Archiv für den Monat: August 2018

Sehr französische Indienträume

Chandos; LC 7038; EAN: 0 9511519572 7

Albert Roussel: Évocations;  BBC Philharmonic, CBSO Chorus, Yan Pascal Tortelier (Leitung), Kathryn Rudge (Mezzosopran), Alessandro Fisher (Tenor), François Le Roux (Bariton)

Yan Pascal Tortelier hat sich auf CHANDOS Albert Roussels großem Indienpanorama «Évocations», der vielgespielten Suite F-Dur und der symphonischen Dichtung «Pour une fête de printemps» angenommen. Leider gelingt nicht alles auf überzeugendem Niveau.  

Neben Nikolai Rimski-Korsakow ist Albert Roussel wohl der einzige bekanntere Komponist, der eine Zeit lang zur See gefahren ist, sicherlich ein Grund für beider Liebe zu exotischen Sujets. Wenn heute Roussel vor allem noch für seine 3. und 4. Symphonie – klare Zeugnisse des Neoklassizismus der frühen 1930er Jahre – gerühmt wird, so gab es bis kurz nach dem Ersten Weltkrieg eine bedeutende Phase, die man impressionistisch nennen muss, auch wenn Roussel das Erbe der Spätromantik längst nicht so konsequent abgelegt hat wie Debussy oder Ravel. Roussel unternahm mit seiner Gattin auch lange nach seiner Militärzeit eine ausgedehnte Hochzeitseise nach Indien und Fernost. Die zwei beeindruckendsten Zeugnisse davon sind Évocations (1910-11) und später seine Opéra-ballet Padmâvatî (1913-1918).

Évocations zeichnet in drei Sätzen ein geheimnisvolles, raffiniert instrumentiertes Bild Indiens; im letzten Satz treten zum Orchester noch drei Gesangssolisten und Chor hinzu. Michel Plasson hat 1986 eine überragende Aufnahme dieses in Vergessenheit geratenen Dreiviertelstünders hingelegt (EMI), an der sich Yan Pascal Tortelier leider messen lassen muss. Die düsteren Schatten des ersten Satzes und die zart changierenden Rosatöne des zweiten (La Ville rose, ein Porträt Jaipurs) gelingen Tortelier gleichermaßen, wenn auch etwas unflexibler bei den Tempi als Plasson. Die Aufnahmetechnik ist bei Chandos etwas direkter und luftiger. Aber was ist dann im dritten Satz mit Chor und Solisten los? Der Chor des City of Birmingham Symphony Orchestra produziert ein gähnend langweiliges Gesäusel, zudem von der Aufnahme zu sehr in den Hintergrund gepresst, ohne jede Präsenz. Aber es kommt noch ärger: Hatte Plasson drei Weltklasse-Solisten (Nicolai Gedda, Nathalie Stutzmann und José van Dam) zur Verfügung, die ihrem Namen alle Ehre machten, können weder Kathryn Rudge noch Alessandro Fisher irgendwelche Akzente setzen – und auch hier sorgt die Technik für eine unidentifizierbare Positionierung. Ehemals Abbados Pelléas, zeigt sich François Le Roux leider nicht einmal mehr als Schatten seiner selbst: Die Stimme ist völlig brüchig, wackelig, detoniert; das könnte man gerade noch als Sprechen, aber nicht mehr als Singen bezeichnen – eine echte Zumutung, die den über 22-minütigen Satz komplett abschießt.

Tadellos dagegen die bereits neoklassizistische Suite F-Dur und die symphonische Dichtung Pour une fête de printemps, die ursprünglich als Scherzo der 2. Symphonie geplant war und mit hübscher Polymodalität (Roussel) überrascht. Hier gelingen Tortelier, der sich ja u.a. bereits als erstklassiger Dutilleux-Dirigent auf Chandos präsentiert hat, differenzierte, rundum erfreuliche Darbietungen. Trotz des Repertoirewerts fällt es mir wegen des absolut verunglückten Finalsatzes der Évocations schwer, diese CD zu empfehlen.

[Martin Blaumeiser, August 2018]

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Mariss Jansons‘ Alpenpanorama

BR-Klassik, LC 20232; EAN: 4 035719001488

Richard Strauss: Eine Alpensinfonie, Tod und Verklärung; Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, Mariss Jansons (Leitung)

Da kann man schon etwas durcheinander kommen: Gerade scheint man beim BR-Klassik-Label das von Mariss Jansons mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks bisher eingespielte Repertoire an Orchesterwerken von Richard Strauss neu auf verschiedene Einzel-CDs zu verteilen; es handelt sich dabei aber nicht um Neuaufnahmen. So möchte ich hier trotzdem die ältere Kopplung der Alpensinfonie mit ‚Tod und Verklärung‘ besprechen; mit beiden Werken dringt Jansons hier in die erste Liga der mehr als zahlreichen Konkurrenzeinspielungen vor.  

Richard Strauss‘ „Eine Alpensinfonie“ von 1915 ist die letzte, von der Orchesterbesetzung aufwändigste und auch längste seiner Tondichtungen. An ihr scheiden sich die Geister: bei Orchestermusikern eher unbeliebt, da in ihrer sehr direkten Lautmalerei an den Stationen einer ganztägigen Bergwanderung allzu plakativ, geradezu simpel im Vergleich zu philosophisch wie kompositionstechnisch elaborierteren Werken wie etwa Don Quixote oder Also sprach Zarathustra. Dirigenten mögen sie dagegen sehr, eben weil sie hier mit dem Farbenkasten mal so richtig dick auftragen können. Zubin Mehta, der solche Stücke dann meist innerhalb eines kürzeren Zeitraums gleich mit allen ihm verbundenen Orchestern aufzuführen pflegte, machte mir gegenüber aus seiner Begeisterung keinen Hehl, aber nicht ohne hinzuzufügen: „Na, das reicht dann auch wieder für die nächsten zehn Jahre.“ Beim Publikum ist dieses Alpenpanorama natürlich gerade dafür beliebt, dass über weite Strecken einfach unmissverständlich klar ist, was da musikalisch geschildert wird und so schön die gewaltige Klangpalette eines richtig großen Orchesters – mit Orgel und zusätzlich 12 Hörnern hinter der Szene – demonstriert wird. Strauss erlangte hier den Höhepunkt seiner Instrumentationskunst.

Jansons‘ Alpensinfonie – aus drei Live-Mitschnitten von 2016 aus der Münchner Philharmonie kompiliert – überzeugt natürlich durch aufs Edelste ausgekostete Klangkombinationen, perfekt erarbeitet. Alle gefürchteten Soli (Oboe, Klarinette, besonders Trompete) gelingen tadellos. Auch die Dramaturgie der großen Bogenform und die sich daraus ergebende symmetrische Metamorphose der Hauptmotive kommt klar zur Geltung. Alles erscheint völlig natürlich, organisch, dem hinter der Komposition steckenden pantheistischen Credo werden Orchester und Dirigent mehr als gerecht. Trotzdem: Das Ganze wirkt hier wie eine Filmmusik. Der Zuhörer nimmt – auch emotional – nur virtuell teil an einer Bergwanderung, wird nicht wirklich nass bei Gewitter und Sturm; man ist nicht in den Alpen, sondern eher bei einer Vorführung eines Alpenfilms auf einer Bogenhausener Sommerparty. Zuletzt gelangen beispielsweise Andris Nelsons (City of Birmingham SO, Orfeo 2010) oder Philippe Jordan (Orchestre de l’Opéra National de Paris, Naïve 2009) eindringlichere Darbietungen der Alpensinfonie, die den Rezipienten quasi als Wanderer direkt ins Geschehen hineinkatapultierten. Nelsons enormer dramatischer Zugriff und Jordans unfassbar subtile klangliche Ausdeutung haben mich dann doch mehr begeistert als Jansons‘ routinierte Perfektion. Trotzdem gehört diese Interpretation in die absolute Spitzengruppe von vielleicht fünf oder sechs Einspielungen – gerade auch weil es die Tontechnik des BR wieder einmal schafft, ein fast konkurrenzloses Ergebnis an Durchsichtigkeit bei gleichzeitig größtem Dynamikumfang abzuliefern. Da kann meine, rein musikalisch betrachtet, immer noch unerreichte Lieblingsaufnahme (Rudolf Kempe, Staatskapelle Dresden, EMI 1971) nicht mehr mithalten.

Eine echte Referenzaufnahme gelingt Jansons hingegen bei Tod und Verklärung. Das ist mitreißend, der minutiös kalkulierte musikalische Aufbau der einzelnen Abschnitte und die große Verwandlung der Musik zum Schluss werden zu einer ergreifenden Reise in die noch ganz romantische Vorstellungswelt eines gerade mal 25-Jährigen von Leben und Tod. Die Höhepunkte wirken gnadenlos in ihrer Gewalt, übertriebenes Pathos (wie z.B. bei Karajan) wird jedoch vermieden, die Verklärung bleibt als Nachhall des vorhergegangenen „Schicksals“ keineswegs utopisch, sondern vermag direkt zu berühren – Tod als Erlösung? Dieses Stück hatte mich vorher noch nie in seinem tiefen Ernst derart gefangen genommen wie in dieser Darbietung – eine Glanzleistung, die ich jedem Strauss-Begeisterten unbedingt empfehlen darf.

[Martin Blaumeiser, August 2018]

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Die isolierteste Oper der Welt

Ein mehrtägiges Festival um eine Opernproduktion, das auf einer kleinen Insel stattfindet, etwa vier Stunden Bootsfahrt von der nächsten Stadt entfernt? Das klingt nach einem Abenteuer für mich: Und so mache ich mich erneut auf nach Norwegen, diesmal nach Røst.

Die Reise geht über Oslo nach Bodø, von wo aus die Fähre nach Røst ablegt. Nach etwa drei Stunden auf dem Schiff erhebt sich langsam eine Wand aus den Wogen, befremdlich und unwirklich. Je näher das Boot kommt, desto bedrohlicher wirken die Landmassen, die sich über den Horizont erstrecken. Durch das Teleobjektiv erkenne ich Häuser und allmählich teilt sich die Wand; sie erweist sich als eine Ansammlung unzähliger kleiner Inseln, die gedrängt aneinander aufragen. Røstlandet kommt in Sicht – in großzügiger Entfernung zueinander stehende Holzhäuser und manch eine Betonhalle zur Stockfischlagerung prägen den ersten Eindruck, dahinter erkenne ich die nun im Sommer leeren Holzgestelle, auf denen der Fisch getrocknet wird.

So befinde ich mich also auf Røstlandet, der südwestlichsten Insel der Lofoten. Die geringe Größe und Bevölkerungsdichte wirken für mich als Großstadtmenschen exotisch, doch eben hier liegt auch der Reiz. Weniger als 600 Menschen leben in der Røst-Kommune auf etwa 11 Quadratkilometern, die sich auf weit über 300 Inseln und Schären verteilen. Kleine Binnenseen und Wasserkanäle machen die Landschaft ebenso aus wie Steine und Wiesenflächen: Bäume findet man keine auf Røst, zumindest keine natürlich gewachsenen. Der Blick reicht weit über die Hauptinsel, denn der höchste Punkt befindet sich gerade einmal 12 Meter über dem Meeresspiegel. Auf der Ostseite befinden sich die meisten Häuser, und im Süden bei der Bootsanlegestelle; im Norden liegt eine Kirchenruine und im Nordosten ein Flughafen: wobei ich während meiner Zeit auf Røst nur ein einziges Mal eine Maschine habe starten sehen.

Mich beeindruckt die Mentalität hier in der Abgeschiedenheit. Kriminalität gibt es keine auf Røst, weshalb auch kaum jemand auf die Idee kommt, Wohnung oder Auto abzusperren. Warum auch? Selbst wenn jemand einbrechen würde, käme er – wenn überhaupt – bis auf die Fähre, und nicht weiter. Trotz eines beinahe familiären Zusammenhalts in der Gemeinschaft sind die Einwohner ausgesprochen offen gegenüber ihren Gästen und man findet schnell Anschluss an Gespräche. Natürlich hilft es hierbei wie auch überall sonst, die Landessprache zu können, jedoch beherrschen alle Einwohner auch Englisch und viele sogar etwas Deutsch. Es finden allerdings weniger Touristen nach Røst als auf die anderen Lofoten: Vielleicht aufgrund der Entfernung zu den anderen Inseln, vielleicht aufgrund der verschwindend geringen Größe. Doch es lohnt sich!

Das Querinifestival begann bereits am 1. August, ich stoße erst zwei Tage später dazu. Fünf Tage lang werden verschiedenartige Veranstaltungen angeboten, allen voran vier Aufführungen der Oper „Querini“ aus der Feder Henning Sommerros; doch auch andere Konzerte stehen auf dem Programm, ebenso wie Ausflüge. Ich werde später dazu kommen, was es mit Querini auf sich hat und warum ausgerechnet hier dieses riesenhafte Ereignis stattfindet.

Direkt nach meiner Ankunft steht bereits ein erster Konzertbesuch an: Die ebenfalls von den Lofoten stammende Sängerin Kari Bremnes tritt erstmalig auf Røst auf, wobei sie von Bengt Hanssen begleitet wird. Bremnes gehört zu den bekanntesten Stimmen Norwegens und entsprechend voll wird es in der Querinihalle, die 500 Plätze umfasst. Rein und schlicht trägt sie ihre Lieder vor, singt, wie für sich ganz alleine. Bengt E. Hanssen ersetzt eine ganze Band, indem er seiner Klavierstimme auch zahlreiche Effekte und Klänge anderer Instrumente beifügt. Herrliche Momente beschert uns der Musiker durch sein Joiken: Ein Joik ist ein samischer Gesang, in dem die Töne mehr Bedeutung tragen als die Worte.

Unterhaltsam geht es am nächsten Tag weiter mit Rasmus Rohde, der gemeinsam mit seiner „verdens beste band“ („weltbesten Band“) einige der erfolgreichsten norwegischen Lieder-CDs für Kinder eingespielt hat und zeigt, dass Musik alles andere als öde oder uncool ist. In seinen Liedern erzählt er von interessanten Mahlzeiten, reisenden Ballons, naiven Kuscheltieren und Sommererlebnissen. Er kann auf hohem musikalischem Niveau nicht nur den Kleinen ein Lachen entlocken. Denkwürdig bleibt der Moment, in dem Rohde die Stimmung kurz umschwingen lässt und von einem Flüchtlingskind singt, das seine Reise nicht überlebt hat. Gewagt, aber wichtig, den Kindern im Rahmen solch eines Konzerts diese Thematik näherzubringen.

Wenige Stunden später beginnt die Hauptveranstaltung: die vierte und somit letzte Aufführung der Querini-Oper von Henning Sommerro. Es ist die Geschichte des italienischen Handelsmannes Pietro Querini, dessen Schiff in einem Sturm vom Kurs abkam und sank. Nach langer orientierungsloser Reise strandete eines der Rettungsboote auf Sandøy, einer Nachbarinsel von Røst. Die überlebenden Männer wurden von einheimischen Fischern gefunden und gepflegt, wobei nur der örtliche Priester durch seine Lateinkenntnisse zwischen Italienern und Norwegern vermitteln konnte. Nach drei oder vier Monaten reisten Querini und die übrigen zehn Überlebenden der ursprünglichen 68 Männer zurück nach Italien; mit an Bord nahmen sie große Mengen an Stockfisch, der sich als Proviant für lange Reisen ideal eignet, und brachten ihn mit in die Heimat. Damit war Querini vermutlich der erste, der den Stockfisch importierte und somit eine bis heute bestehende Verbindung zwischen Nordnorwegen und Italien schuf. In den letzten Jahren kam auf Røst die Geschichte um Querini vermehrt in Erinnerung: Zunächst benannte man eine Straße nach dem Seefahrer, dann das Wirtshaus der Insel. Schließlich wurde die Idee geboren, die Aufzeichnungen Querinis über seine Abenteuer als Oper zu vertonen, was durch den Komponisten Henning Sommerro und den Librettisten Ragnar Olsen dann auch geschah und 2012 das Licht der Welt erblickte. 2018 wird die Geschichte nach 2012 und 2014 zum dritten Mal auf die Bühne gebracht, diesmal in neuer Inszenierung.

Die Oper zeigt das Geschehen vom Aufbruch in Venedig bis zu Querinis Rückkehr, wobei ein Kormoran (Soetkin Baptist) als omnipräsente Erzählerrolle fungiert. Die Wahl dieses Vogels wirkt nicht abwegig, er ist Wappentier von Røst und auch in Venedig heimisch. Insgesamt drei Liebesgeschichten durchziehen die Oper: Eine fromme Liebe verbindet Pietro Querini (Magne Fremmelid) und seine Frau (Anna Einarsson) und überdauert alle räumliche und zeitliche Distanz. Auch Bernardo (Eivind Kandal), Mitglied in Querinis Crew, sehnt sich nach seiner Maria (Jeanette Goldstein), die wie alle Frauen in Venedig geblieben ist. Diese wird allerdings von einem neuen Freier umgarnt (Jacob Abel Tjeldberg): Anfangs widersteht sie ihm, doch als die Crew noch immer nicht wiederkehrt und für tot gehalten wird, gibt sie nach. Am Ende kommt Bernardo zurück, und vergibt ihr. Eine dritte Liebesbeziehung entsteht zwischen Nicolo (Ivar Magnus Sandve), dem Diener Querinis, und Igna (Henriette Lerstad), einem Mädchen aus Røst. Obgleich die beiden nicht die Sprache des jeweiligen Gegenübers verstehen, spüren sie eine innere Verbindung. Als Querini aufbricht, um nach Venedig zurückzukehren, muss sich auch das Paar trennen, denn Igna wird auf Røst und Nicolo an Bord gebraucht. Das Ende der Oper zeigt, wie die Crew den Stockfisch in Venedig präsentiert und dort davon überzeugt. Ein Gabelstapler mit einer Palette Stockfisch fährt herein und eröffnet den Blick in unsere Gegenwart, in der noch immer Stockfisch von Norwegen nach Italien gebracht wird, wenngleich in anderen Mengen und mit anderen Mitteln.

Nicht nur die Rollenverteilung erweist sich als aufwendig mit genannten Solisten plus Rollen für Christofero aus Querinis Mannschaft (Magnus Berg), einer Hausfrau auf Røst (Hildegunn Pettersen), einem Fischer (Thomas Johansen) und dessen Tochter (Sofie Alexandra Arntsen), sondern auch das Bühnenbild. Die Szenerie wechselt immer wieder zwischen Italien und Norwegen; teils muss das Geschehen überblendet werden, um eine Gleichzeitigkeit der Handlung auszudrücken. Dies gelingt durch fahrbare Elemente wie ein Kirchenfenster, eine Treppe, eine Gondel oder die Löwensäule, die alle schnell auf die Bühne gebracht und ebenso schnell wieder herausgeschoben werden können. Dem Lebensstandard entsprechend gestaltet sich die Szenerie auf Røst schlichter: Ein großer Felsen prägt das Bild, später ergänzt durch ein Holzgerüst, auf dem der Fisch zum trocknen aufgehangen wird. Eine Videokulisse im Hintergrund erweckt die Bühne zum Leben, sie lässt rasche Übergänge zu und verleiht dem Sturm eine glaubwürdige Wucht.

Musikalisch steht die Querini-Oper zwischen den Stühlen, Henning Sommerro verpflichtet sich nicht einem Stil, sondern integriert unterschiedlichste Einflüsse in seine Musik. Dem Orchester vertraut Sommerro manche modernen Effekte an, die Sängerpartien setzt er konventioneller. Die aus Italien stammenden Rollen entleihen sich ihren Stil dem Belcanto, die norwegischen Partien ziehen ihre Kraft aus folkloristischen Elementen wie Borduntönen, spannungstragenden Intervallen und dem Joik. Liebesszenen stellt Sommerro gerne musicalartig-idealisiert dar, das Duett zwischen Nicolo und Igna könnte beinahe einem Disneyfilm entspringen. Allgemein ließe sich die Querini-Oper als „Hit-Oper“ bezeichnen, so wie es beispielsweise Carmen von Bizet ist: Eine Fülle an eingängigen Melodien schmeichelt dem Ohr, wiederkehrende Refrains gehen ins Ohr und prägen sich ein.

Das klingende Resultat ist herzergreifend. Das Engagement für dieses eine Event, die Aufführung eines wichtigen Moments der Inselgeschichte, und der Zusammenhalt als eingespieltes Team übertragen sich auf den Hörer. Die Mitwirkenden wollen ihr Bestes geben und so tun sie es auch. Bei Voraussetzungen, die unterschiedlicher kaum sein könnten, unterstützen sich alle gegenseitig in einem familiären Umfeld. Besetzt wurden die Rollen durch Profis wie Laien gleichermaßen: Manche der Sänger standen erstmals auf einer Bühne, andere regelmäßig seit Jahrzehnten; und die Erfahrenen spornen die Neulinge an, über ihre Grenzen hinauszuwachsen. Es erstaunt, dass auf einer so kleinen Insel so hohes musikalisches Niveau erklingt. Hervorgehoben sei dabei der Chor, der sowohl das Volk aus Venedig als auch die norwegischen Inselbewohner darstellen muss, jeweils mit der entsprechenden regionalen Färbung des Gesangs. Er steht ausgesprochen häufig auf der Bühne und wechselt in den kurzen Verschnaufpausen auch noch die Kostüme. Auch das Orchester leistet viel, die „Querini Sinfonietta“ unter Torodd Wigum wurde extra für das Festival zusammengestellt; sie erweist sich als gutes Team, das sowohl aufeinander wie auch auf die Sänger aktiv eingeht. Bestechend ist die Rolle des Querini durch Magne Fremmelid, einem sonoren Bass mit durchdringender Stimme und Blick für glänzende Details. Jeanette Goldstein überzeugt als Maria, spürbar fiebert das Publikum mit, als sich ihre Liebesaffäre zuspitzt. Heimliche Hauptrolle der Oper bleibt allerdings Soetkin Baptist als Kormoran: In Erinnerung bleibt sie durch ihre erstaunlich naturnahen Vogelrufe, aber auch durch ihren sinnlich-feinen Gesang von unbeschreiblicher Reinheit. Die aus Belgien stammende Sängerin lebt sich in ihre ungewöhnliche Rolle ein und geht in ihr auf, schauspielerisch wie sängerisch: Dieses Talent ist einer großen Entdeckung würdig!

Nach der Oper schließt sich eine Gala an, in welcher die Musiker von Querini noch Highlights aus anderen Opern darbieten. Die erste Hälfte steht im Zeichen von Bizets Carmen, danach tragen die Sänger noch einige ihrer persönlichen Lieblingsarien vor. Bei Carmen (in norwegischer Übersetzung!) steht vor allem der Spaß im Vordergrund, kecke Scherze und lustige Momente werden in die Musik eigebunden; die zweite Hälfte birgt manch einen Opernschatz, der gewissenhaft und reflektiert dargeboten wird.

Am kommenden Tag schließt das Querini-Festival traditionell mit einem Ausflug nach Skomvær, ein kleines Künstlerparadies südwestlich der Hauptinsel. Mit dem Boot kommen wir an Inseln mit Wikingergräbern vorbei, am „Tor zur Hölle“ und an Sandøy, wo Querini und seine Mannschaft 1432 gestrandet sind. Nur fünf Häuser stehen auf Skomvær, eines davon ist der vielbesungene und -abgelichtete Leuchtturm Skomvær fyr. Künstler aus aller Welt bewerben sich für einen dreiwöchigen Aufenthalt auf diesem Fleckchen Land, wo sie in Abgeschiedenheit arbeiten und sich von der Landschaft sowie dem einmaligen Licht inspirieren lassen können. Während unseres Aufenthalts sehen und hören wir einige der hier entstandenen Kunstwerke inklusive des von den Querini-Solisten vorgetragene Lied „Har du fyr?“ von Ola Bremnes. Bei dieser unbeschwerten Idylle kann ich mir kaum vorstellen, dass diese kleine Meereserhebung im Zweiten Weltkrieg strategisch umkämpft war und schließlich vermint wurde. Heute ist nichts mehr übrig von dieser dunklen Vergangenheit und der Blick auf die benachbarten Inseln und das Meer lässt zurückdenken an die vergangenen Tage. Die Zeit auf Røst wird mir lange in Erinnerung bleiben, alleine schon die Anreise auf der Fähre und die Herzlichkeit der Leute, die gemütliche Lebensführung und gleichzeitig der Ehrgeiz, gemeinsam Großes zu schaffen, und das alles in unverwechselbarer Landschaft und mit dem Gefühl von Freiheit.

[Oliver Fraenzke, August 2018]

 

(Alle Fotos von: Oliver Fraenzke, August 2018)

Zwei Rachmaninow-Meisterwerke in mustergültiger Aufnahme

BR-Klassik, LC 20232; EAN: 4 035719001549

Sergey Rachmaninov: The Bells, Symphonic Dances; Chor und Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, Mariss Jansons (Leitung)

Auf dem BR-Klassik Label gibt es nun die beiden vielleicht bedeutendsten Orchesterwerke Sergei Rachmaninows, die vierteilige Chorsinfonie „Die Glocken“ sowie die „Symphonischen Tänze“ mit Chor und Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks in wirklich Maßstäbe setzenden Live-Mitschnitten (Jan. 2016 bzw. Jan. 2017) aus dem Münchner Herkulessaal. Ein neuer Höhepunkt in Mariss Jansons‘ Diskographie.

Nicht erst, seitdem einem Rachmaninows Klavierkonzerte (insbesondere Nr. 2 & 3) langsam aus den Ohren zu quellen drohen, war mein Lieblingswerk des russischen Komponisten dessen große, viersätzige Chorsinfonie Die Glocken (1913). Die Vertonung des berühmten Gedichts Edgar Allen Poes in der monumentalen Übersetzung Konstantin Balmonts (man vergleiche Strawinskys Zwesdóliki – Le Roi des étoiles nur ein Jahr zuvor) ist ein gewaltiger Kosmos des Lebens und des Todes – von den die Jugend symbolisierenden Schlittenglöckchen des ersten Satzes über Hochzeitsglocken, Sturmglocken bis zu den Totenglocken des Finales. Dass Mariss Jansons hierbei mit den nuancenreichen Instrumentationseffekten adäquat umzugehen weiß, ist schon fast selbstverständlich. Aber wie ihm durch kongeniales Timing gelingt, die verschiedenen Stimmungen wirklich auf den Punkt zu bringen und dabei den perfekt einstudierten Chor (Peter Dijkstra) zu konstanten Höhenflügen zu verleiten, erscheint geradezu sensationell. Das Stück hört man in Deutschland leider viel zu selten; Simon Rattles Einspielung von 2012 war zugleich die erste Aufführung mit den Berliner Philharmonikern überhaupt! Aber es gibt ein paar gute CDs: Meine bisherige Referenz war Vladimir Ashkenazy (Decca 1984), mit ebenfalls überzeugender Chor- und Orchesterleistung (Concertgebouw). Jansons hat das dramaturgische Verständnis dafür, wie quasi volkstümlich anmutende Melodik im Zusammengehen mit gregorianischen Anklängen (Dies irae) eine solche emotionale Durchschlagskraft entwickelt, dass man den zur Entstehungszeit eigentlich rückwärtsgewandten Kompositionsstil gerne vergisst. Wenn ich mir den apokalyptischen dritten Satz anhöre, so nimmt etwa Rattle zu Beginn ein schnelleres, aufgeregteres Tempo. Nach den ersten beiden Eskalationswellen ist hier aber bereits so viel Pulver verschossen, dass das Poco meno nach der Fermate (Zif. [71]) nicht mehr breit genug genommen wird, und die weiteren Steigerungen längst nicht mehr die Energie entwickeln wie bei Jansons, der an gleicher Stelle ruhiger beginnt, aber trotz mehr klanglichen Gewichts schier unendliche Reserven zu haben scheint. An derartigen Scharnierstellen zeigt sich vielfach die überlegene Souveränität des lettischen Dirigenten. Idealbesetzungen sind auch die drei Gesangssolisten, grandios der Bariton Alexey Markov im vierten Satz.

Auf gleiche Weise überzeugend gelingen Jansons die drei Symphonischen Tänze, Rachmaninows letztes Orchesterwerk und irgendwie die Summe seines Schaffens – mit zahlreichen Anspielungen auf frühere Werke; und auch das Dies irae ist natürlich wieder mit dabei. Sowohl was die großen Bögen der weitgespannten Sätze angeht als auch die Detailarbeit, ist diese Live-Aufführung zweifellos eine echte Sternstunde. Hier wird Jansons‘ lange Rachmaninow-Erfahrung verlustfrei auf ein Orchester übertragen, dessen homogene Spitzenleistung die reine Freude ist und bei mir selbst die 1995er-Aufnahme von Jewgeni Swetlanow (Canyon Classics) vom Thron stößt. Diese auch aufnahmetechnisch mustergültige CD sollte sich kein Rachmaninow-Fan entgehen lassen.

Übrigens: Wer nun nach all dem Lob glaubt, da sei nichts mehr zu toppen, konnte in München eines Besseren belehrt werden: Keine vier Wochen nach dem Jansons-Konzert hat hier im Februar 2017 Kirill Petrenko mit dem Bayerischen Staatsorchester bei den Symphonischen Tänzen nach einhelliger Meinung tatsächlich noch eins draufgelegt – felix Bavaria.

[Martin Blaumeiser, August 2018]

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Ein Durcheinander an Raritäten

Thorofon, CTH2644; EAN: 4 003913 126443

„… in trunken-schönem Tanz!“: Erich Wolff, Ludwig Thuille, Anton Urspruch, Siegfried Wagner; Rebecca Broberg (Sopran), Thorsten Scharnke (Tenor), Peter P. Pachl (Deklamation), Rainer Maria Klaas (Klavier), Vokalistinnen des pianopianissimo-musiktheaters

Vokal- und Klavierwerke von Erich Wolff, Ludwig Thuille, Anton Urspruch und Siegfried Wagner birgt die CD mit dem Titel „… in trunken-schönem Tanz!“. Wir hören Rainer Maria Klaas am Klavier, er musiziert mit der Sopranistin Rebecca Broberg, dem Tenor Thorsten Scharnke und Peter P. Pachl als Sprecher. Das Programm besteht aus den Vier Liedern op. 3 sowie der Schlussszene von Zlatorog von Wolff, dem Melodram „Die Tanzhexe“ aus Thuilles Feder, Ouvertüre und Vorspiel zum zweiten Akt aus Urspruchs „Der Sturm“ sowie dessen Potpourri aus „Das Unmöglichste von Allem“, zudem „Das Bales-Tänzchen“ für Sopran, Tenor, Sprecher und Klavier von Siegfried Wagner und eine Fantasie aus dessen „Herzog Wildfang“ in einer Zusammenstellung durch Eduard Reuss.

Es sind absolute Raritäten, welche die Musiker auf vorliegender CD zusammenbrachten: Sowohl die Vier Lieder op. 3 von Erich Jacques Wolff als auch das Melodram „Die Tanzhexe“ wurden erst kürzlich wiederentdeckt, nachdem sie lange Zeit als verschollen galten; bei beinahe allen Titeln handelt es sich um Ersteinspielungen. Die Komponisten gehören allesamt zu Meistern ihres Fachs, bleiben allerdings heute nur wenigen Kennern vorenthalten. Erich Wolff zählte seinerzeit zu den bedeutenden Liederkomponisten, verschwand jedoch nach seinem Tod schnell aus den Programmen; Ludwig Thuille wird als Komponist der Münchner Schule in den letzten Jahren nach und nach wieder entdeckt; Siegfried Wagner verbleibt trotz gewaltigen Oeuvres im Schatten seines übermächtigen Vaters. Das Verschwinden dieser Komponisten lässt sich schwer nachvollziehen, vor allem auch das von Anton Urspruch, einem Lieblingsschüler von Liszt, Raff und Lachner, dessen handwerkliches Geschick, musikalisches Bewusstsein und Inspiration besticht.

Doch darüber hinaus erschließt sich mir der Sinn und Zusammenhang dieser Konstellation nicht. Die Mischung aus Liedern für eine oder mehrere Personen, Melodramen und Klavierwerken mag nicht so recht zusammenpassen, auch wenn sich inhaltlich sicherlich Gemeinsamkeiten finden lassen.

Die Darbietungen überzeugen nicht, Rebecca Broberg präsentiert sich gehetzt und unruhig und Peter Pachl überartikuliert „Die Tanzhexe“ als Sprechgesang. Die Wirkung von Thorsten Scharnke und den Vokalistinnen des pianipianissio-musiktheaters verblasst schnell. Pflichtbewusst, aber weder inspiriert noch reflektiert, geht Rainer Maria Klaas an seine Klavierstimmen – was wieder zeigt, dass ein gewaltiges Repertoire nicht für Qualität in der Ausführung stehen muss. In manchen Titeln unterminiert schlechte Aufnahmequalität zusätzlich den Höreindruck. Am besten gelang die Fantasie aus „Herzog Wildfang“ von Eduard Reuss und die Ouvertüre zu „Der Sturm“.

[Oliver Fraenzke, August 2018]

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Saurets «Études-Caprices» als überzeugende Klangstudien

Naxos, LC 05537; EAN: 7 4731338437 2

Émile Sauret: 24 Études-Caprices, Op. 64 Vol. 2 (Nos. 8-13); Nazrin Rashidova (Violine)

Die aus Aserbaidschan stammende, junge britische Geigerin Nazrin Rashidova hat sich vorgenommen, Émile Saurets (1852-1920) gewaltigen, durch alle Dur- & Molltonarten gehenden Zyklus der 24 «Études-Caprices» op. 64 für Violine solo einzuspielen. Dies ist die zweite Veröffentlichung (mit Nos. 8 – 13) des auf vier CDs angelegten Projekts bei Naxos.

Der französische Geiger Émile Sauret galt auf seinem Instrument als Wunderkind und war sogleich Schüler des für die belgisch-französische Violinschule des 19. Jahrhunderts so stilbildenden Violinvirtuosen Charles-Auguste de Bériot. Später studierte er in Leipzig noch Komposition bei Salomon Jadassohn. Neben einer internationalen, bis über den großen Teich reichenden Solistenkarriere war Sauret dann aber vor allem auch als Pädagoge in den großen Musikzentren (Berlin, London usw.) gefragt. So entstanden mehrere Kompendien von Violinübungen, die zum Teil sehr systematisch alle Spieltechniken des Instruments durchforsten. Die 24 «Études-Caprices» op. 64 aus der Zeit an der Londoner Royal Academy of Music (1903 bei Simrock erschienen) fallen aber allein schon deswegen aus dem üblichen Rahmen, weil die Einzelstücke respektable Längen bis zu 14 Minuten aufweisen.

So sind diese ungewöhnlichen Etüden dann natürlich mehrteilig und bieten in sich bereits Abwechslung, weil sie sich nie auf nur ein technisches Problem beschränken. Andererseits ist klar, dass sie nicht zyklisch (der Quintenzirkel wird im Quartabstand erschlossen, einer Dur-Etüde folgt jeweils eine im Moll-Parallelklang) aufgeführt werden können und sollen. Tatsächlich überrascht, wie vielgestaltig hier vor allem an der Vervollkommnung schönen, expressiven Klangs gearbeitet wird. Obwohl es auch kontrapunktische Abschnitte gibt (etwa die zweistimmige Fuge zu Beginn der Étude-Caprice Nr. 12 b-moll), liegt hier der Fokus – anders als bei den Solo-Violinwerken von Max Reger – eindeutig auf Schönklang. Und der gelingt Nazrin Rashidova wirklich bewundernswert. Zudem darf sie hier auf genau der Stradivari spielen, die selbst einmal Sauret gehörte und heute seinen Namen trägt. Einzeln für sich genommen sind Saurets Etüden auch musikalisch durchaus zwingend, aber die häufige Sequenzierung eines Motivs bzw. einer Spielfigur immer gleich durch alle Violinregister kann deren Übungscharakter dann doch nicht wirklich verbergen. Abgesehen von der Tatsache, dass es auch einige mehr oder weniger direkte Anspielungen auf berühmte Violinliteratur gibt, verfügt Sauret selten über wirklich eigenständige Ideen. Daran kann auch das Engagement der Solistin (die im Übrigen auch über diesen Zyklus promoviert) nicht viel ändern. Dennoch sind die Études-Caprices eine mehr als willkommene Repertoireergänzung bei den Werken für Sologeige um 1900. Nicht viele Violinisten dürften technisch und musikalisch die den Stücken adäquate Konzentration aufbringen, um hier gleichermaßen zu überzeugen wie Frau Rashidova.

[Martin Blaumeiser, August 2018]

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Endlich wieder da: Stárek in Kaiserslautern

SWR music, EAN: 747313950188 /   Kat.-Nr.: SWR19501CD

Antonín Dvořák – Slawische Tänze Opp. 46 & 72; SWR Rundfunkorchester Kaiserslautern, Jiří Stárek (Leitung)

Das Label des SWR veröffentlichte vor kurzem die ersten Titel einer neuen Low Budget-Serie, bei der man schon für wenige Euro in den Genuss (?) von Aufnahmen der SWR-Orchester und der einstigen SWR-Chefdirigenten kommen kann. Neben den üblichen Verdächtigen (Norrington, Bour, Cambreling, Prêtre) kommen nun auch einige Aufnahmen eines Dirigenten wieder zum Vorschein, der zu den regelmäßigen Gastdirigenten beim SWR Rundfunkorchester Kaiserslautern zählte und einige der besten Einspielungen beim SWR-Label vorlegte: Jiří Stárek.

Ob es nun daran lag, dass Stárek die Ehre zu Teil wurde, sowohl unter Václav Talich als auch unter Karel Ančerl studiert zu haben oder ob es andere Einflüsse gewesen sein mögen: Stárek war jedenfalls ein Vollblut-Könner von Format. Dies beweist kaum eine andere Aufnahme besser, als die Gesamt-Einspielung von Dvořáks wunderbaren Slawischen Tänzen Opp. 46 und 72: Hier stimmt einfach alles. Nicht nur sind die Einsätze des fantastisch spielenden SWR Rundfunkorchesters Kaiserslautern hyper-exakt und „auf den Punkt“, sondern vor allem die Dynbamikbandbreite ist ganz außergewöhnlich. In einem Repertoire, das viele Dirigenten meist eher „so abspulen“, entdeckte Stárek reichlich Dynamikabstufungen und feinste Klangfarben, die im Zusammenwirken eine ungeheure Spannung ausmachen.

Die vorliegende Aufnahme ist eine der allerbesten Einspielungen von Dvořáks Slawinschen Tänzen, die es auf dem Markt gibt, und nun zu einem unverschämt günstigen Preis zu haben. Wer würde da noch lange zögern? Und wer denkt, bei einem einschlägigen tschechischen Label würde er besser fündig, sollte hier zuerst einmal ein Ohr riskieren, denn in der SWR-Einspielung paart sich eine Interpretation, wie man sie auch bei den tschechischen Doyens der Vergangenheit nicht besser findet mit einer atemberaubenden Soundtechnik, die auch höchste Hifi-Ansprüche zufriedenstellt. Es ist das Gesamtpaket, das zählt. Und dieses Gesamtpaket ist in dieser SWR-Aufnahme bemerkenswert gut, ich würde fast sagen: konkurrenzlos gut.

[Grete Catus, August 2018]

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Romeo und Julia – märchenhaft?

Naxos (2CD), LC 05537; EAN: 7 4731335347 7

Sergey Prokofiev: Romeo and Juliet. Complete ballet; Baltimore Symphony Orchestra, Marin Alsop (Leitung)

Nach ihrer Gesamteinspielung aller Symphonien Prokofjews hat die amerikanische Dirigentin Marin Alsop nun das komplette Ballett »Romeo und Julia«, op. 64 mit dem Baltimore Symphony Orchestra für Naxos aufgenommen.

Bei der Studioaufnahme einer Ballettmusik muss man sich als Dirigent fragen, inwieweit man hier realistisches Bühnengeschehen abbilden will, oder ob man alle bei einer Live-Aufführung mit Tänzern nötigen Kompromisse – etwa das Nachgeben bei Hebungen, generell vielleicht zurückhaltendere Tempi – komplett beiseite lässt, und eine quasi „ideale“ Konzertdarbietung anstrebt. Dies wäre ja bei einer Oper so gar nicht denkbar. Beim mittlerweile wohl beliebtesten aller großen Handlungsballette, Prokofjews Romeo und Julia, haben sich die meisten Interpreten für Letzteres entschieden. Die nach wie vor maßstabsetzenden Einspielungen von Lorin Maazel (Cleveland Orchestra, Decca 1973) und Seiji Ozawa (Boston Symphony Orchestra, DG 1986) gehen dabei an die Extreme, die fast filmisch-dramatischen Sequenzen des Balletts (der Kampf und „Mercutio“ im 1. Akt etc.) kommen mit äußerstem Tempodruck daher und vieles klingt auch absichtsvoll rabiat. Marin Alsop versucht, auch diese Abschnitte klanglich sehr ausgewogen zu nehmen, vertraut auf insgesamt etwas ruhigere Tempi. Ihr gelingen gerade bei den lyrischen (Julia-) Stellen herrliche Details; der Tanz der Ritter wirkt geradezu grotesk steif und charakterisiert die Bühnensituation umso treffender. Insgesamt gleicht Alsops Darbietung jedoch einem großen Märchentableau, also eher indirekt erzählter Prosa als direkt zupackender Bühnendramatik. Über 144 Minuten geht dieses Konzept aber dann nicht auf: Alsops Detailverliebtheit lässt das Stück in viele, kleine Einzelepisoden zerfallen, die großen dramatischen Entwicklungen bleiben klebrig. Ihr untrügliches Verständnis für Prokofjews typische Harmonik und seine sehr speziellen Klangkombinationen lässt aber durchgängig aufhorchen. Das Baltimore Symphony Orchestra verfügt über einen edlen Streicherapparat, aber das Blech kann mit den beiden oben genannten Orchestern an Präzision nicht ganz mithalten. Die gute Aufnahmetechnik überzeugt durch natürliche Räumlichkeit, das Schlagwerk ist leicht unterbelichtet. Hier gelingt eine feine, geradezu edle Realisation der Partitur, die aber nicht auf Dauer gefangen nimmt.

[Martin Blaumeiser, August 2018]

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Ein unbewältigter Romantiker – Anton Urspruchs Klavierwerk

Hänssler Classic (3CD), LC 13287; EAN: 8 814881605 4

Anton Urspruch: Complete Piano Works; Ana-Marija Markovina (Piano)

Die in Deutschland aufgewachsene Kroatin Ana-Marija Markovina hat nun bei Hänssler ihre bereits 2010 begonnene Einspielung sämtlicher Klavierwerke des aus Frankfurt stammenden Spätromantikers Anton Urspruch (1850-1907) vollendet.

Ana-Marija Markovina hatte zuletzt mit ihrer Gesamtaufnahme der Klaviermusik von C. Ph. E. Bach (auf 26 CDs!) Furore gemacht. Wahrscheinlich war dadurch das Projekt, das Klavierwerk Anton Urspruchs komplett einzuspielen, liegen geblieben. Die Aufnahmedaten, die Hänssler im Booklet nennt, sind leider irreführend! Die Aufnahmen von knapp zwei der drei CDs sind identisch mit der 2011 bei GENUIN classics (GEN11205) erschienenen Doppel-CD (aufgenommen 2010 in Bielefeld), lediglich der Rest kann – wie hier global angegeben – vom Bayerischen Rundfunk 2016 in Neumarkt (i.d. Opf.) produziert worden sein.

Urspruchs zu Lebzeiten hochgeschätztes Soloklavierwerk besteht lediglich aus sechs Opusnummern, die Einzelstücke daraus haben aber teils beachtliche Längen. Seine musikalische Ausbildung erhielt Urspruch bei Joachim Raff, später war er einer der Lieblingsschüler Franz Liszts. Stilistisch hingegen knüpft er mit einer gewissen Phantastik vor allem direkt an Schumann an – und der meist recht vertrackte Klaviersatz ähnelt weit mehr dem von Brahms als dem Liszts. Frau Markovinas Herangehensweise wird allerdings den Ansprüchen nur wenig gerecht. Zwar schreibt Urspruch über erstaunlich weite Strecken f – ff vor; Markovina tappt aber hier in die Falle und gerät regelmäßig in recht undifferenziertes, pedalbetontes Gewummere. Die zugegebenermaßen bei solchen Passagen an der Grenze der Ausführbarkeit stehende Kontrapunktik wird zwar angedeutet; aber um wirklich klar zu werden, fehlt es an konsequenter Artikulation im Detail und vor allem stören teils sehr willkürliche Temposchwankungen. Schumanns romantische Visionskraft in Kombination mit Brahmsscher Faktur scheint die Pianistin schon auf technischer Ebene zu überfordern. Da, wo Urspruchs Musik tatsächlich gefährlich an die Grenze des „Ausflippens“ gerät – was durchaus wagemutig und interessant sein könnte –, erklingt sie in Markovinas Darbietung häufig unverständlich, so z.B. im fünften der musikalisch ergiebigen Fantasiestücke op. 2. Diese Musik steht zwar irgendwo zwischen allen Stühlen, aber ihre klare Form und emotionale Stringenz benötigte eher eine hochvirtuose, aber von nüchterner Präzision geprägte Gestaltungskraft etwa eines Swjatoslaw Richter. So wirkt sie hier stellenweise leider nur etwas überdreht bis verrückt. Rein lyrische Passagen und die kleinteiligen Deutschen Tänze op. 7 gelingen Markovina überzeugender – aber das ist nur eine Facette dieses vielschichtigen Spätromantikers. Neugierig machen kann diese Edition schon – ihren Meister muss Urspruchs Klaviermusik aber erst noch finden.

[Martin Blaumeiser, August 2018]

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Drei Mal gegen den Strich

Cracked Anegg records, crack0066; EAN: 9 120016 850749

„Trillium“ heißt das neue Jazz-Projekt, das drei einzigartig-individuelle Künstler zusammenführt: den Gitarristen Gerard Guse, die Bassistin Gina Schwarz und den Schlagzeuger Ramon Lopez. Bei Cracked Anegg Records erschien nun ihre erste CD, in der sie ihren Sound in elf Tracks ausleben.

Ein Trio mit Gitarre, Bass und Schlagzeug bietet einerseits zahlreiche klangliche Möglichkeiten, lässt den Wechsel zwischen akustischen und elektronischen Elementen zu und verleiht dem Bass eine besonders wichtige Rolle, da er keine harmonische oder melodische Unterstützung eines Klaviers bekommt. Sowohl Gitarre als auch Bass erreichen hohe Lagen, können aber auch gemeinsam die Tiefe erforschen. Und andererseits ist der Klang solch eines Trios nackt, denn keines der Instrumente kann ohne elektronische Mittel die Töne länger halten, als die Saiten schwingen. Keine Bläser oder Streicher schmücken die Musiker aus, was ihnen schnelle Reaktion und flexible Gestaltung der melodischen und harmonischen Strukturen abverlangt. Ausgefeiltes Wechselspiel und ein Miteinander in jeder Hinsicht sind erforderlich, um auf einem Gitarre-Bass-Schlagzeug-Trio etwas „Vollständiges“ erwachsen zu lassen.

Als Initiator des Projekts „Trillium“ gilt der deutsche Jazzpianist Joachim Kühn, den der Schlagzeuger Ramon Lopez in Ibiza besuchte. Dies veranlasste Kühn, eine Session in seinem Studio zu organisieren, wozu er den Gitarristen Gerard Guse hinzuholte. Begeistert von diesem Sound kam ihm die Idee, Gina Schwarz hinzuzuholen und zu sehen, wie die drei harmonieren – und wurde von ihr und der Konstellation als Trio überzeugt.

Heraus kam ein Album, das vor Eigenheit und Individualität nur so strotzt: Die drei Musiker wagen, um zu gewinnen. Wendig wechselt das Trio zwischen den Abschnitten, schwenkt von gefundenem Groove und nachvollziehbaren Melodien plötzlich um zu freien und klangbasierten Sphären, lässt es dabei für den Hörer offen, ob sie wieder zurückkehren, oder ob die Reise sie ganz wo anders hin führen wird. Allgemein wird die Musik von Freiheit und Ungebundenheit – wenn nicht sogar von Unbekümmertheit – charakterisiert. Doch gleich, wohin die Musik die drei gerade bringt, sie agieren stets als Einheit zusammen und ergänzen einander vollkommen. Viele Passagen leben mehr von erwirkten Zuständen denn von musikalischem Fortgang und teils fehlt mir ein identifizierbares melodisches Gerüst oder eine hörbare Struktur; das Risiko dazu ist bei so viel Eigensinn nachvollziehbar. Dafür belohnen Guse, Schwarz und Lopez den Hörer über lange Strecken mit unerhörter Musik, die gegen den Strich geht.

[Oliver Fraenzke, Juli 2018]

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Was die Welt jetzt braucht

Muse Alliance, MA 008; EAN: 4 260164 630176

What the world needs now; Ensemble Sarband; Joel Frederiksen (Bass, Laute, Arciliuto), Rebal Alkhodari (Tenor, Ud), Vladimir Ivanoff (Perkussion, Ud), Mohamad Fityan (Nay, Kawala)

Auf ihrer bei Muse Alliance erschienen CD „What the world needs now“ präsentiert das Ensemble Sarband Lieder aus den arabischen Ländern, Amerika, England und den sephardischen Regionen sowie neue Kompositionen. Die Zusammenstellung verfolgt das Ziel einer länderübergreifenden Verständigung und eines Miteinanders der Kulturen. Vladimir Ivanoff leitet das Projekt künstlerisch und wirkt an Perkussion und Ud, Joel Frederiksen singt Bass, spielt dazu Laute und Arciliuto, Rebal Alkhodari hören wir als Tenor und Ud-Spieler und Mohamad Fityan hören wir an Nay und Kawala.

Crossover-Projekte erscheinen in den letzten Jahren gehäuft auf dem Markt, die Mischung von Musik aus unterschiedlichen Kulturen und Religionen erfreut sich großer Beliebtheit bei den Hörern. Ein Großteil dieser Zusammenstellungen wirkt recht beliebig und uninspiriert zusammengebastelt, ist hauptsächlich auf die Resonanz beim Käufer ausgelegt.

Das Ensemble Sarband gehört nicht zu diesen: Vom ersten Ton an verspürt man eine andere Antriebskraft hinter dem Projekt. Die vier Musiker gehen mit innbrünstiger Leidenschaft und Hingabe an die von ihnen gespielten Stücke heran. Sie hören nicht nur bewusst aufeinander, sondern versuchen, die Vorzüge der anderen in ihr eigenes Spiel zu integrieren. Der Austausch steht im Vordergrund: Die Werke stammen aus unterschiedlichen Epochen, Ländern und Kulturkreisen, wären ohne dieses Projekt vermutlich nie aneinandergeraten. Die Auswahl wurde nicht willkürlich getroffen, sondern verfolgt eine innere Logik; die Musiker brachten Werke aus ihren jeweiligen Heimatländern oder Interessensgebieten mit und teilten sie mit den anderen – sie arbeiteten gemeinsam an der Musik, so dass jeder seine eigene Note mit hinein brachte.

Die Instrumentation ist mit Du, Arciliuto, Laute und Schlagwerk archaisch, der Klang verpflichtet sich einer historischen Vorstellung, die allerdingt nicht erdacht , sondern erfühlt und damit frisch und unverbraucht – aktualisiert – erscheint. Die menschliche Stimme steht über weite Strecken im Vordergrund: Joel Frederiksen hören wir als hinreißenden Bass mit markantem, voluminösem Timbre; Rebal Alkhodaris Tenorstimme geht über den tonalen Rahmen hinaus in die mikrotonalen Ornamente arabischer Musik. Die Gegenüberstellung dieser beiden Stimmen bezaubert, das Reine und Tiefe der christlichen Musik im Wechsel mit der expressiven und strahlenden Stimmwelt des muslimisch-orientalischen Gesangs.

[Oliver Fraenzke, Juli 2018]

Stilpalette

Ars Produktion Schumacher, ARS 38 248; EAN: 4 260052 382486

Christian Erny plays Arthur Lourié piano works

Christian Erny spielt ausgewählte Klavierwerke des aus Russland stammenden Komponisten Arthur Lourié. Auf dem Programm stehen die Cinq Préludes fragiles op. 1, Deux Estampes op. 2, Valse, Intermezzo, Petite Suite en Fa, Gigue, Nocturne und Lullaby.

Das Leben Arthur Louriés war durchsetzt von Misserfolgen und Neuanfängen, von stetigem Wandel. Von Russland über Deutschland und Frankreich verschlug es Lourié bis in die USA, wo er resigniert starb; begleitet wird diese Reise von einer Palette an Stilbrüchen und -änderungen, als Komponist wagte er sich an immer neuere Ausdrucksmittel.

Seine ersten Werke beziehen sich hauptsächlich auf die Musik Frankreichs um die Jahrhundertwende, nur bedingt schweben Anklänge der russischen Spätromantik mit. Als früher Glücksgriff erweist sich sein Opus 1, fünf fragile Präludien, die auf geringem Raum prächtige Farben und innige Gefühle offenbaren. Die Deux Estampes op. 2 fahren im Kielwasser Debussys, sowohl die Titel als auch die Musik verbeugen sich vor dem stillen Revolutionär. Sie setzen sich aus typischen Elementen und Harmonien von Debussys Musik zusammen, die Lourié lose zusammenkittete. Werke aus Louriés Berliner Zeit zeigen Anklänge an Stawinskys Neoklassizismus, was sich nicht zuletzt auf eine persönliche Verbindung der beiden Komponisten zurückführen lässt. Größeres Format besitzen Nocturne und Intermezzo, beide 1928 komponiert; hier wendet sich Lourié neuen Ausdrucksformen zu, ein aufkeimender Personalstil scheint durch, den Verbitterung und rückwärtsgewandte Nostalgie auszeichnet.

Die Stärke Christian Ernys liegt auf dem Feld des Momentzaubers, durch seinen flüchtig-weichen Anschlag schafft er eine zarte, schwelgende Atmosphäre. Die Vergänglichkeit schwingt mit, was den Hörer anregt, aktiv mitzuerleben. Während ich bei seinen Aufnahmen als Dirigent das Gefühl bekam, der Chorklang halte in der Harmonie und im Übergang der Klanggebilde nicht zusammen, stimmt Erny am Klavier die Intervalle ab, so dass jeder Ton hervorklingt. Weiterforschen könnte Erny noch am Zusammenhalt der Struktur: Er bemüht sich kaum, die längeren Werke als Einheit zu verstehen, belässt sie in ihrer losen Gestalt. Hierdurch verfallen gerade die Estampes in Einzelteile, denen der Bezug zueinander fehlt, aber auch die Nocturne und das Intermezzo

[Oliver Fraenzke, Juli 2018]

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Die Flöte im Dialog

TYX Art, TXA 18113; EAN: 4 250702 801139 

Robert Gloslot: Chamber Music; Peter Verhoyen (Flöte, Piccolo), Dimitri Mestdag (Oboe, Englisch Horn), Geert Baeckelandt, Marija Pavlovic (Klarinette), Pieter Nuytten (Fagott), Ann-Sofie Vande Ginste, Gudrun Verbanck (Violine), Bieke Jacobus (Bratsche), Lieselot Watté (Cello), Eliz Erkalp (Horn), Roel Avonds (Bassposaune), Eline Gloslot (Harfe) und Stefan De Schepper (Klavier).

Kammermusik des 1951 geborenen Belgiers Robert Groslot hören wir auf der neuen Erscheinung aus dem Hause TYX Art. Auf dieser CD befinden sich die Stücke: Poème secret, Confused Conversations, Hibernaculum, The Green Duck, The Phoenician Sailor und Statement, Reflection and Conclusion. Die ausführenden Musiker sind Peter Verhoyen (Flöte, Piccolo), Dimitri Mestdag (Oboe, Englisch Horn), Geert Baeckelandt, Marija Pavlovic (Klarinette), Pieter Nuytten (Fagott), Ann-Sofie Vande Ginste, Gudrun Verbanck (Violine), Bieke Jacobus (Bratsche), Lieselot Watté (Cello), Eliz Erkalp (Horn), Roel Avonds (Bassposaune), Eline Gloslot (Harfe) und Stefan De Schepper (Klavier).

In meiner letzten Rezension kritisierte ich, Robert Groslots Werke hätten nicht immer einen konkreten Zusammenhang und fielen gerade in großen Formen auseinander. Nachdem ich nun mehr von der Musik des Belgiers gehört habe, muss ich dieses Urteil nur revidieren und den Schöpfer als ernstzunehmenden wie begabten Komponisten bezeichnen. Es hat etwas Zeit gebraucht, die Musik dieses Komponisten zu verstehen und ihre Qualität zu erkennen. Gloslot schreibt in einem eigenständigen, vielseitigen Stil, der sich größtenteils noch in tonalen Sphären aufhält, sie allerdings auch ausweitet und ihre Grenzen erforscht. Dabei versteht er, die Instrumente geschickt und dankbar einzusetzen, ihre Charakteristika herauszuarbeiten. Formell ist Gloslot ein Neuerer, dem man sich unbefangen nähern muss, um hinter sein Prinzip zu kommen: Er verwendet keine traditionellen Formmodelle, wirft aber die Bausteine seiner Musik auch nicht wahllos auf das Papier; Robert Gloslot entwickelt seine Musik aus dem Prinzip der Konversation, beinahe auf sprachlicher Ebene. Die Wechselwirkung der verschiedenen Instrumente oder von eigenständigen Ebenen einer einzelnen Stimme bringt die Musik voran und entwickelt sie auf eine natürliche, da zutiefst menschliche, Weise. Dabei geht der Komponist über die allgemeine Konversation heraus, erschließt immer neue Wege der Kommunikation, wie sie auch in seinen Titeln oft zu finden sind. The Phoenician Sailor ist ein Musterbeispiel dieses Prinzips, hier agieren die Instrumente teils gegen-, teils miteinander, unterbrechen sich, vervollständigen die Phrasen der anderen, kämpfen gegeneinander an, zweifeln aneinander und versöhnen sich.

Dreizehn Musiker sind auf dieser Einspielung zu hören und sie alle überzeugen durch feines und reflektiertes Spiel. Es gelingt ihnen, auf musikalische Weise miteinander zu kommunizieren und lebhaft herüberzubringen, was Gloslot intendiert. Herauszuheben ist Peter Verhoyen an der Flöte, welche das Hauptinstrument aller hier zu hörenden Stücke ist: Mühelos bewegt er sich durch die virtuosen Passagen und brilliert durch klaren Rhythmus. Als Solist wie auch in den Kammermusikkonstellationen überragt er, gliedert sich in jede Besetzung ein und schafft ein reibungsloses Miteinander aller Beteiligten.

[Oliver Fraenzke, Juli 2018]

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