Archiv für den Monat: September 2021

Boris Giltburg und Beethovens Klaviersonaten

Naxos, 9.70310; EAN: 7 30099 73101 0

Die vierte CD von Boris Giltburgs unlängst entstandener Gesamteinspielung von Beethovens Klaviersonaten bei Naxos enthält mit den Sonaten Nr. 12 bis 15, der „Trauermarsch“-Sonate, den beiden Sonaten „Quasi una fantasia“ sowie der „Pastorale“ also, einige Marksteine von Beethovens Sonatenkosmos.

Anlässlich von Beethovens 250. Geburtstag hat der Pianist Boris Giltburg im Jahre 2020 alle 32 Klaviersonaten Beethovens auf Video aufgenommen; nur unwesentlich später sind die Tonspuren dieser Aufnahmen bei Naxos auch auf CD veröffentlicht worden. Dabei ist jeder Satz ein einziges Take, kommt also ohne Schnitte aus. Die Mehrzahl der Sonaten hat Giltburg für dieses Projekt neu einstudiert, vorher waren offenbar nur neun von ihnen fester Bestandteil seines Repertoires. Die vierte CD aus dieser Reihe zeigt ihn als einen kompetenten Interpreten von Beethovens Sonaten, der in der Totale empfehlenswerte Lesarten dieser Werke liefert.

Den einleitenden Variationssatz der Klaviersonate Nr. 12 As-Dur op. 26 interpretiert Giltburg ruhig und mit Wärme und bringt die noble Lyrizität des Themas angemessen zur Geltung. Leider kommt allerdings in der vierten Variation der Kontrast zwischen Legato in der rechten und Staccato in der linken Hand zu kurz, da Giltburg auch in der rechten Hand am Ende der Legatobögen tendenziell staccatiert. Ausnehmend gut gefällt mir sein Scherzo, das er rasch und mit Sinn für die dynamischen Kontraste spielt und dabei die Steigerung bis hin zum energischen Schluss des Scherzoteils exzellent abbildet. Problematischer erscheint der Trauermarsch: Giltburg scheut hier das Zeremonielle; vom ersten Takt an ist klar, dass er diesen Satz vorrangig introvertiert, ja fast schon versonnen versteht, was zusammen mit einem eher langsamen Grundtempo die Musik manchmal etwas auf der Stelle treten lässt. Diese Beobachtungen unterstreicht auch der Trioteil, dessen „Gewehrsalven“ Giltburg recht vorsichtig begegnet. Das Finale wiederum knüpft wieder stärker an den zweiten Satz an, sicher etwas zurückgenommener, wie es eben in der Natur dieses Satzes liegt, aber eben doch im Grundsatz gelöst; ein stimmiger Abschluss dieser Einspielung.

Insgesamt sehr gut gelungen wirkt Giltburgs Lesart der Klaviersonate Nr. 13 Es-Dur op. 27 Nr. 1, der ersten beiden der „Quasi una fantasia“-Sonaten. Die spezielle Stimmungslage des einleitenden Andante irgendwo zwischen einer von vagen Andeutungen erfüllten Traumwelt von fast kindlicher Schlichtheit und plötzlichem Allegro-Aufschwung, der aber nichtsdestotrotz ebenfalls eher präludierend wirkt, fängt Giltburg gut ein; das Mysterium und die klangfarbliche Differenzierung etwa aus Daniel Barenboims jüngsten Zyklus findet man hier zwar nicht, doch die Charakteristik dieses Satzes bildet Giltburgs Interpretation schlüssig ab. Sehr gut auch der zweite Satz, dessen Dreiklangsbrechungen Giltburg zunächst fahl dahinhuschend, dann eruptiv realisiert und zu einer eindrucksvollen Kulmination am Schluss führt. Auch die übermütige Vitalität und Spielfreude des Finales fängt Giltburg überzeugend ein, der b-moll-Höhepunkt (in etwa ab Takt 118) könnte allerdings etwas machtvoller geraten.

Die Klaviersonate Nr. 14 cis-moll op. 27 Nr. 2, die „Mondschein-Sonate“ also, versteht Giltburg eher nüchtern, objektiv, nahezu klassizistisch. Dies zeigt bereits ihr erster Satz, den Giltburg mit knapp fünfeinhalb Minuten eher flüssig nimmt. Geheimnisvolles, ahnungsvolle Stille wird man in dieser Interpretation indes eher nicht finden. Stimmig(er) erscheint diese Lesart im intermezzohaften zweiten Satz, obwohl hier etwa in den Takten 9 bis 16 ein ganz ähnliches Problem auftritt wie bereits im Kopfsatz der Sonate Nr. 12 beschrieben, denn auch hier nivelliert Giltburg in gleicher Weise den Unterschied zwischen Legato rechts und Staccato links. Dies ist umso irritierender, da er die entsprechenden Staccati (wiederum rechts) ab Takt 27 zum Teil überspielt. Am problematischsten erscheint mir Giltburgs distanzierter Ansatz jedoch im Finale. Exemplarisch für seine Lesart etwa, dass er das Sforzato-Gis in Takt 14 (wie auch seine Entsprechung in der Reprise) eigentlich sogar eher abschwächt als hervorhebt. Auch zum Beispiel den Zweiunddreißigstelarpeggien kurz vor Schluss geht der Charakter einer Kulmination weitgehend ab. So kommt Giltburgs Mondschein-Sonate in toto ziemlich gemäßigt daher; die Extreme, die dieses Werk kennzeichnen, das Drama, das der Schlusssatz sein kann, sind in dieser Aufnahme höchstens zu erahnen. Für mich damit die am wenigsten überzeugende Interpretation auf dieser CD.

Im Kopfsatz der Klaviersonate Nr. 15 D-Dur op. 28, der „Pastorale“, fällt auf, dass Giltburg bei einem tendenziell zügigen Grundtempo relativen großzügigen Gebrauch von Rubato macht. Auf diese Weise hebt er zum Beispiel das vorsichtige Tasten im Pianissimo ab Takt 63 mit an Pizzicati gemahnenden Staccato-Vierteln in der linken Hand sehr schön hervor, aber auch das langsame „Entstehen“ des zweiten Themas wie im Fluss kommt gut zur Geltung. Die Grundhaltung ist lyrisch, aber Giltburg behält sich immer wieder punktuelle Steigerungen vor; das Crescendo kurz vor dem Ende (ab Takt 446) kostet er deutlich aus. Fließend gestaltet er auch große Teile des zweiten Satzes. Ähnlich wie bereits zuvor bemerkt ist allerdings die Artikulation nicht immer konsequent; von einem sempre staccato in der linken Hand wie von Beethoven zu Beginn gefordert kann nicht immer die Rede sein, und beim Dreitonsignal, das den D-Dur-Teil durchzieht, verzichtet Giltburg offenbar bewusst sogar auf jegliches Staccato und interpretiert dieses Motiv fast burschikos. Stringenter gestaltet ist das Scherzo, im Trio hätte Giltburg allerdings die wechselnde Begleitung in der linken Hand etwas stärker in den Vordergrund stellen können. Gut gelungen auch das von Giltburg insgesamt entspannt und mit Sinn für Bukolik interpretierte Finale. Ähnlich wie in der Mondschein-Sonate nimmt Giltburg auch hier einige Sforzati eher zurückhaltend, was in diesem Kontext aber weniger problematisch erscheint.

Natürlich ist die Anzahl der Aufnahmen von Beethovens Klaviersonaten enorm, und entsprechend könnte die Konkurrenz zu Giltburgs Aufnahmen größer kaum sein. Anhand der vorliegenden CD würde ich seine Einspielungen nicht in der Spitze verorten. Wohl aber erhält man gute bis sehr gute, hörens- und bei aller Detailkritik insgesamt empfehlenswerte Aufnahmen dieser Werke, deren Stärken weniger im Abgründigen als eher im Lebhaften, Agilen, Diesseitigen liegen. Der Klang ist ordentlich, aber nicht überragend, da eher gedeckt als räumlich-durchhörbar.

[Holger Sambale, September 2021]

Isländischer Postminimalismus

Sono Luminus, DSL-92246; EAN: 0 53479 22462 0

Das US-amerikanische Label Sono Luminus hat sein Album „Moonbow“ ganz dem isländischen Komponisten Gunnar Andreas Kristinsson (Jahrgang 1976) gewidmet. Neben dem titelgebenden Streichquartett, gespielt vom Siggi String Quartet, erklingen noch die Ensemblewerke „Sisyfos“, „Roots“ und „Patterns IIb“, die vom international renommierten CAPUT Ensemble unter Leitung von Guðni Franzson dargeboten werden, sowie das Trio „PASsaCAgLia B“ für Harfe, Schlagzeug und Bassklarinette mit dem Duo Harpverk und Ingólfur Vilhjálmsson.

Das in Virginia beheimatete Label Sono Luminus veröffentlicht als eines der ersten seine Eigenproduktionen jeweils auf zwei Scheiben: einmal als normale Compact Disc (Digital Audio) und dann nochmals auf Bluray in verschiedenen hochauflösenden Formaten wie 5.1 DTS HD MA 24/192kHz, Dolby Atmos und 9.1 Auro-3D, so dass sich der High-End-Hörer die für sein Equipment optimale Technik aussuchen kann. Die Gestaltung des Booklets ist ebenso hochwertig, wenn auch die Texte zu den einzelnen vorgestellten Kompositionen eher knapp ausfallen.

Der aus Reykjavik stammende Komponist Gunnar Andreas Kristinsson wurde zunächst in seiner Heimatstadt ausgebildet, ging danach nach Köln, wo er bei Krzysztof Meyer, später in Den Haag bei Martijn Padding, Diderik Wagenaar und Clarence Barlow studierte. 2009 kehrte Kristinsson wieder nach Island zurück. Seine Musik wurde aber bereits auf zahlreichen internationalen Festivals – wie etwa den Darmstädter Ferienkursen – aufgeführt.

Die hier vorgestellten Werke des Isländers – in den eingespielten Fassungen alle nicht älter als zehn Jahre – könnte man am ehesten als „post-minimalistisch“ bezeichnen. Suchte man nach Ähnlichkeiten zu anderen Komponisten, würde man beim ersten Hören wahrscheinlich zuerst auf den kürzlich verstorbenen Louis Andriessen kommen, der ja unter anderem Lehrer von Padding war. Jedenfalls begegnet man einer typisch westeuropäischen Variante des Minimalismus, die weit mehr auf philosophische – bei Kristinsson daneben vor allem mathematische – Hintergründe zurückgreift als bei den US-Gründervätern der minimal music.

Das dargebotene Repertoire ist dabei leider nicht immer auf derselben Höhe. Entwickelt sich die Musik von Sisyfos – ein einsätziges Konzert für Klarinette und 13-köpfiges Ensemble – anfangs aus in verschiedenen Zeitschichten ablaufenden Skalen, so wird die mythologische Vorlage trotzdem nicht wirklich hörbar umgesetzt, schon gar nicht so wie in den Liner Notes beschrieben, als Kampf des Solisten – stark: Ingólfur Vilhjálmsson – gegen sein Instrument. Trotzdem sind die beiden größer besetzten Werke – neben Sisyfos noch die dreisätzigen Roots (2019) – klar die stärksten dieses Albums. Zwar werden auch in diesen Stücken manche Patterns zu Tode geritten, jedoch zumindest die Intensität einiger Klangfarbenkombinationen lässt aufhorchen. Das isländische CAPUT Ensemble – hier unter Leitung von Guðni Franzson – hat mittlerweile über 20 CDs herausgebracht, darunter so horrend schwierige Stücke wie Nikos Skalkottas‘ 3. Klavierkonzert (BIS). Wiederum gelingen ihm eindringliche, präzise und durchsichtige Wiedergaben – phänomenal die genauestens durchgehörte, aus der Obertonreihe gewonnene und am französischen Spektralismus orientierte Mikrotonalität von Roots, die den Hörer gänzlich in Bann hält.

Das Quintett Patterns IIb – ursprünglich für Gamelan- und westliche Instrumente, nun von Xylophon, Vibraphon, Marimba, Violine u. Bassklarinette vorgetragen – und das Streichquartett Moonbow können den Rezensenten hingegen kompositorisch nicht überzeugen: Das ist schlicht nur langweilig, egal wie durchdacht die im Hintergrund ablaufenden mathematischen Prozesse auch sein mögen. Da hilft dann selbst das an sich klanglich spannungsreiche Spiel des Siggi String Quartet wenig. Die monoton wirkenden Wiederholungen einiger Elemente nerven mit der Zeit sogar. So etwas, bis hin zur Stille, konnten Andriessen oder Feldman immer irgendwie mit Sinnhaftigkeit füllen, die mir bei Kristinsson (noch?) fehlt. Deutlich interessanter wieder das Trio PASsaCAgLia B für Harfe, Schlagzeug und Bassklarinette, das sich aus einem scheinbar dem Dies irae angelehnten Modell zur Form eines Pascalschen Dreiecks (darauf verweisen schon die Großbuchstaben im Titel) entwickelt.

Eine exzellent ausgestattete, aufnahmetechnisch schon in der normalen Stereoversion hervorragende Veröffentlichung, die einmal mehr ein positives Licht auf die nicht zu unterschätzende, lebendige Neue-Musik-Szene Islands mit hochengagierten Interpreten wirft.

[Martin Blaumeiser, September 2021]

Herrliche Entdeckungen aus der Skrjabin-Nachfolge

Toccata Classics, TOCC 0581; EAN: 5 060113 445810

Von den drei bedeutenden Komponisten aus der russisch-jüdischen Musiker-Dynastie der Krein-Familie ist Grigori (1879–1955) heute der unbekannteste. Gut die Hälfte seiner Klavier-Solowerke hat nun der britische, für seine unglaublichen Sorabji-Einspielungen ausgezeichnete Pianist Jonathan Powell auf Toccata Classics herausgebracht, darunter die 2. Sonate, die zu den faszinierendsten russischen Klavierkompositionen ihrer Zeit zählen darf. Abgesehen davon hören wir 60 Minuten Erstaufnahmen.

Die sieben Söhne des Klezmer-Violinisten Abram Krein, der mit seiner Familie um 1870 von Litauen nach Nischni Nowgorod ziehen durfte, wurden allesamt hervorragende Musiker. Drei Komponisten entstammen der Krein-Dynastie: Alexander (1883–1951) ist sicher noch der bekannteste – und war neben fünf anderen Persönlichkeiten bereits Gegenstand der Dissertation Jonathan Powells After Scriabin: six composers and the development of Russian music (1999). Als Wunderkind wurde Julian (1913–1996), Grigoris Sohn, früh eine Berühmtheit; hingegen ist sein Vater ziemlich in Vergessenheit geraten. Die vorliegende CD beweist: Völlig zu Unrecht, denn Grigoris Klavierwerke sind absolut auf Augenhöhe mit seinen modernen russischen Zeitgenossen.

Grigori Krein wurde zunächst in seiner Heimatstadt an der Geige ausgebildet und arbeitete bereits als 16-Jähriger als erster Violinist in der Oper von Tiflis. 1900 folgte er dann seinen Brüdern David und Alexander ans Moskauer Konservatorium und entschied sich dort bald für die Komponistenlaufbahn. Nach seinem Abschluss 1905 wurde er später noch Schüler Max Regers und des damals ebenfalls in Leipzig lebenden Reinhold Glière. Zusammen mit Alexander war Grigori einer von fünf aufstrebenden, modernen Komponisten, die 1914 in einem denkwürdigen Konzert in Moskau vorgestellt wurden: neben Alexei Stantschinski, Leonid Sabanejew und Jewgeni Gunst – die Basis für kommende Erfolge. Von 1927–1934 lebte Grigori mit seinem hochbegabten Sohn Julian in Paris, wo dieser bei Paul Dukas studierte. Nach der Rückkehr in die UdSSR wurde es jedoch ziemlich still um ihn.

Jonathan Powell folgt Grigoris Klaviermusik chronologisch: Beginnend mit dem frühen Einfluss Griegs (Prélude op. 5, Track [08]), kann der Hörer die ungemein schnelle Entwicklung Kreins nachvollziehen. Bereits die Cinq préludes op. 5a und die Deux poèmes op. 5b sind auf der Linie von Skrjabins mittlerer Schaffensperiode. Und in den Deux poèmes op. 10 hat Grigori die komplexe Harmonik Regers schon hinter sich gelassen: Hier finden sich zwar Gemeinsamkeiten mit Skrjabin – exquisite Akkordformationen und -sequenzen ähnlich wie in dessen Spätwerk, etwa der 7. Sonate –, allerdings gleichzeitig und unabhängig von ihm, ganz eigenständig. Grigori Krein übernimmt nicht Skrjabins neue Harmonik auf Basis oktatonischer Skalen, ist eher bi- oder polytonal, scheut nicht das absolut dissonante Aufeinandertreffen verschiedener Ebenen in seiner Musik.

In den folgenden Werken (Poème op. 16, 2 Mazurken op. 19, 3 Poèmes op. 24) manifestiert sich Grigoris Sprache: Das achtminütige Poème antique op. 24, Nr. 3 verweist sowohl auf zeitgenössisches französisches Repertoire (Ravel) wie auch jüdische Volksmelodik – immer zentrales Anliegen bei seinem Bruder Alexander. Der Cortège mystique op. 22 besticht durch seinen fast rituellen, irgendwie manischen Charakter mit flirrenden Arpeggien: Vers la flamme ex negativo. Ist das Stück als Trauermarsch für das kurz zuvor verstorbene Vorbild Skrjabin gedacht?

Bis zu diesem Punkt hat Jonathan Powell bereits eine gute Stunde bisher nicht auf Tonträgern eingespielter Musik vorgestellt. Am Schluss dann noch das Hauptwerk: Grigori Kreins 24-minütige 2. Sonate (1924). Sie ragt, nicht nur vom Umfang her, über viele einsätzige Sonaten der Zeit weit hinaus, selbst die von Nikolai Roslavets oder Samuil Feinberg. Bestechend, wie hier ein riesiger Sonatenhauptsatz sehr verschiedene Elemente konsequent verarbeitet, mit stark modifizierter Reprise. Powell erwähnte dem Rezensenten gegenüber, dass neben den direkten, russischen „Konkurrenten“ seiner Zeit insbesondere wohl auch die Sonate Alban Bergs dafür als Vorbild gelten kann. Das Stück ist wahrlich ein Mount Everest an Virtuosität, verlangt aber vor allem ein tiefes Verständnis für Kreins besondere Harmonik sowie die ständig werkelnden strukturellen Prozesse innerhalb der dichten, meist polyphonen Faktur. Ein in jeder Hinsicht faszinierendes Werk, von dem es bereits eine Aufnahme mit Sascha Nemtsov gibt, jedoch mit geringerer Strahlkraft als bei Powell (Hänssler PH13059).

Powell agiert dabei kongenial – freilich nicht nur aufgrund der Erkenntnisse seiner Doktorarbeit. Erst mit Ende zwanzig erhielt der Brite Unterricht bei Sulamita Aronofsky, die noch Schülerin von Alexander Goldenweiser war, und somit in direkter Verbindung zu diesem speziellen Repertoire steht. Innerhalb weniger Jahre gewann Powell bei ihr den Feinschliff, um nun einer der befähigtsten Klaviervirtuosen weltweit zu sein. Kaum jemand sonst bewältigt derart komplexe und herausfordernde Werke so zuverlässig wie hinreißend. Quasi als Botschafter der intrikaten und endlos langen Klaviermonstrositäten des britisch-parsischen Komponisten Kaikhosru Sorabji steht er praktisch konkurrenzlos da. Für seine Einspielung von Sorabjis 8½-stündiger Sequentia cyclica erhielt er im Mai 2020 den Preis der deutschen Schallplattenkritik. Sein Steckenpferd bleibt jedoch die russische Klaviermusik vor der Stalin-Ära: Skrjabin und dessen Umfeld.

Sowohl die Miniaturen als auch die Sonate Grigori Kreins sind schon rein klanglich eine Offenbarung. Die teils komplizierte Stimmführung ist immer klar, die Energie der dramatischen Passagen absolut elektrisierend, die brillanten Ausbrüche in Form von schwierigsten Akkordkaskaden oder irrwitzigem Arpeggien- bzw. Passagenwerk erscheinen absolut folgerichtig, nie als pures Blendwerk. Und die neuartige Harmonik klingt bei Powell völlig natürlich und logisch, wobei Kreins Farbenreichtum punktgenau ausgekostet wird. So macht unbekannte Klaviermusik sofort Freude, wozu noch eine ordentliche Aufnahmetechnik kommt. Der Booklettext führt tief in die Thematik ein und stammt von Powell selbst – mit der ihm eigenen, wissenschaftlichen Akribie; leider nur auf Englisch.

Keine Frage, dass nicht nur der Rezensent total begeistert von dieser Veröffentlichung sein dürfte. Bei der Gelegenheit soll der Hinweis auf ähnlich wertvolle Ausgrabungen russischer Musik durch Jonathan Powell auf Toccata Classics nicht fehlen: Dort findet man bislang Georgi Konjus, Leonid Sabanejew, Konstantin Eiges und Alexander Goldenweiser.

[Martin Blaumeiser, September 2021]

Neu- und wiederentdeckte Musik verfolgter Komponisten in Weimar

Weimar, Festsaal Fürstenhaus, 10. September 2021, 20 Uhr: Mit Liedern und Klavierwerken von Günter Raphael (1903–1960), Hans Heller (1898–1969) und Bernhard Sekles (1872–1934) eröffneten Jascha Nemtsov, Klavier, und Tehila Nini Goldstein, Sopran, die Ausstellung „Verfolgte Musiker im nationalsozialistischen Thüringen. Eine Spurensuche II“.

Die 2019 in Weimar durchgeführte Ausstellung Verfolgte Musiker im Nationalsozialistischen Thüringen, der sich eine von den Projektleiterinnen Helen Geyer und Maria Stolarzewicz herausgegebene Buchveröffentlichung anschloss (Verfolgte Musiker im nationalsozialistischen Thüringen. Eine Spurensuche, Köln: Böhlau-Verlag 2020), war damals auf großes Interesse gestoßen. Die im Rahmen der Vorbereitungen zu Tage geförderten Dokumente regten zu weiteren Nachforschungen über die Schicksale zahlreicher von den Nationalsozialisten entrechteter Musikerpersönlichkeiten an, sodass bald eine Fortsetzung der Ausstellung ebenso erwünscht wie nötig erschien. Am 10. September 2021 wurde das Ergebnis dieses zweiten Teils der Spurensuche, das bis zum 31. Oktober im Stadtmuseum Weimar zu sehen sein wird, im Festsaal der Hochschule für Musik Franz Liszt feierlich eröffnet. Nach Grußworten von Vertretern der Hochschule, der lokalen Politik, unterstützender Stiftungen, sowie der die Ausstellung betreuenden Kuratorin Maria Stolarzewicz, hielt Peter Gülke (geboren 1934 in Weimar) einen Vortrag über Nicht kündbares Gedenken – Buchenwald, aus welchem vor allem die Schilderungen seiner persönlichen Erlebnisse als Kind während des Krieges einen Einblick in die Schrecken der damaligen Zeit boten.

Den Hauptpunkt des Programms bildete ein Konzert mit Liedern und Klavierwerken von Komponisten, die während der NS-Zeit wegen ihrer jüdischen Abstammung verfolgt wurden. Der Pianist Jascha Nemtsov und die Sopranistin Tehila Nini Goldstein knüpften damit an ein Konzert an, das sie im November 2020 am gleichen Ort gegeben hatten (siehe Besprechung). Erneut wurden Werke dreier deutscher Komponisten jüdischer Abstammung vorgestellt, die nach dem Willen rassistischer Ideologen für immer hätten verstummen sollen: Günter Raphael, Bernhard Sekles und Hans Heller, der bereits im Konzert von 2020 vertreten war. Jascha Nemtsov, der an der Weimarer Musikhochschule eine Professur für die Geschichte der jüdischen Musik inne hat, muss einmal mehr für seinen Entdeckerspürsinn und seinen unermüdlichen Einsatz für in die Vergessenheit abgedrängte Musik gelobt werden. Wie zahlreiche seiner früheren Konzerte bot auch dieses Ur- und Erstaufführungen. Mit kurzen, auf den Punkt gebrachten Einführungen zwischen den Programmnummern umriss der Pianist zudem den Lebenslauf eines jeden der Komponisten.

Günter Raphael hat als einziger der im Konzert zu Gehör gebrachten Komponisten bislang eine ausgiebige diskographische Würdigung erfahren. Mittlerweile liegt ein großer Teil seiner Orchester- und Kammermusikwerke auf CD vor – verwiesen sei hier namentlich auf die mittlerweile auf sieben CDs angewachsene Günter-Raphael-Edition von Querstand und die beiden Boxen mit Symphonien und Violinmusik von cpo –, doch kann man keineswegs behaupten, alle Schätze aus seinem umfangreichen Schaffen seien gehoben (so fehlt nach wie vor eine Einspielung der Ersten Symphonie). Der 1903 geborene Raphael, in den 1920er Jahren einer der erfolgreichsten jüngeren Tonsetzer Deutschlands, war nie jüdischen Glaubens gewesen, galt aber als Sohn eines zum Protestantismus konvertierten jüdischen Kirchenmusikers der NS-Rassenlehre zufolge als „Halbjude“ und wurde 1934 aus seinem Lehramt am Leipziger Konservatorium entlassen. Ab 1939 war ihm jede musikalische Betätigung untersagt, sodass er nur durch die Hilfe von Freunden überleben konnte. Den Großteil der NS-Zeit verbrachte er in Meiningen. Die Drei geistlichen Lieder op. 3, ein beeindruckend souveränes Frühwerk, zeigen Raphaels künstlerischen Ursprung in der protestantischen Kirchenmusik. Mit ihren choralartigen Harmonien, dem durchweg kontrapunktischen, ostinate Satztechniken bevorzugenden Klaviersatz und einer rhythmisch einfachen, in gleichmäßigen Notenwerten ruhig dahinströmenden Melodik wirken sie betont altmeisterlich, wie ein Bekenntnis zu Bachschem Geist.

Im Gegensatz zu Raphael, der sich immerhin in der Nachkriegszeit als Komponist und Lehrer wieder etablieren konnte, gelang es dem 1898 in Greiz geborenen Hans Heller weder in Amerika, noch in Deutschland nach 1945 erneut Fuß zu fassen. Heller gehörte zum Berliner Schülerkreis Franz Schrekers und floh nach Frankreich, wo er nach dem Einmarsch der Wehrmacht verhaftet wurde. Aus einem Arbeitslager geflohen, hielt er sich mit Hilfe französischer Widerstandskämpfer bis zum Kriegsende versteckt. Er starb 1969. Wie die Klaviersonate, die Jascha Nemtsov 2020 in Weimar spielte, zeigen auch die diesmal vorgestellten Werke, dass Heller ein unbedingt beachtenswerter Komponist ist, dessen Schaffen verdient, der Vergessenheit entrissen zu werden. In seiner Musik verbinden sich „neusachliche“ Kontrapunktik und expressive Harmonien zu eindringlichen Äußerungen einer starken Persönlichkeit. Ein Lied in deutscher und eines in französischer Sprache, die beide durch Goldstein und Nemtsov zum ersten Mal überhaupt vorgetragen wurden, boten Bilder von ausgesprochener Düsternis. Sehr spannungsvoll wirkten auch die sechs kurzen Sätze einer Little Suite für Klavier.

Bernhard Sekles fällt insofern etwas aus dem Rahmen der Veranstaltung, als dass er weder aus Thüringen stammte, wie Heller, noch dort zeitweilig lebte, wie Raphael. Seinen Lebensmittelpunkt bildete Frankfurt am Main, wo er 1872 geboren wurde und 1934 starb. Nichsdestoweniger kann man die Aufnahme seiner Werke in das Konzert nur begrüßen. Sekles ist kein unbekannter Name. Man weiß, dass er viele Jahre das Hoch’sche Konservatorium in Frankfurt leitete und kennt ihn als Lehrer hervorragender Musiker wie Rudi Stephan, Hans Rosbaud und Paul Hindemith. Jazzfreunde werden ihm stets dafür danken, dass er 1925 Mátyas Seiber mit der Einrichtung der ersten Jazzklasse an einem deutschen Konservatorium betraute und damit der akademischen Würdigung des Jazz den Weg wies. Wer Sekles dagegen als Komponisten kennen lernen möchte, dem steht derzeit nur eine einzige CD mit Klavierkammermusik zur Verfügung, die bei Toccata Classics herausgekommen ist. Seine Orchesterwerke, Streichquartette, Opern, Lieder und Klavierstücke warten dagegen noch auf ihre Ersteinspielungen. Womöglich gibt es auch noch Stücke, die bislang gar nicht gespielt worden sind. Einen solchen Fall stellten bis vor kurzem jedenfalls die Fantasietten für Klavier dar, deren Manuskript Jascha Nemtsov im Archiv des Frankfurter Konservatoriums fand. Er stellte sie als erster Pianist der Öffentlichkeit vor, die Weimarer Aufführung war die zweite überhaupt. Es handelt sich um eines der letzten Werke des Komponisten und konnte aufgrund widriger Umstände nicht mehr zeitnah zu seiner Entstehung veröffentlicht werden: 1933 wurde Sekles von der neuen Machthabern aus seinen Lehr- und Verwaltungsämtern gedrängt. Er erkrankte an Tuberkulose und starb eineinhalb Jahre später. Die insgesamt 24 Fantasietten zeigen den Komponisten als einen Meister musikalischer Miniaturkunst. Viele der Stücke dauern keine Minute, doch wirken sie durchweg in sich geschlossen: aphoristisch, nicht fragmentarisch. Innerhalb weniger Takte entfaltet Sekles erlesene harmonische und kontrapunktische Kunst. Vom Abwechslungsreichtum des Zyklus mögen die Titel einiger Stücke einen Eindruck geben: Für die rechte Hand, Für die linke Hand, Rhapsodie, Thema und Variationen, Slawischer Tanz, Triumphmarsch, Trauermarsch, Ländler, Polonaise (im geraden Takt!), Menuetto, Duo. Das Finale bildet eine Fuge über den Ton C, deren Thema tatsächlich nur aus vier gleich langen Cs besteht. Minimalistischer geht es wahrlich nicht! Wie Sekles es schafft, diesem Thema eine interessante kontrapunktische Bearbeitung angedeihen zu lassen und daraus einen bei aller Kürze reichhaltigen musikalischen Verlauf zu entwickeln, verdient Bewunderung. Hoffen wir, dass eine Veröffentlichung dieses hochinteressanten Zyklus bald erfolgen wird! Auch vom Liederkomponisten Sekles gaben Goldstein und Nemtsov einen sehr vorteilhaften Eindruck. Die exotisch angehauchten Lieder aus dem Zyklus Aus dem Schi-King boten zarte, feinsinnige Impressionen der Asien-Sehnsucht des Fin de Siècle.

[Norbert Florian Schuck, September 2021]

NB: Am 23. September 2021 wird im Erfurter Dom Hans Hellers Requiem für den unbekannten Verfolgten seine Uraufführung erleben.

„Wer möchte nicht im Leben bleiben…“ – Eine Ausstellung zum Komponisten Kurt Schwaen

Bildquelle: Kurt-Schwaen-Archiv, Iske

Am 15. August 2021 wurde im Bezirksmuseum Marzahn-Hellersdorf eine Ausstellung über den Komponisten Kurt Schwaen (1909–2007) eröffnet. Bis zum 22. April 2022 werden in drei sorgfältig und detailreich gestalteten Räumen Leben und Werk Schwaens vorgestellt.

Kurt Schwaen, einer der wichtigsten Komponisten der ehemaligen DDR, wurde 1909 in Kattowitz geboren und studierte zunächst ab 1929 in Breslau und Berlin u.a. Musikwissenschaft. Angesichts der faschistischen Machtergreifung brach Schwaen, seit 1932 Mitglied der KPD, seine Studien ab und nahm am Widerstand gegen das NS-Regime teil, wurde verhaftet und zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt, stand unter Polizeiaufsicht und wurde 1943 in die Strafdivision 999 einberufen. 1945 desertierte er und erlebte das Kriegsende versteckt in Berlin. Bereits von 1938 bis 1943 als Pianist in Tanzstudios aktiv (u.a. als Begleiter von Oda Schottmüller und Mary Wigman), war Schwaen nach dem Krieg wesentlich am Aufbau des Musiklebens in der DDR beteiligt und engagierte sich insbesondere für Laienmusizieren und Musikpädagogik. Seit 1953 freischaffender Komponist, arbeitete er mit Persönlichkeiten wie Bertolt Brecht zusammen; er war u.a. im Komponistenverband der DDR tätig und wurde 1961 Mitglied der Deutschen Akademie der Künste. Schwaen, der bis zu seinem Lebensende kompositorisch aktiv blieb, starb 2007 in seinem Haus in Berlin-Mahlsdorf. Für ausführlichere Darstellungen seines Lebens sei auf die Homepage des Komponisten bzw. auf den Wikipedia-Eintrag zu Schwaen verwiesen.

Als Komponist war Schwaen weitgehend Autodidakt. Grundsätzlich Neoklassizist, sind die Einflüsse, aus denen sich sein eigener Stil herausbildete, mannigfaltig: Hindemith, Strawinski, Bartók, teilweise Eisler (vor allem dessen politische Lieder), tonal grundierte Zwölftontechnik, deutsche und slawische Volksmusik, Tänzerisches, leichte Jazzanklänge, aber auch Bach und Mozart. Bei aller stilistischen Vielfalt ziehen sich eine Reihe von Charakteristika durch sein gesamtes Schaffen. Kennzeichnend ist etwa die oft aphoristische Kürze seiner Musik und ihre Sparsamkeit in der Wahl der Mittel. Schwaen strebte immer nach Klarheit; Pathos vermied er ebenso wie Sentimentalitäten und emotionalen Überschwang. Auffällig ist die pulsierende, dynamische Rhythmik vieler seiner Werke. Sein Werkverzeichnis ist umfangreich und umfasst zahlreiche Besetzungen und Gattungen; insgesamt listet das Kurt-Schwaen-Verzeichnis nicht weniger als 667 Werke.

Seit Mitte August stellt eine Ausstellung im Bezirksmuseum Marzahn-Hellersdorf (am Dorfanger des historischen Dörfchens Alt-Marzahn in den Außenbezirken Berlins) in drei Räumen Leben und Schaffen Schwaens vor. Ihr Titel „Wer möchte nicht im Leben bleiben“ nimmt Bezug auf eines der bekanntesten Lieder Schwaens, ursprünglich Teil seiner Musik zum Film Sie nannten ihn Amigo aus dem Jahre 1959. Neben einem Überblick über die wichtigsten Stationen seines Lebenswegs liegen besondere Schwerpunkte u.a. auf Schwaens Zusammenarbeit mit Künstlerpersönlichkeiten wie Bertolt Brecht oder Günter Kunert sowie auf seinem musikpädagogischen Schaffen. Auch auf Schwaens weiteres Œuvre wird unterteilt nach Gattungen und Besetzungen umfassend eingegangen.

Als zentrales Medium der Informationsvermittlung dienen große Informationstafeln in Form von Fahnen, die mit Texten, Bildern und allerhand Dokumenten aus dem Leben Schwaens aufwarten und mit viel Liebe zum Detail gestaltet sind; so basiert etwa der Hintergrund jeder Fahne auf Notenmaterial aus einem jeweils passenden Werk Schwaens. Darüber hinaus findet man eine Reihe von Schaukästen, zum Beispiel zur Funk- bzw. Fernsehfilm-Oper Fetzers Flucht und ihrer wechselhaften Rezeptionsgeschichte oder zu Schwaens seit 1939 geführten Tagebüchern, und allerhand weitere Exponate wie Theaterrequisiten, Notenmaterial und sogar Werkzeug zum Erstellen von Notenpapier. Besonders hervorzuheben ist, dass die Ausstellung eng mit der Musik Schwaens verknüpft ist: in jedem der Räume befindet sich eine Hörstation, an der per Kopfhörer Auszüge aus einer ganzen Reihe von Werken Schwaens angehört werden können. Auf die jeweils in den Kontext passenden Hörbeispiele wird auch in den darstellenden Texten auf den Fahnen verwiesen, sodass es möglich ist, die Ausstellung nicht nur lesend, sondern auch hörend nachzuvollziehen. Zu den Dokumenten, die eingesehen werden können, zählt u.a. auch ein vollständiges und detailliertes Werkverzeichnis Schwaens.

So wird dem Besucher eine Fülle von Informationen zu Kurt Schwaen geboten, eine sehr reichhaltige, vielseitige und liebevoll gestaltete Ausstellung, die den Komponisten vorzüglich porträtiert und präsentiert.

Die Ausstellungseröffnung fand am 15. August 2021 in Anwesenheit von Ina Iske-Schwaen statt, der Frau des Komponisten, die seit seiner Gründung im Jahre 1980 das Kurt-Schwaen-Archiv leitet. Für die musikalische Untermalung sorgte das Duo Douglas Vistél (Violoncello) und Almuth Kraußer-Vistél (Klavier), das Auszüge aus Werken Schwaens wie dem Concertino. Hommage à Bartók, den Acht kuriosen Walzern oder den Sequenzen in Es präsentierte; alle diese Stücke sind im Übrigen mit denselben Interpreten auf CD bei den Labeln Kreuzberg Records bzw. Thorofon veröffentlicht worden. Bis zum 22. April 2022 ist die Ausstellung von Montag bis Freitag jeweils von 10:00 bis 18:00 Uhr in Haus 1 des Bezirksmuseums Marzahn-Hellersdorf, Alt-Marzahn 51, 12685 Berlin, Telefon 030-54790921, zu besichtigen; der Eintritt ist frei.

[Holger Sambale, September 2021]

Klaviertrios des „Mächtigen Häufleins“

Naxos 8.574114; EAN: 7 4731341147 4

Die dritte Folge der hochengagierten Naxos-Serie „History of the Russian Piano Trio“ widmet das Moskauer Brahms Trio den Komponisten Alexander Borodin, César Cui und Nikolai Rimsky-Korsakow. Zumindest eine gewichtige Entdeckung ist darunter.

Das Moskauer Brahms Trio (Nikolai Sachenko, Violine; Kirill Rodin, Cello; Natalia Rubinstein, Klavier) hat mittlerweile die erste Serie der Geschichte des russischen Klaviertrios, bestehend aus fünf Naxos-CDs, die der Romantik/Spätromantik gewidmet sind, abgeschlossen. Wenn man auf die Webseite der Künstler geht, scheint aber zumindest geplant zu sein, zwei weitere Staffeln folgen zulassen, wohl mit Trios aus dem sogenannten „Goldenen Zeitalter“ (ein Begriff, der sich historisch nicht so ganz eindeutig von der Literatur auf die Musik übertragen lässt) und solchen der Sowjetzeit bis heute. Das wäre zu begrüßen, denn die bisher vorliegenden Aufnahmen können sämtlich überzeugen – nicht nur programmatisch, wobei sich die CDs jeweils mit einer noch genauer eingrenzbaren musikhistorischen Situation und deren Protagonisten beschäftigen, und neben einigen Klassikern wie Tschaikowsky oder Tanejew kaum bekanntes oder gar gänzlich unbekanntes Repertoire ans Licht bringen. Die Interpretationen selbst sind auf erfreulich hohem Niveau, reichen selbst bei den häufig zu hörenden Werken an die Spitzeneinspielungen heran.

Die dritte CD der Reihe nimmt nun die Klaviertrio-Beiträge des „Mächtigen Häufleins“ unter die Lupe. Bei den fünf nationalistisch gesinnten Novatoren fällt auf, dass die Kammermusik dort keine – im Falle Mussorgskys – bzw. nur eine untergeordnete Rolle spielt. Balakirew schrieb nichts für Klaviertrio, und die drei hier vorgestellten Werke von Borodin, Rimsky-Korsakow und Cui zeugen von einem zumindest nachlässigen Umgang selbst ihrer Schöpfer mit ihnen. César Cuis kurzes Farniente ist lediglich die Bearbeitung des zweiten Klavierstücks aus dem Zyklus À Argenteau op. 40, und wäre dabei ein liebenswerter Beitrag Pariser Salonmusik – Cuis Vater war Franzose –, allerdings mit einer Generation Verspätung. Die einschmeichelnde, fast süßliche Melodik bringt das Brahms-Trio mit Delikatesse herüber, ohne ins Kitschige abzugleiten.

Das frühe D-Dur-Trio Borodins – entstanden zwischen 1850 und 1860 – war entweder unvollendet, oder das Finale ist verschollen. Klar, dass ihm als Fragment der Weg in den Konzertsaal versperrt blieb. Hierbei handelt es sich bereits um ein musikalisch hochwertiges Stück, das noch stark an Mendelssohn orientiert ist und kaum etwas von Borodins späterer Farbigkeit erahnen lässt – als Tonkonserve trotzdem ein echter Hinhörer.

Eine ganz andere Nummer ist das gewichtige, über 40 Minuten dauernde Klaviertrio c-Moll Rimsky-Korsakows. Warum der Komponist das Stück aus seiner intensivsten Schaffensperiode (1897), in der er sich hingegen fast ausschließlich der Oper widmete, geringschätzte und es selbst nicht ganz bis zur Druckreife vollendete, bleibt unverständlich. Wir können froh sein, dass sein Schwiegersohn Maximilian Steinberg – als Komponist erst seit den 1990ern wieder im Gespräch – das Trio 1939 fertiggestellt hat. Getrost könnte man hier von einem Meisterwerk sprechen, das nur noch erstaunlich wenig von der national-gefärbten Grundhaltung des „Mächtigen Häufleins“ erkennen lässt. Vielmehr hören wir Kammermusik, die sich ganz bewusst in eine lange Tradition stellt, die von Beethoven (Kopfsatz) über zwei hochromantische Sätze bis zu einem ausufernden Finale mit einer mehrfach unterbrochenen, komplexen Fuge reicht. Wollte Rimsky-Korsakow hier Tanejews Postulat einer „eigenen nationalen Musik“ [„Was sollen die russischen Komponisten tun?“ (1879)], die nur durch kontrapunktische Auseinandersetzung mit dem russischen Lied denkbar sei, gerecht werden?

Jedenfalls nimmt das Brahms Trio Rimsky-Korsakows Komposition völlig ernst, lässt die Bezüge zur Tradition hörbar werden, aber auch, dass der Komponist hier einen konsistenten, persönlichen Beitrag zur Geschichte des Klaviertrios in Russland geschaffen hat. Der erste Satz verbindet recht klassische Formung mit der elegischen Stimmung, die man etwa aus Rachmaninows großem, zweiten Trio kennt, das ein paar Jahre zuvor entstand; und das lange Finale gelingt absolut überzeugend. Das Stück hätte so heute durchaus das Zeug, selbstverständlich ins Repertoire zu gehören. Klanglich spielen die drei Künstler sehr differenziert; da, wo es die Partituren verlangen, andererseits homogener als manches aus Superstars quasi ad hoc zusammengestellte Klaviertrio. Die Dynamik wird öfters für eine bessere Durchhörbarkeit zurückgenommen; die Emotionalität und erkennbare Empathie für diese Wiederentdeckungen leiden jedoch nicht darunter. Die Aufnahmen aus dem berühmten Konzertsaal des Moskauer Konservatorium sind keine Großtat, was Räumlichkeit betrifft; das Klangbild findet dabei eine sehr angenehme Balance zwischen Hall und Durchsichtigkeit – insgesamt äußerst gelungen. Wer seinen Horizont in Sachen russischer Kammermusik erweitern möchte, sollte hier auf jeden Fall zugreifen.

[Martin Blaumeiser, September 2021]

„Ich übe, gebe mein Bestes und bete um Klarheit.“

Der saarländische Pianist Marlo Thinnes hat vor allem mit seiner gemeinsam mit Ingolf Turban eingespielten Gesamtaufnahme aller Violinsonaten Beethovens im Frühjahr 2021 viel Aufsehen in der Presse erregt. Das CD-Box-Set war auch für den „Preis der deutschen Schallplattenkritik“ nominiert. Thinnes ist aber auch als Solokünstler aktiv und legt nunmehr sein bereits zweites Album als Solist vor. Dabei überrascht manches – von der Werkauswahl bis hin zur Repertoiregewichtung. So ergaben sich die Fragen an den Pianisten fast von selbst. Marlo Thinnes gibt im Gespräch mit the-new-listener.de interessante Einblicke in den Entstehungsprozess seines neuen Albums mit Werken von Beethoven, Liszt, Fauré, Ravel und Viñes.

Herr Thinnes, Sie haben im Frühjahr eine viel beachtete Gesamtaufnahme der Beethoven-Violinsonaten mit dem Münchner Geiger Ingolf Turban aufgenommen. Wie kam es dazu?

Unser gemeinsamer Produzent Joachim Krist brachte uns im Frühjahr 2018 zusammen. Ihn reizte dieses Projekt schon seit Jahren. Er wollte die Sonaten zyklisch mit Musikern seiner Wahl für das Label „telos“ im Portfolio haben. Ich bin glücklich, dass ich einer der beiden Musiker sein durfte, die dieses Prestige-Projekt stemmen durften.

Wie hat sich die Zusammenarbeit mit Ingolf Turban gestaltet? Er ist ja als Alben aufnehmender Musiker schon sehr lange im Geschäft, während Sie vor der Zusammenarbeit mit ihm gerade erst ein Debütalbum herausgebracht hatten?

Das ist richtig. Bis auf verschiedene Rundfunk- und Videoproduktionen war bis zum damaligen Zeitpunkt nur ein offizielles Album von mir auf dem Markt: „Ombre et Lumiére“, übrigens auch bei telos music erschienen.

Die Zusammenarbeit mit Ingolf war spannend, professionell und vor allem menschlich sehr angenehm. Die Proben in München, bei denen auch unser Produzent manchmal zugegen und dann fordernd und formend beteiligt war, brachten vielversprechende Ergebnisse. Bald fanden wir zu einer gemeinsamen Sprache, die Beethovens Duktus auf ideale Weise zum „Sprechen“ zu bringen schien.

Auf Ihrem neuen Album geht es nun mit Beethoven weiter, was aber überrascht, ist, dass Sie sich dabei für eine Beethoven-Bearbeitung entschieden haben. Wie kam es zu der Idee, eine der Sinfonie-Transkriptionen aufzunehmen, die Franz Liszt für Klavier gesetzt hat?

Mit diesen Transkriptionen kam ich bereits vor 10 Jahren in Kontakt, als ich eingeladen wurde, im Rahmen eines Festivals – quasi als Auftragsprogramm – die Zweite und Sechste der neun Sinfonien in der Bearbeitung für Klavier Solo aufzuführen. Die restlichen wurden damals unter drei weiteren Pianisten aufgeteilt. Das war ein Abenteuer und eine Entdeckungsreise, die bleibende Eindrücke hinterließen.

Spätestens seit dieser Zeit war ich dem Beethoven-Bazillus verfallen. Und so war es ganz selbstverständlich, dass seine Musik in den letzten Jahren zunehmend in meinen künstlerischen Fokus rückte: Ein Marathon mit allen Klaviersonaten, den ich mir mit einem Pianistenfreund teilte (jeder übernahm 16 Sonaten), die eben bereits erwähnte Aufführung und Gesamteinspielung der Violinsonaten mit Turban, Lecture-Recitals mit der Hammerklaviersonate usw. zeigen in diese Richtung. 

Da ich also durch diese wunderbaren Sinfonie-Transkriptionen die Chance hatte, auch interpretierend als Pianist am sinfonischen Schaffen Beethovens teilhaben zu können, das ich seit jeher verehre, war doch jetzt die Zeit, genau das zu tun.

Man könnte sagen, das Album ist vom Programm her zweigeteilt: Ein „Hauptwerk“, das einen Großteil der Spielzeit für sich verbucht, und mehrere (vom Umfang her) kleinere Werke. Bei so einer Konstellation passiert es leicht, dass Hörer die von der Spielzeit her kürzeren Werke als „nebensächlich“ einstufen, oder?

Das glaube ich nicht. Ich würde die Platte eher als ein zweiteiliges Konzertprogramm betrachten. Nach der großen Aufmerksamkeit, die die Beethoven-Transkription fordert, braucht’s danach einen Ausgleich, einen anderen musikalischen Duktus, andere Farben, leichtere  Bedeutungsschwere; besonders, wenn man die Platte ganzheitlich – sozusagen in einem Guss – hört.

Das war natürlich etwas überspitzt formuliert, denn es würde wohl niemand auf die Idee kommen, beispielsweise Ravels „Jeux d’eau“ als Bagatelle einzustufen. Aber liegt in Ihrer Programmkonstellation nicht die Gefahr eines Ungleichgewichts? Oder anders formuliert: „Wiegen“ Liszt, Ravel, Fauré und Viñes zusammen so schwer wie Beethoven?

Zusammen allemal. Aber ich glaube nicht, dass man sich diese Frage überhaupt stellen sollte. „Wie ein Konzertprogramm“ so titelte vor kurzem ein Fachmagazin über diese Einspielung. Genau das ist es. Abwechslungsreich, bunt und spannend – durchaus mit Gedankenzusammenhang, wenn man das Booklet erklärend zur Hand nimmt. Dieses Programm auf die Bühne gebracht, wird auch ganz unterschiedlichen Ansprüchen gerecht werden. Mir jedenfalls hat es persönlich viel Spaß gemacht, auch mal wieder außerhalb von „Integralem“ zu wandeln…

Bei Ihrer Interpretation geben Sie für alle Werke alles, das hört man dieser Aufnahme auf jeden Fall an. Wie bereiten Sie sich auf eine Klavieraufnahme vor?

Ich übe, versuche immer mein Bestes zu geben und bete um Klarheit – nicht nur in der Musik.

Spielen Sie auch bei einer CD-Aufnahme aus dem Gedächtnis? Ich kenne Pianisten, die spielen live aus dem Gedächtnis, bevorzugen bei einer Aufnahme aber, die Noten vor Augen zu haben.

Die Noten bei einer Aufnahme vor Augen zu haben, ist immer gut, obwohl ich live eigentlich aus dem Gedächtnis spiele. Bei einer Aufnahme – besonders wenn man einen kompetenten und fordernden Producer hat, der sehr kritisch ist, auch spannender Austausch über Interpretationen im Tonraum beim Abhören herrscht – ist die Partitur dein bester Freund in Aufnahmesessions.

Mögen Sie die Situation einer CD-Aufnahme? Manche Künstler fühlen sich „im Studio“ ja sehr wohl, andere betrachten eine Aufnahme eher als eine Art lästige Pflichtübung, um ein Album am Markt zu haben.

Wenn man gut vorbereitet ist, dann kann es trotz der nicht immer stressfreien Situation Freude machen, kann aber auch sehr zermürbend sein. Nirgendwo lernt man als Musiker mehr über sich und seine Interpretationen als im Studio und bei der Nachbereitung. Jedes Geräusch – sei es ein Quietschen des Stuhls, ein zu lautes Atmen, Mitbrummen – jede Note, jede Unachtsamkeit klingt überdeutlich, und das macht es manchmal schwer, sich freizuspielen. Glücklicherweise hatte ich bis jetzt immer ein wunderbares Aufnahmeteam, das es mir ermöglichte, schöne Interpretationen zu liefern und einzufangen.

Sie sind einer der wenigen klassischen Pianisten, die sich auch im Jazz-Sektor tummeln: Zusammen mit Ihrer Frau sind Sie Teil der Gruppe Venerem Early Art Music. Dabei entsteht eine Melange aus Musik der Renaissance und des Barock mit Jazz. Wie kam es dazu?

Meine Frau wusste um meine Vergangenheit. Vor über 25 Jahren bestand das Musizieren für mich vor allem aus Improvisieren, Arrangieren, gelegentlichem harmlosem Komponieren, vor allem für das Akkordeonorchester meines Vaters, das ich inklusive der Musikschule damals übernahm. Auch hatte ich Mitte der Neunziger eine Band formiert, die ausschließlich Eigenes zu Tage förderte, komponierte in meinem Studium Kadenzen, entwarf Transkriptionen für Klavier Solo. Das hat immer Freude gemacht, doch habe ich diese affairs de coeur  aufgegeben, da Anfang des neuen Jahrtausends die Ausbildung zum professionellen Pianisten aufzehrend und fast rücksichtslos in den Lebensmittelpunkt rückte.

Meine Frau bohrte ziemlich lange, bis ich Anfang 2019 endlich soweit war, mich darauf wieder einzulassen – nun in besonderer Besetzung und mit dem Ziel, Alte Musik neu zu erfinden.

Warum Alte Musik? Meine Frau, die Sopranistin Laureen Stoulig-Thinnes, ist Barocksängerin und spezialisiert auf diesem Gebiet. Warum besondere Besetzung? Einen guten Freund aus alter Zeit, der professioneller Bassist ist, wollte ich unbedingt dabei haben. Die Kunst beim Arrangieren bestand nun für mich darin, elektronischen Bass, Klavier, Gesang und Percussion so zusammenzubringen, dass in dieser kleinen Besetzung ein interessantes, polyphones und volles Klangbild, sozusagen ein individueller Sound mit eigenem Gesicht, entsteht. Das ist gelungen. Das Debütalbum von „Venerem early art music“ ist seit einigen Monaten am Start, wird in der Fachpresse sehr gut besprochen und die Formation wartet auf wieder offene Bühnen. 

Obwohl das Klavier ein typisches „Jazz-Instrument“ ist, scheint es mehr klassische Geiger zu geben, die ihre Nase in den Jazz gesteckt haben als Pianisten. Gibt es eigentlich einen Grund dafür, warum so wenige klassisch ausgebildete Pianisten gibt, die sich mal im Jazzgenre versuchen?

Vielleicht ist der Wunsch und der Mut zum Risiko sich mit Eigenem in einem anderen musikalischen Umfeld zu betätigen – und auch hier ein adäquates Niveau zu halten und damit zu überzeugen – bei vielen nicht da.

Bei mir brauchte es ja auch die Inspiration (m)einer Muse.

[Das Interview führte René Brinkmann]