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Sorabjis „Sequentia Cyclica“ beim Heidelberger Frühling

The Sorabji Project im Heidelberger Frühling 2022. © Nico Rademacher/studio visuell für den Heidelberger Frühling

Wegen Corona um ein Jahr verschoben, spielte der britische Pianist Jonathan Powell in der Aula der Alten Heidelberger Universität vom 1.–3. April 2022 – verteilt auf fünf Konzerttermine – die deutsche Erstaufführung der gigantischen, über 8-stündigen Sequentia Cyclica des britisch-parsischen Komponisten Kaikhosru Sorabji beim Heidelberger Frühling. Eine in jeder Hinsicht sensationelle Leistung, die erstaunlicherweise auch nicht-spezialisiertes Publikum begeistern konnte.

Igor Levit, der sich ja gerade auch mit einem extrem umfangreichen Variationswerk – der Passacaglia on DSCH des Briten Ronald Stevenson – auseinandergesetzt hat, ist nun Co-Intendant des Heidelberger Frühlings, der dieses Jahr sein 25-jähriges Jubiläum feiert. Seine Kammermusikreihe „Standpunkte“ machte dieses Mal den Begriff „Entgrenzung“ zum Thema; und es gibt wohl kein Musikstück, das dem besser Ausdruck verleihen könnte als die monumentale Sequentia Cyclica super Dies Irae ex Missa pro Defunctis ad Clavicembali usum des britisch-parsischen Außenseiters Kaikhosru Shapurji Sorabji (1892–1988). Dieser hinterließ ein Klavierwerk vom Umfange Liszts, das sich nicht nur durch exorbitante technische Anforderungen auszeichnet, die so zumindest zwischen 1920 und 1955 bei keinem anderen Klavierkomponisten zu finden sind. Darüber hinaus beanspruchen etliche Stücke Spieldauern von zwei bis über 9 Stunden. Sorabji war sich wohl des geradezu übermenschlichen Anspruchs seiner Musik an Ausführende wie Zuhörer bewusst, und verhinderte ab ca. 1936 für fast 40 Jahre jegliche Aufführungen, behielt die ab 1930 entstandenen Riesenwerke gleich mal als Manuskripte in seiner Schublade. Erst Mitte der 1970er löste der Komponist diesen „Bann“ – vor allem auf Zureden seines Kollegen Alistair Hinton, der sich bis heute um Sorabjis Nachlass kümmert, und mithilfe engagierter Musikwissenschaftler nun den Großteil der Klaviermusik in Computersatz-Editionen zugänglich und damit überhaupt erst spielbar gemacht hat (Link: http://www.sorabji-archive.co.uk).

Spielbar bleibt Sorabjis Musik – nicht nur die epischen Stücke – freilich ausschließlich für Superpianisten vom Schlage Jonathan Powells. Selbst jemand wie Marc-André Hamelin sagt längst, dass er Sorabjis Musik gerne „jüngeren und kräftigeren Händen“ überlassen wolle, bzw.: „Life is too short to practice that.“ Powell (Jahrgang 1969) hat sich schon als Jugendlicher mit äußerst avancierter Musik beschäftigt, etwa der britischen Avantgarde (Michael Finnissy etc.), verfasste in den 1990ern eine Dissertation über die russische Komponistengeneration in der Nachfolge Skrjabins – deren Musik er ebenfalls kongenial interpretiert. Auch zu Sorabji kam Powell früh und ist heute zweifelsfrei der berufenste Pianist für dieses Extremrepertoire, hat mittlerweile 16 CDs damit eingespielt, mehrere Stücke uraufgeführt. Die Sequentia Cyclica ist mit über acht Stunden Sorabjis zweitlängstes Klavierwerk – das er für sein bestes hielt. Für die Ersteinspielung erhielt Powell 2020 den Vierteljahrespreis der Deutschen Schallplattenkritik. Man muss Igor Levit und der Festivalleitung danken, dass sie diese Mammutaufführung im Rahmen eines „normalen“, deutschen Musikfests nun ermöglicht haben – die wunderschöne Alte Aula der Heidelberger Universität erwies sich dafür als der perfekte Ort: nicht zu groß für Repertoire, das (bisher!) als absolutes Kassengift galt, und dazu akustisch dankbar.

In Heidelberg hat der Pianist die 27 Variationen – bei Sorabji müssen das immer Quadrat- oder Kubikzahlen sein – auf fünf Konzerte aufgeteilt, die somit zwischen 70 und 105 Minuten dauerten: Die Reihe begann am Freitag um 16 Uhr, am Samstag und Sonntag folgten jeweils um 11 bzw. 16 Uhr die weiteren Teile des Zyklus. Da auch noch interessante Programme des Festivals parallel liefen, hatten einige Besucher teils zwischendrin andere Verpflichtungen. Bemerkenswert ist aber, dass viele von ihnen sich von Sorabjis außerordentlich fordernder Musik nicht verschrecken ließen, sondern dann wiederkamen. Und hier saßen nicht nur wenige eingefleischte Sorabji-Fans im Publikum, sondern auch aufgeschlossene Neugierige, darunter etliche junge Zuhörer. In jedem Fall erwies sich die Aufteilung als vernünftig; die einzelnen Variationen haben ganz unterschiedliche Längen: von etüdenhaften knapp 2 Minuten bis hin zu drei Variationen – einem Choralvorspiel, einer Passacaglia mit ihrerseits 100 (!) Variationen sowie der abschließenden Quintupelfuge, die mehr als sechsstimmig wird – mit jeweils über einer Stunde. Powell hat das Wahnsinnswerk tatsächlich erst am 23. März in Riga sozusagen am Stück gespielt!

Die Klaviermusik Sorabjis – Sohn eines parsischen Vaters aus Bombay und einer Britin – hat historisch verschiedene Wurzeln: Es beginnt um ca. 1915 mit Einflüssen insbesondere des Impressionismus, bald darauf Skrjabins. Sehr schnell wird aber Ferruccio Busoni zum großen, geradezu vergötterten Vorbild. Dabei spielt dessen späte, sogenannte Junge Klassizität eigentlich keine Rolle, vielmehr der hyperkomplexe Klaviersatz – namentlich des Klavierkonzerts und der Fantasia contrappuntistica – sowie Momente des Phantastischen (Doktor Faust). Diese Komplexität – im Rhythmischen geht er mit fast ständig irrationalen Schichtungen deutlich weiter – führt bei Sorabji schon allein durch ihre unerhörte Dichte zu atonalen Bildungen, obwohl zwischendrin immer wieder tonale, leicht vergiftete Akkorde erscheinen.

Die Sequentia Cyclica – entstanden 1948/49 und Busonis Lieblingsschüler Egon Petri gewidmet – ist allerdings zugänglicher als frühere Werke: Zum einen ist ja das Thema des Dies irae (Sorabji benutzt als Material jedoch nicht nur die ersten Verse, sondern den gesamten Hymnus) aus vielen anderen Paraphrasierungen bestens bekannt. Einige der Variationen sind zudem leicht nachvollziehbare Charakterstücke wie Walzer, Marcia funebre (im Stile Alkans), eine Hommage an Debussy, eine mit spanischem Kolorit (Ispanica) usw. Das ist zwar oft überdimensional, und in der sich von der Zwei- bis zunächst Sechsstimmigkeit aufbauenden Schlussfuge scheint der Komponist der fast chaotischen Entwicklung bereits der Einzelfugen scheinbar gar Einhalt gebieten zu müssen, indem er zum Teil quasi einfach abbricht. Natürlich nur, um dann mit noch exquisiteren Einfällen neu zu beginnen, bis sich zuletzt in einem gewaltigen Stretto maestrale die fünf Themen zu einem Himalaya von Noten übereinander türmen und in gewaltigen Akkordkaskaden (con brio volcanico) entladen. Das hat etwas vom Turmbau zu Babel, aber erinnert zugleich an phantastische Kunst wie die Carceri Piranesis oder die paradoxen Geometrien Maurits Eschers.

Jonathan Powell ist von Beginn an hochkonzentriert; er spielt diesen Berg von 377 DIN A3-quer-Notenblättern schließlich nicht zum ersten Mal. Nur in den beiden Anfangsvariationen spürt man leichte Nervosität – vielleicht wegen des für Sorabji ungewöhnlich großen Publikumsinteresses? Spätestens in Variation IV (dem gewaltigen Choralvorspiel, bereits über weite Strecken auf vier Systemen notiert) ist er jedoch in seinem Element. Sein Klavierspiel zeichnet sich durch enorme Sonorität und genauestens ausdifferenzierte Dynamik aus; selbst an den lautesten Stellen – und die finden sich reichlich! – wird der Klang nie hart. Ein besonderes Problem bei Sorabji ist ja, dass meist Akkorde über lange Zeit – es gibt nur ab und zu Taktstriche zur Orientierung, selten ein festes Metrum – gehalten werden müssen. Das sogenannte Sostenuto-Pedal nützt da leider nichts, so dass die gesamte Dämpfung freigegeben werden muss, aber die vielstimmigen Geschehnisse über den Akkordpfeilern ja nicht zu unkenntlichem Brei verschwimmen dürfen. Die dafür nötige Präzision des Anschlags beherrscht Powell meisterhaft – und er behält ebenso den Überblick über die großräumigen harmonischen Verläufe.

So bleibt seine Darbietung über die gesamten acht Stunden ein einziger Genuss – fast unglaublich, wie der Pianist seine Konzentration aufrechterhält und gleichzeitig mit dem Publikum über die Musik kommuniziert. Dass die Technik manuell absolut ökonomisch bleiben muss, ist im Hinblick auf die haarsträubenden Schwierigkeiten natürlich überlebenswichtig – Showeffekte à la Lang Lang wären hier tödlich. Powells Tempi sind – gerade auch in der Schlussfuge, wo er statt 79 Minuten nur knapp über 60 Minuten braucht – teils deutlich schneller als in der CD-Aufnahme, ohne dass die Durchsichtigkeit darunter leidet. Das wäre bei einer zusammenhängenden Aufführung wohl kaum so möglich. Nie fallen die Riesenstücke auseinander; und die Dramaturgie des Gesamtwerkes überträgt sich – trotz der Pausen zwischen den Konzerten – gleichermaßen auf die Zuhörer, die die gesamte Zeit wie gebannt bei der Stange bleiben. Die vielfältigen Charaktere gelingen Powell auf den Punkt, sogar die rauen, komplizierten Abschnitte – eine der typischen Vortragsangaben Sorabjis dabei: Ardito, focosamente – geraten nie grob und bleiben bis in die ornamentalen Details farbig. Wie vielschichtig und abwechslungsreich Sorabjis Musik dann doch ist, demonstriert der Pianist auf hinreißende Weise in besagter Passacaglia.

Nach jedem der vier ersten Konzerte erhält Jonathan Powell tosenden Applaus von einem restlos begeisterten Publikum, beinahe ungläubig angesichts dessen, was der Pianist mit zwei Händen zu (be)greifen vermag. Nach der letzten Variation – am Ende der Partitur schreibt Sorabji: Deo gratias et laudes […] AMEN – erhebt sich die immer noch gut besuchte Aula sofort zu Standing Ovations. Der Künstler, der die körperlichen wie musikalischen Herausforderungen souverän gemeistert hat, ist sichtlich zufrieden. Und den Zuhörern ist klar, dass die meisten einem in ihrem Leben vielleicht einmaligen Konzerterlebnis beigewohnt haben, das keinesfalls sportiven Charakter hatte. Fast geschlossen nehmen sie dann sogar noch an der anschließenden Podiumsdiskussion mit Powell und Prof. Christoph Flamm teil. Das Festival postet später, dass der Applaus in der bisherigen Geschichte des Heidelberger Frühlings singulär gewesen sei. Ist man in Baden sonst wirklich so zurückhaltend? Das Experiment ist jedenfalls aufgegangen – gut, dass man sich in Heidelberg dazu getraut hat. Kassengift: mag sein – Publikumsgift: klares Nein! Schade nur, dass der Komponist einen solchen – von ihm stets bezweifelten – Erfolg zu Lebzeiten nie erleben durfte.

[Martin Blaumeiser, 7. April 2022]

Ein britisches Monster entvölkert die Elbphilharmonie – A British Monster Empties the Elbphilharmonie

[English translation below]

Ein musikalisches Weltereignis durfte man am Sonntag, 15.9.2019 mit Kevin Bowyers Aufführung der 2. Orgelsinfonie des britischen Komponisten Kaikhosru Sorabji (1892-1988) in der Elbphilharmonie bestaunen. War dies doch erst die dritte, zusammenhängende Darbietung dieses mit netto 8½ Stunden Spieldauer wohl längsten nicht-repetitiven Orgelwerkes der gesamten Literatur. Die dortige Klais-Orgel erwies sich als ein klanglich optimaler Vermittler dieser über die gesamte Länge zudem äußerst komplexen Musik. Wie eigentlich immer bei Sorabji mochte – oder konnte – nur ein kleiner Teil der Zuhörer diesem Spektakel bis zum Schluss folgen.

Zunächst einmal muss man der Leitung der Elbphilharmonie höchstes Lob dafür zollen, dass sie es überhaupt ermöglicht hat, dieses ursprünglich bereits für Mai 2018 angesetzte Konzert – der britische Organist musste damals kurzfristig absagen – nun doch noch stattfinden zu lassen. Es gehört Mut dazu, einen Komponisten aufs Programm für den großen Saal (2100 Plätze) zu setzen, der in Deutschland nahezu unbekannt ist, und sich hartnäckig als „Kassengift“ allerhöchster Güte erweist – zumal mit einem Pauschalpreis von nur 40 €. Natürlich ist es fast schon eine Zumutung, auch für das Publikum, die Menschheit mit einer derart langen Klangorgie zu bombardieren – ganz abgesehen von den im Grunde übermenschlichen manuellen wie intellektuellen Anforderungen an einen Interpreten. Trotzdem dürfen die „Macher“ des Hauses das Event als Erfolg verbuchen. Es waren wohl 800 Karten verkauft: Um 11 Uhr erscheinen ca. 650 Zuhörer, von denen nach dem 80-minütigen 1. Satz etwa die Hälfte bleiben. Der zweite Satz mit seiner Dauer von gut 4 Std. bekommt noch eine Pause – nach der 28. Variation, die insgesamt so wie ein Trugschluss wirkt. Bis zu dessen Ende kurz nach 18 Uhr hat sich dann aber längst der „harte Kern“ herauskristallisiert, der auch bis zum Schluss durchhält. Dazu kommen schließlich noch ein paar neue Gäste, denn den zweiten Teil (3. Satz) der Orgelsinfonie konnte man für 20 Uhr separat buchen.

Kevin Bowyer hat sich seit Mitte der 1980er Jahre mit den drei Orgelsinfonien Sorabjis intensiv auseinandergesetzt und den schon über 95-Jährigen – dann bereits im Pflegeheim – noch persönlich kennengelernt. Bowyer hat nicht nur 1988 die erste CD-Aufnahme der 1. Orgelsinfonie (der einzig zu Lebzeiten des Komponisten gedruckten) eingespielt (auf Continuum) – mit 2 Stunden „das Baby“ (Bowyer) –, sondern dann von dieser und den beiden monströsen, bis dato nur als Manuskript vorliegenden Folgewerken, in mühevoller Kleinarbeit wissenschaftlich-kritische Neueditionen herausgegeben. Und schließlich wurde 2010 dann von ihm die 2. Orgelsinfonie (1929-32) in Glasgow endlich aus der Taufe gehoben. Niemand sonst hat sich bisher an diesen Giganten gewagt.

Der Rezensent hatte seine erste Begegnung mit Sorabjis maßloser Musik 1983 (Opus Clavicembalisticum, nachzulesen hier in einer Konzertkritik von 2016). Trotzdem herrscht auch bei mir eine gewisse Anspannung, wie man wohl ein – mit Pausen – 12-stündiges Konzert überstehen würde. Nach einer kurzen Einführung – u.a. mit dem Hinweis auf die 65 Stunden Arbeit, allein die 1475 verschiedenen Registrierungen in die Klais-Orgel einzuprogrammieren – startet Bowyer also den riesigen, dichten Kopfsatz: Quasi atonal und über Strecken „very angry“ (Bowyer). Das Stück folgt keinesfalls der klassischen Sonatenhauptsatzform – Sorabji mochte die Wiener Klassik, insbesondere Beethoven, überhaupt nicht. Vielmehr baut der Satz auf nicht weniger als 16 verschiedenen Themen auf – mit simultan fünf davon startet schon der erste Takt. Hier geht es also – wie vorher im 1. Satz seiner 4. Klaviersonate – nicht um simple Dialektik, sondern eher um eine Art stream of consciousness, wie man ihn aus James Joyces Ulysses kennt, oder zumindest ansatzweise von Busonis Klavierkonzert. Die einzelnen Themen werden permanent umgeformt und treffen in stets neuer Kombination aufeinander, oft mit absurd schwierig auszuführender rhythmischer Komplexität: Die durchgehend vier Systeme sind schwarz von Noten – Reger zum Quadrat. Bowyers Registrierung erweist sich angesichts dieser Notenmassen als erstaunlich durchsichtig und selbst in den dicksten Akkordballungen im Orgelplenum dazu noch klangschön. Dennoch treiben die ersten Höhepunkte mit lang ausgehaltenen ffff-Akkorden schon Teile des Publikums in die Flucht. Die Akustik der Elbphilharmonie ist für diese Musik geradezu ideal; mit dem Hall einer Kirche gingen viele Details verloren, die hier mit hochdifferenzierter Dynamik und immer neuen, abwechslungsreichen Klangfarben alle voll zur Geltung kommen. Eine Zuhörerin, die leider nur bis zum Mittag Zeit hat, sagt mir, dass sie diesen Satz trotz der für sie gewöhnungsbedürftigen Harmonik zu jeder Zeit wie eine „gut erzählte Geschichte“ aufnehmen konnte.

Der zweite Satz – in der Partitur als Thema cum variationibus (49) betitelt, was angesichts Sorabjis Quadratzahlenfetischismus auch zu erwarten wäre, hat tatsächlich 50 (es gibt Var. 43a und 43b). Abgesehen von der immensen Länge ist er wesentlich leichter fasslich als der erste Satz, auch weitestgehend tonal. Unnötig zu sagen, dass der Einfallsreichtum des Komponisten bezüglich Faktur (bis zu 7 Systeme!) und Ausdruck einen wahren Kosmos darstellt, dem sich der Hörer kaum entziehen kann. Und Bowyer darf auch hier wieder mit Klängen bezaubern, die teilweise verrückt und schräg sind – für mich gab es etwas zu viele Tremoloeffekte – aber immer die Struktur und vor allem die Idee dahinter genau treffen. Die Schönheiten erfasst der Hörer am besten mit geschlossenen Augen – dann entsteht ein dreidimensionales, plastisches Klangbild von fast hellsichtiger Klarheit. Was aber auch beweist, wie stark Sorabjis Musik das Gehirn in Anspruch nimmt: Lässt man die – zugegeben auch interessante – Betrachtung eines mit Händen und Füßen geradezu unfassbar agilen Organisten weg, schnappt sich Sorabji sofort auch noch die restlichen, dadurch frei gewordenen Kapazitäten. Die letzten Variationen beziehen nach und nach zusätzlich alle Themen des 1. Satzes mit ein – spätestens bei Var. 48 ist auch hier Schluss mit lustig.

Der nonstop dreistündige dritte Satz Finale. Preludio, Adagio, Toccata et Fuga beginnt zwar ruhig, fast harmlos mit gewissen Bezügen zu Messiaens Le Banquet céleste; ab der Toccata wird es dann aber wild und hochvirtuos. Die abschließende Fuge allein dauert 120 Minuten, ist damit wohl die längste jemals komponierte Orgelfuge, auch in Sorabjis Werk einmalig. Die Komplexität ist unbegreiflich, der Satz – man darf sich da nicht durch das Wort Tripelfuge täuschen lassen – ist fast die ganze Zeit sechsstimmig, von den drei Themen gibt es Durchführungen in allen möglichen Kombinationen, natürlich inklusive Krebs und Umkehrung. Die Konzentration und ständige Handspannung, die hier dem Interpreten abverlangt wird, ist eigentlich unmenschlich. Und wieviele Kilometer mag der Organist heute allein mit den Füßen zurückgelegt haben? Bowyer ist aber nun anscheinend in einem absoluten Flow – er bekommt, und da ist die Orgel natürlich gegenüber den Klavierfugen Sorabjis im Vorteil, auch hier eine Durchsichtigkeit hin, die man nie für möglich gehalten hätte. Der Schlussakkord wirkt dann wirklich wie der Blick vom Mount Everest, oder vom Weltall auf die Erde. Die kaum 100 verbliebenen Zuhörer – auch hier haben noch vor Beginn der Fuge viele der Neuankömmlinge bereits das Handtuch geworfen – geben dem sich bescheiden verbeugenden Kevin Bowyer standing ovations – und sind natürlich auch verdientermaßen ein wenig stolz auf ihr eigenes Durchhaltevermögen. Doch der Applaus gilt definitiv nicht nur der sportlichen Ironman-Leistung, sondern auch der musikalischen Grenzüberschreitung, die Sorabji provoziert. Für sie – den Rezensenten natürlich eingeschlossen – war das in jeder Hinsicht ein großer Konzerttag.


A real musical world event could be marvelled at here in Hamburg’s Elbphilharmonie last Sunday, 15th September 2019. Kevin Bowyer played the 2nd Organ Symphony by the British composer Kaikhosru Sorabji (1892-1988) – only for the third time complete within one day. With its duration of 8½ hours this piece probably is the longest non-repetitive organ work of all time. The local Klais organ proved as an optimal sound agent for this moreover extremely complex music. As always with Sorabji only a small part of the audience liked – or was able – to follow this spectacle to its very end.

First of all Elbphilharmonie‘s management deserves the highest praise for having made this event possible anyway. The performance was initially fixed for a festival in May 2018, but the organist had to cancel it briefly. It needs much courage to put a composer on a program for the large concert hall (2,100 seats), who’s almost unknown in Germany and shows as a persistent box-office poison, especially at a price of only 40 €. Of course, it’s almost an imposition also for the audience, to bomb mankind with such an orgy of sounds – apart from the basically superhuman manual and intellectual demands on the performer. Nevertheless, the house can chalk this event up as a success. 800 tickets were sold: Approx. 650 listeners are appearing at 11 o’clock, half of them will stay after the 1st movement (80 minutes). The 2nd movement of 4 hours duration gets an additional pause – after the 28th variation, which works as a deceptive cadence. The hardcore fans have crystallised out for a long time until its ending at 6 o’clock p.m. – those will stand the whole concert. Finally, there are arriving some new guests at 8 o’clock; the 2nd part (3rd mvt.) of the organ symphony could be booked separately.

Kevin Bowyer has intensively worked on Sorabji’s three organ symphonies since the mid-1980s and still met the composer, then at 95 already living in a nursing home. Bowyer not only recorded the first CD of Organ Symphony No. 1, the only one printed during the composer’s lifetime, in 1988 – “the Baby” (Bowyer): Later he published new critical editions of all three works with painstaking attention to detail. Finally, he premièred the 2nd organ symphony (1929-1932) in Glasgow, 2010. Nobody else has ventured to tackle this giant so far…

The reviewer had his first encounter with Sorabji’s unbounded music in 1983 (Opus Clavicembalisticum, read the story here in a 2016 concert review). Nevertheless, there’s some tension how to stand a twelve-hour – with breaks – performance. After a short introduction with, among other things, reference to the 65-hour work necessary alone for programming the Klais organ with 1,475 different registrations, Bowyer begins with the huge first movement: almost atonal and „very angry“ (Bowyer). The piece doesn’t follow the classical sonata form in any way – Sorabji disliked the Viennese Classic, especially Beethoven. The movement rather is built up of no less than 16 different themes – already the very first bar simultaneously starts with five of them. The matter here, as in the first movement of the 4th piano sonata, isn’t about simple dialectic, more like some kind of stream of consciousness, we know from James Joyce’s Ulysses, or basically from Busoni’s piano concerto. The individual themes are permanently being transformed and clash in always new combinations – resulting in absurd rhythmical complexity most of the time, intricate to play. The non-stop four staves are black of notes – Reger to the square. Bowyer’s registration in view of that massiveness proves astonishing transparency with a certain beauty of tone even in the thickest chordal accumulations. Still the first climaxes with long sustained ffff-chords put parts of the audience to flight. The acoustics of the Elbphilharmonie is really ideal for this music. With the reverberation of a church many details would get lost; here they are shown to their fullest advantage, with subtle nuances of dynamics and varied timbres. A listener, who unfortunately has only time until lunch, tells me, that she received this movement, despite the harmonics she initially had to get used to, like a “well told story” at any time.

The 2nd movement, entitled in the score as Thema cum variationibus (49), what could be expected knowing about Sorabji’s obsession with square numbers, indeed has 50 – there are Var. 43a and 43b. Apart from the immense duration it is much easier comprehensible than the first one, and more tonal, too. Unnecessary to say, that the composer’s inventiveness regarding the musical texture (on up to seven staves!) and expression represents a real cosmos the listener can hardly resist. This again gives Bowyer reason to enchant with sounds, that are partly crazy or strident, but always convenient for the structure and the ideas beyond. For me there are only a little too much tremolo effects. The listener can grasp all this beauty best with closed eyes – then there will emerge a three-dimensional sound shape of shrewd clarity. This shows how demanding Sorabji’s music is of our brain: If you leave out the observation of the incredibly agile organist, Sorabji immediately takes advantage of the capacities thus set free. The last variations gradually include all the themes from the first movement – at the latest from variation 48 onwards the fun’s over.

The 3rd movement Finale. Preludio, Adagio, Toccata et Fuga calmly, almost harmlessly starts with some references to Messiaen’s Le Banquet céleste, from the Toccata on it goes wild and highly virtuoso again – another three hours non-stop. The final fugue alone lasts 120 minutes and is probably the longest organ fugue ever composed, even unique in Sorabji’s output. Its complexity seems unbelievable – you mustn’t be fooled by the term triple fugue – it’s six-part most of the time. There are extensive expositions of all three themes, and everything comes in retrograde, inversion etc. in all possible combinations during the development. The concentration and constantly broad span in both hands demanded from the performer is really tremendous. And how many miles did the organist with his feet alone today? Bowyer apparently is in an absolute flow now – he even here achieves a level of transparency, one never would have believed in. The possibilities of the organ are superior to Sorabji’s fugues for the piano, of course. The final chord in the end indeed has an effect like a view from Mt. Everest, or even outer space, on earth. The hardly hundred remaining listeners – many of the newcomers again have given up already before the fugue – are celebrating Kevin Bowyer, modestly bowing, with standing ovations. They are deservedly a little bit proud of their own stamina. But the applause isn’t only for the outstanding “Ironman” performance, but also for the overstepping of the boundaries, which Sorabji’s music provokes. For the audience, including the reviewer, this was a great concert experience in every sense.

 [Martin Blaumeiser, September 2019]

Gebändigter Titanismus: Kaikhosru Sorabjis »Opus Clavicembalisticum« in Berlin

Im Rahmen des eintägigen Berliner Festivals »Schwelbrand Overkill« im Heimathafen Neukölln am 31. Juli 2016 bezwang der belgische Pianist Daan Vandewalle das legendäre »Opus Clavicembalisticum« des englischen Komponisten Kaikhosru Sorabji (1892-1988), eines der längsten und zugleich schwierigsten Klavierwerke überhaupt, auf beeindruckende Weise; leider vor fast leerem Auditorium.

Der Rezensent hatte bereits 1983 im Rahmen des Bonner Beethovenfestes die Gelegenheit, die deutsche Erstaufführung des Opus Clavicembalisticum mit dem australischen Pianisten Geoffrey Douglas Madge mitzuerleben. In völliger Unkenntnis dessen, was einen dort – mit einer geschenkten Karte – in der Beethovenhalle erwarten würde, war er seinerzeit nach über fünf Stunden Klaviermarathon wirklich schockiert und überrascht zugleich. Überrascht im positiven Sinne, dass ein echter Repräsentant der Avantgarde der späten Zwanzigerjahre (das Werk entstand 1929-30) doch so völlig unbekannt geblieben war und nun endlich zu Gehör gebracht wurde. Schockiert wie wohl die meisten Zuhörer darüber, was ein Komponist in geradezu „unverschämter“ Weise sowohl der Hörerschaft wie natürlich vor allem seinen Darbietenden abzuverlangen wagt. Denn das Opus Clavicembalisticum war nur dem Titel nach aus dem Guinness Buch der Rekorde bekannt, wo es seinerzeit – fälschlicherweise – als längstes (non-repetitives) Klavierwerk aufgeführt war. Erwartet hatte man eher ein meditatives, womöglich langweiliges Werk etwa in der Art der damals aufkommenden langen Stücke von Morton Feldman, jedenfalls etwas, was vielleicht als Vorläufer einer Postmoderne einzustufen gewesen wäre. Trotz Kenntnis der großen virtuosen Klavierwerke der „Tastenlöwen“ um und nach der Jahrhundertwende (Busoni, Godowsky, Medtner usw.) war der Rezensent von der ihm damals zunächst nur als pure Gigantomanie erscheinenden Orgie an Komplexität und Klangmassierung völlig erschlagen. Nichtsdestotrotz ließ einen das Stück aber danach nicht mehr los. 1984 erschien Madges Utrechter Interpretation von 1982 – die erste nach der Uraufführung des Werks 1930 durch den Komponisten – auf Vinyl. In den Liner Notes waren auch einige Notensysteme abgedruckt, aus denen klar wurde, dass dieses Stück alles andere – einschließlich Stockhausen, Boulez und Xenakis – an Schwierigkeit übertraf. Bis eine Kopie der als Druck längst vergriffenen Notenausgabe (248 Seiten großes Querformat, ständig auf 3-5 Systemen notiert) greifbar war, vergingen noch etliche Jahre.

Madge war der erste Pianist, der vom Komponisten autorisiert wurde, das Werk öffentlich zu spielen; dies tat er sechs Mal, darunter zuletzt die zweite Aufführung in Deutschland (MaerzMusik, Berlin, 2002). Bekanntlich hat sich Sorabji ab ca. 1936 komplett als Pianist und Komponist aus der Öffentlichkeit zurückgezogen, obwohl er bis ins hohe Alter weiter komponierte – u.a. noch acht weitere Klavierwerke, die das O.C. (so das Kürzel innerhalb der Fangemeinde) an Länge und Komplexität noch weit übertreffen und größtenteils noch immer auf ihre Uraufführung warten. Grund war nicht zuletzt die Befürchtung, dass sein Werk, wenn überhaupt, nur völlig unzureichend aufgeführt werden würde. So belegte er sein komplettes Oeuvre 35 Jahre lang quasi mit einem Aufführungsverbot – die Werke nach 1930 erschienen erst gar nicht im Druck. In Großbritannien blieb er jedoch zumindest als scharfzüngiger Kritiker dem Musikleben verbunden. Der berühmte britische Pianist John Ogdon (1937-89), dem Sorabji 1959 nach einer Privataufführung die öffentliche Wiedergabe des O.C. höchstpersönlich untersagt hatte, spielte das Werk 1988 kurz vor dem Tod des Komponisten trotzig zweimal in London. 2003 bzw. 2004 traten dann zwei Pianisten der jüngeren Generation hinzu, die – das muss man ganz deutlich sagen – das Niveau der O.C.-Interpretationen doch noch eine Stufe höher schrauben konnten: Jonathan Powell (bisher vier Aufführungen) und Daan Vandewalle, der das Werk nun in Berlin zum dritten Male – nach Brügge, 2004 und Madrid, 2009 – komplett zur Aufführung brachte.

Der ‚Heimathafen Neukölln‘ ist ein erst vor wenigen Jahren liebevoll renoviertes Theaterareal in unmittelbarer Nähe der Neuköllner Oper. Die erst dritte deutsche Aufführung von Sorabjis Opus Clavicembalisticum durch Daan Vandewalle (Jahrgang 1968) fand im Rahmen des kleinen, 12 Stunden non-stop dauernden Berliner Avantgarde-Festivals Schwelbrand-Overkill am 31.07.2016 statt. Angekündigt war eine Aufführungsdauer von 13 Uhr bis 18 Uhr – also fünf Stunden. Die Hauptspielstätte, der ehemalige Rixdorfer Ballsaal, war vorsichtig mit nur ca. 140 Sitzplätzen um den auf dem Parkett platzierten Steinway D-Flügel bestuhlt. Obwohl Einlass zwischen den zwölf Einzelsätzen des O.C. erlaubt und geplant war, betraten schon zu Beginn der Aufführung nur etwa 30 Zuhörer den Raum, darunter sicherlich der eine oder andere Anhang der Veranstalter. Die geringe Fluktuation während der zwei größeren Pausen änderte daran leider nichts. Dass dieses Festival im Vergleich etwa zur MaerzMusik nur über einen deutlich geringeren Werbe-Etat verfügt, erschien also als wirklich fatal. Auch der Rezensent hatte erst drei Tage vorher von dem Event erfahren. Zwar hatte die oben erwähnte Aufführung durch Madge 2002 auch nur knapp 100 Zuschauer (ein Kritiker schrieb damals von wahrem „Publikumsgift“), aber angesichts der Tatsache, dass hier eine echte Sternstunde des Klavierspiels stattfinden sollte, war die geringe Publikumsresonanz doch enttäuschend. Die Akustik des Saals erwies sich allerdings sogleich als Glückstreffer: genau die richtige Mischung aus nicht zu langer Nachhallzeit und dennoch warmem, eben nicht zu trockenem Klang. Dies ist gerade bei diesem Stück, das ständig alle sieben Oktaven der Klaviatur nutzt (gerade den Diskant noch exzessiver als z.B. Messiaen), schon mal äußerst hilfreich.

Vandewalle erweist sich als technisch wie intellektuell überlegener Interpret. Dass er – äußerlich – während fünf Stunden Netto-Spielzeit (die Aufführung dauerte dann doch bis 19 Uhr!) keinen einzigen Schweißtropfen verliert, soll nur als Hinweis gelten. Madge hat Krawatte und Anzug geradezu zerlegt. Bei allen waghalsigen Schwierigkeiten gelingt Vandewalle zu jedem Zeitpunkt, den Klang des Flügels vollständig zu kontrollieren: Durchsichtigkeit über alle Register, niemals „Gedresche“ und ein intelligenter Einsatz des Pedals, der bei Sorabji eine ganz besondere Herausforderung darstellt, da der Bass meist über längere Zeit gehalten werden muss und gleichzeitig beide Hände in den oberen Registern mehr als genug zu tun haben. Dauernde Sprünge, für normal große Hände ungreifbare Akkorde, beidhändiges Skalenspiel in irrational verschobenen Rhythmen – alles kein Problem für den flämischen Pianisten. Aber auch die lyrischen Momente, konzentriertes Piano, oft geheimnisvolles Pianissimo und ein schönes Legatospiel gelingen – soweit das Handwerk.

Ferruccio Busonis Fantasia contrappuntistica (1910) kann man als Hommage an J. S. Bachs „Kunst der Fuge“ betrachten – so wird dort etwa die unvollendet gebliebene Quadrupelfuge (Contrapunctus XIV) zu Ende geführt. Umgekehrt ist das O.C. eine Hommage auf eben das Busonische Stück. Bereits auf der ersten Seite des kurzen I. Satzes (Introitus) erscheint – wie beim Vorbild – die Choralmelodie „Allein Gott in der Höh‘ sei Ehr‘“, der II. Satz ist wie der Beginn der Fantasia contrappuntistica mit Preludio-corale betitelt, um nur erste Parallelen aufzuzeigen, und auch die Aufteilung der 12 Sätze in eine dreiteilige Großform (Pars prima, Pars altera, Pars tertia) kennt man von Busoni: aus seinem Klavierkonzert. Nur ist bei Sorabji alles ins Überdimensionale gesteigert. Seiner Liebe zu Quadrat- bzw. Kubikzahlen ist etwa die völlig aus dem üblichen Rahmen fallende Anzahl der Variationen in den beiden Interludien – 49 im VI. Satz, 81 in der Passacaglia des IX. Satzes – geschuldet. Die Variationssätze sind dennoch die Sahnestücke für den Zuhörer: Hier, besonders in der Passacaglia, gelingen Sorabji und auch Vandewalle Momente von unfassbarer Schönheit. Andererseits wird gerade hier gleichzeitig klar, dass Sorabji eben nicht zur Gruppe spätromantischer Eklektiker gehört, sondern eindeutig zur Avantgarde. Das Thema der Passacaglia würde sich ohne weiteres für eine quasi romantisierende Bearbeitung eignen, aber hier wird keine Vergangenheit im Sinne einer Verklärung der Renaissance evoziert, sondern aktuelle, zum Teil beißend ironische, gar sarkastische Kulturkritik betrieben – der vielbeschriebene Tanz auf dem Vulkan zwischen den zwei Weltkriegen wird gebrochen zur Sisyphusarbeit. Zu dieser doch sehr bipolaren Sichtweise hat Daan Vandewalle die nötige intellektuelle Einsicht wie auch den erforderlichen emotionalen Zugang, der sich auch über die Längen aufs Publikum überträgt.

Das eigentliche Problem beim O.C. sind jedoch für den Interpreten wie für die Hörer die Fugen – wie es auch Vandewalle in einem Interview fürs Programmheft beschreibt: [siehe hier] „sie sind extrem lang und monochrom. Man kann leicht in die Falle geraten, dass man sie einfach so runterspielt, dass es immer weitergeht und weitergeht und weitergeht. Ich möchte die Fugen diesmal viel lyrischer spielen. Nicht der Rhythmus soll dominieren, sondern die melodische Linie.“ Es gibt vier Fugen (die Sätze III, V, VIII u. XI), die sich von der einfachen bis zur Quadrupelfuge steigern, aber auch in ihrer Länge bis hin zu einer Dreiviertelstunde („die letzten Fugen sind fast inhuman“). Trotz Sorabjis intensiver Beschäftigung mit Bach und Palestrina sind sie alle schwierig zu hören, da sie weder über prägnantes thematisches Material verfügen, als auch bereits einfachste kontrapunktische Regeln tonaler Satzlehre (Note gegen Note) ignorieren. Die Schlussfuge mit ihrer Coda-stretta grenzt in der Tat schon fast ans Absurde: nicht mehr wirklich manuell ‚greifbar‘, aber auch als Konstruktion bereits ‚unbegreifbar‘, obwohl es eigentlich nur um altbekannte Fugentechniken geht. Hier ist Sorabji seiner Zeit voraus, schon ganz nah bei Xenakis (etwa dessen auf elf Systemen notiertem Soloklavierpart im Klavierkonzert Synaphai) oder vielleicht auch Camus‘ Existentialismus im Mythos des Sisyphos. Kulturgut gerät gefährlich ins Kippen und wird zur Gratwanderung. Vandewalles größte Leistung an diesem langen Nachmittag ist, dass es ihm tatsächlich gelingt, nicht nur die Fugen – zumindest bis zur sensationell bewältigten Tripelfuge – sondern das Werk als Ganzes zusammenzuhalten. Da erübrigt sich auch jede Diskussion über vielleicht stellenweise zu langsame Tempi. Natürlich verlangt dies auch vom Zuhörer große Konzentration – einige der wenigen Jüngeren im Publikum übermannte irgendwann die Müdigkeit.

„Es gibt immer wieder überdimensionierte Kulturzeugnisse. Es gibt kürzere Bücher und längere Bücher, aber es gibt auch Proust. Wenn man Proust liest, ist man auch nicht entspannt, man muss das auch durchhalten.“ (Vandewalle)

Etwas unglücklich war die Position der Pausen: Hatte Vandewalle ursprünglich mit einer einzigen auskommen wollen? Nicht am Ende der Partes I bzw. II, sondern nach den Interludien – die eigentlich am Anfang der beiden letzten Teile des Werks stehen – gab’s die längeren Unterbrechungen. Dem Steinway hätte da ein Nachstimmen gutgetan. Aus den Pausengesprächen konnte man erfahren, dass der größere Teil der Zuhörer das Werk zumindest schon von der CD (Madge, Chicago 1983, auf BIS) her kannte oder die Berliner Aufführung 2002 gehört hatte. Einige waren wie der Rezensent von weither angereist. Scheint also doch ein grundsätzliches Problem zu sein, für so ein Wahnsinnsstück neues Publikum zu rekrutieren. Am Schluss minutenlanger Applaus für den dann doch erschöpft aber erleichtert und zufrieden wirkenden Pianisten – eine musikalische Meisterleistung war das ohne Zweifel!

Die Veranstalter haben das Ereignis professionell in Bild und Ton mitgeschnitten. Man kann nur hoffen, dass das Ergebnis irgendwann einer größeren Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird.

[Martin Blaumeiser, August 2016]