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Boris Giltburgs formidabler Rachmaninow

Naxos, 8.574528, EAN: 7 47313 45287 3

Mit den Klavierkonzerten Nr. 1 und 4 und der Rhapsodie über ein Thema von Paganini vervollständigt der russischen Pianist Boris Giltburg seine Einspielungen der Werke für Klavier und Orchester von Sergej Rachmaninow. Begleitet wird er von den Brüsseler Philharmonikern unter der Leitung von Vassily Sinaisky.

Boris Giltburg kann mittlerweile getrost als eines der Aushängeschilder des Labels Naxos gelten, und neben – natürlich – Beethoven liegt ein besonderer Schwerpunkt seines Interesses auf der Musik Rachmaninows. Mit der vorliegenden Neuerscheinung (des vergangenen Jubiläumsjahres 2023) komplettiert er seine Einspielung von Rachmaninows Werken für Klavier und Orchester, wobei im Vergleich zu den bereits vor Jahren erschienenen mittleren Konzerten Orchester und Dirigent gewechselt haben und ihm nunmehr mit Vassily Sinaisky ein veritabler Altmeister der russischen Dirigentenschule zur Seite steht.

Im Fokus stehen diesmal also die im Vergleich zu den Konzerten Nr. 2 und 3 sicherlich ein gutes Stück unpopuläreren Klavierkonzerte Rachmaninows, was natürlich sehr stark in Relation zu betrachten ist – immerhin sind auch diese Werke um ein Vielfaches besser in Einspielungen dokumentiert als unzählige andere Konzerte weniger prominenter Komponisten. Die Gründe dafür liegen sicherlich zu einem nicht unbeträchtlichen Teil in einem Rachmaninow-Bild, das wesentlich auf den romantischen Schmelz seiner mittleren Schaffensperiode ausgerichtet ist, von dem beide Werke unzweifelhaft weniger enthalten. Dass sie aber aus anderen Gründen ihre ganz eigenen Reize haben und in vielerlei Hinsicht nicht weniger lohnenswert sind, steht auf einem anderen Blatt.

So kann man natürlich im Klavierkonzert Nr. 1 fis-moll op. 1, entstanden 1890/91 und 1917 grundlegend revidiert, noch relativ direkt allerlei Einflüsse ausmachen wie Tschaikowski (gleich in der Eingangsfanfare oder im lyrischen Mittelsatz) oder die nationalrussische Schule, und damit, dass der Beginn etwas an Schumanns Klavierkonzert erinnert, ist Rachmaninow bekanntlich nicht allein (in der Tat orientiert sich die Urfassung deutlich an Griegs Konzert). Bei alledem handelt es sich aber – erst recht in der Revision – um ein durch und durch lohnenswertes, selbstständiges und inspiriertes Werk, dessen finaler Wirbel (in der revidierten Fassung) übrigens nicht als Apotheose einer „großen Melodie“ konzipiert ist, sondern stellenweise fast etwas Robust-Tänzerisches an sich hat.

Schumann ist bis zu einem gewissen Grade auch der Referenzpunkt für die Momente des Innehaltens, des zart-poetischen Zögerns, die für den ersten Satz des Konzerts (neben der gleich auf den ersten Blick auffallenden großen Geste) charakteristisch sind, und es sind gerade diese Stellen, an denen die Qualitäten von Giltburgs Spiel ganz besonders zur Geltung kommen. Giltburg ist ja jemand, dessen Spiel sich durch ausgesprochene Kultiviertheit, sehr sorgfältige Artikulation, feine Lyrik und beseelte Emotionalität auszeichnet, ein Meister des Rubatos und der wohldurchdachten, wunderbar austarierten Übergänge. Davon zeugt in exemplarischer Weise auch der erste Einsatz des Klaviers im zweiten Satz, dessen Atmosphärik des Suchens, des zarten Sich-Vortastens Giltburg perfekt zu realisieren versteht. Ähnliches gilt für das kapriziöse Hauptthema des Finales.

Selbst in den forciertesten Passagen, so etwa in der großen Kadenz im ersten Satz, lässt sich Giltburg Raum für Differenzierungen, setzt niemals nur auf Klangfülle. So lobenswert dies grundsätzlich ist: hier und da wäre es sicher möglich, die Grandezza, das Pathos, das diese Musik zweifelsohne besitzt, bedingungsloser auszuspielen. Insgesamt aber ist dies von Seiten Giltburgs eine ausgesprochen hochklassige Einspielung.

Das Album beschließt Rachmaninows Klavierkonzert Nr. 4 g-moll op. 40, 1926 fertiggestellt, hier aber (wie zumeist) in der revidierten Fassung aus dem Jahre 1941 eingespielt. Die Rezeption dieses Werks ist von Anfang an kompliziert gewesen, inklusive verheerender Kritiken der amerikanischen Presse nach seiner Uraufführung. Was dieses Werk auszeichnet, ist seine herbe, distanzierte Lyrik, oft auch Nervosität, eine gewisse Lakonie, die stellenweise geradezu brüsk anmuten kann. Rachmaninow rezipiert hier diverse Einflüsse der Musik jüngerer Kollegen; darauf, dass manche Passagen auch durch Jazz inspiriert sind, wird gerne hingewiesen (und dieser Punkt manchmal vielleicht etwas überstrapaziert), aber manche Aspekte der im Vergleich zu früheren Werken deutlich aufgerauten Orchestrierung weisen auch zum Beispiel auf Prokofjew hin.

Nichtsdestoweniger findet man aber auch in diesem Werk die für Rachmaninow typischen Kantilenen, nur dass sie nun isolierter wirken, Episode bleiben, in Frage gestellt werden. So bleibt selbst die Apotheose gegen Ende des Finales nicht ohne Zwischentöne, und der Schluss ist sicher kein uneingeschränkter Triumph, sondern besitzt auch eine gewisse trockene, nüchterne, vielleicht ein Stück weit groteske Note. Wenn man so will, ist dies ein Rachmaninow in einer neuen, fremden Umgebung, und begreift man das Konzert auf diese Weise, erscheint es umso faszinierender und das Brodeln mal unter, mal über der Oberfläche, das gerade in den Ecksätzen stets präsent ist, umso aufregender – ein Werk, das seinen Geschwistern tatsächlich in keiner Weise nachsteht.

Giltburg legt erneut eine exzellente, fein differenzierte, eher zurückgenommene, zur Introspektion neigende Lesart dieser Musik vor, die nicht nur lokal stattfindet, sondern die großen Linien und die Dramaturgie des Werks nachvollzieht. Sein Spiel ist von einer großen Selbstverständlichkeit und Natürlichkeit geprägt, nichts klingt gewollt oder inszeniert. Im dritten Satz wählt er ein eher verhaltenes, obwohl nicht explizit langsames Tempo, zu beobachten schon gleich zu Beginn, den er wiederum mit einem gewissen Zögern begreift; hier wäre stellenweise (speziell im Orchester) mehr Schärfe und mehr Dynamik möglich, obwohl die für diese Musik so charakteristische Ambivalenz sehr gut eingefangen wird.

Mit den Brüsseler Philharmonikern und Sinaisky hat Giltburg sehr kompetente Mitstreiter an seiner Seite, sodass sich auch der Orchesterpart auf hohem Niveau bewegt – allerdings mit einer Einschränkung: es muss wohl an der Tontechnik liegen, dass das Orchester an manchen Stellen schlicht nicht präsent genug ist. Dies betrifft Dialoge mit dem Klavier oder thematische Einwürfe wie etwa die Melodielinie in den Bratschen bei Ziffer 30 im 2. Satz des Konzerts Nr. 1, den Seufzer im Horn kurz vor Ende dieses Satzes (bei Ziffer 37) oder die Celli beim 2. Thema im 1. Satz des Konzerts Nr. 4, aber auch farbliche Nuancen wie die trillerartigen Horngesten wiederum in diesem Satz (kurz nach Ziffer 22). Generell sind es besonders die tiefen Lagen, die stärker vernehmbar sein müssten, so etwa die gelegentlichen Tubasoli im Konzert Nr. 4, die nun einmal ihren Teil zu der ganz speziellen Aura dieses Werks beitragen.

Zwischen den beiden Werken steht – minutiös in Tracks aufgeteilt – die 1934 entstandene Rhapsodie über ein Thema von Paganini op. 43, die noch charakteristischer für Rachmaninows Spätstil ist als das (ein wenig als Werk des Übergangs zu begreifende) Vierte Klavierkonzert, aber aufgrund ihrer effektvollen Dramatik (inklusive reichlicher Verwendung des „Dies irae“), ihrer größeren Extravertiertheit und auch des schwelgerischen Melos gerade der Variation Nr. 18 (das aber tatsächlich durch Umkehrung direkt aus Paganinis Capricenthema entsteht) deutlich größere Popularität genießt.

Giltburg bleibt sich auch hier treu und lotet gerade auch die Variationen, in denen die Musik innehält, wie etwa noch relativ zu Beginn die Variation Nr. 6, mit der ihm eigenen Kunst des pianistischen „Sinnierens“ aus. Wenigstens am Anfang erscheint das Orchester hier präsenter, obwohl manche Passagen mehr Differenzierung, mehr orchestrale Schärfe vertragen könnten – man beachte etwa das letzte „Dies irae“ kurz vor dem (dann doch wieder mit trockener Geste etwas relativiertem) A-Dur-Triumph, das eher breit als packend gerät. Insgesamt eine Lesart, der das Besessene, das diesem Werk innewohnt, etwas abgeht, allerdings auf hohem Niveau und teilweise wohl auch bewusst, zumal Giltburg selbst dem Werk insbesondere auch eine unterhaltsame, vielleicht sogar humorvolle Note zuspricht.

Es ist zwar zu bedauern, dass Naxos mittlerweile offenbar weitgehend dazu übergegangen ist, lediglich englische Begleittexte anzubieten; inhaltlich aber ist der Text, den Boris Giltburg für diese Produktion selbst verfasst hat, vorzüglich: eine sehr sorgfältige, detaillierte, umfassend informierende, von großer Begeisterung für diese Musik getragene und durchaus persönlich gehaltene Einführung in diese Werke. So fällt das Fazit insgesamt ausgesprochen positiv aus: Giltburg hat hier eine Einspielung vorgelegt, an die man sehr hohe Maßstäbe anlegen kann.

[Holger Sambale, März 2024]

Evgeny Kissin und Krzysztof Urbański brillieren mit Rachmaninow und Schostakowitsch

Evgeny Kissin spielte am 2. und 3. November 2023 erstmals in der Isarphilharmonie zusammen mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks ein Klavierkonzert: Rachmaninows Konzert Nr. 3 d-Moll op. 30. Krzysztof Urbański debütierte damit beim BRSO und dirigierte nach der Pause Schostakowitschs 10. Symphonie e-Moll op. 93. Unser Rezensent besuchte das zweite Konzert am Freitag, 3. 11. 2023.

Photo vom 2.11.2023 – © BR / Astrid Ackermann

Auf den Tag genau vor einem Jahr hatte das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks an gleichem Ort Rachmaninows berühmtes drittes Klavierkonzert mit dem Sieger des Warschauer Chopin-Wettbewerbs 2015, Seong-Jin Cho, unter Leitung von James Gaffigan aufgeführt, der kurzfristig für Zubin Mehta eingesprungen war. Der Rezensent zeigte sich von dieser Darbietung wenig begeistert und kritisierte insbesondere ein völlig unausgegorenes, überhetztes Finale und eine generell schwache Leistung des Dirigenten. Beim Konzert am Freitag war dies zum Glück ganz anders: Evgeny Kissin hat den ganzen Saal inspiriert, und insbesondere das BRSO lief unter dem Debütanten Krzysztof Urbański zu absoluter Höchstform auf – verglichen mit letztem November nicht wiederzuerkennen.

Das Thema des Kopfsatzes wird von Kissin vom Tempo her bewusst zurückgenommen, sofort äußerst gesanglich und elegisch, im Gegensatz zum quasi neutralen Beginn der meisten Interpreten – einschließlich des Komponisten selbst; direkt beim zweiten Auftreten zieht der Apparat dann mächtig an, genau der Partitur folgend. Gleichermaßen verfährt Kissin mit den Parallelstellen, wo das Hauptthema schlicht im Oktavabstand erscheint, also zu Beginn der Durchführung und in der Coda – gewöhnungsbedürftig, jedoch konsequent. Was dann über fast 50 Minuten geschieht, ist eine echte Offenbarung: Der Pianist gibt noch der kleinsten Begleitfigur motivische Bedeutung, alles erhält Linie und Tiefe. Rachmaninows maßlose Virtuosität steht keinen Augenblick im Vordergrund, nicht einmal in der gewaltigen Kadenz, die nur zwischen zwei Aggregatzuständen zu vermitteln scheint: der Dramatik zuvor und den folgenden, fast schwebenden Dialogen mit den fantastischen Holzbläsern inklusive Horn. Kissins Anschlag bleibt immer schön, differenziert und ausdrucksstark, auch wenn er mal beherzt mit fundamentalen Bässen zupacken muss. Von seiner legendären, traumwandlerischen Sicherheit hat er nichts verloren, kontrolliert und gestaltet den Klavierklang dieses Gipfelwerks der Konzertliteratur subtil wie kaum jemand sonst.

Urbański ist schon technisch eine Augenweide: Die linke Hand formt unentwegt die Feindynamik, zeigt jeden Akzent, jedes Pizzicato – alles atmet ganz natürlich. Sehr konzentriert geht er auf Kissins ausgefeilte, flexible und oft schwierig zu verfolgende Agogik ein; nur kurz vor Schluss des Finales klappert es für einen Moment. Dafür deckt das Orchester an diesem Abend den Pianisten wirklich niemals zu und geht doch emotional total mit – die Höhepunkte kommen auf den Punkt. Den Bläsern gelingen traumhaft schöne Passagen, rhythmisch ist alles hochpräzise, ohne jede Unruhe. Die Streicher spielen ungemein samtig, mit der für Rachmaninow angemessenen, fast dekadenten Zartheit und Wärme. Wie im Vorjahr überzeugt gerade der zweite Satz, aber selbst die kompositorisch weniger starken Einfälle im Finale – diesmal im genau richtigen Tempo – werden nun sinnvoll in einen größeren Zusammenhang eingebettet, ebenso der flirrende, jedoch keinesfalls überdrehte Scherzando-Abschnitt oder die wehmütige Reminiszenz des Hauptthemas. So zerfällt keiner der Sätze ins Episodische. Kissin beseelt und überhöht diese romantische Welt, ohne in Kitsch zu verfallen – reine Poesie. Der Applaus nach dieser musikalischen Großtat ist riesig und wird durch vier vermeintlich leichte, unwiderstehlich gespielte Zugaben – Chopin und Brahms – vom Pianisten auf bald 25 Minuten ausgedehnt.

Wenn man schon beim BRSO debütiert, dann richtig: Der mit seinen 41 Jahren immer noch jugendlich, fast spitzbübisch wirkende Krzysztof Urbański wagt sich gleich an Schostakowitschs 10. Symphonie und dirigiert das lange Stück souverän auswendig. Die Symphonie gehört seit 40 Jahren zum Standardrepertoire des BRSO, stand noch in einem der letzten Konzerte Mariss Jansons‘ auf dem Programm. Für dieses Stück – das unmittelbar nach Stalins Tod 1953 entstand und sowohl eine Auseinandersetzung mit dessen Barbarei als auch der Symphonik Tschaikowskys darstellt – bedarf es also großer Überzeugungskraft. Den hohen Erwartungen wird Urbański in jeder Hinsicht gerecht. Wie oben bemerkt, verfügt der polnische Dirigent, der bereits die bedeutendsten Klangkörper geleitet hat und kürzlich zum Chef des Berner Sinfonieorchesters berufen wurde, über erstaunliches Handwerk. Dies bringt er hier auf erfrischend lockere Art zur Geltung. Selten klar modelliert er sämtliche Details und behält dabei die großen Zusammenhänge im Auge, besonders im sehr langen Kopfsatz. Der blutige Rausch des kurzen Allegros („Stalin-Scherzo“) wird vom Orchester furios in sagenhaftem Tempo vermittelt: präzise, nicht übertrieben. Dmitri Schostakowitschs eigenes „Ich“, durch die Tonfolge D-S (Es)-C-H repräsentiert, im teils wieder an Mahler erinnernden Allegretto zunächst noch deformiert, übersteht die Wiederkehr des Stalin-Motivs im Finale und gewinnt schließlich eindrucksvoll die Oberhand. Die Dramaturgie dieser Entwicklung kann Urbański mit Überblick perfekt auf Orchester wie Publikum übertragen. Dieses spürt, dass hier ein Dirigent mit Leidenschaft und Können musiziert, honoriert auch diese Glanzleistung mit Bravos und langanhaltendem Beifall. Ein durch und durch beglückender Abend – und Herrn Urbański darf man bitte noch öfter einladen!

[Martin Blaumeiser, 4. November 2023]

Seong-Jin Cho mit „Rach 3” beim BRSO

Seong-Jin Cho, James Gaffigan, BRSO · © Astrid Ackermann für BR

Der Sieger des Warschauer Chopin-Wettbewerbs von 2015, Seong-Jin Cho, versuchte sich am 3. und 4. November 2022 in der Isarphilharmonie an Rachmaninows Klavierkonzert Nr. 3 d-moll op. 30. Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks spielte unter James Gaffigan, der relativ kurzfristig für den erkrankten Zubin Mehta einsprang, danach noch Richard Strauss‘ Tondichtung Also sprach Zarathustra. Unser Rezensent besuchte das Konzert am Donnerstag, 3. 11. 2022.

Da selbst der Bayerische Rundfunk über einen Schwund bei den Abonnenten seiner Symphoniekonzerte klagt: Ja, dafür dass ein absoluter Shooting-Star – der junge Koreaner Seong-Jin Cho – hier ein echtes Kultstück vortragen soll, schmerzt es, dass die Isarphilharmonie nicht bis auf den letzten Platz ausverkauft, allerdings immerhin zu schätzungsweise 90% gefüllt ist. Zu bedenken ist hierbei jedoch, dass der angekündigte Dirigent des Abends – kein Geringerer als Maestro Zubin Mehta – kurzfristig krankheitsbedingt abgesagt hatte und durch James Gaffigan, designierter Generalmusikdirektor der Komischen Oper Berlin, ersetzt werden musste. Dafür sieht man viele junge, asiatische Gesichter, die offenkundig nicht alle Abonnenten sind, jedoch wohl Karten extra wegen Cho erworben haben.

Auch der Rezensent gehört seit Chos Sieg beim Warschauer Chopin-Wettbewerb 2015 zu dessen Fangemeinde, hat jedoch den ersten Auftritt des koreanischen Pianisten beim BRSO – als Einspringer für Lang Lang – vor knapp vier Jahren verpasst. Auf Deutsche Grammophon glänzte Cho bislang natürlich mit Chopin sowie mit Mozart und einer beeindruckenden Einspielung von Liszts Sonate h-Moll. Doch bei Rachmaninows 3. Klavierkonzert, das nicht nur technisch nochmal ein ganz anderes Kaliber darstellt, soll sich zeigen, dass der 28-Jährige durchaus noch entwicklungsfähig ist.

Das Thema des ersten Satzes – das Orchester ist von Beginn an zu laut – nimmt Cho zunächst bewusst schlicht: Man darf keinesfalls gleich die große folgende Entwicklung „verraten“. Das zweite Thema ist leicht marschmäßig, dabei zugleich kokett. Dies spielt Cho leider ohne jeden Charme; erst beim „Nachfassen“ entwickelt Rachmaninow daraus eine verträumte Kantilene, wo der Koreaner endlich in seinem Element ist: Singen auf dem Flügel, damit kann er überzeugen. Selbstverständlich ist Cho dem als Markstein pianistischer Gemeinheiten berühmt-berüchtigten „Rach 3“ technisch gewachsen: Alles greift er traumhaft sicher, die schnellen Passagen sind vom Tempo her meist schon am Limit. Ob er merkt, dass er vom Orchester ständig dynamisch zugedeckt wird? Anders ist kaum zu erklären, wie er – und dies widerspricht geradezu seinem sonst durchgehend feinen, hochdifferenzierten Anschlag – dann zunehmend vor allem eine Reihe von Bass-Oktaven bzw. -akkorden derart brachial und teils musikalisch unmotiviert reindrischt, dass es keine Freude mehr ist. Die fette Kadenz – mit etwas zu viel Pedal – gelingt ihm gut, bei den beidhändigen Akkordkaskaden meißelt er gekonnt zwei Klangterrassen heraus. Die folgenden Dialoge mit den Holzbläsern sind himmlisch. Bei der verkürzten Reprise/Coda nimmt das Orchester die Dynamik anscheinend selbst in die Hand – was funktioniert; der Schluss bleibt, wie gefordert, unnachgiebig.

Die Darbietung des zweiten Satzes ist am stimmigsten: Gleich mit der Orchestereinleitung erschließt Gaffigan das elegische Thema – tolles Oboensolo! – klanglich engagiert und emotional spannend, ohne ins Sentimentale abzugleiten. Cho hält sich an diese Vorgabe, selbst da, wo Rachmaninow richtig pathetisch aufdreht. Das Poco più mosso (nach Zif. [32]) mit seinen gefürchteten Repetitionen ist brillant, aber das hat man schon spritziger, verrückter gehört. Doch dann nimmt das Übel seinen Lauf: Bereits die Überleitung zum Finale wirkt zu brutal und übertrieben, was sich leider so fortsetzt. Der dritte Satz wird deutlich zu rasch genommen; die andauernde, mörderische Orgie von Achteltriolen in einem schnellen Alla breve gerät so zur Farce, bei der alle Details verschwimmen. Die merkwürdige „kavallereske“ Passage (Più mosso vor Zif. [43]) – zugegebenermaßen einer von Rachmaninows vielleicht schwächsten Einfällen überhaupt – wird keineswegs besser, wenn man über sie hinweg rast; die spätere Parallelstelle ist zudem alles andere als perfekt zusammen. Selbst das hübsche Scherzando danach wirkt überhastet, die Schlussapotheose unehrlich und ermüdend – was für ein Krampf! Das erinnert ein wenig an die – in allen drei Sätzen – katastrophale Münchner Aufführung von Yuja Wang 2011 mit dem Royal Philharmonic Orchestra und einem völlig überforderten Charles Dutoit. Immerhin: Wang hat daraus gelernt und ihr „Rach 3“ mittlerweile enorm kultiviert. Fazit: Cho zeigt sehr schöne Ansätze, besitzt die nötige „Pranke“. Die ersten beiden Sätze kann man gerne so verkaufen, das Finale ist jedoch noch völlig unausgegoren. Und eine hochkarätige Aufführung dieses geliebten Monstrums klappt nur mit einem viel aktiver eingreifenden Dirigenten: Erst kürzlich beim ARD-Wettbewerb hat das BRSO mit dem 4. Konzert bewiesen, was da möglich wäre.

Natürlich darf man dankbar sein, überhaupt kurzfristig einen Einspringer für ein so schwieriges Programm zu bekommen. Gaffigan leistet dies beim BRSO nun schon zum zweiten Mal. Bei Strauss‘ Also sprach Zarathustra hört man leider, dass er keinesfalls auf Augenhöhe mit Zubin Mehta agiert. Zwar versteht der Amerikaner, wie die Dramaturgie dieser Tondichtung funktioniert; er weiß genau, wie er etwa auf einen Höhepunkt – davon gibt es hier einige – zusteuert, welches die richtigen Tempi sind. Was fehlt, ist vor allem eine genauere Führung der Feindynamik, der klanglichen Staffelung innerhalb des riesigen Orchesterapparats. Anfangs vermisst man eine echte Orgel. Zwar sind die elektronischen Konzertorgeln von ihrer Charakteristik her mittlerweile nah am Original. Als Bassfundament des bekannten „Universum“-Themas scheitern sie unweigerlich an den Lautsprechern, die da lediglich heiße Luft blubbern. Bei den „Hinterweltlern“ müsste man sofort die vielfach geteilten Streicher, aber ebenso das Holz sorgfältiger austarieren. Gaffigan bleibt in seinem Bewegungsrepertoire erschreckend pauschal. Mit der linken Hand dirigiert er über weite Strecken parallel, gibt viele Einsätze ohne zu anzuzeigen, „wie“ und vor allem „wie laut“ zu spielen ist. Sein Grundambitus ist zu groß, um dynamische Abstufungen schnell zu provozieren. Etwa zu den Bässen oder zum Schlagzeug entsteht kaum Kontakt. So fehlt der Fuge („Von der Wissenschaft“) einerseits das Geheimnisvolle, andererseits die ironische Überzeichnung; auch mangelt es bald an Klarheit. Herr Barakhovsky spielt sein Violinsolo im Tanzlied hinreißend süffig, danach gerät der Abschnitt jedoch – erneut mangels Differenzierung – zu billiger Schrammelmusik. Und spätestens, wo es dann auf „Ganze“ geht – noch vor dem Glockeneinsatz – klingt alles wie ein einziger Brei. Schade, dass bei einem dem Orchester so vertrauten Werk heute nur Mittelmaß zu hören ist. Das Publikum zeigt sich dennoch beeindruckt.

[Martin Blaumeiser, 4. November 2022]

Sehnsucht, Beseeltheit und Routine

Am 10. und 11. Juli 2022 spielte die Staatskapelle Weimar in der Weimarhalle unter der Leitung von Giedrė Šlekytė ihr zehntes Symphoniekonzert der Spielzeit 2021/22. Es erklangen Jean Sibelius‘ Violinkonzert und Sergej Rachmaninows Symphonie Nr. 1 sowie, als deutsche Erstaufführung, Saudade von Žibuoklė Martinaitytė. Als Violinsolistin war Rebekka Hartmann zu hören. Die folgende Besprechung bezieht sich auf das Konzert vom 11. Juli.

Der Abend begann vielversprechend mit zeitgenössischer Musik. Die 1973 geborene, in New York lebende litauische Komponistin Žibuoklė Martinaitytė hat bislang vorrangig mit ihren Orchesterwerken Aufmerksamkeit erregt. Ihr Stück Saudade, ein einsätziges Werk von etwa einer Viertelstunde Dauer, stammt aus dem Jahr 2019 und war an den beiden Weimarer Konzertabenden zum ersten Mal in Deutschland zu hören. Der Begriff „Saudade“ stammt aus dem Portugiesischen und bezeichnet „ eine Meta-Nostalgie, ein Sehnen, das auf die Sehnsucht selbst ausgerichtet ist“, wie die Komponistin in ihrer Werkeinführung schreibt. Dieser Zustand wird durchaus schlüssig in Musik übersetzt. Ohne dass man von Themen oder Motiven sprechen könnte, sind doch über den Verlauf der Komposition gewisse Grundbausteine präsent, die dem Werk ein einheitliches Gepräge geben. Man hört immer wieder fluktuierende Cluster aus Stufen der Molltonleiter, die sich einem Niederlassen auf dem Grundton verweigern und dadurch nie zur Ruhe kommen. An Glissandi und feinen chromatischen Umspielungen spart Martinaitytė nicht, ohne dass dabei der diatonische Grundcharakter der Musik verloren ginge. Die Form ist leicht zu überblicken: Nach einer längeren statischen Eingangsphase steigt die Musik in die Tiefen der Kontrabässe hinab, bevor sie allmählich zum blechbläserdominierten Tutti anwächst und schließlich leise verklingt. Die ganze Zeit über wirkt die Musik entrückt, wie eine Folge poetischer Impressionen aus fein abgestuften orchestralen Grautönen, in welchen sich Naturlaute mit Klängen mischen, die an einen Synthesizer gemahnen. Die Aufführung durch die Staatskapelle unter dem Dirigat Giedrė Šlekytės, einer Landsfrau Martinaitytės, wirkte rundum gelungen, sodass man von dem Werk einen positiven Eindruck bekam. Nichts deutete darauf hin, wie sich der Abend noch entwickeln würde.

Mit Rebekka Hartmann konnte für das Violinkonzert von Jean Sibelius eine Solistin außerordentlichen Formats gewonnen werden, sodass, rein auf die Solostimme bezogen, die Aufführung dieses Werkes eine überragende musikalische Leistung genannt werden muss. Rebekka Hartmann besitzt einen untrüglichen Sinn für die musikalische Form, für den Zusammenhang der Töne. Jede Note ist ihr bedeutungsvoll, spielt eine Rolle im Ganzen. So wirken unter ihren Händen selbst Passagen in raschesten Notenwerten nie verwischt, übereilt oder bloß absolviert. Alles atmet und gerät in Schwingung, die Violinstimme erscheint bis in kleinste Einzelheiten hinein ausgeleuchtet und von Leben durchpulst. Aber welch ein prosaisches Tun dagegen im Orchester! Wie jedes der großen symphonisch angelegten Violinkonzerte lebt auch das Sibeliussche von der Interaktion des Soloinstruments mit den orchestralen Kräften. Was hilft es also, dass eine beseelte Musikerin das Solo spielt, wenn das Orchester sich damit begnügt, nur den Hintergrund zu liefern und nicht einmal versucht, einen Dialog auf Augenhöhe entstehen zu lassen? Es folgte hier lediglich gehorsam dem Taktstock der immer ordentlich taktierenden Dirigentin, die sich mit einer bloßen Koordinatorenrolle zufrieden zu geben schien, und lieferte schwunglos eine matte Begleitung zu Rebekka Hartmanns begnadetem Spiel.

Die Aufführungsgeschichte von Sergej Rachmaninows Erster Symphonie zeigt eindrücklich, was einem Meisterwerk blühen kann, wenn seine Premiere missglückt. Die Uraufführung 1897 unter der Stabführung Alexander Glasunows muss den Berichten zufolge zu einem furchtbaren Durcheinander ausgeartet sein; mit dem Ergebnis, dass der tonangebende Kritiker César Cui dem Werk bescheinigte, als Programmmusik über die Sieben Plagen Ägyptens durchgehen und „alle Bewohner der Hölle in geradezu köstlicher Weise erfreuen“ zu können. Bekanntlich litt der Komponist anschließend jahrelang unter Depressionen, gab die Symphonie nie mehr zur Aufführung frei und veröffentlichte sie nicht. Zwischenzeitlich verschollen, kam sie erst nach seinem Tod wieder ans Licht und wurde mit einem halben Jahrhundert Verspätung endlich als die musikalische Großtat erkannt, die sie ist. Ist das nicht eine Mahnung an die Dirigenten, sorgsam mit den ihnen anvertrauten Werken umzugehen und ihnen die bestmögliche Pflege zuteil werden zu lassen? Ich gehe zu Giedrė Šlekytės Gunsten davon aus, dass sie die Probenzeiten vor allem nutzte, um in diesem Sinne für Žibuoklė Martinaitytės Werk zu wirken, und ihr schlicht die Zeit fehlte, bei Sibelius und Rachmaninow mehr als routinierte Aufführungen zu Stande zu bringen. Hätte Glasunow die Rachmaninowsche Symphonie seinerzeit so dirigiert wie Giedrė Šlekytė, so wäre die Aufführung kein Fiasko geworden, aber auch nicht mehr als gut koordinierte Routine. Die Dirigentin sperrte das Werk in einen Käfig aus Taktstrichen. Nirgendwo hatte man das Gefühl, als animiere sie die Musiker dazu, weiter als bis zum nächsten Takt zu denken. So wirkten die Ecksätze grobschlächtig und stumpf martialisch, immer auf die „Einsen“ der Takte fixiert, wohingegen sich das Adagio müde von Ton zu Ton fortschleppte. Das Scherzo gelang noch am relativ besten und entwickelte eine gewisse Leichtigkeit, ohne dass dies am insgesamt ernüchternden Eindruck des Ganzen viel ändern konnte.

[Norbert Florian Schuck, Juli 2022]

Matinée der Virtuosen

Konzert mit der Kammerphilharmonie DACAPO; Sonntag, 30. April 2018

Georges Bizet (1838-1875):Adagietto (aus der Arlesienne-Suite Nr.1)
Joseph Haydn (1732-1809):  Cello-Konzert Nr. 2 D-Dur
Sergej Rachmaninow (1873-1943) Vocalise op 34 /14
Josef Suk (1874-1935): Serenade für Streichorchester op.6

Jiri Barta, Violoncello; Franz Schottky, Dirigent

Eine Bemerkung zu Beginn: Die Programmfolge hätte am besten genau umgekehrt heißen müssen! Warum? So schön die Streicherserenade op. 6 von Josef Suk auch ist, so vertraut die Vocalise op. 34 / 14 auch in der Strreicherfassung sich anhört – die Konzertmeisterin war berückend in ihrer Solorolle – so schön der rote Teppich, das Adagietto aus der „L’Arlesienne-Suite“ dem Solisten Jiri Barta auch den Auftritt vorbereitete, der absolute Höhepunkt dieser Matinée war denn auch das zweite Cello-Konzert von Altmeister Joseph Haydn.  Dieser hochmusikalische Energie, diesem Spiel mit den leisesten und den lautesten Tönen, den Registern auf dem Cello von ganz tief bis in himmlische Höhen, der rhythmischen Vertracktheit, der Melodien-Seligkeit zu lauschen, war ein berückendes, verzauberndes Erlebnis.

Was in diesem Konzert mit seinen drei Sätzen Jiri Barta zusammen mit der DACAPO Kammerphilharmonie unter ihrem Dirigenten Franz Schottky  so spielerisch zeigten, kam fast einer Umwertung des „alten“ Papa Haydn gleich. Solch eine intensiv mitnehmende Musik traut man gewöhnlicherweise – und  wie das bei Vorurteilen so üblich ist, fälschlicherweise –dem Klassiker Haydn gar nicht zu. Wie schon  bei der letzten Matinée, in der eins von zwölf Klavierkonzerten des Joseph Haydn erklang, und diese Musik völlig zu Unrecht im Schatten steht , so gilt das für diese Aufführung doppelt. Was da an Musik und Spiel – nach dem Schillerschen Motto: „Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“ – an Klanglichkeit und gegenseitigem  Sich-die-Bälle-zuspielen zu vernehmen war, nicht eine Sekunde Leerlauf, wie sie des Öfteren bei Solisten auftritt, wenn sie scheinbar nichts zu tun haben.

Solist Jiri Barta und Orchester und Dirigent waren auf einem musikalischen Niveau, das ich in dieser Form und Intensität lange nicht erlebt habe. Begeisterter Beifall, Bravos und eine Zugabe einer Sarabande von Johann Sebastian Bach, die dem ganzen noch die Krone aufsetzte.

Dass nach solch einem fast überirdischen Höhenflug der zweite Teil des Konzertes nicht mehr diese himmlischen Höhen erreichte, darauf sollte meine Anfangs-Bemerkung hinweisen. Natürlich war der Herkules-Saal bei sommerlichstem Wetter bis auf wenige Ausnahmen voll, natürlich war diese Matinée ein sonntägliches Geschenk, was uns da Franz Schottky mit der DACAPO Kammerphilharmonie präsentierte, aber dass dabei solch ein außergewöhnliches Erlebnis auf uns wartetet, wer hätte das –außer den Musikerinnen und Musikern – geahnt.

Um so gespannter warten wir auf die nächste Saison und die Überraschungen, die dann sich im Herkules-Saal an Sonntag-Vormittagen und zu den anderen Terminen ereignen werden.

[Ulrich Hermann, April 2018]