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Boris Giltburgs formidabler Rachmaninow

Naxos, 8.574528, EAN: 7 47313 45287 3

Mit den Klavierkonzerten Nr. 1 und 4 und der Rhapsodie über ein Thema von Paganini vervollständigt der russischen Pianist Boris Giltburg seine Einspielungen der Werke für Klavier und Orchester von Sergej Rachmaninow. Begleitet wird er von den Brüsseler Philharmonikern unter der Leitung von Vassily Sinaisky.

Boris Giltburg kann mittlerweile getrost als eines der Aushängeschilder des Labels Naxos gelten, und neben – natürlich – Beethoven liegt ein besonderer Schwerpunkt seines Interesses auf der Musik Rachmaninows. Mit der vorliegenden Neuerscheinung (des vergangenen Jubiläumsjahres 2023) komplettiert er seine Einspielung von Rachmaninows Werken für Klavier und Orchester, wobei im Vergleich zu den bereits vor Jahren erschienenen mittleren Konzerten Orchester und Dirigent gewechselt haben und ihm nunmehr mit Vassily Sinaisky ein veritabler Altmeister der russischen Dirigentenschule zur Seite steht.

Im Fokus stehen diesmal also die im Vergleich zu den Konzerten Nr. 2 und 3 sicherlich ein gutes Stück unpopuläreren Klavierkonzerte Rachmaninows, was natürlich sehr stark in Relation zu betrachten ist – immerhin sind auch diese Werke um ein Vielfaches besser in Einspielungen dokumentiert als unzählige andere Konzerte weniger prominenter Komponisten. Die Gründe dafür liegen sicherlich zu einem nicht unbeträchtlichen Teil in einem Rachmaninow-Bild, das wesentlich auf den romantischen Schmelz seiner mittleren Schaffensperiode ausgerichtet ist, von dem beide Werke unzweifelhaft weniger enthalten. Dass sie aber aus anderen Gründen ihre ganz eigenen Reize haben und in vielerlei Hinsicht nicht weniger lohnenswert sind, steht auf einem anderen Blatt.

So kann man natürlich im Klavierkonzert Nr. 1 fis-moll op. 1, entstanden 1890/91 und 1917 grundlegend revidiert, noch relativ direkt allerlei Einflüsse ausmachen wie Tschaikowski (gleich in der Eingangsfanfare oder im lyrischen Mittelsatz) oder die nationalrussische Schule, und damit, dass der Beginn etwas an Schumanns Klavierkonzert erinnert, ist Rachmaninow bekanntlich nicht allein (in der Tat orientiert sich die Urfassung deutlich an Griegs Konzert). Bei alledem handelt es sich aber – erst recht in der Revision – um ein durch und durch lohnenswertes, selbstständiges und inspiriertes Werk, dessen finaler Wirbel (in der revidierten Fassung) übrigens nicht als Apotheose einer „großen Melodie“ konzipiert ist, sondern stellenweise fast etwas Robust-Tänzerisches an sich hat.

Schumann ist bis zu einem gewissen Grade auch der Referenzpunkt für die Momente des Innehaltens, des zart-poetischen Zögerns, die für den ersten Satz des Konzerts (neben der gleich auf den ersten Blick auffallenden großen Geste) charakteristisch sind, und es sind gerade diese Stellen, an denen die Qualitäten von Giltburgs Spiel ganz besonders zur Geltung kommen. Giltburg ist ja jemand, dessen Spiel sich durch ausgesprochene Kultiviertheit, sehr sorgfältige Artikulation, feine Lyrik und beseelte Emotionalität auszeichnet, ein Meister des Rubatos und der wohldurchdachten, wunderbar austarierten Übergänge. Davon zeugt in exemplarischer Weise auch der erste Einsatz des Klaviers im zweiten Satz, dessen Atmosphärik des Suchens, des zarten Sich-Vortastens Giltburg perfekt zu realisieren versteht. Ähnliches gilt für das kapriziöse Hauptthema des Finales.

Selbst in den forciertesten Passagen, so etwa in der großen Kadenz im ersten Satz, lässt sich Giltburg Raum für Differenzierungen, setzt niemals nur auf Klangfülle. So lobenswert dies grundsätzlich ist: hier und da wäre es sicher möglich, die Grandezza, das Pathos, das diese Musik zweifelsohne besitzt, bedingungsloser auszuspielen. Insgesamt aber ist dies von Seiten Giltburgs eine ausgesprochen hochklassige Einspielung.

Das Album beschließt Rachmaninows Klavierkonzert Nr. 4 g-moll op. 40, 1926 fertiggestellt, hier aber (wie zumeist) in der revidierten Fassung aus dem Jahre 1941 eingespielt. Die Rezeption dieses Werks ist von Anfang an kompliziert gewesen, inklusive verheerender Kritiken der amerikanischen Presse nach seiner Uraufführung. Was dieses Werk auszeichnet, ist seine herbe, distanzierte Lyrik, oft auch Nervosität, eine gewisse Lakonie, die stellenweise geradezu brüsk anmuten kann. Rachmaninow rezipiert hier diverse Einflüsse der Musik jüngerer Kollegen; darauf, dass manche Passagen auch durch Jazz inspiriert sind, wird gerne hingewiesen (und dieser Punkt manchmal vielleicht etwas überstrapaziert), aber manche Aspekte der im Vergleich zu früheren Werken deutlich aufgerauten Orchestrierung weisen auch zum Beispiel auf Prokofjew hin.

Nichtsdestoweniger findet man aber auch in diesem Werk die für Rachmaninow typischen Kantilenen, nur dass sie nun isolierter wirken, Episode bleiben, in Frage gestellt werden. So bleibt selbst die Apotheose gegen Ende des Finales nicht ohne Zwischentöne, und der Schluss ist sicher kein uneingeschränkter Triumph, sondern besitzt auch eine gewisse trockene, nüchterne, vielleicht ein Stück weit groteske Note. Wenn man so will, ist dies ein Rachmaninow in einer neuen, fremden Umgebung, und begreift man das Konzert auf diese Weise, erscheint es umso faszinierender und das Brodeln mal unter, mal über der Oberfläche, das gerade in den Ecksätzen stets präsent ist, umso aufregender – ein Werk, das seinen Geschwistern tatsächlich in keiner Weise nachsteht.

Giltburg legt erneut eine exzellente, fein differenzierte, eher zurückgenommene, zur Introspektion neigende Lesart dieser Musik vor, die nicht nur lokal stattfindet, sondern die großen Linien und die Dramaturgie des Werks nachvollzieht. Sein Spiel ist von einer großen Selbstverständlichkeit und Natürlichkeit geprägt, nichts klingt gewollt oder inszeniert. Im dritten Satz wählt er ein eher verhaltenes, obwohl nicht explizit langsames Tempo, zu beobachten schon gleich zu Beginn, den er wiederum mit einem gewissen Zögern begreift; hier wäre stellenweise (speziell im Orchester) mehr Schärfe und mehr Dynamik möglich, obwohl die für diese Musik so charakteristische Ambivalenz sehr gut eingefangen wird.

Mit den Brüsseler Philharmonikern und Sinaisky hat Giltburg sehr kompetente Mitstreiter an seiner Seite, sodass sich auch der Orchesterpart auf hohem Niveau bewegt – allerdings mit einer Einschränkung: es muss wohl an der Tontechnik liegen, dass das Orchester an manchen Stellen schlicht nicht präsent genug ist. Dies betrifft Dialoge mit dem Klavier oder thematische Einwürfe wie etwa die Melodielinie in den Bratschen bei Ziffer 30 im 2. Satz des Konzerts Nr. 1, den Seufzer im Horn kurz vor Ende dieses Satzes (bei Ziffer 37) oder die Celli beim 2. Thema im 1. Satz des Konzerts Nr. 4, aber auch farbliche Nuancen wie die trillerartigen Horngesten wiederum in diesem Satz (kurz nach Ziffer 22). Generell sind es besonders die tiefen Lagen, die stärker vernehmbar sein müssten, so etwa die gelegentlichen Tubasoli im Konzert Nr. 4, die nun einmal ihren Teil zu der ganz speziellen Aura dieses Werks beitragen.

Zwischen den beiden Werken steht – minutiös in Tracks aufgeteilt – die 1934 entstandene Rhapsodie über ein Thema von Paganini op. 43, die noch charakteristischer für Rachmaninows Spätstil ist als das (ein wenig als Werk des Übergangs zu begreifende) Vierte Klavierkonzert, aber aufgrund ihrer effektvollen Dramatik (inklusive reichlicher Verwendung des „Dies irae“), ihrer größeren Extravertiertheit und auch des schwelgerischen Melos gerade der Variation Nr. 18 (das aber tatsächlich durch Umkehrung direkt aus Paganinis Capricenthema entsteht) deutlich größere Popularität genießt.

Giltburg bleibt sich auch hier treu und lotet gerade auch die Variationen, in denen die Musik innehält, wie etwa noch relativ zu Beginn die Variation Nr. 6, mit der ihm eigenen Kunst des pianistischen „Sinnierens“ aus. Wenigstens am Anfang erscheint das Orchester hier präsenter, obwohl manche Passagen mehr Differenzierung, mehr orchestrale Schärfe vertragen könnten – man beachte etwa das letzte „Dies irae“ kurz vor dem (dann doch wieder mit trockener Geste etwas relativiertem) A-Dur-Triumph, das eher breit als packend gerät. Insgesamt eine Lesart, der das Besessene, das diesem Werk innewohnt, etwas abgeht, allerdings auf hohem Niveau und teilweise wohl auch bewusst, zumal Giltburg selbst dem Werk insbesondere auch eine unterhaltsame, vielleicht sogar humorvolle Note zuspricht.

Es ist zwar zu bedauern, dass Naxos mittlerweile offenbar weitgehend dazu übergegangen ist, lediglich englische Begleittexte anzubieten; inhaltlich aber ist der Text, den Boris Giltburg für diese Produktion selbst verfasst hat, vorzüglich: eine sehr sorgfältige, detaillierte, umfassend informierende, von großer Begeisterung für diese Musik getragene und durchaus persönlich gehaltene Einführung in diese Werke. So fällt das Fazit insgesamt ausgesprochen positiv aus: Giltburg hat hier eine Einspielung vorgelegt, an die man sehr hohe Maßstäbe anlegen kann.

[Holger Sambale, März 2024]

Grundsolide und tiefgründig: Beethovens Klavierkonzerte Nr. 3 & 4 mit Boris Giltburg

Naxos 8.574152; EAN: 7 47313 41527 4

Nach der aufsehenerregenden Gesamteinspielung sämtlicher Beethoven-Sonaten 2020 setzt Boris Giltburg mit den Konzerten Nr. 3 & 4 des Bonner Meisters nun auch den Schlussstein zu seinem Konzertzyklus. Es begleitet das Royal Liverpool Philharmonic Orchestra unter Vasily Petrenko.

Wollte man das Spiel des russischstämmigen, in Israel aufgewachsenen Starpianisten Boris Giltburg charakterisieren, erscheinen sehr schnell Begriffe wie grundsolide oder seriös als zutreffend: geradezu das Gegenteil von spektakulär. Dann wären jedoch detailliert Qualitäten zu nennen, die in dieser Konzentration heutzutage ganz selten zusammentreffen: erstaunliche Tempokonstanz bei gleichzeitig atmender Agogik – sogar zwingender als beim legendären Swjatoslaw Richter. Dazu durchsichtigster, feiner Anschlag mit einem Schuss jeu perle wie bei Gieseking, vor allem jedoch die besondere Fähigkeit, Emotionalität gänzlich aus einem tiefen Verständnis des Komponierten heraus logisch zu entwickeln, ohne dabei auch nur einen Funken persönlicher Eitelkeit durchscheinen zu lassen. Das ist so in der Tat meilenweit entfernt von Künstlern wie Ivo Pogorelich, Lang Lang, Yuja Wang oder selbst Igor Levit, um nur einige schon wegen ihres eben bereits spektakulären Auftretens populäre Pianisten zu nennen.

Im Falle der Beethoven-Klavierkonzerte – kaum ein Werkzyklus dürfte durch unzählige Aufnahmen für die Hörerschaft mittlerweile derart bis ins kleinste Detail erschlossen sein – lässt Giltburgs Herangehensweise diese Meisterwerke trotzdem spannend, beinahe unverbraucht erklingen. Dass Giltburg nicht nur auf dem Podium ein wahrhaftig gestaltender Musiker ist, dazu ein exzellenter Pädagoge – man sehe sich nur die genialen Internet-Meisterklassen etwa zu Rachmaninoff an –, sondern ebenso ein befähigter Essayist, beweisen seine Booklettexte zu dieser Beethoven-Serie auf Naxos. Die sind mehr als lesenswert – gerade für Laien, denen hier nie musikalische Fachbegriffe um die Ohren gehauen werden. Mit größter Sorgfalt, Empathie und tiefen Einblicken in den viele Jahre währenden Entwicklungsprozess des eigenen künstlerischen Standpunkts gegenüber dieser Musik, beschreibt der Pianist die Stücke schon sprachlich auf höchstem Niveau.

Wer bei den vorliegenden Konzerten das Essay vor dem Anhören gelesen hat, darf zum Glück attestieren, dass Giltburg dann alles genauso gelingt, wie verbal erörtert. Katapultierte sich der Künstler 2019 mit den Konzerten Nr. 1 & 2 (Naxos 8.574151) nach Meinung des Rezensenten sofort in den Olymp der allerbesten Einspielungen und überzeugte ebenfalls mit dem Es-Dur-Konzert (Nr. 5, Naxos 8.574153), durfte man gespannt auf die beiden verbliebenen Werke sein, innerhalb des Zyklus offenkundig die Lieblingsstücke des Pianisten.

Das c-Moll Konzert wirkt bereits in der Orchestereinleitung niemals dick, die Phrasierung – bei sich wiederholenden Motiven wird die Dynamik eben beim dritten Mal meist zurückgenommen – ist stets Beethoven-gerecht. Das Royal Liverpool Philharmonic Orchestra unter Vasily Petrenko agiert wie auf den bisherigen CDs der Reihe als exzellenter Begleiter, freilich mit typisch britischer Routiniertheit, die kaum Überraschungen bietet. Allerdings entdeckt Petrenko gerade im 3. Konzert jeden noch so kleinen motivischen Anklang auch in den Mittelstimmen. Giltburg gestaltet den Solopart im ersten Satz zwar nachdrücklich bedrohlich, lässt der Musik aber immer wieder den nötigen Raum zur Entspannung, so dass man staunt, wie sehr sich selbst ein derart düsterer Topos doch ganz aus dem Geist der Improvisation vielschichtig zu entwickeln vermag. Im zweiten Satz – wiederum im exakt richtigen Tempo – werden die unzähligen kleinen Notenwerte zelebriert, ohne den intimen Charakter je zu stören: eine wunderschöne Insel der Ruhe. Im Rondo wählt man ein nicht zu schnelles Tempo, bleibt dennoch virtuos und spritzig. Die Presto-Coda wirkt keck, ohne den Rahmen zu sprengen.

Das vierte Konzert – pianistisch ja bekanntlich das anspruchsvollste der fünf – wurde erst im April 2022, also nach der Corona-Krise, aufgenommen. Selten hat man die klanglichen Delikatessen im Klavier derart bewusst, zugleich völlig locker gehört: Von für Beethoven ungewöhnlicher Introvertiertheit im Kopfsatz und einem sagenhaft angstvollen Klagegesang im Andante – von fast überpointiert scharfen, eiskalten Orchestereinwürfen unnachgiebig kleingehalten – wird so der zunächst zögerliche Beginn des Finales umso glaubhafter, steigert sich erst allmählich zu „reiner Lebensfreude“ (Giltburg) – Beethovens Teleologie in grandioser Umsetzung. Die Kadenzen beider Kopfsätze erfasst Giltburg mit faszinierender Überlegenheit und formaler Übersicht: Trotz ihrer Längen geraten sie unter seinen Händen deshalb auch nicht zu Fremdkörpern, vielmehr zu herrlich epischen Klaviererzählungen, die den emotionalen Gehalt des Materials nochmals überhöhen.

Der Fazioli-Flügel glänzt inmitten der wohl eher kleinen Orchesterbesetzung mit feinen Klangfarben – und Naxos kann hier einmal mehr aufnahmetechnisch mit den alteingesessenen Labels tadellos mithalten. Keine Referenzeinspielung – falls bei diesem Repertoire überhaupt noch so etwas auszumachen wäre –, jedoch unbestreitbar Weltklasseniveau mit tief empfundenem, erfülltem Musizieren, das den Geist Beethovens durchgängig verständlich macht. Daher auch eine eindeutige Empfehlung an alle, die schon ein paar gute Aufnahmen der Konzerte ihr Eigen nennen: Diese hier macht echt Laune.

[Martin Blaumeiser, August 2023]

Boris Giltburg und Beethovens Klaviersonaten

Naxos, 9.70310; EAN: 7 30099 73101 0

Die vierte CD von Boris Giltburgs unlängst entstandener Gesamteinspielung von Beethovens Klaviersonaten bei Naxos enthält mit den Sonaten Nr. 12 bis 15, der „Trauermarsch“-Sonate, den beiden Sonaten „Quasi una fantasia“ sowie der „Pastorale“ also, einige Marksteine von Beethovens Sonatenkosmos.

Anlässlich von Beethovens 250. Geburtstag hat der Pianist Boris Giltburg im Jahre 2020 alle 32 Klaviersonaten Beethovens auf Video aufgenommen; nur unwesentlich später sind die Tonspuren dieser Aufnahmen bei Naxos auch auf CD veröffentlicht worden. Dabei ist jeder Satz ein einziges Take, kommt also ohne Schnitte aus. Die Mehrzahl der Sonaten hat Giltburg für dieses Projekt neu einstudiert, vorher waren offenbar nur neun von ihnen fester Bestandteil seines Repertoires. Die vierte CD aus dieser Reihe zeigt ihn als einen kompetenten Interpreten von Beethovens Sonaten, der in der Totale empfehlenswerte Lesarten dieser Werke liefert.

Den einleitenden Variationssatz der Klaviersonate Nr. 12 As-Dur op. 26 interpretiert Giltburg ruhig und mit Wärme und bringt die noble Lyrizität des Themas angemessen zur Geltung. Leider kommt allerdings in der vierten Variation der Kontrast zwischen Legato in der rechten und Staccato in der linken Hand zu kurz, da Giltburg auch in der rechten Hand am Ende der Legatobögen tendenziell staccatiert. Ausnehmend gut gefällt mir sein Scherzo, das er rasch und mit Sinn für die dynamischen Kontraste spielt und dabei die Steigerung bis hin zum energischen Schluss des Scherzoteils exzellent abbildet. Problematischer erscheint der Trauermarsch: Giltburg scheut hier das Zeremonielle; vom ersten Takt an ist klar, dass er diesen Satz vorrangig introvertiert, ja fast schon versonnen versteht, was zusammen mit einem eher langsamen Grundtempo die Musik manchmal etwas auf der Stelle treten lässt. Diese Beobachtungen unterstreicht auch der Trioteil, dessen „Gewehrsalven“ Giltburg recht vorsichtig begegnet. Das Finale wiederum knüpft wieder stärker an den zweiten Satz an, sicher etwas zurückgenommener, wie es eben in der Natur dieses Satzes liegt, aber eben doch im Grundsatz gelöst; ein stimmiger Abschluss dieser Einspielung.

Insgesamt sehr gut gelungen wirkt Giltburgs Lesart der Klaviersonate Nr. 13 Es-Dur op. 27 Nr. 1, der ersten beiden der „Quasi una fantasia“-Sonaten. Die spezielle Stimmungslage des einleitenden Andante irgendwo zwischen einer von vagen Andeutungen erfüllten Traumwelt von fast kindlicher Schlichtheit und plötzlichem Allegro-Aufschwung, der aber nichtsdestotrotz ebenfalls eher präludierend wirkt, fängt Giltburg gut ein; das Mysterium und die klangfarbliche Differenzierung etwa aus Daniel Barenboims jüngsten Zyklus findet man hier zwar nicht, doch die Charakteristik dieses Satzes bildet Giltburgs Interpretation schlüssig ab. Sehr gut auch der zweite Satz, dessen Dreiklangsbrechungen Giltburg zunächst fahl dahinhuschend, dann eruptiv realisiert und zu einer eindrucksvollen Kulmination am Schluss führt. Auch die übermütige Vitalität und Spielfreude des Finales fängt Giltburg überzeugend ein, der b-moll-Höhepunkt (in etwa ab Takt 118) könnte allerdings etwas machtvoller geraten.

Die Klaviersonate Nr. 14 cis-moll op. 27 Nr. 2, die „Mondschein-Sonate“ also, versteht Giltburg eher nüchtern, objektiv, nahezu klassizistisch. Dies zeigt bereits ihr erster Satz, den Giltburg mit knapp fünfeinhalb Minuten eher flüssig nimmt. Geheimnisvolles, ahnungsvolle Stille wird man in dieser Interpretation indes eher nicht finden. Stimmig(er) erscheint diese Lesart im intermezzohaften zweiten Satz, obwohl hier etwa in den Takten 9 bis 16 ein ganz ähnliches Problem auftritt wie bereits im Kopfsatz der Sonate Nr. 12 beschrieben, denn auch hier nivelliert Giltburg in gleicher Weise den Unterschied zwischen Legato rechts und Staccato links. Dies ist umso irritierender, da er die entsprechenden Staccati (wiederum rechts) ab Takt 27 zum Teil überspielt. Am problematischsten erscheint mir Giltburgs distanzierter Ansatz jedoch im Finale. Exemplarisch für seine Lesart etwa, dass er das Sforzato-Gis in Takt 14 (wie auch seine Entsprechung in der Reprise) eigentlich sogar eher abschwächt als hervorhebt. Auch zum Beispiel den Zweiunddreißigstelarpeggien kurz vor Schluss geht der Charakter einer Kulmination weitgehend ab. So kommt Giltburgs Mondschein-Sonate in toto ziemlich gemäßigt daher; die Extreme, die dieses Werk kennzeichnen, das Drama, das der Schlusssatz sein kann, sind in dieser Aufnahme höchstens zu erahnen. Für mich damit die am wenigsten überzeugende Interpretation auf dieser CD.

Im Kopfsatz der Klaviersonate Nr. 15 D-Dur op. 28, der „Pastorale“, fällt auf, dass Giltburg bei einem tendenziell zügigen Grundtempo relativen großzügigen Gebrauch von Rubato macht. Auf diese Weise hebt er zum Beispiel das vorsichtige Tasten im Pianissimo ab Takt 63 mit an Pizzicati gemahnenden Staccato-Vierteln in der linken Hand sehr schön hervor, aber auch das langsame „Entstehen“ des zweiten Themas wie im Fluss kommt gut zur Geltung. Die Grundhaltung ist lyrisch, aber Giltburg behält sich immer wieder punktuelle Steigerungen vor; das Crescendo kurz vor dem Ende (ab Takt 446) kostet er deutlich aus. Fließend gestaltet er auch große Teile des zweiten Satzes. Ähnlich wie bereits zuvor bemerkt ist allerdings die Artikulation nicht immer konsequent; von einem sempre staccato in der linken Hand wie von Beethoven zu Beginn gefordert kann nicht immer die Rede sein, und beim Dreitonsignal, das den D-Dur-Teil durchzieht, verzichtet Giltburg offenbar bewusst sogar auf jegliches Staccato und interpretiert dieses Motiv fast burschikos. Stringenter gestaltet ist das Scherzo, im Trio hätte Giltburg allerdings die wechselnde Begleitung in der linken Hand etwas stärker in den Vordergrund stellen können. Gut gelungen auch das von Giltburg insgesamt entspannt und mit Sinn für Bukolik interpretierte Finale. Ähnlich wie in der Mondschein-Sonate nimmt Giltburg auch hier einige Sforzati eher zurückhaltend, was in diesem Kontext aber weniger problematisch erscheint.

Natürlich ist die Anzahl der Aufnahmen von Beethovens Klaviersonaten enorm, und entsprechend könnte die Konkurrenz zu Giltburgs Aufnahmen größer kaum sein. Anhand der vorliegenden CD würde ich seine Einspielungen nicht in der Spitze verorten. Wohl aber erhält man gute bis sehr gute, hörens- und bei aller Detailkritik insgesamt empfehlenswerte Aufnahmen dieser Werke, deren Stärken weniger im Abgründigen als eher im Lebhaften, Agilen, Diesseitigen liegen. Der Klang ist ordentlich, aber nicht überragend, da eher gedeckt als räumlich-durchhörbar.

[Holger Sambale, September 2021]

Giltburgs Reise beginnt

Im Lauf des Jahres 2020 will Boris Giltburg alle 32 Beethovensonaten einstudieren und aufnehmen – das Ergebnis erscheint auf neun digitalen Alben, zudem auf Video, welches auf YouTube einzusehen ist. Persönliche Einführungstexte, Gedanken und Impressionen der Probenarbeit liegen auf der Website www.beethoven32.com in deutscher wie englischer Sprache vor. Frisch erschien die erste CD-Auskopplung mit den drei Sonaten op. 2.

Das Unterfangen ist ein gewaltiges: Im Laufe diesen Jahres studiert Boris Giltburg alle der insgesamt 32 umfangreichen wie anspruchsvollen Klaviersonaten Ludwig van Beethovens ein, 23 davon sind ihm bislang völlig neu. Dabei legt er zu Beginn ein gewaltiges Tempo vor, studierte die ersten sieben Sonaten binnen weniger Wochen ein, die drei Sonaten op. 10 brachte er innerhalb von neun Tagen vom Übebeginn zur Aufnahme. Er begleitet dieses Projekt auf seinem Blog www.beethoven32.com, der auf Englisch und Deutsch gelesen werden kann, hält uns so stets auf dem Laufenden und verleiht dem Ganzen eine persönliche, ansprechende und zutiefst menschliche Note, die seine eigene Verliebtheit in die Notenwelt Beethovens unterstreicht. Ursprünglich hätte die hier vorliegende erste Alben-Auskopplung ohne Label bereits im Mai erscheinen sollen, nun nahm sich allerdings Naxos des Projekts an, brachte vergangenen Freitag die erste digitale CD heraus (anzuhören hier) und wird die gesammelten Aufnahmen kommendes Jahr als CD-Box in den Handel bringen.

Die drei Sonaten op. 2 wählte Beethoven mit besonderer Bedacht, markierten sie schließlich nach den drei Trios op. 1 den Beginn seines publizierten Schaffens: so mussten sie direkt ein Zeichen setzen, von Anfang an die Einzig- und Neuartigkeit seines Stils zur Schau stellen. Als Widmungsträger dient der prominente Lehrer Beethovens, Joseph Haydn.

Bislang genoss ich die Aufnahmen Boris Giltburgs mit Vorsicht, da mir schien, die unbändige technische Potenz des Pianisten unterminiere bisweilen die musikalische Substanz. Giltburg überraschte immer wieder durch tiefe Empfindungen, ließ aber dann doch oft die Finger sprechen und nicht unbedingt das innige Verständnis. Umso mehr überrascht der Pianist nun mit seiner Beethovendarbietung, denn er empfindet, was er spielt, und vermittelt dies so frei und unverbindlich an den Hörer.

Er schreibt selbst in seinem Blog, dass die Erste Sonate auch der größten Herausforderung entspricht, da sie schließlich die Erste sei und so alle Erwartungen zu erfüllen habe. Bei dieser Sonate habe ich das Gefühl, Giltburg musste sich erst in diese Welt einleben und warm werden mit dem Stil des noch jugendlich überschwänglichen Beethovens, der beinahe Mozart’schen Witz und Haydn’sche Gelassenheit verströmt. So erscheint dieses Erstlingswerk bereits etwas zu romantisch, träumerisch und entsprechend nicht ganz dem Umfeld entsprechend, in das sie komponiert wurde. Dieses Werk benötigt noch die Klarheit und Präzision, die Ausgewogenheit der Klassik, sollte noch nicht zu sehr in die rauschhafte, geräuschlastige und überbordende Gefühlswelt des lebenserfahreneren Beethovens eintauchen. Dafür wundert es, dass Giltburg auch Durchführung und Reprise des Kopfsatzes wiederholt: diese Praxis macht spätestens ab dem mittleren Haydn keinen Sinn mehr, geschweige denn bei Beethoven. Dafür trieb uns die Durchführung zu weit hinfort und die Schlusswirkung ist zu final, um dann erneut diese Reise zu durchleben.

Weitaus gelungener präsentiert sich da die A-Dur-Sonate Nr. 2 in ihrer wankelmütigen Leichtigkeit, die voller subtiler Gefahren steckt und den Pianisten aufs Glatteis legen will. Hier gelingt Giltburg die Unbeschwertheit und eine gewisse Keckheit, mit der Beethoven bewusst provoziert. Das Lento appassionato könnte die Melodie noch etwas weiter zum Tragen bringen, ansprechend geben sich dafür die Kontraste zwischen den einzelnen Ebenen und die formale Gestaltung. Beim lebhaft-verspielten Scherzo blüht Giltburg endgültig auf und steigert sich sogar noch in dem höllisch-virtuosen Rondo-Finale, das für die Zeit technisch neue Maßstäbe setzt. Unbekümmert und munter rast der Pianist durch die horrend schwierigen Umspielungen des Themas, gibt ihnen dabei melodischen Stellenwert und zeigt Verständnis für diese Musik in ihrer klassischen Leichtigkeit und kühnen Fortschrittlichkeit.

Die pianistische Meisterschaft setzt Giltburg in der Dritten Sonate C-Dur fort, ein wahres Klavierkonzert ohne Orchester. Teils könnte die von Beethoven minutiös ausgefeilte Dynamik noch wörtlicher genommen, die Unterschiede zwischen pp, p, mp, mf, f und ff noch mehr an die Oberfläche gebracht werden. Giltburg reißt uns mit durch den nach vorne ziehenden Sog der Töne, die hier bereits herber werdenden Kontraste und harmonischen Finessen, die wir deutlich zu Gehör bekommen. Im Kopfsatz überzeugt vor allem der lange Aufbau am Ende der Reprise in Richtung einer Kadenz. Im Adagio bringt der Pianist alle Innigkeit und Zärtlichkeit zum Vorschein, die in ihm steckt, bezaubert durch die Flächigkeit und langsame Metamorphose. Das Allegro nimmt er in abenteuerlicher Geschwindigkeit, bleibt dennoch durchsichtig und sprudelt förmlich über im Trio. Das Finale wird zum freudigen Kehraus, präsentiert sein technisches Können und seine manuelle Leichtigkeit auf atemberaubende Weise.

[Oliver Fraenzke, Mai/Juli 2020]

Enttäuschende Etüden

Naxos, 8.573981; EAN: 7 47313 39817 1

Boris Giltburg spielt die 12 Études d’exécution transcendante von Franz Liszt, zudem finden sich auf der CD die Konzertparaphrase über Rigoletto (Verdi) und La leggierezza aus den 3 Études de concert, beide vom selben Komponisten.

Die bisherigen CDs von Boris Giltburg schufen bei mir ein gemischtes Bild von einem äußerst fähigen Pianisten mit enormer Technik und durchaus Aussagekraft, der sich jedoch oftmals zu wenig Mühe gibt, die Werke auch musikalisch zu ergründen. Manches, was ihm besonders am Herzen liegt, erklingt in hinreißender Ausführung, alles andere jedoch stellt in erster Linie die Virtuosität zur Schau. Mit seiner neuesten Veröffentlichung enttäuscht Giltburg jedoch vollkommen und spricht Liszts transzendentalen Etüden einen Großteil ihrer Musikalität ab.

Dies beginnt schon beim kurzen, aber kecken Preludio, welches Giltburg durch willkürliche Rubati deformiert, die sich – wie sich herausstellt – durch den ganzen Zyklus ziehen sollen. Lautere Dynamik scheint für den Pianisten automatisch auch schnellere Tempi zu bedeuten und leise Passagen werden bisweilen langsamer; diese „Gesetzmäßigkeit“ wird normalerweise jedem Laien in den ersten Jahren des Klavierunterrichts ausgetrieben. Auch Taktschwerpunkte geben Anlass genug für Giltburg, sie durch kleine Tenuti länger zu halten, wodurch die Musik plump und hinkend erscheint.

Bei Mazeppa schockiert etwas weiteres, das sich auch in anderen Etüden wie der Vision, in Ricordanza oder Harmonies du soir fortsetzt: In den herrlichen Umspielungen und Paraphrasierungen der Themen geht die Melodie verloren; Giltburg fokussiert sich alleinig auf die Zurschaustellung der virtuos-schwierigen Begleitungen. Der gesamte Formale Aufbau der Etüden leidet darunter. In Vision stellt sich der Tastenlöwe sogar gegen die eindeutige Anweisung von Liszt, denn als dieser für sein tiefes pochendes Motiv auf G „marcatissimo“ vorschreibt, hören wir das Motiv überhaupt nicht durch, sondern werden von raschen Läufen der rechten Hand geblendet.

Eine akzeptable Aufnahme liefert Giltburg lediglich von der namenloser Nr. 10 und von Chasse-neige, die tatsächlich ihre Leichtigkeit mit gleichzeitiger Rastlosigkeit vermittelt, welche sie so ausmacht. Dazu spielt bei beiden Etüden, das Giltburg die Pedalisierung meisterlich fein gestaltet und auf das Nötigste reduziert, um vollen Klang bei Klarheit der Linie zu ermöglichen. Feux Follets begehren zu schnell auf, um das Gespenstische und Irrlichthafte auszustrahlen, und selbst La leggierezza tönt zu mechanisch, um dem Titel gerecht zu werden. Bei den beiden ruhigen Etüden Paysage und Harmonies du soir vermisse ich die Ruhe und Gelassenheit, die schier unendliche Weite der Klangflächen sowie die Schlichtheit der Weisen.

Ein so gefragter Pianist wie Boris Giltburg sollte sich mehr Mühe geben, nicht nur, wenn er solch einen Meilenstein der Klavierliteratur wie Liszts Transzendentale Etüden aufnimmt. Ich verstehe, dass er gewissermaßen im Zwang steht, viel zu konzertieren und ebenso viel aufzunehmen, um dadurch im Fokus der Presse und Öffentlichkeit zu bleiben; aber zu viel Repertoire heißt auch, sich nicht voll auf ein Projekt konzentrieren zu können, weil fünf weitere bereits ins Haus stehen – und genau das wurde meiner Einschätzung nach dieser Einspielung zum Verhängnis. Denn Giltburg könnte, wenn er wollte.

[Oliver Fraenzke, Januar 2019]

Über den musikalischen Inhalt

Naxos 8.573630; EAN: 7 47313 36307 0

Sergei Rachmaninoff: Klavierkonzert Nr. 3 Op. 30, Variationen über einem Thema von Corelli Op. 42; Boris Giltburg (Klavier), Royal Scottish National Orchestra, Carlos Miguel Prieto (Leitung)

Boris Giltburg setzt seine Rachmaninoff-Reihe mit dem Dritten Klavierkonzert d-Moll op. 30 fort, ihn begleitet das Royal Scottish National Orchestra unter Leitung von Carlos Miguel Prieto. Als Solowerk spielt Giltburg zudem Rachmaninoffs Variationen über einem Thema von Corelli op. 42.

„Früher haben nur ausgewählte Leute Rachmaninows drittes Klavierkonzert op. 30 gespielt: Nach dem Komponisten selbst waren es Samuil Feinberg, Nikolai Orlow, und erst fünfzehn Jahre später folgte dann Lew Oborin. Heute aber spielen dieses Konzert die Absolventen der Spezialschulen für Musik, und wir Pädagogen lassen das zu – in einer Art stillschweigendem Übereinkommen, im voraus Absolution zu erteilen für alle Sünden, in einer Art Generalamnestie für einen scheußlichen Vortrag, der die schönen, aber eben schweren Stellen gründlich verdirbt. Da gibt es aber keinen Pardon! Denn die Technik ist vom Inhalt nicht zu trennen.“ (Jakow Sak: Zu Fragen der Erziehung unseres Pianistennachwuchses, S. 151-169, in: Herbert Sahling (Hrsg.): Notate zur Pianistik. Aufsätze sowjetischer Klavierpädagogen und Interpreten, Leipzig 1976, S. 167f.)

Es sind harte, doch wahre Worte, die Jakow Sak über eines der berüchtigtsten Stücke der Klavierliteratur notierte. Wir werden förmlich überflutet mit Aufnahmen und Aufführungen von Rachmaninoffs Drittem Klavierkonzert, fast jeder Pianist von Rang und Namen führt es als Highlight in seinem Repertoire. Doch wie oft enttäuschen die Darbietungen rigoros, wie oft verstehen wir als Hörer nichts, außer dass es an die Grenzen menschlicher Physionomie geht?

Boris Giltburg erkennt dieses Problem ebenfalls und vergleicht das Klavierkonzert mit einem 800-seitigen Roman: Auf den Inhalt komme es an, nicht auf die Länge. Entsprechende Bedeutung will er dem Koloss auf musikalischer Ebene verleihen.

Glück hat Giltburg mit dem Orchester, Carlos Miguel Prieto meißelt unerhörte Stimmvielfalt aus dem Royal Scottish National Orchestra heraus; besonders der Streicherapparat ist voll und warm, die treibende Kraft kommt aus den Bässen und Celli und breitet sich bis hin zu den Flöten aus. Bedauernswert ist hierbei, dass der Tonmeister zu sehr auf den Pianisten fixiert war und das Orchester in der Abmischung hinter dem Klavier verschwinden lässt: Dabei müsste das Orchester oft führen, während der Pianist die Melodien nur durch rasche Bewegungen ausziert; in dieser Aufnahme hören wir statt dessen rasche Bewegungen, wohinter irgendwo vielleicht eine Melodielinie im Orchester zu erahnen sein könnte.

Mühelos bewegt sich Boris Giltburg durch die horrend schwierigen Passagen, lässt sie spielend leicht erscheinen. Und doch höre ich nicht so viel „Inhalt“, wie der Pianist es angekündigt hat: Zwar holt er durchaus viele hinreißende Details an die Oberfläche, aber es fehlt an Stringenz und bezwingender Fortführung der musikalischen Linie. Allgemein klingt Giltburgs Spiel blass, er könnte noch mehr an dynamischer und artikulatorischer Vielfalt gewinnen. Dies gilt noch mehr in den Corelli-Variationen op. 42, wo der musikalische Fluss nach spätestens einem Drittel der Länge in einzelnen Momenten und Effekten versiegt.

[Oliver Fraenzke, Juni 2018]

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Konzerte und Quartette

Naxos, 8.573666; EAN: 7 47313 36667 5

Die beiden Klavierkonzerte in c-Moll op. 35 und in F-Dur Op. 102 von Schostakowitsch spielt Boris Giltburg gemeinsam mit dem Royal Liverpool Philharmonic Orchestra unter Vasily Petrenko, die Solo-Trompete im ersten Konzert übernimmt Rhys Owens. Des weiteren sind von Giltburg Arrangements des achten Streichquartetts c-Moll Op. 110 und des Walzers aus dem zweiten Quartett Op. 68 für Klavier solo zu hören.

Nach drei recht erfolgreichen Solo-Aufnahmen spielt Boris Giltburg nun mit einem Orchester. Da es erst vor kurzem eine Gesamtaufnahme aller Schostakowitsch-Symphonien abgeschlossen hat, ist das Royal Liverpool Philharmonic Orchestra unter Vasily Petrenko geradezu prädestiniert, mit dem zum Star aufsteigenden Solisten die beiden Klavierkonzerte des russischen Meisters einzuspielen.

Im Vergleich zu der vorausgegangenen Rachmaninoff-Einspielung hat Boris Giltburg an Weichheit und Flexibilität gewonnen, das Forte ist wesentlich voluminöser. Und gerade die zarten und lyrischen Passagen konnte der in Moskau geborene Pianist nun für sich erschließen, tragfähige und zeitgleich zerbrechliche Kantilenen sind der Beweis. Trotz dessen erscheinen die Tempi gerade im ersten Konzert etwas sehr rasch. Jedoch verliert Giltburg durch extreme Willkür in oftmals unstimmigen Rubati den Fluss (plötzlich eilt die Musik davon, dann bleibt sie wieder stecken) und somit das kontinuierliche Precipitato-Feeling, das die Musik Schostakowitschs so mitreißend macht – wobei dieses in Ansätzen durchaus vorhanden wäre, aber eben nicht mit der charakteristischen Konstanz.

Das Orchester blüht vor allem im zweiten Klavierkonzert auf, das allgemein plastischer entsteht als das erste. Vasily Petrenko gibt seinem Klangkörper einen markanten, rhythmisch prägnanten Charakter, der ihm nicht aus dem Ruder läuft. Im zweiten Konzert gelingt Petrenko eine herrlich polyphone Gestaltung des Orchesterapparats, die Unterstimmen erhalten volles Mitspracherecht, ergeben somit eine vielschichtigere Färbung. Auch im ersten Konzert fasziniert allgemein eine plausible Linienführung, lediglich der langsame Satz verliert bei allen Beteiligten an Fokus und Richtung, verläuft sich in Richtungslosigkeit. Rhys Owens brilliert in der hohen Lage seines eigenwilligen Trompeten-Soloparts (welch eine Besetzung!), in der Tiefe sticht er durch einen rauh-blechernen Ton hervor, der einen ganz eigenen Charme besitzt.

In den Arrangements des achten Quartetts sowie des Walzers aus dem zweiten Quartett bleibt Giltburg dem Original verpflichtet, sowohl als Arrangeur wie auch als Pianist. Es klingt alles sehr nach der Streicherbesetzung, die er in einer Person zu ersetzen versucht. Auch wenn einige Passagen deutlich nach echtem Streicherklang verlangen, funktionieren die Arrangements erstaunlich gut und lassen die herrliche Kammermusik nun auch als Solomusik entstehen. Auch das Spiel Giltburgs wird hier auf einmal kammermusikalischer, das Tempo erhält Kontur und die Stimmen spielen polyphoner mit- und gegeneinander, das Gesamte erhält einen deutlicheren einheitlichen Bogen.

[Oliver Fraenzke, Dezember 2016]

Bilder und Momente

Naxos 8.573469; EAN: 7 47313 34697 4

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Über siebzig Minuten Rachmaninoff gibt es auf der nunmehr dritten CD von Boris Giltburg für Naxos zu hören. Den zweiten Band der Études-tableaux Op. 39 und die zwanzig Jahre früher entstandenen Moment musicaux Op. 16 (wenn auch die Jahreszahlen auf der CD vertauscht wurden) spielt der 1984 in Moskau geborene Pianist.

Die unglaubliche Inspiriertheit von Sergei Rachmaninoff manifestiert sich nirgendwo monumentaler als in seinen Klavierminiaturen. Der lyrische Moment der nachklingenden Romantik ist in diesen auf vollendete Weise enthalten, sie haben eine fesselnde und mitreißende Wirkung, stets schillernde Bildhaftigkeit und auch pianistisch mehr als reizvolle Passagen. Sehr eindrücklich zeigen dies bereits die frühen Moments musicaux Op. 16 von 1896, von welchen vor allem die vierte Nummer in e-Moll berühmt geworden ist durch ihre packende Virtuosität, über die sich ein Thema erhebt, welches schlichter und eingängiger kaum sein könnte. Für mich der spannendste und vielleicht ausgereifteste Werkzyklus des Russen bleibt allerdings derjenige der Études-tableaux, der in zwei Bänden Op. 33 und Op. 39 erschienen ist. „Etüden-Bilder“, dieser Name trifft den Inhalt vorzüglich, weisen doch alle enthaltenen Stücke horrende technische Anforderungen auf (teils hintergründig und versteckt wie bei Op. 33, Nr. 3, doch beim Spielen durchaus merklich, denn gerade hier liegt die Herausforderung darin, die Stimmführung herauszumeißeln – auch das ist eine technisch nicht zu unterschätzende Aufgabe!) und sind doch allesamt keine reinen Übungsstücke, sondern abstrakte Illustrationen oder, wie Giltburg in seinem Booklettext schreibt, Kurzgeschichten, teils wie akustische Filmvorlagen. Die Etüden aus dem hier zu hörenden Opus 39 weisen zwar nicht die würzige Kürze und Unmittelbarkeit derjenigen aus Op. 33 auf, doch dafür einen viel weiter gespannten Bogen über mehrere Abschnitte hinweg, noch höhere pianistische Anforderungen und eine ausgereifte Vielstimmigkeit.

Boris Giltburg findet in den Werken einen durchwegs lyrischen Grundcharakter, eine gewisse Weichheit und bildliche Strahlkraft. Auch die vielstimmigen Akkorde erhalten einen vollen Ton und gleiten nicht in ein dumpfes Schlagen ab. Manuell kann Giltburg bis hin in enorme Tempi überzeugen, manch horrend schwieriges Stück gerät bei ihm gar noch schneller als vom Komponisten intendiert und lässt dadurch staunen.

Einiges verliert sich allerdings in Willkür, so werden die Tempi zu oft durch freie Rubati unterbrochen und jeder Grundpuls geht dadurch verloren, teilweise auch die innere Ruhe durch beschleunigenden Puls wie in Op. 39, Nr. 2. Die Ritardandi sind zudem vielerorts mechanisiert und treten automatisch an gewissen Stellen auf, meist beim Zulaufen auf den neuen Takt oder einen Themeneinsatz. Aus mir nicht erkennbaren Gründen, scheinbar unbewusst, durchlebt die Dynamik erhebliche Abweichungen von der in den Noten stehenden Vorzeichnung, wodurch einige Kontraste verloren gehen. Nicht zuletzt tauchen, hauptsächlich bei den Etüden, auch einige zentrale Melodien komplett in den Untergrund ab, die entscheidend für die melodische Aussage der Werke wären.

So wäre wirklich zu wünschen, Boris Giltburg würde intensiv daran arbeiten, die Stücke aus ihrer Unmittelbarkeit heraus zu erleben und aus mancherlei tradierten Willkürlichkeiten, Manierismen und Mechanisierungen zu befreien. Denn die Auffassungsgabe, den Kern aus der Musik herauszuholen, hat er eigentlich und kann es in manchen Stücken auch eindrucksvoll umsetzen.

[Oliver Fraenzke, Mai 2016]