Archiv für den Monat: August 2016

Auf verwachsenem Pfade im Streichergewand

Leoš Janáček
Streichquartette Nr. 1 Kreutzer-Sonate’ und Nr. 2 ‚Intime Briefe’, Streichquartette des Klavierzyklus ‚Auf verwachsenem Pfade’ (Buch 1) von Jarmil Burghauser
Quartetto Energie Nove (Hans Liviabella, Barbara Ciannamea, Ivan Vukcevic, Felix Vogelsang)
Dynamic CDS 7708 (EAN: 8007144077082)

Das seit 2008 bestehende Schweizer Quartetto Energie Nove hat 2013/14 in Lugano für Radio Svizzeria Italiana die beiden Streichquartette von Leoš Janáček aufgenommen. Man kann die Noten zusammen spielen. Mehr ist nach dem Anhören eigentlich kaum darüber zu sagen, es sei denn, ich wollte auf die Mängel eingehen, die z. B. in unsanglicher Schwerfälligkeit der Phrasierung, der Abwesenheit vorausschauender Gestaltung und seltsamem Auf-der-Stelle-Treten in den rhapsodischen und mit abrupten Einwürfen operierenden Abschnitten bestehen. Diese Quartette sind zu großartig, auch zu schwierig, und definitiv schon zu oft auf viel höherem Niveau gespielt worden (ich denke jetzt nur mal an das Smetana- oder das Janáček-Quartett, aber gerne auch in diesem Zusammenhang an die jungen Wilden des einstigen Helsinki-Quartetts), als dass es dieser Neuaufnahme bedurft hätte, und da hilft es auch nicht weiter, dass die Einspielung aufgrund der originalen Manuskripte erfolgte, was eigentlich sehr hilfreich sein müsste, denn die Interpretationen dieser Quellen können wie so oft bei Janáček, wo manchmal kaum zu entscheiden ist, ob etwas doppelt so schnell oder doppelt so langsam sein soll, aufgrund bestimmter Uneindeutigkeiten der Notationsweise sehr unterschiedlich ausfallen.

Das Spannende an dieser Aufnahme ist die Ersteinspielung des berühmten Klavierzyklus ‚Auf verwachsenem Pfade’ in der Fassung für Streichquartett vom bekannten Janáček-Forscher Jarmil Burghauser (1921-97). Allein deswegen lohnt es sich für alle Interessierten sowohl an Janácek als auch an wertvoller Quartettliteratur. Ich finde, dass man den Zyklus nicht als Ganzes spielen muss im Konzert, eine Auswahl kann da viel schlüssiger sein, etwa die in diesem Arrangement besonders fesselnden Stücke ‚Die Madonna von Frydek’, ‚Sie plapperten wie Schwalben’,  ‚So unsagbar bange’ oder ‚Das Käuzchen ist nicht davongeflogen’, aber auch die meditativen ‚Gute Nacht!’ oder ‚In Tränen’. Burghausers Bearbeitung funktioniert wunderbar, und hier ist auch die Ausführung dem Gegenstand überwiegend etwas angemessener, was mit den geringeren gestalterischen Anforderungen der Miniaturformate zu tun hat. Also bitte, das ist auch etwas für andere Formationen!

Es seit hinzugefügt, dass die recht grobe Aufnahmetechnik den Musikern nicht zum Vorteil gereicht, wogegen der Begleittext vom ausgewiesenen Kenner Miloš Štědroň wie nicht anders zu erwarten tadellos ist.

[Annabelle Leskov, August 2016]

Heimeliges Amerikabild

Kevin Puts
2. Symphonie (2002), Rivers Rush (2004), Flötenkonzert (2013/14)
Adam Walker, Flöte
Peabody Symphony Orchestra
Marin Alsop
Naxos 8.559794 (EAN: 636943979426)

Eine neue CD mit Orchesterwerken von dem 1972 in St. Louis geborenen und an der Eastman School in Rochester ausgebildeten Kevin Puts – nachdem unlängst schon eine andere Orchester-CD von ihm bei harmonia mundi erschienen ist: hier scheint sich eine neue Hoffnung der Tonträger-Industrie auf mehr Breitenwirkung zeitgenössischer Musik zu artikulieren. Nicht verstaändlich ist, warum in der Biographie des Komponisten so bedeutende Lehrer wie Christopher Rouse, William Bolcom, Jacob Druckman oder Samuel Adler verschwiegen werden – als käme der neue Hoffnungsträger aus dem jungfräulichen Nichts daher… Puts schreibt wohlklingend, absolut verbindlich, freundlich, eingängig, eigentlich sehr naiv. Die entscheidende Frage ist: Hat es auch Substanz? Und die ist mit Einschränkung zu beantworten. Das Orchesterspiel ist bestechend, und das erstaunt nun wirklich in dieser makellosen Qualität bei einem studentischen Klangkörper. Und Marin Alsop beherrscht die Sache routiniert, wobei mehr Empfindung für die modulatorischen Subtilitäten, und der Ausdruck dessen, das Ganze spannender erscheinen lassen würde. Aber sie ist eben auch eine Maestra, die sich mit Perfektion, Schönklang, guten Effekten und dem Umsetzen des vital Rhythmischen zufrieden gibt. Ausgezeichnet und reich nuancierend, auch sanglich spielt der Flötensolist Adam Walker. Die Aufnahmetechnik ist brillant und ausgewogen, der Booklettext authentisch, da vom Komponisten.

Nun zur Kernangelegenheit, zu Puts’ Musik selbst. Die Zweite Symphonie ist seine Reflektion des anlässlich des Desasters von 9/11 Erlebten. In idyllisch vor sich wabernde Unbedarftheit, in der Art einer Prärieimpression, bricht via einer Geigensolo-Überleitung das Verhängnis herein. Man merkt, dass er nicht dabei war und in Klängen derlei nicht adäquat wiedergeben kann. Wie auch? Dazu bräuchte es entwickelnde Qualitäten, die im musikalischen Material potenziell begründet sein müssten. Stattdessen schlägt dann eben die Fröhlichkeit in Melancholie um, um am Ende wieder – jawohl – Hoffnungsschimmer hervortreten zu lassen. Besser wüssten wir nichts über den katastrophischen Hintergrund, dann wären es einfach 20 Minuten hübsche Musik.

Besser gelungen, auch weit dramatischer und folgerichtiger, ist die 10minütige Tondichtung ‚River’s Rush’, die ein wenig von der inneren Bewegtheit kündet, die Puts beim Anblick des Mississippi erfasst.

Zum Schluss gibt es ein unlängst entstandenes, kammerorchestral besetztes Flötenkonzert, dessen Außensätze dem Flötisten gute Gelegenheit geben, solistische Qualitäten zu zelebrieren. Das zentrale Andante ist in freier Fantasieweise über dem berühmten, schwebend-schwingenden Mittelsatz von Mozarts C-Dur-Klavierkonzert KV 467 gebaut – sozusagen, angemessen postmodern gesprochen, eine so gefällige wie fein ausgearbeitete ‚Elvira Madigan-Hommage’. Der Bezug ist so offenkundig, dass es keines Kommentars bedurft hätte, die Entwicklung natürlich nicht bezwingend wie beim großen Vorbild, aber immerhin recht vornehm unterhaltend. Da ist beispielsweise der viel minimalistischere, geheimnisraunende Mittelsatz seines neobarock gerahmten Konzerts für Oboe und Streicher weit faszinierender. Fazit: gut gemachte Hintergrundmusik, die das positive Amerika, wie es gerne erscheinen würde, als äußerlich wohltuende Heimeligkeit all jenen vermitteln darf, die gerne etwas Unproblematisches hören, das einen komfortabel abgefederte, zärtlich umschmeichelnde Langatmigkeit verbreitet. Und ein womöglich therapietaugliches Genussmittel, das die Unschuld der Welt wieder herstellen möchte. Spannung oder Herausforderung im musikalischen Sinne ist hier kein Thema. Relax, friends, nothing really happens…

[Annabelle Leskov, August 2016]

Zwei erstaunliche Symphonien eines Filmkomponisten

Naxos, LC 05537, 8.571371; EAN: 7 47313 13717 6

Der gebürtige Rumäne Francis Chagrin war ab 1936 in Großbritannien vor allem als Filmkomponist aktiv, hinterließ aber für das Konzertrepertoire u.a. die beiden hier als CD-Ersteinspielung vorliegenden Symphonien. Mit dem BBC Symphony Orchestra unter Martyn Brabbins kann Naxos mit einem Spitzenensemble aufwarten, das den Werken in jeder Hinsicht gerecht wird.

Der vor allem durch ein sehr umfangreiches Schaffen für Film und Fernsehen – etwa zur seinerzeit in England sehr populären Nazi-Widerstands-Komödie The Colditz Story (1955) – bekannte Komponist Francis Chagrin entstammte einer wohlhabenden jüdischen Familie aus Bukarest, wo er 1905 als Alexander Paucker geboren wurde. Nach einem Ingenieurstudium in Zürich und erster musikalischer Ausbildung am dortigen Konservatorium ging er ab 1933 nach Paris, wo er u.a. von Paul Dukas und Nadia Boulanger unterrichtet wurde. Schon hier verdiente er sein Geld als Barpianist und mit kleineren Aufträgen für den Film. Nach einer missglückten Ehe und dem Zerwürfnis mit seiner Familie (Enterbung) nahm er den neuen französischen Namen an. Ab 1936 übersiedelte er schließlich nach England, wo er bei Matyas Seiber studierte und den Rest seines Lebens wirkte. Er arbeitete in verschiedenen Positionen für die BBC und setzte sich als Mitgründer der Society for the Promotion of New Music (SPNM) für die Aufführung zeitgenössischer Musik ein.

Man darf davon ausgehen, dass für einen überwiegend mit mehr oder weniger kommerzieller Musik befassten Komponisten das Schreiben von Symphonien sicher so etwas wie die Kür darstellt. Das mag wohl erklären, dass sich die Entstehung von Chagrins Symphonie Nr. 1 über den langen Zeitraum von 1946-1959 hinzog (nochmals revidiert 1965). Das tut der erstaunlichen Einheit des Werkes allerdings keinen Abbruch. Formal entspricht die erste – wie auch die zweite – Symphonie dem traditionellen viersätzigen Schema, wie man es seit der Wiener Klassik gewohnt ist. Besonderes Merkmal in der Symphonie Nr. 1 ist jedoch, dass alle Sätze in der Mitte durch einen, auch im Tempo stark kontrastierenden Teil gebrochen werden So bricht etwa in den 2. Satz, Largo, ein kurzes Allegro ein. Harmonisch ist schon in diesem Werk interessant, dass trotz unzweifelhafter Tonalität – als Haupttonart lässt sich doch so etwas wie G-Dur ausmachen – gleichzeitig eine hyperchromatische Hüllkurve für das Klangbild angestrebt wird, die alle zwölf Töne möglichst präsent hält. Dies geschieht sogleich in der Largo-Einleitung des Kopfsatzes, wo ein Zwölftonakkord aufgebaut wird, bevor das Allegro-Thema erscheint. Dieses ist einheitsstiftend für die gesamte Symphonie, deren Themen sich nicht nur rhythmisch in Partikeln darauf beziehen lassen. Auch lässt sich das Werk als Bogenform deuten: So taucht zum Ende des Finalsatzes erneut das Material der oben beschriebenen Einleitung auf, und der Zwölftonakkord wird dann in dessen Coda analog schrittweise abgebaut.

Ähnlich einheitsstiftende Elemente harmonischer wie texturaler Natur finden sich noch stärker in der Symphonie Nr. 2 (1965-71). So verwendet Chagrin hier eine Reihe von Sechstonakkorden, die paarweise alle 12 chromatischen Halbtöne enthalten, aber immer auch derart auseinandergepflückt werden, dass klare Dur- bzw. Mollakkorde bzw. übermäßige Dreiklänge hörbar werden. Dies erklingt dann für den Hörer – auch dank Chagrins wirklich phänomenaler Instrumentationskunst – in der Regel als gut nachvollziehbare Bitonalität, die sich aber kaum reibt oder unangenehm aufdrängt, sondern quasi perspektivisch auffächert. Besonders gelungen erscheint dies in den fast monumentalen choralartigen Passagen im IV. Satz Andante.

Was bleibt nun bei diesen Werken wirklich hängen? Chagrin hat unzweifelhaft die Fähigkeit, Kontraste gut heraus zu arbeiten und damit dem Verlauf eines Symphoniesatzes dramatisches Gewicht zu verleihen. Bei der Verarbeitung der Themen überzeugt vor allem rhythmisches und kontrapunktisches Raffinement. Die erste Symphonie ist dennoch etwas akademisch dem Neoklassizismus verpflichtet – was bei einem Schüler Nadia Boulangers allerdings nicht verwundert; man vergleiche etwa die frühe Symphonie Elliott Carters. Im Scherzo (III. Satz. Presto scherzando) finden wir dauernde Taktwechsel, die möglicherweise durch rumänische Volksmusik inspiriert sind, allerdings auch als Antwort auf Boris Blachers Idee der variablen Metren interpretiert werden könnten. Gleiches findet sich z.B. auch im Scherzo (II. Satz) von Hans Werner Henzes 2. Sinfonie (1949). Schwächer ist allerdings bereits die Themenbildung an sich. Hier ist Chagrin wenig individuell; das Streben nach Chromatik verhindert melodische Einfälle, die wiedererkennbaren Charakter haben. Tatsächlich erinnert etwa das prägnante Trompetenmotiv (nach Buchstabe B) im Kopfsatz der Symphonie Nr. 1 sofort an das Hauptmotiv von William Waltons 1. Symphonie b-moll (1932-35) – oder ist das gar als Hommage gedacht? So erweisen sich überhaupt die Ecksätze beider Symphonien trotz des darin gezeigten handwerklichen Könnens als zwar spannend, aber durchaus nichts Neues oder etwas, das durch eine wirklich persönliche Handschrift aufmerken lässt. Stärker sind die Mittelsätze: Die langsamen Sätze bauen Atmosphäre auf und die melodischen Einfälle entwickeln Eigenleben – und hier bleibt Chagrin seiner nie verlorenen Affinität zur französischen Musik treu. Die Scherzi beider Symphonien überzeugen durch unwiderstehlichen Rhythmus und Schwung. Trotz der Einwände: Mit den Symphonien anderer Filmkomponisten – für die britische Musik seien da natürlich vor allem William Alwyn und Malcolm Arnold genannt – kann Chagrin locker mithalten.

Beide Symphonien erscheinen bei Naxos als Ersteinspielung auf CD. Für die Symphonie Nr. 2 existiert bei der BBC eine alte Aufnahme des Bournemouth Symphony Orchestra unter Leitung des Komponisten, die aber nie auf Tonträgern erschien. Hier zeigt sich das BBC Symphony Orchestra unter Martyn Brabbins natürlich klar überlegen. Brabbins hat sich ja mittlerweile in mehr als hundert Einspielungen um britisches Randrepertoire besonders verdient gemacht. Klanglich wie interpretatorisch lässt diese Aufnahme vom November 2014 keine Wünsche offen. Die Schönheiten von Chagrins Orchestrierungskunst kommen ebenso zur Geltung wie die lyrischen Momente in den langsamen Sätzen und die Dramatik der Ecksätze mit all ihren Brüchen. Die Aufnahmetechnik sorgt für extreme Durchsichtigkeit und die erforderliche Dynamik ist stets vorhanden – leider heute auch bei Digitalaufnahmen keine Selbstverständlichkeit mehr. Überhaupt zeigt sich beim BBC Symphony Orchestra einmal mehr, wie gut nach wie vor unter der Obhut eines öffentlich-rechtlichen Rundfunks ein Spitzenorchester auf Weltklasseniveau reifen und dieses auch halten kann; hier gilt dies ganz besonders im Vergleich mit den anderen „großen“ Londoner Orchestern. Diese Aufnahme ist für die Freunde von Symphonik jenseits des Mainstreams schon fast ein Muss!

[Martin Blaumeiser, August 2016]

Oberflächlich präsentierte Nebenwerke

Emil Nikolaus von Reznicek
Idyllische Ouvertüre ‚Goldpirol’ (1903), ‚Wie Till Eulenspiegel lebte’ (1900), Konzertstück für Violine und Orchester E-Dur (1918), Präludium und Fuge c-moll für Orchester (1912), Nachtstück für Violine und Kammerorchester (1905)
Sophie Jaffé, Violine (Konzertstück)
Erez Ofer, Violine (Nachtstück)
Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin
Marcus Bosch
cpo 777983-2 (EAN: 761203798322)

Aus dem spätromantischen Umfeld der Kapellmeistermusik, als deren Anführer Richard Strauss und Gustav Mahler herausragen, ist Emil Nikolaus von Reznicek einer der charmantesten, reichsten, humorvollsten. Wie es sich gehört, ist die Orchestration phänomenal, von schwindelerregender Virtuosität, und überhaupt ist die opulente handwerkliche Meisterschaft in allen Belangen staunen machend. Reznicek hat ja mit ‚Schlemihl’, dem ‚Sieger’ oder der f-moll-Symphonie einige wirklich originelle und auch ziemlich substanzielle Werke geschrieben, die wie viele andere bei cpo unter der sehr soliden Leitung von Frank Beermann erschienen sind. Das war insgesamt erfreulich. Bei dieser neuen Folge handelt es sich – außer dem recht umfangreichen Konzertstück – um Nebenwerke, die ungefähr so wichtig sind wie die Handgelenksübungen von Richard Strauss – also gekonnt, gewitzt, um keinen Einfall verlegen, immer geeignet, um die Sammlung zu ergänzen, und eben auch unwesentlich. Nicht alles, was ein Meister schreibt, muss vom Genie der Ewigkeit durchdrungen sein. Aber man könnte seine ungetrübte Freude damit haben, wenn die Ausführung dies ermöglichte. Doch genau da wäre zumindest die gelb-rote Karte zu zücken!

Natürlich können heutige Rundfunk-Orchester das alles, auch wenn es so kapriziös hin- und hergeht und schelmisch irrlichtert wie es eben typisch für Reznicek ist, doch bleibt der Eindruck dann auch fast ausschließlich an der Noten-Oberfläche. Marcus Bosch dirigiert flott, flott, durchaus routiniert. Zu sagen hat er – nichts. Und die Solistin Sophie Jaffé ist im dreiteilig angelegten Konzertstück nicht nur über Gebühr hervorgehoben, sondern kann inhaltlich nichts mit der Musik anfangen. So kommen nur Klischee-Eindrücke heraus, und es fehlt sowohl an suggestiver Gestaltung der Linie als auch an Feinheit des Ausdrucks. Da ist Erez Ofer – auch er viel zu sehr in den Vordergrund gerückt – im Nachtstück, das wie der langsame Satz einer Serenade anmutet, nun doch inniger bei der Sache, aber hat er wirklich eine Chance, damit auch das ganze Ensemble aus der Neutralität des kundigen Notenlesens heraus zu bewegen – nicht unter Bosch jedenfalls, der offenkundig unverbindlich bleibt. Die Ouvertüren ‚Goldpirol’ und ‚Wie Till Eulenspiegel lebte’ – letztere eine offenkundige Referenz an den verehrten Meister Strauss, der allerdings zu jener Zeit die Weichen Richtung ‚Salome’ stellte – sind gute, in der Länge dem Gehalt entsprechende Stücke, die eine mitreißendere, den Charakter ausdrücklicher entfaltende Darbietung verdient hätten. Und die eigentümliche ‚Fuge’ gerät unter Boschs Händen ganz mau. Hatte man nur einfach keine Zeit, sich zu vertiefen, oder auch gar kein Bedürfnis?

Die Aufnahmetechnik ist nicht nur hinsichtlich der unprofessionell isolierenden Zurschaustellung der Geigensolisten nicht auf dem erwarteten cpo-Niveau, der gut und übersichtlich informierende Begleittext von Michael Wittmann – der natürlich nicht so pfiffig unterhält wie in den vorangegangenen Folgen Rezniceks ‚alter ego’ Eckhard van den Hoogen – hingegen schon. Nun, was machen wir damit? Stellen wir das routiniert gefertigte Stück ins Sammlerregal und – so wir denn Noten lesen können – sehen uns erst mal nach den Partituren um!

[Annabelle Leskov, August 2016]

[Rezensionen im Vergleich] Vlach: Ein Meister aus Tschechien

Josef Vlach und das Tschechische Kammerorchester
Stanislav Duchoň, Oboe; Ilya Hurník, Klavier; Karel Patras, Harfe

Henry Purcell: Suite aus ‚King Arthur’ für Streicher
Wolfgang Amadeus Mozart: Divertimento D-Dur KV 136, Eine kleine Nachtmusik KV 525, Adagio und Fuge c-moll KV 546
Pjotr Tschaikowsky: Andante cantabile aus dem 1. Streichquartett op. 11, Serenade C-Dur op. 48
Antonín Dvořák: Serenade E-Dur op. 22, Tschechische Suite op. 39
Claude Debussy: Danse sacrée et danse profane
Josef Suk: Serenade Es-Dur op. 6
Ottorino Respighi: Gli Uccelli
Igor Strawinsky: Apollon musagète
Benjamin Britten: Variations on a Theme of Frank Bridge op. 10
Jiří Pauer: Symphonie für Streicher (1978)
Ilya Hurník: Konzert für Oboe, Klavier und Streichorchester (1954/59)

Supraphon SU 4203-2 (4 CD-Box) (EAN: 099925420321)

Josef Vlach (1923-88) gilt den traditionsbewussten tschechischen Musikern als der legitime Fortführer einer authentischen Linie, die sich von Antonín Dvořák, Josef Suk und Václav Talich als seinem direkten Vorläufer bis heute zu Jiří Bělohlávek (heute Chefdirigent der Tschechischen Philharmonie) und dessen Schüler Jakub Hrůša (der jetzt im Herbst seine Stellung als Chefdirigent der Bamberger Symphoniker antritt) erstreckt. Das kann man hören! War Talich der bis heute bedeutendste Dirigent Tschechiens, so ist Vlach nicht nur in Bezug auf seine verfeinerte natürliche Muskalität der Nachfolger Talichs, er übernahm als hervorragender Geiger auch aus dessen Händen das Tschechische Kammerorchester, das er fortan vom Konzertmeisterpult aus leiten sollte (leider sind keine Mitschnitte des Streicherensembles unter Talich erhalten). Unter Vlach wurde das Tschechische Kammerorchester denn auch zu einem der weltweit anerkannt führenden Streichorchester, vergleichbar den Busch Chamber Players, dem Kammerorchester Edwin Fischers in der Schweiz, dem Niederländischen Kammerorchester unter Szymon Goldberg, der Salzburger Camerata unter Sándor Végh oder später dem finnischen Ostrobothnian Chamber Orchestra unter Juha Kangas – als einer jener unverkennbaren Klangkörper, die von einem herausragenden Künstler geformt und in jeder Hinsicht sowohl zu bestechender Makellosigkeit angehalten wurden als auch eine ganz spezifische Klang- und Ausdruckskultur verkörperten. Was ist typisch für Vlachs Tschechisches Kammerorchester? Der dunkel abgetönte Klang, der zwar die Oberstimmen sich wunderbar entfalten lässt, jedoch immer die Mittel- und Unterstimmen ebenso lebendig mitwirken und zur Geltung kommen lässt – gerade auch die Bratschen und Celli sind ganz wunderbar sowohl hinsichtlich der Gruppenhomogenität als auch der technischen und tonlichen Vollendung: also ein Fundament, das vital trägt und von den Geigengruppen umso höhere Qualität fordert – denn, wenn die Tiefe so sauber und klar ist, hört man umso unvermeidlicher jede Trübung und Unkultiviertheit in der Höhe. Das Ganze hat einen großartig geschlossenen Ausdruck, die Phrasierung jeder Stimme ist so einheitlich, als spielte jeweils ein großes Instrument. Hinzu kommt jene besondere Wärme, Empfindsamkeit und lyrische Leidenschaftlichkeit auch in den verträumtesten und introvertiertesten Episoden, und jene subtil beschwingte Musikanterie, wie sie den Tschechen wie keinem anderen Volk zu eigen ist – eine Süße auch, die etwas herber und viel unschuldiger ist als etwa jene des Wiener Stils. Über allem liegt ein unaussprechlicher Zauber, ein Geheimnis der Beseeltheit, ein wunderbar ausgeglichenes Verhältnis von immerwährendem Gesang und nie ins Mechanische umkippendem noch erlahmenden Rhythmus. Das Schnelle wird nicht hart und hysterisch, das Langsame badet nicht in haltlosen Emotionen – es ist also auch jener Schuss Nüchternheit dabei, der nichts mit sachlicher Kälte zu tun hat (dies beispielsweise eine Gefahr deutscher Ensembles), der aber die durchgehende Orientierung am strukturell Wesentlichen ermöglicht. Auch der Humor bleibt fein, und die Kunst der Übergänge zeugt von großer innerlicher Beweglichkeit und agogischer Flexibilität. Alles Zeichen einer Kultur im Höchststand.

Vlachs Mozart ist kraftvoll, vital, und dabei stets auch transparent, klar artikuliert ohne die auch bei den Wienern so übliche redundante Betonung der schweren Taktzeiten, und die Leichtigkeit ist weniger eine Sache des Klangs an und für sich als der Beweglichkeit der Gestaltung. Ganz großartig ersteht Adagio und Fuge in c-moll, man fühlt sich in die barocke Welt des Introitus und Kyrie aus Mozarts Requiem versetzt. Und auch von der Kleinen Nachtmusik kenne ich keine natürlicher und treffsicherer ausgeführte Aufnahme.

Bei Dvořák und Suk ist man ganz zuhause. Das kann nicht authentischer verstanden werden. Wie bei Dvořák wird es auch bei Tschaikowsky nie billig, langweilig, sentimental oder mechanisch, sondern fesselt mit einer Würde, Grazie und unaufgesetzten Tiefe der Empfindung, wie dies kaum irgendwo der Fall ist. Auch zeigt sich hier endlich einmal wieder, was für einmalige, in einer adäquaten Aufführung unübertreffliche Meisterwerke die beiden berühmten Serenaden von Dvořák und Tschaikowsky sind. So gespielt, wenn eine solche Fülle und Lebenskraft sogar noch auf einer antiquierten Aufnahme rüberkommt, kann man nur bedauern, dass man es nie wieder im Konzert wird hören können!

Henry Purcells King Arthur-Suite werden Verfechter der heute landauf landab eingesickerten ‚historischen Aufführungspraxis’, also einer philologisch aus dem Notenbild und schriftlich überlieferten Berichten und Anleitungen abgeleiteten hypothetischen Herangehensweise, in der hier zu hörenden Art und Weise entschieden ablehnen. Was sie dabei überhören, ist bei allen gewiss vorhandenen Relikten romantischer Tradition die wendige Phrasierung, die sich natürlich nicht in spritziger Kleinteiligkeit verzettelt, sondern stets den Blick aufs Ganze heftet, wie auch die beseelte Sanglichkeit und rhythmische Urkraft, die nicht gestelzt prätentiös von Höckchen zu Stöckchen hüpft, sondern aus dem zugrundeliegenden Momentum schöpft.

Von Ottorino Respighis ‚Gli Uccelli’ habe ich nie auch nur annähernd so zauberhafte und bis ins Zerbrechlichste vitale Aufführung gehört. Man achte zum Beispiel nur einmal darauf, wie unwiderstehlich sich das neobarocke Rustico in ‚La Gallina da Jean-Philippe Rameau’ artikuliert und entfaltet.

Auch Benjamin Brittens kapriziöse Frank Bridge-Variationen und Igor Strawinskys aparte Farben- und Gestenwelt ‚Apollon musagète’ erfahren mustergültig organische, in jedem Moment wunderbar feine und klar charakterzeichnende Darbietungen. Sehr schön auch, wenngleich nicht ganz so am Kern des Idioms, die beiden stilisiert schreitenden Tänze Debussys mit dem Harfensolisten Karel Patras.

Bleiben die beiden tschechischen Meister, die hierzulande heute kaum jemand kennt. Ilya Hurník (1922-2013) erweist sich als musikantischer Architekt eines dissonanzgewürzten, kurzweiligen, dabei aber in klarer Formgebung verankerten Neobarock mit einem spezifisch böhmischen Einschlag, wie wir das – in ornamentisch komplexerer Faktur – auch teilweise von Martinů kennen. Sein Konzert ist viersätzig, mit entschieden kontrastierenden Charakteren, mit einem spielerisch filigranen Element auch bei harter, kurz abgerissener Artikulation, und außer dem ausgezeichneten slowakischen Oboisten Stanislav Duchoň wirkt der Komponist selbst am Klavier mit, was uns natürlich auch ahnen lässt, wie sehr die Musik hier im Sinne des Komponisten erarbeitet wurde. Diese Musik mag nicht groß sein, doch sie bietet mehr als distinguierte Unterhaltung und einprägsame Gesten.

Ein anderes Kaliber freilich noch ist Jiří Pauer (1919-2007), dessen reife Symphonie für Streicher das Zeug hätte, auch heute noch eine effektvolle Bereicherung des Streicherrepertoires zu sein. Pauer knüpft an das Bartók’sche Barbaro an, mit wuchtigen, dissonanzfreudigen Akkordbildungen, sehr zielstrebig angelegten Steigerungen, couragierten Schichtungen und einer die Entwicklungen offenkundig gliedernden, klar formulierten Motivik, die an und für sich die geringste Leistung des Komponisten ist. Es sind eindeutig nicht die etwas unbedeutenden markanten Motive, die die Qualität dieser Musik ausmachen, sondern die Art ihrer Durchführung. Der große langsame Mittelsatz eröffnet eine andere, tragische Einsamkeit auslotende Welt – man kann hier gar an Schostakowitsch denken –, doch der originelle Aufbau beinhaltet einen plötzlichen Scherzo-Ausbruch, dem – zunächst wie ein Trio scheinend – eine äußerst leidenschaftliche, getragene melodische Entfaltung folgt, die sich zu höchster Spannung steigert. Überraschenderweise kehrt das Scherzando nicht wieder, sondern der Abbau der Spannung leitet direkt in das breite Haupttempo über, in welchem das ergreifende Stück endet. Auch im schnellen Schlusssatz sind es erhebliche Tempo- und Strukturkontraste, die unerwartet eintreten und das Werk mit ganz eigenem Leben erfüllen. Darüber sieht man gerne über einige vielleicht allzu oberflächliche Effektfolgen hinweg, die zunächst sehr animierend wirken können, sich jedoch bei öfterem Hören, wenn es nicht so fantastisch gespielt wird wie wir, auch schnell abnutzen könnten. Dieser Einwand gilt aber auch für eine Vielzahl von Musik, die regelmäßig in unseren Konzertsälen zu hören ist. Den Namen Pauer sollte man sich merken, denn es gibt nicht gar so viel Musik auf solchem Niveau in der tschechischen Musik seit Martinů.

Fazit: eine grandiose Box von einem der besten Ensembles in der Geschichte des 20. Jahrhunderts, das mit einer Eindringlichkeit und charakterfesten Unbedingtheit, auch einem ausgesprochen fein geschulten Korrelationsvermögen und höchstkultivierter Abstimmung in allen Bereichen agiert. Jeder Streichorchesterleiter sollte diese Aufnahmen kennen. Auch die klangliche Aufbereitung der Aufnahmen aus den Jahren 1960-81, die davon profitiert, dass diese bereits damals exzellent verwirklicht wurden, ist sehr ansprechend, rund, brillant und natürlich. Und der Booklettext von Petr Kadlec erzählt in sehr anrührender Weise die Geschichte Vlachs und seines Kammerorchesters.

[Christoph Schlüren, August 2016]

[Rezensionen im Vergleich] Wahrhaft legendäre Aufnahmen

Supraphon, SU 4203-2; EAN: 0 99925 42032 1

„Legendary Recordings“ des tschechischen Violinisten und Dirigenten Josef Vlach erschienen nun bei Supraphon. Vier CDs mit Aufnahmen von Antonín Dvořák, Josef Suk, Wolfgang Amadeus Mozart, Pjotr Iljitsch Tschaikowski, Benjamin Britten, Claude Debussy, Ilja Hurník, Jiří Pauer, Henry Purcell, Ottorino Respighi und Igor Strawinsky enthält die Box. Es spielt das Czech Chamber Orchestra, teils unterstützt durch das Prague Chamber Orchestra (Dvořák Op. 39 und Respighi), die Solo-Harfe in Debussys Tänzen übernimmt Karel Patras, in Hurníks Konzert für Oboe, Klavier und Streicher ist Stanislav Duchoň der Solist, Hurník ist selbst am Klavier zu hören.

 

Seinerzeit ein international legendärer Musiker, heute nur Liebhabern ein Begriff: Josef Vlach. Der 1923 geborene Tscheche studierte unter anderem bei Stanislav Novák und arbeitete intensiv mit Václav Talich zusammen, auch nach der Auflösung des damaligen (ersten) Tschechischen Kammerorchesters, welches Talich leitete. 1950 gründete Vlach das Vlach-Quartett, das bis 1957 bestand – aus ihm kristallisierte sich auch ein Kammerorchester heraus, welches nach dem ersten Konzert auf Wunsch Talichs den bis dahin mit ihm verbundenen Namen Tschechisches Kammerorchester annahm. Das Kammerorchester feierte europaweit riesige Erfolge in den 1960er- und 70er-Jahren. Vlach war bei all seinem Perfektionismus mit stundenlangen Proben und intensivster Vorbereitung doch als freundschaftlich-kameradschaftlicher und ruhiger Leiter geschätzt, so dass alle Proben freiwillig und ohne Druck stattfinden konnten (in der Freizeit der anderweitig hauptberuflichen Musiker!). Zwei Sätze Vlachs seien aus dem informativen Booklettext von Petr Kadlec zitiert, um einen Eindruck von seiner Maxime zu gewinnen: „Wir waren jung, nicht vom Professionalismus verdorben, Intrigen und Neid waren uns unbekannt und wir litten nicht unter ungesundem Stolz; wir behandelten einander gleich und fühlen uns alle frei.“; „Der Gemeinschaft zu dienen heißt auf egoistische Selbstgefälligkeit zu verzichten, nicht ich – sondern wir…“.

Beinahe unerhört scheint der Orchesterklang unter Josef Vlach, es herrscht eine durchgehende Wärme und eine spürbar tiefe Liebe zur Musik, eine stetige geistige Präsenz und eine Dichte, die jede Stimme als Individuum aufleben lässt und so ein atmend-pulsierendes Ganzes schafft von einer Qualität, von der man heute meist nur träumen kann. Schnell wird klar, was Vlach damit meinte, nicht vom Professionalismus verdorben zu sein: Es ist absolut keine Routine in den zu hörenden Aufnahmen zu vernehmen, die Musik entsteht frei und ohne jede Art von Mechanisierungen, sie ist im Moment empfunden und gelebt.

Wirklich überrascht war ich vor allem von Mozart (Divertimento in D-Dur KV 136, Adagio und Fuge c-Moll K 546, Eine kleine Nachtmusik KV 525), noch nie durfte ich seine Musik auf eine so durchreflektierte und durcherlebte Weise hören, die eine Frische hat, als würden die Stücke gerade eben das erste Mal das Licht der Welt erblicken. Den flächigen, weichgezeichneten Klang, welcher heute die Rezeption bestimmt, sucht man vergebens, Vlach lässt auch die herben Kontraste hervorscheinen. Gerade im grandiosen Adagio und Fuge c-Moll KV 546 kann er damit den Hörer erschüttern, hier zeigt sich Mozart von seiner progressivsten und wildesten Seite – und Vlach denkt nicht daran, dies zu glätten.

Ein wahres Heimspiel sind selbstverständlich Dvořák und Suk, die in spielerischer Leichtigkeit und mit größter Spielfreude erklingen. Aber auch die modernen Tschechen, die hier zu hören sind, können überzeugen: Ilja Hurník und Jiří Pauer. Wer sich von der idiotischen Diffamierung solcher ‚klassizistischen’ Musik als „Anachronismus“ lösen kann und auch eine definierbare Form und Struktur in moderner Musik akzeptiert, wird hier zwei großartige Komponisten für sich entdecken. Beinahe eine Haydn’sche Beschwingtheit und Leichtigkeit durchzieht das Konzert für Oboe, Klavier und Streichorchester von Hurník, nur wesentlich dichter und komplexer, gerade im Kopfsatz. Der Komponist sitzt selbst am Klavier, welches allerdings nicht solistisch auftritt, Stanislav Duchoň spielt die Oboe. Die Musik Pauers spielt mit Changierungen zwischen grellen Dissonanzen und sanften Entspannungen, immer in einer gewissen Doppelbödigkeit, in der teils durchaus ein beinahe sarkastischer Zug erkennbar ist, fast schon an Schostakowitsch gemahnend.

Wahre Klangmagie prägt die Serenade C-Dur Op. 48 von Tschaikowsky, ein sanfter Schleier verhüllt frei agierende Klanggewalten in gar unschuldig erscheinender Tanz-Geste, desgleichen im Andante cantabile – hier singt es wirklich! – aus dem ersten Streichquartett Op. 11.

In unserer Zeit entsteht immer mehr eine tiefe Kluft zwischen alter und neuer Musik, Hochschulen wie auch die Musikwissenschaft sind in zwei Lager gespalten. Wie wenig Sinn solch eine Trennung ergibt, stellt Vlach unmissverständlich klar, bei Purcell und auch dem historisierenden Respighi (Gli Uccelli, eine Suite für kleines Orchester, die Musik des 17. und 18. Jahrhunderts paraphrasiert) wie bei Britten, Debussy (Karel Patras an der Solo-Harfe) oder Strawinsky. Vlach und sein Orchester teilen die gleiche Liebe für jede Musik, wie das breit aufgestellte Spektrum auch beschaffen sei.

Gesondert über die Streichersolisten zu sprechen, macht in dieser Aufnahme – ebenfalls für heutige Einspielungen undenkbar – wenig Sinn, derart integriert sind sie in den lebendigen Orchesterklang und teilen die selbe Freude und Zuneigung zur Musik mit dem Ensemble.

[Oliver Fraenzke, August 2016]

Hello Again!

László Lajtha
Orchestral Works 1
(Suite pour orchestre, Op. 19; In memoriam, Op. 35; Symphonie Nr. 1, Op. 24)
Pécs Symphony Orchestra
Nicolás Pasquet
Naxos 8.573643; EAN: 747313364374

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Bei Naxos erscheinen gerade Aufnahmen der Orchestermusik des Ungarn László Lajtha in Wiederveröffentlichungen einer Edition, die Mitte der 1990er-Jahre bei Marco Polo erst-erschienen war. Klangqualität und Interpretation sind auch für heutige Begriffe noch exzellent. Die Musik Lajthas stellt einen interessanten Sonderfall der osteuropäischen Musik des 20. Jahrhunderts dar.

Wie schon in früheren Jahren zu beobachten, kommen auch 2016 wieder einige Aufnahmen via Naxos auf den Markt, die in früheren Jahren beim Label Marco Polo erst-erschienen waren. Dazu zählen u.a. einige Spohr-Sinfonien, aber (interessanter vielleicht, weil viele Jahre vergriffen und noch immer außerhalb von Naxos/Marco Polo weitgehend unbeackertes Terrain) Orchesterwerke des Ungarn László Lajtha.

Da kann man mal wieder sehen, wie die Zeiten sich ändern: Als diese Aufnahmen 1996 zum ersten Mal beim Marco Polo-Label erschienen, kannten nur wenige Eingeweihte den Namen des Dirigenten Nicolás Pasquet. Heute hingegen – nach verschiedenen erfolgreich verbrachten und viel beachteten Chefdirigenten-Posten sowie einer Professorenstelle in Weimar – ist Pasquet zumindest im Ostteil Deutschlands eine durchaus prominente Figur. Heute ist allerdings kaum noch bekannt, dass er einst auch das Sinfonieorchester der südungarischen Stadt Pécs leitete (heute als Pannon Philharmonic Orchestra firmierend). Und was dieses Orchester damals für ein verblüffend exzellenter Klangkörper war, das zeigen diese spannenden Aufnahmen der Musik László Lajthas.

Lajtha ist ein Komponist gewesen, dessen Stil man unkonventionell nennen kann. Seine Lebensgeschichte verrät viel über die Musik, die wir hier hören können. Einerseits gehörte Lajtha zur Gruppe der Volksliedsammler um Kodály und Bartók, die die ungarische Folklore als Inspirationsquelle für ihre Kompositionen nutzten, andererseits kam Lajtha schon früh in Kontakt mit dem französischen Impressionismus und dem Expressionismus ebenso.

Zu Lebzeiten war er (wohl auch wegen politischer Belange) kaum als Komponist geläufig, sondern eher als Gelehrter, Professor, zeitweise auch als Rundfunkredakteur. Lajthas neun Symphonien sind aber ein bis zum heutigen Tage seltenes Beispiel für einen produktiven ungarischen Sinfoniker. Ungarn ist ja ein Land, das spätestens seit Liszts Proklamierung des Konzepts der Symphonischen Dichtung (vielleicht verständlicherweise) nur sehr wenige Symphonien im eigentlichen Sinne des Wortes und der Form hervorgebracht hat.

Lajtha ist, das zeigte die damalige Marco Polo-Reihe ganz deutlich, ein spannender, ein hörenswerter Komponist. Man kann ihn sicher nicht als einen der großen Meister einstufen, aber als einen wirklich hörenswerten, guten Komponisten. Und gerade seine Symphonien verraten neben einer unverkennbaren eigenen Tonsprache auch den einen oder anderen Blick in andere Länder des damaligen „Ostblocks“, denn es gibt zumindest vom Höreindruck her manche Parallelen zum sinfonischen Werk von z.B. Prokofjew, Martinů oder Myaskovsky. Erinnerungen kommen zudem an andere ungarische Musik auf: So blitzt in dem auf diesem Album eingespielten Opus 19 der Stil Kodálys auf oder auch der Weiners.

Im Opus 35 und in der ersten Sinfonie Op. 24 ist der Zugriff moderner, kantiger, mit einem spürbaren Willen zur Expression. Die Symphonie Nr. 1 erscheint dann auch in mancher Hinsicht „gewollt“ (aber auch gekonnt, wie ich hinzufügen möchte), wie überhaupt Lajthas Musik nicht den Eindruck eines gelassen, entspannt Komponierenden vermittelt, sondern stets (auch in ruhigeren, lyrischeren am französischen Impressionismus orientierten) Stücken oder Werkteilen eine gewisse Unruhe und innere Zerrissenheit in sich trägt.

Ist dies vielleicht auch mit ein Grund dafür, warum Lajthas Orchestermusik in der gesamten Tonträgergeschichte bislang nur durch das einstige ungarische Staatslabel Hungaroton und durch die Marco Polo-Edition, die hier bei Naxos nach Jahren wiedererscheint, dokumentiert ist? Man kann nur vermuten. Das Hören dieser Musik lohnt sich jedenfalls, und in der auch für heutige Maßstäbe noch exzellenten Klangqualität und Darbietung dieser Aufnahmen Nicolás Pasquets aus Pécs erst Recht! Schön, dass diese Raritäten nach Jahren endlich wieder erhältlich sind.

[Grete Catus, August 2016]

Der wahre Avantgardist in neuer Referenzqualität

Dmitri Schostakowitsch
Sonaten für Violine und Klavier op. 134 (1968) und für Viola und Klavier (1975)
Mirjam Tschopp (Violine, Viola), Riccardo Bovino (Klavier)
Genuin GEN 16428 (EAN: 4260036254280)

Hätte es je eine originellere Übernahme von tragenden Elementen eines großen Meisterwerks gegeben als im Finale von Schostakowitschs letzter Komposition, der Bratschensonate, die er einen Monat vor seinem Tod vollendete? Die Art, wie hier der Kopfsatz von Beethovens ‚Mondschein’-Sonate anklingt, ist wahrlich unheimlich und zeugt von einer ungeheuren inneren und äußeren Freiheit. Wie hatte Schostakowitsch selbst zwei Jahrzehnte zuvor, 1955, geschrieben:

„Ich glaube, Originalität im Musikschaffen ist umfassend zu verstehen. Die Übernahme einzelner Elemente von großen Komponisten der Vergangenheit bedeutet noch lange nicht ein Abschreiben von Seiten oder Takten aus bekannten Werken. Man muss die Technologie ihres Schaffens gründlich durchdenken, sie verstehen und dann dieses oder jenes Element zu seinen eigenen Zwecken benutzen, indem man es abändert oder – besser noch – entsprechend seiner eigenen künstlerischen Aufgabenstellung weiterentwickelt.“

Ein besseres Beispiel dafür könnte es nicht geben. Danach ist derlei in der Sowjetunion in Mode gekommen, doch selbst bei Schnittke nicht auf solcher beklemmend befreiten Höhe. Und heute erweist sich Schostakowitsch damit im Nachhinein als wahrer Avantgardist, denn heute ist solches Mäandern zwischen den Zeiten und Stilen allgemeine Verfahrensweise in der sogenannten ‚Postmoderne’, wenngleich eben meist mit peinlichen und kaum je mit wirklich hörenswerten oder gar zusammenhängend tragfähigen Resultaten. Dergleichen Probleme – die von unseren Zeitgenossen in ihren eigenen Werken gar nicht als solche wahrgenommen werden – kannte Schostakowitsch nicht, denn bei ihm funktioniert es so unvorhersehbar wie folgerichtig organisch.

Die Neuaufnahme der Bratschensonate und der um sieben Jahre vorangegangenen Violinsonate für den unübertroffenen David Oistrach durch die Schweizer Geigerin und Bratscherin Mirjam Tschopp und den Turiner Pianisten Riccardo Bovino bewegt sich auf olympischen Höhen. Nicht nur, das Mirjam Tschopp sowohl auf der Geige als auf der Bratsche eine herausragende Virtuosin ist: Bei ihr klingt die Bratsche zudem nicht wie eine tiefere Geige, sondern eben wirklich originär, wie eine Bratsche im schönsten Sinne klingen kann, als authentischer Ausdruck des Alt-Registers mit grandios mächtiger Tiefe. Mirjam Tschopps Ausdruck umfasst eine weite Skala. Grundsätzlich fällt eine unsentimental innige Herbheit auf, die sich allerdings in idealtypischer Weise mit Schostakowitschs weltabgewandtem Spätstil verbindet. Riccardo Bovino ist ihr ein souverän mitgestaltender und intensiv zuhörender Partner, und beide sind in jeder Hinsicht bestens aufeinander abgestimmt, auch in den dynamisch heikelsten Abschnitten bilden sie ein exzellent abgestimmtes Duo. Überhaupt ist das dynamische Spektrum mit entschlossener Bewusstheit sehr weit gespannt. Hinzu kommt eine vorzügliche Aufnahmetechnik, die wohl auch von der ausgezeichneten Akustik der Leipziger Bethanienkirche profitiert haben dürfte. Hier ist in allen Belangen superbe Arbeit geleistet worden, und auch Eckhard van den Hoogens kenntnisreicher Begleittext hält da gut mit.

Ein paar kritische Kleinigkeiten möchte ich dennoch anmerken: Dem Ganzen täte des öfteren noch mehr Tempokonstanz über die großen Abschnitte hinweg gut; und dynamisch entspricht die Realisierung nicht immer ganz dem musikalischen Sinn. So werden etwa manche Crescendi, die eigentlich nur zur nächsten Dynamikstufe hinführen sollen, übermäßig hervorgehoben, wodurch dann am Ziel die Dynamik wieder zurückgenommen werden muss. Auch das gegenteilig ausmündende Crescendo mit anschließendem subito piano (dieses einst von Beethoven mit so einmaliger Wirkung eingeführte Mittel) wird gelegentlich nicht konsequent zum Ende geführt. Auch über manche Phrasierung kann man diskutieren, doch das fällt dann doch nicht so sehr ins Gewicht, und als Fazit ist zu sagen: Es handelt sich um eine Referenzaufnahme, wie seit Jahrzehnten keine gleichrangige vorgelegt wurde. Gerne hören wir mehr von diesen außergewöhnlich ernsthaften und befähigten Künstlern.

[Lucien-Efflam Queyras de Flonzaley, August 2016]

Die Entdeckung der musikalischen Phänomenologie – Zum zwanzigsten Todestag von Sergiu Celibidache

Vor zwanzig Jahren, in der Nacht vom 14. auf den 15. August 1996, ist Sergiu Celibidache unweit seiner geliebten Mühle in Neuville-sur-Essonne südlich von Paris gestorben. Von unvoreingenommenen Hörern und kultiviert ausgebildeten Musikern, die die Tatsache nicht scheuen, dass seriöse Einstudierung mit intensiver Arbeit auch an vielgespielten Werken verbunden ist, geliebt, war und ist er zugleich in der Fachwelt sehr umstritten. Doch sind die Einwände, die auf musikalischer Seite gegen ihn vorgebracht werden, sei es von professionellen oder Amateur-Musikern, von Musikwissenschaftlern, Feuilletonisten oder einfachen Laien, in Mangel an Kenntnissen, irreführend konditionierter Ausbildung oder schlichten Aversionen gegen seine Persönlichkeit begründet. In Interviews trat Celibidache keineswegs zurückhaltend auf. Als Pionier einer bewussten Musizierhaltung bekämpfte er die beharrliche Ignoranz eines von Kommerz und Konsum, von eitlem Traditionsdenken und abgebrühter Routine, von spekulativen Theorien und blinder Fortschrittsgläubigkeit geprägten Milieus, dessen Akteure und Mitläufer sich als Mitwirkende einer Hochkultur verstehen, die dringender Erneuerung bedurfte und bedarf. Die Entwicklung, die die Kunst und die Musik im Besonderen im 20. Jahrhundert nahm, ist zwar in vielen historischen Abhandlungen beschrieben worden, doch ist sie keineswegs leicht zu verstehen und mit den gängigen Schlagworten nicht zu erfassen. Im 19. Jahrhundert hatte sich der Kampf zwischen der Fortschrittsmusik und einem immer mehr erstarrenden Akademismus, der alles zu einer beschaulichen Mittelmäßigkeit hin regulieren wollte, immer mehr zugespitzt. In seiner Konsequenz führte dieser Konflikt unaufhaltsam zu einer Revolution, die ihrer ursprünglichen Intention nach eine Befreiung sein sollte, was in der Epoche der ‚klassischen Moderne’, von Stiltendenzen wie Impressionismus, Expressionismus usw. getragen, in vielfältigstem individuellen Ausdruck kreativer Kräfte kulminieren sollte. Fort mit den einengenden Regeln, hinaus aus den Ummauerungen der kleinbürgerlichen Welt! Doch wie bei allen Revolutionen setzten sich dann vor allem jene Kräfte durch, die eine neue verbindliche Orientierung versprachen, ein neues Regelwerk aufstellten, das sich vor allem dadurch auszeichnete, dass es alle tradierten Gesetzmäßigkeiten ablehnte. Arnold Schönberg entdeckte 1922 eine Methode, die, wie er meinte, „der deutschen Musik die Vorherrschaft für die nächsten hundert Jahre sichern“ sollte: die Dodekaphonie, im Volksmund als Zwölftonmusik bekannt. Tatsächlich glaubte man, mit dem künstlichen Regelwerk dieser Technik, die alle Tonbeziehungen durch fortwährende Aushebelung ihrer tonalen Anziehungskräfte nivellierte, in die sogenannte ‚Atonalität’ vorgestoßen zu sein (wobei Schönberg, dessen schöpferisches Genie nicht infrage gestellt werden soll, mit diesem Terminus nicht einverstanden war und zum Ende seines Lebens eine halbgare Kehrtwende vollzog, ohne seine theoretischen Irrtümer einzugestehen). Sein fanatischer Musterschüler Anton Webern, eine singuläre sensitive Begabung, hingegen ging den Weg, den die Dodekaphonie ihrem Wesen nach verlangt, konsequent zu Ende, indem er Formspiele von aphoristisch verdichteter Kürze schuf, die seinen Nachfolgern als ideales Destillat des Wesentlichen per se erschienen.

Wie entsteht eine bezwingende große Form? Sie beruht immer auf erlebbarer Beziehung, auf rhythmischer, harmonischer und melodischer Ebene. Ungeachtet der Einfachheit oder Komplexität dieser Beziehungen sind alle anderen Parameter wie Klangfarbe oder Lautstärke nichts weiter als zusätzliche Begleiterscheinungen und eben keine selbständig strukturierbaren Aspekte des Klangs, da es im Erleben kein absolutes Maß für sie gibt. Das gleiche gilt auch für die Geschwindigkeit, die sich aus dem Charakter der Gestalten und der Dichte und Komplexität der klingenden Informationen ergibt. Hier gilt ausdrücklich: physikalische Messbarkeit steht in keinem direkten Verhältnis zum Erlebnis, denn wir können diese Aspekte nicht absolut, sondern nur in Relation zum klingenden Ganzen wahrnehmen. Da die Expansionskraft rhythmischer Kontraste allein nicht weit trägt (man vergegenwärtige sich gelungene Schlagzeugsoli in Jazz und Rock), basierte die große Expansion der Form in der westlichen Musik auf harmonischen Entfernungen, die mittels Modulation von einer Tonart in andere erreicht werden. Dies verlor natürlich in der Zwölftonmusik jegliche Bedeutung, da von Anfang an alle Töne möglichst gleichwertig da sind und dies als durchgängiger Zustand angestrebt wird. Wenn man überall gleichzeitig ist, kann man sich nirgendwo hin bewegen. Das ist nicht gleichbedeutend mit Atonalität, die sich auf die Strecke nur dadurch als Eindruck einstellt, dass die kontinuierliche Überforderung mit widersprüchlichen Eindrücken und die extreme Komplexität, die die Wahrnehmungsfähigkeit auch des geübtesten Hörers konsequent überschreitet, keine Orientierung mehr ermöglicht, die uns vom Anfang bis zum Ende ein zusammenhängendes Erleben des Ganzen ermöglichen würde.

Trotzdem hat man mit dieser Technik großformatige Werke geschrieben, die eben dann der inneren Notwendigkeit entbehren und nur dadurch existieren, dass ohne Rücksicht auf die eigenen Kapazitäten weitergeschrieben wurde. Die nächste Generation der Moderne, die in der Zeit nach dem II. Weltkrieg ans Ruder kam, übernahm diese Irrtümer und baute optimistisch auf ihnen weiter. Nun wurden alle Parameter reguliert (wie fern des ursprünglichen Wunschs nach Freiheit!), und das Zeitalter des Serialismus ausgerufen, der vollendeten künstlichen Durchorganisation des klingenden Geschehens. Natürlich bildete sich eine Gegenrevolte, die ebenso radikal die völlige Abschaffung allen Regelwerks verlangte, und es entstanden die ‚Techniken’ der freien Aleatorik, der Zufallskomposition usw. Pierre Boulez konstatierte treffend, dass im klingenden Ergebnis „totale Determination und totale Indetermination“ zum gleichen Resultat führen – was für eine totale Kapitulation vor den Gesetzmäßigkeiten des Klanges, freilich, ohne daraus Konsequenzen zu ziehen! Es ist eben alles ein sinnlich-intellektuelles Spiel. Sich aus diesen ideologischen Konstrukten zu befreien, ist keineswegs gleichbedeutend mit einer Rückwendung zu Vergangenem, auch wenn es dazu führen kann. Doch gibt es zugleich genug Komponisten (wenn auch aufgrund mangelnder Kriterien in der Ausbildung immer weniger), die fruchtbare neue Wege einschlugen (ich denke hier nur einmal aus jüngerer Zeit an Anders Eliasson, Jean-Louis Florentz, Ketil Hvoslef oder Per Nørgård, mit unterschiedlichsten Haltungen und Verfahrensweisen).

Die selbsternannte ‚Avantgarde’, die im Grunde Idealen hinterherläuft, die in den zwanziger Jahren en vogue waren, hat keineswegs den Siegeszug in die Konzertsäle angetreten, den sich sich selbst prophezeihte. Sie hat sich mittlerweile im mit historischen Fragmenten aufgemischten Dschungel der vollkommen chaotisch suchenden Postmoderne verloren und lebt nur noch dadurch weiter, dass es gelungen ist, mit verbaler Propaganda das Subventionsnetz sicherzustellen, das die Nutzung der öffentlich-rechtlich geförderten Spielplätze überhaupt ermöglicht. Kultur braucht Subvention, aber ohne ausgrenzende Ideologien.

Hätte man wirklich atonal komponieren wollen, so hätte die Umsetzung eines einfachen Gedankens genügt. Da Tonalität grundsätzlich auf Quintbeziehungen beruht, hätte man einfach die zwölftönige Einteilung der Oktave abschaffen müssen, und zwar nicht zugunsten einer Mikrotonalität, die auch wieder Quinten hervorbringt, sondern durch eine gleichstufige Aufteilung der Oktave in elf oder zehn Töne – dann gibt es keine Quinten mehr. Das Problem ist nur, dass außer Maschinen niemand diese künstlich generierten Tonschritte intonieren kann, dass man also Legionen von Spezialisten hätte züchten müssen, um dieses faszinierend utopische Niemandsland der Atonalität zu beackern. Dann hätte man auch die Grenzen des Ghettos der ‚Avantgarde’ von vornherein klar ziehen und sich dezidiert der ‚einzigen’ Zukunftsmusik widmen können – als Klang- und Geräuschforscher und nicht als Musiker. Der Begriff des Klang- und Geräuschforschers ist es denn auch, der wirklich zutreffend für die Schöpfer der sich so nennenden ‚neuen Musik’, ohne jegliche Diffamierung, am angebrachtesten wäre.

Solange diese Forschungen musikalischen Absichten dienen – also der Schaffung eines erlebbaren Zusammenhangs –, können die Entdeckungen jedoch alle musikalisch fruchtbar gemacht werden. Die Orientierungslosigkeit der Moderne, die jeder spürt, die absolute Beliebigkeit auf der Suche nach ‚Originalität’, was in diesem Fall nach dem noch nie Dagewesenen meint, gründet sich in der Abwendung von tonalen Beziehungen, egal wie dissonant und kompliziert diese sind. Tonalität ist nicht einengend als Wohlklang zu definieren (auch wenn dies ihr die eindeutigste Farbe verleiht), sondern ausschließlich als Beziehbarkeit der Phänomene zueinander in Bezug auf ein Ganzes.

Sergiu Celibidache war in diesem Sinne ein vollendeter Musiker. Sein ganzes Streben war stets darauf ausgerichtet, den einmaligen Zusammenhang des jeweils aufgeführten Werkes entstehen zu lassen. War der Komponist nicht in der Lage, diesen Zusammenhang zu erreichen, so nahm er Abstand davon – ohne ihm deshalb Genialität oder Originalität abzusprechen, und auch das Epigonale interessierte ihn nicht, denn die handwerklich beschlagene Routine der Nachahmung ist auch nur geborgte, nicht kernhafte Musikalität.

Die von Celibidache entdeckte musikalische Phänomenologie – die nur wenige Parallelen mit derjenigen Ernest Ansermets aufweist und mit deren religiösen und historischen Implikationen nichts zu tun hat – basiert auf der Erforschung der Gesetzmäßigkeiten des Klanges, des menschlichen Bewusstseins und der uninterpretablen Beziehung zwischen Klang und menschlicher Affektwelt. Dies ausführlicher darzulegen, wird an anderer Stelle geschehen. In einer Epoche der zunehmenden Orientierungslosigkeit aufgrund einer vorangegangenen der verwirrenden Manipulation ist sie notwendiger denn je, wenn wir den Kontakt mit der Essenz des Musikalischen nicht ganz verlieren wollen. Celibidache hat damit Generationen von Musikern eine Möglichkeit der Orientierung geschenkt, die ernsthaft Suchende aus der Spaltung zwischen subjektiver Willkür der ‚Interpretation’, materialistischer Buchstabentreue (sogenannter ‚Werktreue’) und philologisch orientierten Auslegungen aufführungspraktischer Detailhinweise (als ob irgendein Fisch wüsste, was das Wasser ist, in dem er selbstverständlich schwimmt) herausführen kann. Alles überkommene Verständnis von Musik, bis hin zu den brüchigen, falsch vereinfachten Fundamenten der ‚allgemeinen Musiklehre’, wie sie – falls überhaupt noch – an unseren Schulen gelehrt wird, alle Konditionierungen des Musikbetriebs dürfen – und müssen – dafür über Bord gehen. An ihre Stelle tritt aber keine ‚neue Lehre’, kein intellektuell absicherndes System, sondern eine bewusste, mithilfe von Wissen und Erfahrung sich allmählich herausbildende Haltung, die jede neue Herausforderung als einmalig, jedesmal neu versteht, basierend auf onthologisch im Wesen von Klang und menschlicher Wahrnehmung verankerten Gesetzmäßigkeiten, die wir nicht beeinflussen, sondern höchstens verdrängen können. Musik ist eine viel subtilere Kunst, als je theoretisch vermittelbar wäre.

Wer Celibidache zunächst einmal von einer anderen Seite als der öffentlich offensichtlichen kennenlernen möchte, schaue sich den folgenden Clip auf Youtube an, gespielt wird das erste der Trois pièces brèves von Jacques Ibert.

Hier arbeitet er in Kopenhagen mit dem Danish Wind Quintet, mit Musikern, die mit der Arbeitsweise der musikalischen Phänomenologie bereits vertraut sind, und in ungeteilter Gemeinsamkeit wird das Spezifische des Werks, sein Charakter und der daraus entwickelte Zusammenhang, herausgeschält. Eine taube Nuss, die keine Freude dabei haben könnte! Was ist das Wesen bewusster Arbeit, schließt sie etwas aus außer liebgewonnenen Bequemlichkeiten, eitlen Eigenwilligkeiten und zwanghaften Widerständen, könnte man fragen.

[Christoph Schlüren, August 2016]

Händel in absoluter orchestraler Vollendung

Georg Friedrich Händel
Orgelkonzerte Op. 7 Nr. 1-6, Fassung für Klavier und Streichorchester
Matthias Kirschnereit, Deutsche Kammerakademie Neuss, Lavard Skou Larsen
cpo 777855-2 (EAN: 761203785520)

Georg Friedrich Händels unsterbliche Orgelkonzerte auf das Klavier zu übertragen: eine wunderbare Idee, denn nicht nur gibt es dadurch endlich auch von ihm Klavierkonzerte, die mehr als attraktiv für den Solisten wie für den Hörer sind, sondern es ergibt sich dadurch die Gelegenheit einer tatsächlich musikalisch differenzierten Gestaltung hinsichtlich Dynamik und Nuancierung der Artikulation, die ungemein belebend wirkt und die Orgel musikalisch weit hinter sich lässt, sofern der Solist der Sache stilistisch gewachsen ist und die innermusikalischen Zusammenhänge tatsächlich erfasst.

Um es vorweg zu nehmen: auch mit dieser abschließenden Folge ist man der ‚Konkurrentin’ Ragna Schirmer in jeder Hinsicht weit voraus, zu nivelliert und eintönig war ihr nur klanglich experimenteller Zugang, der ja damals in einem etwas missglückten Crossover-Versuch ‚kulminierte’. Doch auch Matthias Kirschnereits Darbietung hat ihre Schwächen, wenngleich auf verfeinertem Niveau.

Die eigentliche Sensation dieser Einspielung ist das Orchester. Wohl niemand heute ist in der Lage, Händels Geist in solch emphatisch beschwingter und zugleich endlich mal wieder auch die tieferen Schichten der Musik erspürender Weise aufzuführen. Wie wunderbar bewusst alles artikuliert und wie gesanglich phrasiert das durchgehend ist, wie unwiderstehlich die Themen herausgeschält werden und die Begleitung eben nicht in den eingeebneten Routinemodus verfällt, der sich einstellt, wenn die Inspiration an der Oberfläche – also lediglich auf die offensichtlichen Hauptstimmen bezogen – bleibt. Keine Spur davon. Dieser Händel ist ein Fest ohnegleichen, er knüpft im besten, aufgeklärten Sinne an an die unvergänglichen Dokumente, die wir beispielsweise von Wilhelm Furtwängler oder den Adolf Busch Chamber Players besitzen. Er hat also das Zeug, vielleicht irgendwann als würdiges ‚Weltkulturerbe’ erkannt und gewürdigt zu werden. Ja, in Neuss dreht sich die Uhr der Musik weiter, während sie vielerorts, wo viel mehr mediale Aufmerksamkeit eingefordert wird, stagniert oder sich im Rädchen vermeintlicher Perfektion „zurückdreht“. Man kann eben aus dem vollen Musizieren, muss keine Puppenstuben-Niedlichkeiten oder dümmlichen Grobheiten begehen, um in der Musik jene Ursprünglichkeit, Kraft und Freude wiederzuentdecken, die sie potentiell stets in sich getragen hat. Ungehemmt, ja geradezu ungestüm gelegentlich, in den langsamen Sätzen mit Würde, Tiefe, Pracht und – ja! – Erhabenheit, und niemals ins Willkürliche, Altmodische, Sentimentale abgleitend. Stets schlank, leicht, beweglich und geschmeidig, und dabei in strahlender Fülle und mit jenem innerlichen Prunk geschmückt, wie ihn nur Händel hat, und der, versucht man ihn zu vermeiden, wie eine Amputation wirkt. Skou Larsen und seine hellwache Truppe bringen das singuläre Kunststück zustande, sowohl offenkundig historisch informiert als auch zeitlos im Ausdruck zu sein – das können nur paradoxe Charakterisierungen fassen: spannungsvoll und vollkommen losgelöst, den weit ausschwingenden Bogen mit fein ziselierter Detailkunst überhaupt erst organisch erstehen lassend, rundherum hochkultiviert und immer von entschiedenem Charakter. Solist Kirschnereit hat derart traumhafte Bedingungen für sein Agieren, das bei aller Liebe zum Detail, pianistischen Finesse und wendigen Lyrik die klare Orientierung vor allem hinsichtlich der größeren Entwicklungszüge vermissen lässt. Da er alle dynamischen Möglichkeiten des Klaviers hat, bräuchte es eben nicht jene verspielten Rubati, die fortwährend die durchgängige Kraft und Linie unterbrechen oder schwächen. Doch das Orchester fängt all diese Schlingereien jedes Mal in souveränster und hinreißend klar konturierter Weise auf. So ist es insgesamt doch eine großartige Sache.

Niemand heute vermag Händels Musik auch nur annähernd so reich und charakteristisch aufzuführen. Es wäre der große Wunsch des Rezensenten, dass sich Lavard Skou Larsen und die Deutsche Kammerakademie nun auch der 12 Concerti grossi op. 6 – und, wenn noch ein weiterer Wunsch drin wäre, auch der Concerti grossi von Arcangelo Corelli – annehmen. So gespielt, würde jeder Hörer damit einen Sechser ziehen, mit passender Zusatzzahl, und das ganz ohne Lotto, sondern via cpo in Osnabrück. Nicht aufhören, unbedingt weiter so!

[Ernst Richter, August 2016]

Impressionen aus einer verkehrten Welt – Guttenberg statt Strauss

Handbuch Dirigenten – 250 Porträts
Herausgegeben von Julian Caskel und Hartmut Hein
Autoren: die Herausgeber, Kai Köpp, Michael Stegemann, Christine Drexel, Annette Kreutziger-Herr, Andreas Domann, Andreas Eichhorn, Alberto Fassone, Alexander Gurdon, Dieter Gutknecht, David Witsch, Florian Kraemer, Gesa Finke, Hans-Joachim Hinrichsen, Michael Schwalb, Michael Werthmann, Peter Niedermüller, Tobias Pfleger
Bärenreiter/Metzler; ISBN: 9783476023926

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Ein Handbuch über Dirigenten in deutscher Sprache, das sich nicht nur der großen Namen annimmt, sondern ein breiteres beschreibendes Spektrum bietet, war lange überfällig, und insofern kann man dem Bärenreiter-Verlag nur danken, dies endlich umgesetzt zu haben. Ob man dafür die richtigen Herausgeber und Autoren gewonnen hat, ist allerdings mehrheitlich – gelinde gesagt – sehr in Frage zu stellen. Das beginnt schon mit dem – immer sehr problematischen – Thema der Auswahl, wo man es natürlich keinem Kenner recht machen kann. Jedoch wird hier die Grenze des Zumutbaren überschritten, man muss geradezu von gezielter Manipulation der Geschichte sprechen: Egal, was der eine oder andere über Richard Strauss denkt, dass er – wie auch immer bereits im Vorwort vollkommen unplausibel begründet – ausgesondert wurde, ist eine absolute Peinlichkeit: nicht nur einer der überragenden Dirigenten der Geschichte, sondern auch einer der stilprägendsten, ohne den Legenden wie Fritz Reiner, Clemens Krauss oder Karl Böhm undenkbar wären. Kaum weniger verstörend ist das Fehlen von Gustav Mahler, der für Kleiber, Klemperer und Bruno Walter das Maß der Dinge war – wenigstens sind Bülow, Hans Richter, Nikisch und Levi dabei als die Vertreter einer Epoche, die diskographisch nicht dokumentiert ist.

Was die jungen und jüngsten Kapellmeister betrifft, ist die Auswahl ohnehin noch von vielen wackligen Faktoren bestimmt, und natürlich nehmen Spezialisten der sogenannten ‚historischen Aufführungspraxis’ und Dirigentinnen hier, dem Trend entsprechend, mehr Raum ein als objektiv angemessen. Dann muss man sich allerdings umso mehr fragen, warum die großen Kammerorchesterleiter (außer Rudolf Barschai) ignoriert wurden: Edwin Fischer, Adolf Busch, Josef Vlach, Benjamin Britten, Sándor Végh usw. – das sind durchweg weit bedeutendere Musiker als die meisten Herrscher der großen Orchester.

Auf der anderen Seite werden diskographisch überpräsente Halbdilettanten wie Helmuth Rilling oder Enoch zu Guttenberg ausführlich und höchst bedeutsam vorgestellt. Man sieht, hier ist keine wirkliche herausgeberische Professionalität am Werke, sondern der Versuch, sich politisch korrekt an den Erwartungen der KlassikRadio-gewohnten Unbedarften zu orientieren. Das dürfte ein Fehlkalkül sein, denn ein solches Buch erwerben meist dann doch die, die ein echtes Interesse haben, und die sind nicht alle so ahnungslos, dass sie widerspruchslos kommerziellen und modischen Auswahlkriterien folgen wollen.

Das Niveau der einzelnen Artikel ist natürlich höchst unterschiedlich. Besondere Tiefstände werden in der Regel da erreicht, wo der betreffende Dirigent in irgendeiner Weise in Deutschland 1933-45 involviert war. Gewiss gab es bekennende Nationalsozialisten, sei es aus Karrierismus oder schlichter Feigheit, und Namen wie Karajan, Böhm oder Knappertsbusch liegen hier auf der Hand. Dass Clemens Krauss hier nach wie vor – nicht auf dem Erkenntnisstand der Zeit – als besonders belastet abgehandelt wird, ist zum Beispiel eine Unverschämtheit. Das geht so weit, dass über ihn als Musiker fast nichts Brauchbares dasteht. Wie einfach ist es, Herr Caskel, mit Halbwissen und verblendetem Missionsdrang ausgestattet einen Wehrlosen postum in die Tonne zu treten!

Vieles wird in diesem Kompendium auf den Kopf gestellt, Ideologie überwiegt Beobachtung, aber das ist symptomatisch für den debilen Gesamtzustand unserer hoffnungslos unterbezahlten deutschen Musikfeuilleton-Kreise, wo das Wort Intelligenz nostalgische Gefühle hervorruft. Und in den meisten Fällen hat – zumindest die englische – Wikipedia rein faktisch mehr zu bieten. Aber ich habe vergessen: Es geht ja um die subjektive Meinung selbsternannter Experten ohne konkreten musikalischen Hintergrund…

Man muss also ein intelligenter Leser sein – also einer, der sich ständig um die bewusste Unterscheidung zwischen Fakten und feuilletonistisch manipulierendem Kommentar bemüht –, um durch dieses Buch nicht nebenbei verblödet zu werden, während man sich informiert. Davon abgesehen ist es allerdings ein nützliches Nachschlagewerk, wie es in dieser Form, zu einem vernünftigen Preis, erstmals in deutscher Sprache vorgelegt wird. Wer Meinung und Tatsachen zu unterscheiden versteht, kann getrost Nutzen daraus ziehen.

[Annabelle Leskov, August 2016]

Swinging Cello

SWR Music, Vertrieb: Naxos, SWR19002CD; EAN: 7 47313 90028 2

Cellowerke des 1937 geborenen Nikolai Kapustin werden dargeboten von Christine Rauh. Ihre Mitstreiter sind der Altsaxophonist Peter Lehel, der Pianist Benyamin Nuss, die Schlagzeugerin Ni Fan am Vibraphon sowie die Deutsche Radio Philharmonie Saarbrücken Kaiserslautern unter Leitung von Nicholas Collon.

Kann man diese Musik in den Bereich des Jazz einordnen, oder gehört sie doch eher in die klassische Sparte, ist sie gar beides zugleich oder keines davon? Das Œuvre des ukrainischen Komponisten und Pianisten Nikolai Kapustin wirft immer wieder diese Fragen auf. Selbst sah sich Kapustin nie als einen Jazzpianisten, doch sagte er zugleich, er müsse dies sein, alleine wegen des Komponierens. Meist sind verschiedene der unzähligen Klavierkompositionen Kapustins zu hören, nicht bekannt hingegen sind die Werke für andere Instrumente. Dem entgegenwirkend spielte nun Christine Rauh Werke für das Violoncello ein.

Die Cellistin trumpft auf mit einer unbändigen Leichtigkeit und Spielfreude auf, die fröhlich springend beinahe an eine Operettensängerin erinnert, die mit keckem non legato ihren Ambitus austestet und dabei jeden Ton als singuläres Ereignis genießt. Auch gelingt Rauh eine selten klare und reine Tongebung auch in den hohen Lagen. Das Cantabile beherrscht die Solistin ebenso in überzeugend natürlicher und feingliedriger Weise, überrascht dabei mit recht wenig und dafür flexibel den Gegebenheiten angepasstem Vibrato, wodurch sie einem Großteil ihrer Kollegen um Längen voraus ist, bei welchen ein mechanisches Vibrato in unverhältnismäßig großem Ambitus der Regelfall ist. Allgemein ist Christine Rauh ein unverkennbarer Feinsinn zuzuschreiben, mit wachem und gewandtem Geist den musikalischen Charakter zu erfassen und unmittelbar mit dem Klang ihres Cellos darauf zu reagieren.

Die drei Mitstreiter Rauhs sind ebenso durchgehend auf hohem musikalischen Niveau und zeigen großes Verständnis für die Musik Kapustins. Peter Lehel lässt wahrlich den Spirit des Swing auferstehen im Duet for Cello and Alto Saxophone Op. 99, mit rein sanglichem und rundem Klang spielt er absolut auf Rauh abgestimmt, fühlt innerlich jeden Ton und kostet ihn voll aus. In der Sonata for Cello and Piano No. 2 Op. 84 sowie im Nearly Waltz Op. 98, der Elegy Op. 96 und der Burlesque Op. 97 ist Benyamin Nuss zu hören (übrigens Neffe von Hubert Nuss, dem gefragten Jazzpianisten). Er hält sich hauptsächlich in den sanft zurückhaltenden Gefilden auf, die er eher flächig auszugestalten weiß, wobei er durch rhythmische Finesse besticht. Vibraphon gibt es in zwei der acht Konzertetüden Op. 40, welche Christine Rauh aus dem Klavieroriginal für die Schlagwerkerin Ni Fan und sich arrangierte. Ein ganz eigener Klang entsteht in dieser ungewöhnlichen Kombination, der durchaus funktioniert. Ni Fan fliegt in schier unglaublicher Virtuosität über ihr Instrument, und das mit einer unbekümmerten Gelassenheit, in der sie ihre Stimme in aller Natürlichkeit und ohne jede „Einwirkung von außen“ gedeihen lassen kann. Gegen die bisher zu hörende Qualität mag die Deutsche Radio Philharmonie Saarbrücken Kaiserslautern unter Leitung von Nicholas Collon direkt etwas plump wirken, die aufgeweckte und sprunghafte Seele der Solistin kann im Streichorchester kein Pendant finden. Zu gepresst und mit zu viel Druck, zu sehr „gewollt und gemacht“ klingt das Tutti, die unbeschwerte Freiheit geht verloren.

Die Zugabe schrieb Christine Rauh zusammen mit Benyamin Nuss, eine Hommage à Kapustin für Cello und Klavier. An die bisher erklungene Musik erinnert die Hommage in ihrer zarten Verträumtheit und breit angelegten Linie kaum, doch ist sie eine bezaubernde Nocturne, welche auch Rauhs tiefe Lagen einmal präsentiert und einen zartempfundenen Abschluss dieser ansonsten so belebten CD bildet.

[Oliver Fraenzke, August 2016]

Linienzauber

Nina Karmon

Violinmusik von Johann Sebastian Bach ist am Abend des 5. August 2016 in der Münchner Kirche Sankt Bonifaz zu hören, Nina Karmon spielt die Sonaten Nr. 1 g-Moll BWV 1001 und Nr. 2 a-Moll BWV 1003 sowie die Partita Nr. 3 E-Dur BWV 1006 für Violine solo.

Beinahe jeder der aufgestellten Sitzplätze im Saal der Kirche Sankt Bonifaz in der Münchner Karlstraße 34 ist besetzt, als die Violinisten Nina Karmon eintritt. Auf dem Programm stehen drei der sechs hochvirtuosen Werke Johann Sebastian Bachs für Violine solo, welche in jeder Hinsicht höchste Anforderungen an den Musiker stellen, sowohl in Bezug auf organische Form als auf die Fähigkeit des mehrstimmigen Spiels auf einem von seiner Natur einstimmig angelegten Instrument.

Sehr geerdet und mit menschlicher Wärme erfüllt klingen die tieferen Lagen der Violine des italienischen Geigenbauers Guarneri del Gesù in den Händen von Nina Karmon, gleichzeitig silbrig und glanzvoll in der Höhe. Nina Karmon spielt die Werke Bachs nicht in einer romantisierenden Geste, doch auch nicht innerlich unbeteiligt oder gleichförmig, wie sie gerade in der so genannten historischen Aufführungspraxis gerne – vom Cembaloklang inspiriert – fehlgedeutet werden. Viel eher hält sie eine angenehme Distanz, die nicht vor unkontrolliert überschwänglicher Emotion überläuft und dabei das Menschliche und das Ursprüngliche, Natürliche als höchste Instanz nimmt.

Das ausschlaggebende Charakteristikum im Spiel Nina Karmons ist die Entstehung der melodischen Linie, diese entfaltet sich in aller Sanglichkeit und Ungekünsteltheit in betörender Schönheit und unverbrauchter Frische. Sie vermag, einen großflächigen Bogen zu spannen und nicht eher mit der Spannung nachzugeben, als die Linie ihrer Auflösung entgegengeht – eine wahrhaft atmende Spielweise.

Auch bezüglich der mehrstimmigen, kontrapunktischen Elemente kann Karmon durchaus überzeugen, gerade in der Partita Nr. 3 gibt es magische Momente, die sich beinahe anhören, als agierten zwei Instrumente auf der Bühne. In den schnellen Finalsätzen neigt sie ein paar Mal zu leicht überstürztem Spiel, doch ist dies der einzige kleine Makel bei ansonsten enormer Souveränität und ausgesprochen stimmigen Tempi, die ein organisches Fließen der für die Epoche teils sehr ausgedehnten Formgebilde ermöglichen.

Die Zuhörer in Sankt Bonifaz haben das große Glück, einen wirklich ausgereiften, tonlich hinreißenden und selbstverständlich technisch über alle Zweifel erhabenen Bach zu hören, wie er auch gegen hohe Eintrittspreise in großen Sälen nicht besser zu hören ist.

[Oliver Fraenzke, August 2016]

Dante mit Bildern bei Mondschein

Gramola 99083; EAN: 9 003643 990838

Für Gramola spielt die gebürtige Japanerin Yuko Batik Ludwig van Beethovens Sonata quasi una fantasia Nr. 14 cis-Moll op. 27, 2 mit dem bekannten Beinamen „Mondschein-Sonate“, Franz Liszts Fantasia quasi Sonata „Après une lecture de Dante“ und Modest Mussorgskys Bilder einer Ausstellung auf einem Bösendorfer-Flügel ein.

Es sind bekannte Werke, die Yuko Batik für ihre CD-Einspielung „Pictures“ auswählte, und entsprechend hoch sind die Erwartungen wie auch die Ansprüche. Bei Beethovens Sonata quasi una fantasia gibt Batik einen warmen und vollen Ton vor mit einer wohligen Wärme. Was mich dabei leider sehr stört, sind im ersten Satz die fortwährenden, standardisiert-mechanischen Ritenuti auf den nächsten Taktschwerpunkt hin, da dieser Effekt unweigerlich abstumpft, sowie, dass im dritten Satz die Sforzati unverhältnismäßig stark aus dem Kontext herausknallen. Vergleichsweise am stimmigsten gerät der zweite Satz, der in aller Schlichtheit und Kürze eine herrliche Farbenpracht offeriert. Allgemein habe ich jedoch das Gefühl, Yuko Batik habe nur rudimentär Bewusstsein über das Spektrum der Spannung in diesem progressiven Werk, zu sehr verharmlost sie die stechenden Dissonanzen und die engen Griffe in der tiefen Lage, die Kernelemente des harmonischen Reizes darstellen.

Weitaus am überzeugendsten gelingt Liszts groß angelegte „Après une lecture de Dante: Fantasia quasi Sonata“ aus den Années de pélerinage. Knappe zwanzig Minuten dauert das einsätzige Werk und verlangt höchste Virtuosität und ein reiches Spektrum an Klangqualitäten und Dynamikabstufungen. Genau damit besticht Batik bei der Fantasia: Die Pianistin lässt die Zusammenhänge der divergierenden Abschnitte ans Licht treten und den Hörer die ausgedehnte Form verstehen, die ihr in einem großen Bogen zusammenzuhalten gelingt, ohne dabei die fließende Unbeschwertheit zu verlieren. Die Expressivität Batiks stimmt mit derjenigen ein, die Liszt in dieses Werk legte, so dass diese wie von sich heraus entstehen kann.

In Modest Mussorgskys Bildern einer Ausstellung erklingt ebenso vieles ausgesprochen stimmig und natürlich, Yuko Batik präsentiert einen durchsichtigen und abgestuften Klang, welcher sich warm und abgerundet gibt. Woran es noch etwas fehlt, ist die Bildhaftigkeit, die die zeichnerischen Vorlagen musikalisch auferstehen und lebendig werden lässt. So fehlen in Gnomus und Bydło die markante Härte und das massive Gewicht, das gerade den Ochsenkarren charakterisiert, Il vecchio castello mangelt es an dem zauberhaften Schleier, der es mit minimalen Dynamikchangierungen der Gleichförmigkeit entreißen könnte, Schmuÿle hält sein nervöses Gestottere in den schnellen Triolen und Wechselnoten aufgrund unpassender Ritenuti nicht unter Spannung und verliert somit an Glaubhaftigkeit und Kontrast zu Goldenberg, die Küken haben nicht die unbeschwerte Leichtigkeit, und der Markt von Limoges wirkt zu „geordnet“ anstelle des wimmelnden Chaos, welches ihn ausmacht. Überzeugen können hingegen die Promenade in all ihrer unendlichen Variationsbreite sowie die letzten drei Bilder (Catacombae – Cum mortuis in lingua mortua, Die Hütte auf Hühnerkrallen und das Bohatyr-Tor in Kiew), die am ausgefeiltesten, reflektiertesten und natürlichsten erklingen, während sie zugleich dem innermusikalischen Bild gerecht werden.

[Oliver Fraenzke, Juli 2016]

Gebändigter Titanismus: Kaikhosru Sorabjis »Opus Clavicembalisticum« in Berlin

Im Rahmen des eintägigen Berliner Festivals »Schwelbrand Overkill« im Heimathafen Neukölln am 31. Juli 2016 bezwang der belgische Pianist Daan Vandewalle das legendäre »Opus Clavicembalisticum« des englischen Komponisten Kaikhosru Sorabji (1892-1988), eines der längsten und zugleich schwierigsten Klavierwerke überhaupt, auf beeindruckende Weise; leider vor fast leerem Auditorium.

Der Rezensent hatte bereits 1983 im Rahmen des Bonner Beethovenfestes die Gelegenheit, die deutsche Erstaufführung des Opus Clavicembalisticum mit dem australischen Pianisten Geoffrey Douglas Madge mitzuerleben. In völliger Unkenntnis dessen, was einen dort – mit einer geschenkten Karte – in der Beethovenhalle erwarten würde, war er seinerzeit nach über fünf Stunden Klaviermarathon wirklich schockiert und überrascht zugleich. Überrascht im positiven Sinne, dass ein echter Repräsentant der Avantgarde der späten Zwanzigerjahre (das Werk entstand 1929-30) doch so völlig unbekannt geblieben war und nun endlich zu Gehör gebracht wurde. Schockiert wie wohl die meisten Zuhörer darüber, was ein Komponist in geradezu „unverschämter“ Weise sowohl der Hörerschaft wie natürlich vor allem seinen Darbietenden abzuverlangen wagt. Denn das Opus Clavicembalisticum war nur dem Titel nach aus dem Guinness Buch der Rekorde bekannt, wo es seinerzeit – fälschlicherweise – als längstes (non-repetitives) Klavierwerk aufgeführt war. Erwartet hatte man eher ein meditatives, womöglich langweiliges Werk etwa in der Art der damals aufkommenden langen Stücke von Morton Feldman, jedenfalls etwas, was vielleicht als Vorläufer einer Postmoderne einzustufen gewesen wäre. Trotz Kenntnis der großen virtuosen Klavierwerke der „Tastenlöwen“ um und nach der Jahrhundertwende (Busoni, Godowsky, Medtner usw.) war der Rezensent von der ihm damals zunächst nur als pure Gigantomanie erscheinenden Orgie an Komplexität und Klangmassierung völlig erschlagen. Nichtsdestotrotz ließ einen das Stück aber danach nicht mehr los. 1984 erschien Madges Utrechter Interpretation von 1982 – die erste nach der Uraufführung des Werks 1930 durch den Komponisten – auf Vinyl. In den Liner Notes waren auch einige Notensysteme abgedruckt, aus denen klar wurde, dass dieses Stück alles andere – einschließlich Stockhausen, Boulez und Xenakis – an Schwierigkeit übertraf. Bis eine Kopie der als Druck längst vergriffenen Notenausgabe (248 Seiten großes Querformat, ständig auf 3-5 Systemen notiert) greifbar war, vergingen noch etliche Jahre.

Madge war der erste Pianist, der vom Komponisten autorisiert wurde, das Werk öffentlich zu spielen; dies tat er sechs Mal, darunter zuletzt die zweite Aufführung in Deutschland (MaerzMusik, Berlin, 2002). Bekanntlich hat sich Sorabji ab ca. 1936 komplett als Pianist und Komponist aus der Öffentlichkeit zurückgezogen, obwohl er bis ins hohe Alter weiter komponierte – u.a. noch acht weitere Klavierwerke, die das O.C. (so das Kürzel innerhalb der Fangemeinde) an Länge und Komplexität noch weit übertreffen und größtenteils noch immer auf ihre Uraufführung warten. Grund war nicht zuletzt die Befürchtung, dass sein Werk, wenn überhaupt, nur völlig unzureichend aufgeführt werden würde. So belegte er sein komplettes Oeuvre 35 Jahre lang quasi mit einem Aufführungsverbot – die Werke nach 1930 erschienen erst gar nicht im Druck. In Großbritannien blieb er jedoch zumindest als scharfzüngiger Kritiker dem Musikleben verbunden. Der berühmte britische Pianist John Ogdon (1937-89), dem Sorabji 1959 nach einer Privataufführung die öffentliche Wiedergabe des O.C. höchstpersönlich untersagt hatte, spielte das Werk 1988 kurz vor dem Tod des Komponisten trotzig zweimal in London. 2003 bzw. 2004 traten dann zwei Pianisten der jüngeren Generation hinzu, die – das muss man ganz deutlich sagen – das Niveau der O.C.-Interpretationen doch noch eine Stufe höher schrauben konnten: Jonathan Powell (bisher vier Aufführungen) und Daan Vandewalle, der das Werk nun in Berlin zum dritten Male – nach Brügge, 2004 und Madrid, 2009 – komplett zur Aufführung brachte.

Der ‚Heimathafen Neukölln‘ ist ein erst vor wenigen Jahren liebevoll renoviertes Theaterareal in unmittelbarer Nähe der Neuköllner Oper. Die erst dritte deutsche Aufführung von Sorabjis Opus Clavicembalisticum durch Daan Vandewalle (Jahrgang 1968) fand im Rahmen des kleinen, 12 Stunden non-stop dauernden Berliner Avantgarde-Festivals Schwelbrand-Overkill am 31.07.2016 statt. Angekündigt war eine Aufführungsdauer von 13 Uhr bis 18 Uhr – also fünf Stunden. Die Hauptspielstätte, der ehemalige Rixdorfer Ballsaal, war vorsichtig mit nur ca. 140 Sitzplätzen um den auf dem Parkett platzierten Steinway D-Flügel bestuhlt. Obwohl Einlass zwischen den zwölf Einzelsätzen des O.C. erlaubt und geplant war, betraten schon zu Beginn der Aufführung nur etwa 30 Zuhörer den Raum, darunter sicherlich der eine oder andere Anhang der Veranstalter. Die geringe Fluktuation während der zwei größeren Pausen änderte daran leider nichts. Dass dieses Festival im Vergleich etwa zur MaerzMusik nur über einen deutlich geringeren Werbe-Etat verfügt, erschien also als wirklich fatal. Auch der Rezensent hatte erst drei Tage vorher von dem Event erfahren. Zwar hatte die oben erwähnte Aufführung durch Madge 2002 auch nur knapp 100 Zuschauer (ein Kritiker schrieb damals von wahrem „Publikumsgift“), aber angesichts der Tatsache, dass hier eine echte Sternstunde des Klavierspiels stattfinden sollte, war die geringe Publikumsresonanz doch enttäuschend. Die Akustik des Saals erwies sich allerdings sogleich als Glückstreffer: genau die richtige Mischung aus nicht zu langer Nachhallzeit und dennoch warmem, eben nicht zu trockenem Klang. Dies ist gerade bei diesem Stück, das ständig alle sieben Oktaven der Klaviatur nutzt (gerade den Diskant noch exzessiver als z.B. Messiaen), schon mal äußerst hilfreich.

Vandewalle erweist sich als technisch wie intellektuell überlegener Interpret. Dass er – äußerlich – während fünf Stunden Netto-Spielzeit (die Aufführung dauerte dann doch bis 19 Uhr!) keinen einzigen Schweißtropfen verliert, soll nur als Hinweis gelten. Madge hat Krawatte und Anzug geradezu zerlegt. Bei allen waghalsigen Schwierigkeiten gelingt Vandewalle zu jedem Zeitpunkt, den Klang des Flügels vollständig zu kontrollieren: Durchsichtigkeit über alle Register, niemals „Gedresche“ und ein intelligenter Einsatz des Pedals, der bei Sorabji eine ganz besondere Herausforderung darstellt, da der Bass meist über längere Zeit gehalten werden muss und gleichzeitig beide Hände in den oberen Registern mehr als genug zu tun haben. Dauernde Sprünge, für normal große Hände ungreifbare Akkorde, beidhändiges Skalenspiel in irrational verschobenen Rhythmen – alles kein Problem für den flämischen Pianisten. Aber auch die lyrischen Momente, konzentriertes Piano, oft geheimnisvolles Pianissimo und ein schönes Legatospiel gelingen – soweit das Handwerk.

Ferruccio Busonis Fantasia contrappuntistica (1910) kann man als Hommage an J. S. Bachs „Kunst der Fuge“ betrachten – so wird dort etwa die unvollendet gebliebene Quadrupelfuge (Contrapunctus XIV) zu Ende geführt. Umgekehrt ist das O.C. eine Hommage auf eben das Busonische Stück. Bereits auf der ersten Seite des kurzen I. Satzes (Introitus) erscheint – wie beim Vorbild – die Choralmelodie „Allein Gott in der Höh‘ sei Ehr‘“, der II. Satz ist wie der Beginn der Fantasia contrappuntistica mit Preludio-corale betitelt, um nur erste Parallelen aufzuzeigen, und auch die Aufteilung der 12 Sätze in eine dreiteilige Großform (Pars prima, Pars altera, Pars tertia) kennt man von Busoni: aus seinem Klavierkonzert. Nur ist bei Sorabji alles ins Überdimensionale gesteigert. Seiner Liebe zu Quadrat- bzw. Kubikzahlen ist etwa die völlig aus dem üblichen Rahmen fallende Anzahl der Variationen in den beiden Interludien – 49 im VI. Satz, 81 in der Passacaglia des IX. Satzes – geschuldet. Die Variationssätze sind dennoch die Sahnestücke für den Zuhörer: Hier, besonders in der Passacaglia, gelingen Sorabji und auch Vandewalle Momente von unfassbarer Schönheit. Andererseits wird gerade hier gleichzeitig klar, dass Sorabji eben nicht zur Gruppe spätromantischer Eklektiker gehört, sondern eindeutig zur Avantgarde. Das Thema der Passacaglia würde sich ohne weiteres für eine quasi romantisierende Bearbeitung eignen, aber hier wird keine Vergangenheit im Sinne einer Verklärung der Renaissance evoziert, sondern aktuelle, zum Teil beißend ironische, gar sarkastische Kulturkritik betrieben – der vielbeschriebene Tanz auf dem Vulkan zwischen den zwei Weltkriegen wird gebrochen zur Sisyphusarbeit. Zu dieser doch sehr bipolaren Sichtweise hat Daan Vandewalle die nötige intellektuelle Einsicht wie auch den erforderlichen emotionalen Zugang, der sich auch über die Längen aufs Publikum überträgt.

Das eigentliche Problem beim O.C. sind jedoch für den Interpreten wie für die Hörer die Fugen – wie es auch Vandewalle in einem Interview fürs Programmheft beschreibt: [siehe hier] „sie sind extrem lang und monochrom. Man kann leicht in die Falle geraten, dass man sie einfach so runterspielt, dass es immer weitergeht und weitergeht und weitergeht. Ich möchte die Fugen diesmal viel lyrischer spielen. Nicht der Rhythmus soll dominieren, sondern die melodische Linie.“ Es gibt vier Fugen (die Sätze III, V, VIII u. XI), die sich von der einfachen bis zur Quadrupelfuge steigern, aber auch in ihrer Länge bis hin zu einer Dreiviertelstunde („die letzten Fugen sind fast inhuman“). Trotz Sorabjis intensiver Beschäftigung mit Bach und Palestrina sind sie alle schwierig zu hören, da sie weder über prägnantes thematisches Material verfügen, als auch bereits einfachste kontrapunktische Regeln tonaler Satzlehre (Note gegen Note) ignorieren. Die Schlussfuge mit ihrer Coda-stretta grenzt in der Tat schon fast ans Absurde: nicht mehr wirklich manuell ‚greifbar‘, aber auch als Konstruktion bereits ‚unbegreifbar‘, obwohl es eigentlich nur um altbekannte Fugentechniken geht. Hier ist Sorabji seiner Zeit voraus, schon ganz nah bei Xenakis (etwa dessen auf elf Systemen notiertem Soloklavierpart im Klavierkonzert Synaphai) oder vielleicht auch Camus‘ Existentialismus im Mythos des Sisyphos. Kulturgut gerät gefährlich ins Kippen und wird zur Gratwanderung. Vandewalles größte Leistung an diesem langen Nachmittag ist, dass es ihm tatsächlich gelingt, nicht nur die Fugen – zumindest bis zur sensationell bewältigten Tripelfuge – sondern das Werk als Ganzes zusammenzuhalten. Da erübrigt sich auch jede Diskussion über vielleicht stellenweise zu langsame Tempi. Natürlich verlangt dies auch vom Zuhörer große Konzentration – einige der wenigen Jüngeren im Publikum übermannte irgendwann die Müdigkeit.

„Es gibt immer wieder überdimensionierte Kulturzeugnisse. Es gibt kürzere Bücher und längere Bücher, aber es gibt auch Proust. Wenn man Proust liest, ist man auch nicht entspannt, man muss das auch durchhalten.“ (Vandewalle)

Etwas unglücklich war die Position der Pausen: Hatte Vandewalle ursprünglich mit einer einzigen auskommen wollen? Nicht am Ende der Partes I bzw. II, sondern nach den Interludien – die eigentlich am Anfang der beiden letzten Teile des Werks stehen – gab’s die längeren Unterbrechungen. Dem Steinway hätte da ein Nachstimmen gutgetan. Aus den Pausengesprächen konnte man erfahren, dass der größere Teil der Zuhörer das Werk zumindest schon von der CD (Madge, Chicago 1983, auf BIS) her kannte oder die Berliner Aufführung 2002 gehört hatte. Einige waren wie der Rezensent von weither angereist. Scheint also doch ein grundsätzliches Problem zu sein, für so ein Wahnsinnsstück neues Publikum zu rekrutieren. Am Schluss minutenlanger Applaus für den dann doch erschöpft aber erleichtert und zufrieden wirkenden Pianisten – eine musikalische Meisterleistung war das ohne Zweifel!

Die Veranstalter haben das Ereignis professionell in Bild und Ton mitgeschnitten. Man kann nur hoffen, dass das Ergebnis irgendwann einer größeren Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird.

[Martin Blaumeiser, August 2016]