener, dabei zugleich körperlicher als am Rosenheimer Platz. Dass Solostellen ebenso unmittelbar ankommen, kann man später am Abend bei Nielsen hören. Dvořák hat den Bezug zum Shakespeare-Drama erst nachträglich gewählt; ursprünglich sollten die drei Ouvertüren opp. 91–93 eine Naturtrilogie bilden. Der Hörer darf daher keinerlei bildhafte Assoziationen, etwa zum Meer, Venedig oder dergleichen erwarten. Zum von den Holzbläsern herrlich vorgetragenen „Natur-Motiv“ stehen kontrastierend scharfkantige Streichereinwürfe für – hier durch Othello personifizierte – zerstörerische Kräfte, die dann das Hauptmotiv des Allegro con brio in Sonatenform generieren. Viele Ideen der Ouvertüre finden sich wenig später in der 9. Symphonie – so der Paukenwirbel unmittelbar vor dem schnellen Teil – und in Rusalka wieder. Die Steigerungswellen geraten Pappano stets sehr natürlich, durchaus energisch, aber eben ohne jeden zusätzlichen „Drücker“; beim fulminanten Schluss legt er nicht derartig den Turbo ein wie Kubelik in seiner Aufnahme. Dennoch dürfte die Dynamik gerade bei Decrescendi noch differenzierter sein.

Yuja Wang – heute im knallroten Kleid und nach der Laser-OP erstmals ohne Brille – spielt Franz Liszts Klavierkonzert Nr. 1 die ganze Zeit quasi mit geschlossenen Augen; ihrer perfekten Treffsicherheit tut das keinen Abbruch. Wie man mit derart hohen Pumps die Pedale so kultiviert bedienen kann, bleibt hingegen dem männlichen Publikum völlig schleierhaft. Mit ihren absolut überragenden technischen Fähigkeiten ist Liszt für die Pianistin kein großes Ding. Wie gestaltet sie nun dieses Standardkonzert? Dezidiert und mit geradezu männlicher Wucht und Riesen-Dynamik erscheint bereits die Fortsetzung des Hauptthemas wie ein direkter Schlagabtausch mit dem Orchester – den Wang bei seiner Wiederkehr vor dem Allegro marziale animato nochmals steigern kann. Wo immer möglich agiert sie jedoch gesanglich, klanglich dabei etwas zu trocken. Aber leider wird auch einiges regelrecht verschenkt, wodurch der ganze erste Abschnitt wie eine Einleitung wirkt: aber zu was? Überzeugend gelingt Wang das große Solo im Quasi Adagio, als sei es improvisiert – ganz im Sinne Liszts; kontrastierend dazu die Recitativo-Einwürfe als Realitäts-Schock. Dass von der oft belächelten Triangel im Scherzo-Abschnitt, obwohl von Pappano vorne in den Streichern platziert, wenig zu hören ist, irritiert ziemlich, mag aber der Sitzposition des Rezensenten direkt hinter dem geöffneten Klavierdeckel geschuldet sein. Der Dirigent hat hier nicht mehr zu tun, als sensibel zu begleiten; das ginge durchaus präziser. Das Orchester läuft bei Yuja Wang zum Glück nie Gefahr, sie zuzudecken. Die heutige Darbietung bleibt so eine Shownummer, die den Hörer zwar packt, es jedoch an echter Tiefe fehlen lässt. Dass es bei Liszt zudem verstörend dunkle Seiten gibt, hat z.B. Martha Argerich regelmäßig gezeigt; davon will Yuja Wang – noch? – nichts wissen. Frenetischer Applaus für die Pianistin, die sich mit zwei aberwitzigen Zugaben bedankt.

Carl Nielsens (1865–1931) 4. Symphonie ist ein in Deutschland leider immer noch unterschätztes Meisterwerk. Der Däne begann mit der Komposition bereits kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, und der Titel Das Unauslöschliche – gemeint ist der Überlebenswille der Natur und des Menschen – stand wohl ebenfalls sofort fest. In der Einführung wies Antonio Pappano bei seinem empathischen Plädoyer für das Stück auf Gemeinsamkeiten mit Liszt – etwa die Integration der Viersätzigkeit in eine große Bogenform – sowie Mahler (Naturmystik) hin. Natürlich ist diese Musik bereits „moderner“ als die des gleichaltrigen Jean Sibelius, allerdings geht Maestro Pappano der unmittelbare, bewusst chaotische Beginn der Symphonie ganz schön in die Hose. Zwar trifft der Hörer hier auf gegenstrebige Materialien; so ungeordnet wie hier ist das aber keineswegs gedacht; bereits ab Ziffer [2] könnte die Musik strukturierter erklingen als an diesem Abend. Das eigentliche Hauptthema des ganzen Werkes – wie bei Dvořák ein „Naturmotiv“ zunächst im Holz – kommt dadurch fast wie aus einer anderen Welt. Immer wieder fordert Pappano vom Orchester – beim kleinsten Detail ist er bei den entsprechenden Spielern – höchste Emotionalität; und das Orchester liefert! Ein Kabinettstückchen für die Holzbläser ist das idyllische Poco allegretto; die von harten Akzenten gestörte, breite Streicherlinie des Poco adagio quasi andante geht in der Isarphilharmonie durch Mark und Bein. Wer die Symphonie bereits kennt, wartet freilich auf das phänomenale Paukenduell im Finale – ein absolutes Novum der zeitgenössischen Symphonik. Ob hier wirklich – in Stereo! – realistisch an Artilleriefeuer erinnert werden soll, oder die Musik mahnend die emotionalen Schrecken des Krieges reflektiert: Diese Stelle wird jedem Hörer auch optisch im Gedächtnis bleiben; für die beiden Pauker des BRSO natürlich eine Paradenummer. Am Ende siegt das Naturthema als triumphale Hymne. Pappano hat sich samt dem ihm bis an die energetischen Grenzen folgenden Orchester ziemlich verausgabt und Nielsens großartige Symphonie dem begeisterten Publikum eine Spur zu direkt nahegebracht. Nach Stenhammar mit Blomstedt – der Nielsen noch um einiges besser draufhätte – ein weiterer Beweis für die Qualität nordischer Musik. Da gibt’s noch mehr!

[Martin Blaumeiser, 20. Februar 2022]

Herbert Blomstedts wahre Glücksmomente

Am Donnerstag, 9. 11. 2021, und am Freitag, 10. 12. 2021, spielte das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Herbert Blomstedt Beethovens Symphonie Nr. 3 Es-Dur op. 55 Eroica, sowie das in Deutschland fast nie zu hörende 2. Klavierkonzert d-Moll op. 23 des schwedischen Spätromantikers Wilhelm Stenhammar. Solist war Martin Sturfält, der das Werk schon mehrfach mit Blomstedt aufgeführt hat. Unser Rezensent besuchte das Konzert am Donnerstag.

Photo © Astrid Ackermann

Derzeit herrschen bei größeren Kulturveranstaltungen in München harte Bedingungen: Wegen der hohen Corona-Inzidenz dürfen etwa die Konzertsäle nur zu 25% ausgelastet werden. Das Publikum muss geimpft oder genesen und zusätzlich getestet sein (2G+). Für private Veranstalter rechnet sich sowas eigentlich gar nicht mehr, so dass es momentan viele Konzertabsagen gibt. Der Herkulessaal mit nur 300 gleichmäßig verteilten Gästen ist denn auch ein eher trauriger Anblick. Den Zuhörern am Donnerstag bot sich allerdings ein Ohrenschmaus allererster Güte: Wenn der mittlerweile 94-jährige Herbert Blomstedt das Podium betritt, ist Hochspannung garantiert, und es wäre um jedes ausgefallene Konzert mit ihm mehr als schade. Nicht nur seine offensichtliche, geistige Frische ist fast schon ein Kuriosum. Auch körperlich ist die Präsenz des Dirigenten unglaublich: Nach wie vor im Stehen und seit etlichen Jahren ohne Taktstock formt Blomstedt – in seinen Bewegungen zwar ökonomisch, aber völlig locker und präzise – jede Phrase, kontrolliert insbesondere die Entwicklung der Dynamik vorausschauend, dabei bis ins Detail. Die noch immer runden und suggestiven Bewegungen seines rechten Armes führen gerade Crescendos, seien sie kurz und heftig oder eher ausladend, in einer Klarheit, die selbst für einen erfahrenen Klangkörper unmissverständlich und hilfreich bleibt. Mit Augen und Ohren hellwach, reagiert er blitzschnell und wendet sich sofort an die entsprechenden Musiker, wenn sein Eingreifen nötig scheint. Von der Probenarbeit hört man nur höchstes Lob; und das musikalische Ergebnis ist wieder überragend.

Seit einigen Jahren setzt sich der schwedische Maestro für das Werk seines Landsmannes Wilhelm Stenhammar (1871–1927) ein, des wohl bedeutendsten Spätromantikers dort, dessen Wurzeln sowohl bei Brahms, mehr noch in der Liszt-Nachfolge und bei Wagner zu verorten sind. Selbst ein exzellenter Pianist mit großer „Pranke“, machte der vor allem als Dirigent das Orchester in Göteborg zum führenden schwedischen Klangkörper. Unter seinen wenigen Orchesterwerken ragt das 2. Klavierkonzert (1904–1907) besonders heraus. Knapp halbstündig, vereint es in einem durchgehenden Satz die symphonische Viersätzigkeit, jedoch in mehrfacher Hinsicht verschränkt und ungewöhnlich – anstatt eines Trios hören wir z. B. im Scherzo Vorgriffe auf das Adagio. Wie in Busonis Konzert von 1904, sind die Rollen von Solist und Orchester bereits merklich anders verteilt als im üblichen Virtuosenkonzert des 19. Jahrhunderts. Das Orchester ist nicht Begleiter des Solisten, sondern – zumindest im Anfangsabschnitt – erklärtermaßen der Feind. Gibt sich das Klavier hier – trotz hochvirtuosen und vollgriffigen Satzes – weitgehend lyrisch, so bleibt das rhythmisch markante, abstürzende Kopfmotiv mit Oktavsprung und scharfkantigen, kleinen Sekunden ausschließlich dem Orchester vorbehalten, das damit dauernd dazwischenfährt. Damit nicht genug: Der Solist spielt in d-Moll und der Paralleltonart, das Orchester versucht ihn immer wieder, ins einen Halbton tiefere cis-Moll hinabzuziehen; zuletzt muss sich der Pianist zweimal hintereinander gewaltsam aus diesem quasi Schwitzkasten befreien. Bedenkt man, dass die Uraufführung von einer Frau gestaltet wurde, geradezu eine MeToo-Geschichte. Das Scherzo wirkt dann auch eher wie eine Flucht, klanglich an Saint-Saëns erinnernd. Ziemlich beste Freunde wird man erst im Finale – D-Dur mit imperialer Geste.

Martin Sturfält, der sich bestens mit Stenhammars Musik auskennt und auf CD die Konzerte Adolf Wiklunds eingespielt hat, gestaltet dieses echte Drama enorm wirkungsvoll. Ihm gelingen feinstes Passagenwerk ebenso wie massivste Akkordkaskaden, kraftvoll, aber ohne je grob zu werden. Der spannende mehr Kampf als Dialog macht allen Beteiligten Spaß, das Aufbäumen, Abwehren und dann wieder verträumtes Abdriften in teils folkloristisch anmutende Lyrismen bringt Sturfält mit Überzeugung und Empathie für diese unterschätzte Musik herüber – bis zum grandiosen Schluss. Blomstedt sorgt dabei für die perfekte Balance. Das Publikum ist zu Recht völlig hingerissen von dieser „Entdeckung“: ein in München längst mal wieder überfälliges, unbedingtes Plädoyer für die skandinavische Musik.

Dass Blomstedt die Klassiker (Beethoven, Mozart, Brahms, Bruckner) meisterhaft beherrscht, ist seit Jahrzehnten bekannt und bei Beethoven durch zwei Gesamtaufnahmen – mit der Staatskapelle Dresden und jüngst dem Leipziger Gewandhausorchester – hinreichend dokumentiert. Umso faszinierender, dass der Dirigent im Konzert keineswegs in Routine verfällt, sondern bei allem Überblick und Wissen die Musik jedes Mal mit absoluter Hingabe neugestaltet. Eines seiner Geheimnisse für die Eroica scheint dabei die Einheit des Tempos zu sein: Im Gegensatz zu anderen Kollegen jenseits der Achtzig, die in aller Regel im Alter merklich langsamer werden, wählt Blomstedt nun häufig sogar schnellere Tempi als früher. Bei der Dritten hält er sich im Kopfsatz an die gedruckte Metronomangabe von 60 für den ganzen Dreivierteltakt. Das ist verdammt flott. Heute scheint ihn dieser Pulsschlag durch die ganze Symphonie zu tragen. Noch eine Spur schneller nimmt er den berühmten Trauermarsch – meilenweit von dem fetten Pathos entfernt, das noch vor 40 Jahren üblich schien. Die 60 bleiben dann für das Scherzo – hier für jeweils zwei Takte – und ebenso das Grundtempo (Halbe!) des Finales maßgebend. Michael Gielen hat dieses Prinzip schon lange versucht umzusetzen; nicht selten kam jedoch das Sezieren einer Leiche dabei heraus.

Bei Blomstedt bleibt Beethovens Musik bei aller Durchsichtigkeit quicklebendig, denn trotz der unglaublichen Sogwirkung allein des Tempos gönnt der Maestro ihr punktgenau zarte, nie aufgesetzte Agogik, verhindert so stets ein Abdriften ins Mechanische. Selten hat man eine derart eindringliche Durchführung des Kopfsatzes mit einem höchst leidenschaftlichen dritten Thema gehört, so mit dem vermeintlichen Helden des zweiten Satzes mitgelitten – bis zum Zerfall des Themas am Schluss. Phänomenal der unerbittliche, drängende Aufbau des Fugatos, das hier die letztlich tödliche Katharsis einleitet; dasselbe gilt für das kleine Fugato im Finale. Und nicht nur die drei Hörner des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks liefern im Trio des Scherzos ein wahres Kabinettstückchen ab – alle Solisten haben heute einen wirklich guten Tag. Nur so erscheint schließlich die lange, orgiastische Schlusssteigerung angemessen, gar absolut notwendig. Danach sind alle glücklich: die Musiker, der Maestro und das Publikum, das standing ovations gibt, die wohl nur aus Rücksicht auf den Dirigenten, der nach jeder Applauswelle, ganz Gentleman, vom Podium abgeht und erneut auftritt, dann irgendwann einmal enden – ein in jeder Hinsicht denkwürdiger Abend.

[Martin Blaumeiser, 10. Dezember 2020]

Bemerkenswerte Uraufführungen bei der Musica viva

Am Freitag, 12. 11. 2021, spielte das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks im Musica-viva-Konzert unter Pablo Heras-Casado zwei Uraufführungen: Vom Sterben der Sterne von Jüri Reinvere sowie Tour de Trance von Arnulf Herrmann – mit Anja Petersen als Sopranistin. Beide Stücke sowie ihre hervorragende Wiedergabe konnten überzeugen.

(c) Astrid Ackermann

Ein Abend, der nur aus Uraufführungen von Auftragswerken besteht, ist selbst bei der Münchner Konzertreihe musica viva des BR eher selten. Das erste Stück stammt vom in Estland geborenen und aufgewachsenen Komponisten Jüri Reinvere (Jahrgang 1971). Den ersten Kompositionsunterricht erhielt er in Tallin beim leider viel zu früh verstorbenen Lepo Sumera (1950–2000), der zudem von 1988 bis 1992 estnischer Kultusminister war. Nach der Unabhängigkeit von der Sowjetherrschaft studierte Reinvere in Warschau und Helsinki. Neben seiner Musik ist er aber auch als Lyriker und Essayist hervorgetreten, dabei mehrfach ausgezeichnet worden. Seit 2005 lebt das siebensprachige Multitalent in Deutschland.

Vom Sterben der Sterne bezeichnet der früh von der Astronomie begeisterte Komponist als Symphonische Skizzen. Das 32-minütige Werk mit normaler Orchesterbesetzung (3-faches Holz etc.) arbeitet weniger thematisch als mit Klangflächen, die über weite Strecken dunkel timbriert sind: Teils unheimlich – wie der sich aus tiefen Trommeln, Bässen und Celli langsam hocharbeitende Beginn –, jedoch immer erhaben und ehrfurchtsvoll. Hierbei spürt man noch Einflüsse Sumeras, der eine ganz eigentümliche Art naturbezogenen Minimalismus‘ entwickelt hatte – kaum mit der amerikanischen minimal music vergleichbar. Reinvere ist dennoch sowohl davon als auch von der dichten, clusterhaften Klanglichkeit eines György Ligeti (Atmosphères, Lontano) gleichermaßen entfernt. Der Hörer verfolgt einen großen Entwicklungsbogen mit ab und zu aufblitzenden, fasslichen Motiven – im Sinne eines gewaltigen Crescendos auf einen Höhepunkt hin, nach dem dann die Intensität wieder bis ins beinahe Unhörbare abnimmt – durchaus symphonisch. Die Instrumentation bleibt dabei stets klar: Bis auf das Atmen der Bläser verzichtet Reinvere fast komplett auf mittlerweile überstrapazierte Geräuscheffekte, setzt punktuell mal ein Becken als akustische Hüllkurve im Diskant ein. Klavier, Celesta und Glockenspiel versteht man als eindeutige Zeichen. Dafür hören wir etwa feine Unisoni von Streichern und Flöten oder die gekonnte Imitation von Orgel- oder Akkordeonklängen – alles zutiefst beeindruckend und auf sympathische Weise irgendwie altmodisch. Der Applaus des leider wieder dünn besetzten Herkulessaals ist herzlich.

Arnulf Herrmann (*1968) ist hier längst kein Unbekannter mehr. Als die Sopranistin Anja Petersen 2014 nur zwei Tage vor der Uraufführung für die Drei Gesänge am offenen Fenster eingesprungen war und sich als echter Glücksfall erwiesen hatte, versetzte dies Presse und Publikum in Erstaunen. Seitdem ergab sich eine stetige Zusammenarbeit der beiden Künstler, und für Tour de Trance – nach einem Text von Monika Rinck – hatte Herrmann diese Stimme sogleich im Kopf. Im in vier Abschnitte unterteilten, etwas über halbstündigen Stück kommt Petersen aber erst spät zum Einsatz, wo von Rincks Lyrik lediglich der Anfang ausladender, der ganze Rest dann überraschend schnell und lapidar vertont wird. Das täuscht natürlich; denn zuvor erscheint das Orchester bereits offensichtlich durch Elemente des Textes inspiriert. Liest man Dinge wie „wilde schläge in der ferne“, „halluzinogene leere“ oder „schlingern“, wird klar, dass Hermann in seiner Arbeit mit „Interaktionsfiguren“ den Hörer genau darauf einstimmt. Da gibt es ein meist sehr aggressiv ausgeführtes, rhythmisch klar am Kopfthema von Beethovens Fünfter angelehntes Motiv – im 2. Abschnitt reißt dem Solocellisten hierbei eine Saite, worauf dieser geistesgegenwärtig auf dem Instrument seiner Pultnachbarin weiterspielt. Scheintonale Momente, die jedoch sofort mikrointervallisch destabilisiert werden, oder eine vierteltönige Pendelfigur markieren einen Bewusstseinszustand, dem gewissermaßen der Boden unter den Füßen fehlt. Dies ist alles spannend und in seiner direkten Emotionalität jede Sekunde mitreißend – bis zum abschließenden Zerfall. Frau Petersen kann diesmal mit nicht viel mehr als ein paar länger ausgehaltenen, schönen Tönen glänzen; ihre Präsenz ist trotzdem wieder eindrucksvoll.

Mit Pablo Heras-Casado debütiert heute ein angehender Weltstar bei der musica viva, der von historischer Aufführungspraxis bis eben zur zeitgenössischen Musik alles drauf zu haben scheint. Die Schlagtechnik – fürs bloße Taktieren wechselt er zwischen den Händen – wirkt zunächst ungewöhnlich; seine rhythmische Präzision bis in die Fingerspitzen und das klare, engagierte Einfordern von Ausdruck und Klang sind derweil absolut überragend. Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks geht mit ihm von Anfang an eine herrliche Symbiose ein, mit einem bei beiden Uraufführungen großartigen Ergebnis, das keine Wünsche offenlässt. Genau der richtige Mann, den man, nicht nur für solche Musik, nun bitte regelmäßig einladen sollte! Trotz der erneut durch Corona leicht gedrückten Stimmung langanhaltende Ovationen für alle Beteiligten.

BR-KLASSIK sendet die Aufzeichnung des Konzerts am 23.11. um 20:05 Uhr.

[Martin Blaumeiser, 13. November 2020]

Drei Klassiker der Moderne jenseits der Abos

Am Donnerstag, 4. 11. 2021, sowie am Freitag, 5. 11. 2021, spielte das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter François-Xavier Roth drei Klassiker der Moderne: Claude Debussys Jeux, Arnold Schönbergs Klavierkonzert mit dem Solisten Kirill Gerstein sowie Igor Strawinskys Le sacre du printemps. Die Rezension bezieht sich auf den zweiten Konzerttermin.

Kirill Gerstein probt mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks
unter Leitung von François-Xavier Roth Arnold Schönbergs Klavierkonzert.
Photo © Astrid Ackermann

Dass der BR bei der Planung der laufenden Saison die Abo-Reihen erst ab Januar 2022 starten lässt, und alles davor als „Sonderkonzerte“ unters Publikum zu bringen versucht, hat durchaus auch seine Vorteile. Erklangen bereits bei den Antrittskonzerten des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks in der neuen Isarphilharmonie letzte Woche ausschließlich Werke des 20. Jahrhunderts (Kabeláč, Britten und Schostakowitsch, siehe Rezension), so wählte man nun für den Herkulessaal drei echte, alle auf ihre Art wegweisende Klassiker der Moderne aus, die man sicher so konzentriert selten in einem Konzert zu hören bekommen dürfte. Ob es doch wieder an den auch das Publikum fordernden Klängen lag, oder an den bereits angekündigten, erneuten Corona-Verschärfungen: Immerhin war am Freitag der Herkulessaal zu gut zwei Dritteln gefüllt, wenn man es einmal positiv betrachtet. Angesichts der hohen Inzidenzen behielt der größere Teil der Besucher im Saal freiwillig seine Masken auf.

François-Xavier Roth, seit sechs Jahren GMD der Stadt Köln, beginnt den Abend mit Debussys Ballettmusik Jeux, die der Komponist als „poème dansé“ bezeichnet und die ihre eigentlichen Erfolge seit jeher im Konzertsaal gefeiert hat. Debussy treibt mit diesem letzten Orchesterwerk seine Instrumentationskunst auf die Spitze: Klang bzw. Klangfarbe wird hier auf revolutionäre Weise zum zentralen Parameter, hinter dem bei bereits erstaunlich fortgeschrittener Harmonik und sich ständig modifizierender Rhythmik mit enorm flexiblen Tempi die eigentliche motivische Arbeit – zumindest für den Hörer – in den Hintergrund tritt. Damit wurde Jeux zu einem der Katalysatoren der Avantgarde nach 1945. Hier ist der französische Dirigent, der auf einen Taktstock verzichtet, mit klarer Gestik ohne Mätzchen und präziser Agogik in den Übergängen in seinem Element. Im Gegensatz zu Ravel funktioniert Debussys sensible Klangchemie ja keineswegs von selbst, benötigt sehr direkte Kontrolle und genaueste Probenarbeit. Dem BRSO gelingt dies hier in jedem Detail. Die Momente, wo die Musik zwischen unvorhersehbar indifferenten Subtilitäten sehr konkret zu tanzen beginnt, wirken so geradezu betörend – eine ganz ausgezeichnete Darbietung, die die hohen Erwartungen an Roth seit seinem vorzüglichen Feuervogel vor gut 2½ Jahren voll erfüllt. Das Publikum ist entsprechend angetan.

Kirill Gerstein ist, spätestens seit seiner beachtlichen Bostoner Live-Aufnahme des intrikat schwierigen Busoni-Klavierkonzertes, sicher zu den technisch befähigtsten Virtuosen zu zählen. Den Herkulessaal kennt er ebenfalls, hat Anfang 2020 dort Thomas Adès‘ neues Konzert aufgeführt, das freilich seine Wirkung über Strecken aus oberflächlichen Effekten erzielt. Dennoch war dies, noch mehr 2018 Bernsteins Age of Anxiety, auch vom Anschlag her durchaus differenziert und überzeugend gestaltet. Am heutigen Abend ist der Künstler jedoch eine einzige Enttäuschung! Schönbergs zwölftöniges Klavierkonzert von 1942 widerlegt eigentlich die weitverbreitete Meinung, solche Musik sei unverständlich, kalt oder gefühllos. Ganz im Gegenteil: Die vier Abschnitte des Stückes bauen auf fest umrissenen, emotionalen Situationen auf, mit einer an die Romantik anknüpfenden Teleologie – vom heiter durchsichtigen Beginn mit typisch wienerischer Jovialität über die sich bald erschreckend steigernde Dramatik bis zur desolaten Verzweiflung des Adagios, wonach sich der Solist in einer kurzen Kadenz quasi am eigenen Zopf aus dem Sumpf zieht, um nach einigem Zögern affirmativ optimistisch in die Zukunft zu blicken.

Man fragt sich, woran es wohl liegen mag, wenn ein Pianist derartig verspannt und mit klobigem Anschlag agiert wie Gerstein. Ist’s der Flügel? Stört die Bedienung des Notepads (selbst Brendel spielte das Schönberg-Konzert nie auswendig)? Schon das lange Hauptthema klingt nur hart, keine Spur von Leichtigkeit oder Wiener Schmäh. Das wird in der Folge noch schlimmer: Bei aufsteigenden Kaskaden übertönt Gerstein immer brutal das Orchester, das zumindest in der ersten Hälfte versucht, seinen thematischen Figuren adäquat Gestalt zu verleihen. Dies ist aber weder das Busoni-Konzert noch der alte Gasteig, wo sich der Solist derart berserkerhaft Gehör verschaffen muss. Schönberg schreibt bei seinem Opus 42 nicht allzu viel in die Noten. Von dem, was hier alles „zwischen den Zeilen“ zu entdecken wäre, ist Gerstein jedenfalls meilenweit entfernt. Nein, man muss das Stück nicht derart romantisieren wie Kubelik. Wer allerdings das Schönberg-Konzert mit Brendel oder Aimard erlebt hat, weiß, welche Schönheiten hier besonders im Klavierpart realisierbar sind. Beim Giocoso-Thema des letzten Abschnitts scheint es, als ob Gerstein nun umdenkt; aber statt dieses zarte Pflänzchen langsam wachsen zu lassen, bis das Konzert ganz am Schluss ekstatische Freude versprüht, poltert er doch schnell wieder gewalttätiges Hardcore-Gehämmer herunter. Und – auch wenn das Werk fast in C-Dur endet: Es ist eine Unsitte, dem eher kurzen Schlussakkord noch eine Fermate aufzusetzen. Mit seinen Zugaben – einer Debussy-Etüde und einem Jazz-Standard von Oscar Levant, dem ursprünglich geplanten Widmungsträger des Schönberg-Konzerts – kann Kirill Gerstein den zweifelhaften Eindruck nicht wettmachen.

Zu Strawinskys Le sacre du printemps – einst Skandalstück, heute Publikumsrenner – braucht man nicht viel zu sagen. Das Werk ist mittlerweile eine Visitenkarte jedes Orchesters mit entsprechender Besetzung. In der Aufführung heute geht nicht alles glatt: Richtig gut sind die beiden Einleitungen und vom Tempo her eher ruhige Teile (Rondes printanières usw.). Aber ein paar schwierige Passagen klappern dann hörbar: Danse de la terre spätestens ab dem Trompeteneinsatz, manches im Danse sacrale. Völlig unverständlich, wie ein ausgebuffter Profi wie Roth es über etliche Takte [Zif. 131] nicht schafft, ein wenig nervös gewordene Holzbläser – die ansonsten einen exzellenten Job machen! – wieder zusammen zu bringen. Die Dynamik gerade an Tutti-Stellen könnte besser gestaffelt sein: So verpufft die 1913 das Zwerchfell so ungewohnt massierende Polyrhythmik teils in lautem Klangbrei (Cortège du sage). Das hohe Violinsolo [Zif. 83] könnte man besser durchlassen. Dies sind ziemliche Beckmessereien; das Orchester hat den Sacre natürlich drauf – wurde gerade deshalb etwa zu wenig geprobt? Jedenfalls hat man das Stück vom BRSO schon besser gehört, zuletzt unter Cristian Măcelaru und natürlich Mariss Jansons. Der Beifall des Publikums ist trotzdem beinahe frenetisch.

[Martin Blaumeiser, 7. November 2020]

Meisterschaft jenseits des Mammonglanzes

Jakub Hrůša dirigiert das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks in Meisterwerken der klassischen Moderne: Kabeláč , Britten, Schostakowitsch.

Photo © by Astrid Ackermann

Um mit einem der überflüssigsten Oberbürgermeister der Republik zu sprechen – also in routiniert clever vernebelnder Ignoranz –, gibt uns die Interimsspielstätte der Münchner Orchesterkultur, die technokratisch klotzige Isarphilharmonie mit ihrem kubisch-industriellen Flair, ihren die Lauschfelder trennenden Drahtgeländern, bei denen nur der Stacheldraht vergessen wurde, ihrem perfekt unschönen, ausruh-feindlichen Foyerbereich eine „leise Vorahnung“ dessen, dass es für München wohl auch künftig, bei allem Mammonglanz, akustisch nicht wirklich besser kommen wird. In dem so gar nicht schmucken, aber auch das Auge nicht verstörenden Saal klingt das Orchester sehr durchsichtig, man hört – jedenfalls links außen im hinteren Drittel des ansteigenden „Parketts“ – alles Leise sehr deutlich, alle Register des Orchesters kommen gut an. Wenn es dann aber laut wird, mutiert der vorher nicht gerade auratisch erfüllende Klang ins Brutale, und auch die Durchsichtigkeit ist nun – trotz exzellentem Dirigenten und Orchester – nicht mehr optimal gegeben. Eben wieder so eine gesichtslose, letztlich unbefriedigende Akustik, wie sie heute anhand von Modellrechnungen – und längst nicht mehr aus intuitiv umgesetzter Empirie tatsächlichen Hörens – mit überwiegend billigen Materialien von musikfernen Saalplanern mit großem Logistikaufwand ohne Geistbeteiligung umgesetzt werden. Aber auch da kann es natürlich – wenngleich unter recht ungünstigen Bedingungen, also der vorgegebenen Schwächen eingedenk – zu ausgezeichneten Konzerten kommen.

Ein solches gab das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks am 28. und 29. Oktober unter der Leitung des amtierenden Bamberger Generalmusikdirektors Jakub Hrůša. Dieser jetzt 41jährige Dirigent zählt seit einiger Zeit zu den besten seines Fachs, und dies in vieler Hinsicht: gute Ohren, ausgezeichnete, natürliche und präzise Geste, echte körperliche und geistige Verbindung mit den Musikern, gutes Raumgefühl fürs Orchester, guter musikalischer Geschmack, Sinn für die Dramaturgie der Form und Klangbalance, hohe Wachsamkeit in der Aufführung – vieles lässt sich da aufzählen, und wer skeptisch ist, höre einfach die CD mit Suks Asrael-Symphonie, die wahrhaft exemplarisch dargestellt wurde.

Diesmal gab es zum Einstieg ein anderes, viel weniger bekanntes tschechisches Werk, aus der frühen sozialistisch geprägten Epoche: die 1953–57 entstandene Passacaglia für großes Orchester Mysterium der Zeit op. 31 vom Symphoniker Miloslav Kabeláč (1908–1979), einst unter Karel Ančerl uraufgeführt, und nun von Hrůša außer Landes gebracht. Er dirigiert das sehr langatmig aufgebaute, vor allem in den ersten Minuten äußerst heikle Stück souverän und mit offenkundiger Anteilnahme, und das Orchester folgt ihm – der ja vielleicht in einigen Jahren auch sein Chef werden könnte – willig und mit Biss. Diese hier gut 26minütige Komposition in einem Satz ist vom Ansatz gewaltig, eine große Architektur, die vom raunenden Beginnen zu einer mächtigen Auftürmung expandiert und im Pianissimo endet. Es ist mehr konstruiert – und darin von beeindruckender Meisterschaft der Berechnung der steigernden Kräfte, der weitschauenden Disposition der Orchestration – als spontan empfunden. Ein sich einprägendes Thema von melodisch fesselnder Gestalt wird nicht vorgestellt, und es ist insgesamt Musik, die im Detail sehr imponiert, ohne durch ihr Wachsen organisch zu fesseln. Jedenfalls ist es erfreulich, dieses gewaltig auftretende Stück nun auch live hören zu können, also nicht nur im (akustisch virtuellen) Raum von produzierten Aufnahmen, sondern in den tatsächlich sich ergebenden Klangverhältnissen, und unter Hrůša ist es mit einem so vortrefflichen Orchester in sehr guten Händen.

Photo © by Astrid Ackermann

Danach spielte Isabelle Faust technisch extrem eindrucksvoll und makellos Benjamin Brittens frühes, einziges, hochoriginelles und im Finale wahrlich ergreifendes Violinkonzert op. 15. Dieses Werk ist für Dirigent und Orchester alles andere als einfach, vieles klingt in den ersten beiden Sätzen, als wäre es eigentlich fürs Klavier erfunden und dann aufs Orchester übertragen worden – dies in sehr kunstvoller und fantasiereicher Weise –, wodurch manche motivischen Gestalten wirken, als würde man sie riesenhaft unter einem Mikroskop betrachten. Man kann in der hier besprochenen Aufführung von außergewöhnlich gelungenem Zusammenwirken berichten, und Aufführungen, die Solist und Orchester noch geschlossener im Ausdruck erscheinen lassen, sind jedenfalls äußerst selten zu erwarten.

Zum Schluss Dmitrij Schostakowitschs Erste Symphonie, dieses rundum geniale Frühwerk mit seinen erschreckenden und verblüffenden Perspektivwechseln und unvermittelten Einsichten, dabei wunderbar zusammenhängend in den vier Sätzen wie auch – kontrastmächtig – als Ganzes. Wie Brittens staunenswert eigenständiges Konzert – nur generationsbedingt deutlich früher – ist diese noch während Schostakowitschs Studienzeit entstandene Symphonie eines der fulminantesten Orchesterwerke der Zwischenkriegsepoche, und das in beiden Fällen in einer Tonsprache, die abseits selbstgerecht antimusikalischer Dogmen die unerschöpflichen Weiten der freien Tonalität erkundet. Natürlich sind – vor allem im Zusammenwirken der Trompeten mit den mächtigen Orchestertutti-Entladungen – die Einflüsse Skriabins und seines Poème de l’extase unüberhörbar, aber welch besseres Vorbild, welch aufrüttelnderen eigentümlichen Ausgangspunkt hätte es denn für einen gewandten Individualisten wie Schostakowitsch geben können?

Auch hier ist Hrůšas Dirigat fulminant, souverän und höchst musikalisch, und selbstverständlich spielt das Orchester auf ausnehmend hohem Niveau. Wäre mehr Vorbereitungszeit gewesen, so hätte man sich den Fragen der musikalischen Räumlichkeit – also der dynamischen Kontinuität der Einsätze unterschiedlich kraftvoller Instrumente – eingehender widmen können, die Sologeige hätte noch eine klarere Empfindung dafür gewinnen können, dass sie ihren Part an die Bläser übergibt und damit vielleicht ein wenig keuscher mit dem Vibrato umgeht, der Solocellist wäre wohl bezüglich der dynamischen Entfaltung der vom Komponisten gewünschten niederen Lautstärkegrade bewusster verpflichtet geblieben, und manches hätte – ohne an Urwüchsigkeit, Kraft und Schreckenspotential einzubüßen – weniger ruppig und gewöhnlich, dabei balancierter, bewusster in der Gestaltung sein können. Doch dies scheint mir, in Anbetracht der hohen Grundqualität, schlicht eine Frage der verfügbaren Zeit zu sein.

Das Konzert war ein großer Publikumserfolg, und die Münchner dürfen sich schon freuen auf Hrůšas nächstes Gastspiel – möge er in der Isarmetropole nun auch mit den Klassikern vorkommen und dem wenig feinschmeckerischen Publikum auf jeden Fall weitere in dieser an sich so erfolgssatten, geistig innovationsmatten Stadt unbekannte Entdeckungen präsentieren.

[Christoph Schlüren, Oktober 2021]