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Ein Franz-Schmidt-Zyklus aus Wales: Jonathan Bermans großartige Gesamtaufnahme der Symphonien

Accentus Music, ACC80544; EAN: 4 260234 833089

Bekanntlich gehört Franz Schmidt zu denjenigen Komponisten, welchen im laufenden Jahr aufgrund eines runden Jubiläums verstärkte Aufmerksamkeit zuteil wird. Im Dezember jährt sich sein Geburtstag zum 150. Male, was sich diskographisch durchaus bemerkbar macht, lässt sich doch unter den CD-Veröffentlichungen der letzten Monate eine erhöhte Dichte an Schmidt gewidmeten Tonträgern feststellen. Zum Teil handelt es sich dabei um aktuelle Einspielungen, zum Teil um historische Aufnahmen, die zum ersten Mal auf CD erscheinen (unter diesen ist vor allem der bei Orfeo erschienene Mitschnitt der Oper Fredigundis aus dem Jahr 1979 bemerkenswert). Noch rechtzeitig vor Anbruch des Schmidt-Jahres 2024 erschien im vergangenen Dezember bei Accentus Music eine neue Gesamteinspielung seiner Symphonien, die erste dieser Art aus Großbritannien.

Der Dirigent Jonathan Berman gehört zu den besten Kennern von Franz Schmidts Leben und Schaffen. Seine Einspielungen der Symphonien mit dem BBC National Orchestra of Wales sind der bedeutendste, aber keineswegs der alleinige Bestandteil seines „Franz Schmidt Project“, das er vor einigen Jahren in Vorbereitung zum 150. Geburtstag des Komponisten ins Leben rief. Parallel zu den zwischen Januar 2020 und Oktober 2022 durchgeführten Aufnahmen hat Berman Interviews mit anderen Musikern über Schmidt geführt und begonnen, eine Schmidt-Diskographie zu erstellen (sie ist noch nicht abgeschlossen) – das Material findet sich auf seiner Internetseite The Franz Schmidt Project.

Was Bermans eigene Aufnahmen betrifft, so ist ihm und seinen walisischen Musikern – dies sei vorweggenommen – eine Leistung geglückt, die sich kein an der Symphonik Franz Schmidts interessierter Hörer entgehen lassen sollte.

Als Prüfstein zur Beurteilung dieser Gesamteinspielung habe ich zunächst den einzigen Satz einer Schmidt-Symphonie gewählt, der mir in vielen Aufnahmen zu lang vorkam, nämlich das Scherzo der Ersten Symphonie. Die Eckteile dieses Satzes erschienen mir nie problematisch, wohl aber der Mittelteil, der aus zwei separaten Stücken besteht, die ineinander übergehen. Das erste dieser Trios (cis-Moll) besteht im Grunde nur aus einem sich über die Intervalle des verminderten und übermäßigen Dreiklangs nach oben schraubenden achttaktigen Thema, das, berücksichtigt man die vorgeschriebenen Wiederholungen, insgesamt elfmal hintereinander zu hören ist, wenngleich auf verschiedenen Stufen. Das kann sehr gleichförmig wirken und seinen Schatten auf das unmittelbar folgende langsame Trio (Des-Dur) werfen, das dann wie eine Durststrecke erscheint. Aber muss dieser Eindruck sein? Berman lenkt im ersten Trio die Aufmerksamkeit auf die Gegenstimmen, macht deutlich, was sich alles um das Thema rankt, wie es bei jedem Durchlauf etwas anders kontrapunktiert und klanglich eingefärbt wird. So wird jedes Erscheinen des Themas zum Ereignis. Die Musik atmet gleichmäßig und holt alle acht Takte Luft. Nirgends klingt es, als trete das Geschehen auf der Stelle. Im Gegenteil hört man bei Berman, wie einfallsreich Schmidt mit diesem Trio das Passacaglia-Prinzip in einen Scherzo-Satz eingebaut hat. Nach dem elften Themendurchlauf legt sich diese Quasi-Passacaglia zur Ruhe und fließt in das langsame zweite Trio über. Berman gestaltet diesen Übergang unaufdringlich zwingend, der Beginn des Des-Dur-Trios erscheint als der natürliche Zielpunkt. Im Folgenden lässt der Dirigent stärkere Rubati zu, aber stets in schöner Übereinstimmung mit dem harmonischen Verlauf der Musik. Die Musik dehnt sich, entspannt sich – durchaus ein erwünschter Effekt nach dem so rigoros durchgeführten cis-Moll-Abschnitt –, aber sie verliert nicht die Orientierung und auch nicht den Fluss. Wenn dann der Hauptteil des Scherzos erneut ansetzt, klingt alles erholt und erfrischt – und es wird klar, welch originelle vierteilige Dramaturgie Schmidt, vom üblichen Scherzo-Schema abweichend, in diesem Satz verfolgt. Im Hauptteil selbst hält Berman die Musik geschickt zwischen ungeschlachter Ländlichkeit und eleganteren, sich ein wenig zierenden Klängen in der Schwebe. Nein, dieser Satz enthält keine Längen, sondern in jedem Takt großartige, spannende Musik!

Was für das Scherzo gilt, gilt für die ganze Symphonie. Das Werk erfährt durch Berman und die Walliser eine rundherum ausgewogene Wiedergabe, die allen Affekten gleichermaßen Rechnung trägt und durch alle Tempi hindurch die Spannung aufrecht erhält. Schmidts Erste ist ein glänzend instrumentiertes Werk, doch geht es Berman hörbar um mehr als um die Vorführung bloßer orchestraler Brillanz. Das Klangbild, das er mit seinem Orchester erzeugt, leuchtet von innen her, da es vom kontrapunktischen Tonsatz aus entwickelt ist. Schmidt ist ein essentiell polyphoner Komponist und seine Harmonik stets als Ergebnis des Zusammentreffens der Stimmen gedacht. Die Herausforderung, die er an die Ausführenden stellt, ist weniger spieltechnischer als geistiger Art (Paul Wittgenstein pflegte den Komponisten, bei denen er Klavierkonzerte in Auftrag gab, das Schmidtsche Es-Dur-Konzert als Musterbeispiel ausgewogener Instrumentation vorzulegen!) und besteht in erster Linie darin, die für Schmidt charakteristische exzessive Chromatik funktional zu erfassen und den linearen Spannungsauf- und abbau in den einzelnen Stimmen nachzuvollziehen. Jonathan Berman hat sich tief in die Feinheiten des Schmidtschen Tonsatzes versenkt und ein Gespür für die Darstellung des polyphonen Geflechts entwickelt, weswegen man in seiner Einspielung die Nebenstimmen auch in lautstarken Momenten deutlich durchklingen hört.

Mehr noch als der Ersten kommt dies der Zweiten Symphonie zu Gute. Bermans Aufführung dieses Werkes entwaffnet all jene vorlauten Kritiker, die in demselben ein überladenes Monstrum sehen wollen und dabei wahlweise von „k.u.k.“- oder „Jugendstil“-Bombast fabulieren. Ja, Schmidt macht in dem Stück, das allein schon im Hinblick auf seine Form zu den hervorragendsten Leitungen des Komponisten gerechnet werden muss, seine handwerkliche Meisterschaft durchaus demonstrativ geltend und schöpft bezüglich der Möglichkeiten, die ihm das große Orchester zur polyphonen Gestaltung bietet, aus dem Vollen, aber überladen klingt das alles doch nur, wenn der Dirigent keinen rechten Überblick über den Tonsatz hat. Man höre nun bei Berman den Schlusschoral des Finalsatzes: Da ist kein undifferenziertes Dröhnen und Rauschen. Das Choralthema führt eindeutig, wird aber nicht so überstark herausgestellt, dass alles Übrige zu einer diffusen Begleitung herabsinkt. Stattdessen wird hörbar, mit welch feinen Ornamenten Schmidt das Thema umrankt. Auch behandelt Berman das Tempo feinfühlig, lässt es an manchen Stellen geringfügig nachgeben, damit eine Nebenstimme deutlicher zu vernehmen ist, achtet aber sorgsam darauf, das Thema nicht zu zerdehnen und das Grundtempo zu halten. Diese Kunst des Rubatos beherrscht Berman auch im Leisen, wie sich beispielhaft in der Mitte der Durchführung des ersten Satzes, in der langsamen Variation vor Beginn des Scherzos im zweiten Satz sowie im Trio des Scherzos zeigt.

Besonders erfreut in dieser Gesamtaufnahme die Darbietung der Dritten Symphonie. Dieses Werk kann gerade deswegen als Schmidts schwierigste Symphonie gelten, weil sie sich verglichen mit ihren Geschwistern so unauffällig gibt. Zusammen mit dem zeitnah entstandenen Zweiten Streichquartett markiert sie in Schmidts Schaffen den Punkt der stärksten Abkehr vom „spätromatischen“ Idiom. Einer auf Äußerlichkeiten aufbauenden Interpretation entzieht sie sich auffällig. In der Ersten Symphonie kann ein Dirigent sich an Gesten jugendlicher Aufbruchsstimmung und an Naturlauten orientieren, aus der Zweiten kann er ein opulentes Fin-de-siècle-Feuerwerk machen, die Vierte gibt immer wieder die Möglichkeit zu nachdrücklicher Emotionalität. Die Dritte dagegen hat keine spektakuläre Außenseite. Wer will, der höre zu und nehme Teil an dieser sanft dahinströmenden, ungemein fein gestalteten Musik, aber man erwarte nicht, dass sie irgendwelche Anstalten macht, den Hörer zu überreden. Schmidts Dritte ist ein leidenschaftlich unrhetorisches Stück. Einem solchen Werk kommt man nur bei, wenn man sich auf die Introspektion der Musik einlässt und nicht nach Gelegenheiten zur Effekthascherei sucht, wo keine sind. Bermans intensives Nachvollziehen der zart gesponnenen melodischen Linienspiele mit ihrer ebenso kühnen wie unaufdringlichen Chromatik ist hier der einzig erfolgversprechende Ansatz. Und so blüht diese Musik auf wie selten zuvor.

Das BBC National Orchestra of Wales zeigt sich in jeder dieser Schmidt-Aufnahmen als ein bestens disponierter Klangkörper, der wie ein großes Kammerensemble agiert: Den Spielern ist die Bedeutung ihrer einzelnen Stimmen offenbar voll bewusst, und man hört einander genau zu. Anders wären die dezenten Rubati und das fein abgetönte polyphone Musizieren auch kaum möglich. Großartige Orchestersolisten stehen für das Trompetensolo am Beginn der Vierten Symphonie und das Cellosolo im langsamen Satz desselben Werkes zur Verfügung. Auch in dieser meistgespielten Symphonie Schmidts zwingt Berman der Musik nichts auf, sondern lässt sie aus der Ruhe und Einsamkeit des einleitenden Trompetenthemas heraus entstehen und durch die allmähliche polyphone Entfaltung wie von selbst immer tiefgründiger und inniger werden. Auch imponiert die Geschlossenheit der Aufführung. Der markerschütternde Aufschrei im Scherzo, der in weniger durchdachten Aufführungen recht plötzlich ertönt und wieder verklingt, wird hier als der Höhepunkt spürbar, auf den die ganze Entwicklung der drei miteinander verbundenen Sätze zuzusteuern scheint, und nach dem es für die Musik tatsächlich keinen anderen Ausweg gibt, als den Anfang des ersten Satzes zu rekapitulieren und mit dem Trompetenthema den Kreis zu schließen.

Als Zugabe erklingen noch die Orchesterstücke aus Schmidts erster Oper Notre Dame, denen Berman und seine Musiker keineswegs weniger Aufmerksamkeit schenken als den Symphonien und anhand deren so recht deutlich wird, dass Schmidt auch als Opernkomponist symphonisch denkt.

Die Edition bereitet nicht nur großes Hörvergnügen, sondern erfreut auch durch ein umfangreiches Beiheft, das neben den Werkeinführungen ein 15-seitiges Interview enthält, in welchem sich der Dirigent ausführlich zu seiner Beschäftigung mit Franz Schmidt äußert.

[Norbert Florian Schuck, Juli 2024]

Winterberg und Winterberg in Berlin – eine musikalisch-literarische Spurensuche

Die Schwartzsche Villa in Berlin-Steglitz bot am 12. Juli 2024 den Hintergrund für eine musikalisch-literarische Zusammenkunft besonderer Art. Zwei Namensvettern trafen hier aufeinander, deren Schicksale erstaunliche Parallelen aufweisen, und luden zu einer Reise in die Vergangenheit Mitteleuropas ein, insbesondere derjenigen ihrer Heimat Böhmen: der Komponist Hans Winterberg (1901–1991) und Wenzel Winterberg, die Titelfigur des 2019 erschienenen Romans Winterbergs letzte Reise von Jaroslav Rudiš. Von Hans Winterberg erklangen drei Kammermusikwerke, vorgetragen von den Mitgliedern des Adamello Quartetts – Clemens Linder und Byol Kang (Violinen), Susanne Linder (Viola), Adele Bitter (Violoncello) – und dem Pianisten Holger Groschopp. Dazwischen las Jaroslav Rudiš ausgewählte Kapitel aus seinem Roman.

Hans Winterberg galt nach seinem Tode lange Zeit als ein weitgehend vergessener sudetendeutscher Komponist. Von seinen Werken war nichts im Druck greifbar, auch gab es keine kommerziellen Einspielungen. Nur durch eine Anzahl von Mitschnitten im Archiv des Bayerischen Rundfunks konnte man sich einen Eindruck von Winterbergs Musik verschaffen. Der künstlerische Nachlass lagerte, für die Öffentlichkeit unzugänglich, im Sudetendeutschen Musikarchiv in Regensburg. Den Anstoß zur Entdeckung Winterbergs gab Peter Kreitmeir, der Enkel des Komponisten, der ohne Kontakt zu seinem Großvater aufgewachsen war und sich 2010 auf dessen Spuren begab. Die Nachforschungen gerieten zu einer Archäologie böhmischer Kulturgeschichte, denn nicht nur wurde deutlich, dass Hans Winterbergs kultureller Hintergrund deutlich vielgestaltiger war als zunächst angenommen, auch kam ein Lebenslauf zum Vorschein, in welchem die Umbrüche des 20. Jahrhunderts deutliche Einschnitte hinterlassen haben.

Will man Hans Winterberg einer Nationalität zuordnen (er selbst hielt davon nicht viel und nannte „Nationalität“ einen „verqueren, rückständigen Begriff“), so tut man wohl am besten daran, ihn einen Böhmen zu nennen. In dieser Bezeichnung finden sich seine deutschen, tschechischen und jüdischen Wurzeln gleichermaßen aufgehoben, denn Winterberg war einer jener Böhmen, die deutsch, tschechisch und jüdisch zugleich waren: Er war deutschsprachig, jüdischen Glaubens und fühlte sich als Tscheche. Hans Winterbergs Lebensweg begann im 53. Regierungsjahr des Kaisers Franz Joseph im zur österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie gehörenden Prag und endete in der Bundesrepublik Deutschland kurz nach der Wiedervereinigung. Er erlebte zwei Weltkriege, die Gründung der Tschechoslowakei, ihre Zerschlagung durch die Nationalsozialisten und ihre Wiedererrichtung, den Holocaust, dem mehrere seiner Verwandten, darunter seine Mutter, zum Opfer fielen und dem er selbst nur knapp entkam, und die Vertreibung der Deutschböhmen nach 1945. Da er sich vor dem Krieg als Angehöriger der tschechischen Nationalität hatte registrieren lassen (er schrieb sich selbst damals bevorzugt „Hanuš Winterberg“), blieb ihm die Ausweisung aus seiner Heimat erspart, doch verließ er die Tschechoslowakei bereits 1947 in Richtung Bayern, wo er sich als Lektor beim Bayerischen Rundfunk und als Lehrer am Münchner Richard-Strauss-Konservatorium betätigte.

Von diesem Lebenslauf wusste der tschechische Schriftsteller Jaroslav Rudiš nichts, als er einen Roman entwarf, dessen Protagonist ebenfalls den Namen „Winterberg“ tragen sollte – nach einer Kleinstadt im Böhmerwald nahe der bayerischen Grenze, die heute auf Tschechisch „Vimperk“ heißt. Interessanterweise spielt sich Winterbergs letzte Reise im Jahr 2017 ab, im gleichen Jahr also, in welchem Peter Kreitmeir die alleinigen Nutzungsrechte am Schaffen seines Großvaters, des Komponisten Winterberg, zugesprochen erhielt, woraufhin er die Verbreitung der Musik in die Wege leiten konnte.

Wenzel Winterberg, die Titelfigur von Rudišs Roman, ist kein Komponist, sondern ein Berliner Straßenbahnfahrer im Ruhestand, der als Deutschböhme in Reichenberg (Liberec) zur Welt kam. Zu Beginn der Romanhandlung ist Winterberg bereits 99 Jahre alt. Da nach einem schweren Schlaganfall sein Tod erwartet wird, stellt seine Tochter den Altenpfleger Jan Kraus ein, der sich darauf spezialisiert hat, Todkranke bei ihrer „Überfahrt“, wie er es nennt, zu begleiten. Doch als Kraus beiläufig erwähnt, aus Winterberg, Vimperk, zu stammen, kommt Winterberg ins Leben zurück und fühlt sich bald gesund genug, zu einer Reise nach Tschechien aufzubrechen, wohin er nach seinem Militäreinsatz im Zweiten Weltkrieg nicht mehr zurückgekehrt war. Kraus, Sohn eines deutsch-tschechischen Elternpaars und als junger Mann nach traumatischen Erfahrungen und einem Aufenthalt im Gefängnis ausgewandert, begleitet ihn widerwillig, obwohl er sich vorgenommen hatte, nie wieder seine alte Heimat zu betreten. Ein großer Teil der Handlung spielt sich in Zügen und auf Bahnhöfen ab. Winterberg will die Stätten seiner Jugend sehen, aber auch Orte besuchen, an denen sich einschneidende Ereignisse der Geschichte abgespielt haben: „Die Schlacht bei Königgrätz geht durch mein Herz“, lautet der erste Satz des mitten in der Handlung beginnenden Romans. Letztlich soll die Reise bis nach Sarajewo führen, nicht nur der fatalen Ereignisse von 1914 wegen, sondern auch weil Winterberg von dort das letzte Lebenszeichen seiner Jugendliebe Lenka, die als Jüdin vor den Nazis hatte fliehen müssen, erhalten hat. Kraus spricht nicht viel, doch da er der Ich-Erzähler des Romans ist, erhält man Einblick in seine Gedanken. Aus seiner Perspektive erlebt man die „historischen Anfälle“ mit, die Winterberg regelmäßig während der Reise heimsuchen. Sie äußern sich in geradezu manischen Rezitationen aus dem Baedeker-Reiseführer für Österreich-Ungarn von 1913, den Winterberg als seine „Bibel“ stets mit sich führt, sowie in ausgiebigen Kommentaren zum dort Geschriebenen. Dabei verschwimmen die weltgeschichtlichen Begebenheiten mit Winterbergs Biographie und dem Alltagsleben der Vor- und Zwischenkriegszeit. Die Gegenwart wird immer wieder an der Geschichte gespiegelt, nicht nur im Hinblick darauf, welche Gebäude aus früherer Zeit noch vorhanden sind, sondern auch hinsichtlich der Lebensgewohnheiten der Menschen, dargestellt etwa in Exkursen über Wirtshäuser, böhmisches Bier und die länderübergreifende Küche der alten Doppelmonarchie. Die Eisenbahn ist als Lebensader der Zivilisation permanent präsent: Die beiden Hauptfiguren sind ständig mit dem Zug unterwegs und begeben sich dabei wiederholt auf Abschweifungen – etwa nach Vimperk; auch kommt Winterberg in seinen historischen Anfällen immer wieder auf die Eisenbahn zu sprechen und erzählt von interessanten Begebenheiten wie der Lokomotivflucht der Sachsen während des Deutschen Krieges 1866 nach Eger; ein unausgesprochenes Motiv für die Reise ist Winterbergs gescheitertes Lebensprojekt, die Geschichte Mitteleuropas in einer Modelleisenbahnanlage darzustellen.

Winterbergs letzte Reise ist literarische Archäologie. Nach und nach wird nicht nur die Vergangenheit freigelegt, es entsteht auch ein Bewusstsein für ihre einzelnen Schichten, die sich ineinander verschachtelt haben und nun, ausgegraben, in direkte Beziehung zueinander und zur Gegenwart treten. So werden die Grenzen von Raum und Zeit neu gezogen, Vergessenes und Verdrängtes kommt wieder zu Tage, das Individuum erlebt sich als Teil des großen Zusammenhangs, als mitwirkender Akteur wie als als machtloses Subjekt der Geschichte.

Vorgetragen wird das alles in einem Stil, den man durchaus musikalisch nennen kann. Sowohl Winterberg als auch Kraus haben ihre feststehenden Wendungen, die den Roman refrainartig durchziehen, wobei sich die Sprache gerade in Winterbergs Monologen zu einer Beharrlichkeit steigert, die in ihrer Intensität an Thomas Bernhard gemahnt. Die aufgestaute Spannung löst sich allerdings immer wieder in komischen Situationen, die sich aus der Verschiedenheit der beiden Hauptcharaktere und ihren Kommunikationsproblemen ergeben. Viele Stellen des im Grunde sehr ernsten Buches – einmal schimpft Winterberg demonstrativ auf den böhmischen Humor –, geraten dadurch zu humoristischen Kabinettstücken.

Jaroslav Rudiš, der den Roman original in deutscher Sprache verfasst hat, las insgesamt fünf Kapitel vor, die sich über den ganzen Verlauf des Buches verteilen. Die Lesungen alternierten mit drei Kammermusikwerken Hans Winterbergs: der Sudeten-Suite für Klaviertrio, der Sonate für Violoncello und Klavier und dem als „Symfonie [sic] für Streichquartett“ bezeichneten Streichquartett Nr. 1. Das letztere Werk gelangte dabei zu seiner Uraufführung. Zu Lebzeiten des Komponisten war keine öffentliche Darbietung zustande gekommen. Nach seinem Tode ging die letzte Seite des Manuskripts verloren, weswegen Toccata Classics in seiner 2023 erschienenen Einspielung der Streichquartette Winterbergs auf dieses Stück verzichten musste. Vor kurzem tauchte allerdings die verschollene Seite inmitten anderer Papiere wieder auf, sodass einer Aufführung der „Quartett-Symfonie“ nichts mehr im Wege stand.

Hans Winterbergs Musik harmonierte erstaunlich gut mit Rudišs Erzählung. Ebenso wie dort ist in den Werken des Komponisten ein nervöser Unterton zu spüren, der in dissonanten Umkreisungen der tonalen Zentren und dem häufigen Einsatz ostinater rhythmischer Formeln seinen Ausdruck findet. In den raschen Sätzen des Streichquartetts und der Cellosonate, insbesondere dem toccatenartigen Finale der letzteren, liegt auch die Assoziation mit einer Zugreise gar nicht so fern. Und wie der literarische Winterberg in die Geschichte Böhmens eintaucht, so erscheint der Komponist gleichen Familiennamens als ein fest in der tschechischen Musiktradition verwurzelter Künstler. Die Sudeten-Suite erscheint mit ihren romantischen Topoi als ein eher untypisches Werk im Schaffen Hans Winterbergs. Allerdings wird gerade an diesem Stück seine Verbindung mit der Musik des 19. Jahrhunderts, insbesondere Bedřich Smetana, deutlich. Fluktuierende Klangflächen scheinen auf das Waldesrauschen Aus Böhmens Hain und Flur zu verweisen und die im letzten Satz dargestellten Elbe-Quellen ähneln kaum zufällig den Quellen der Moldau. Dieses Rauschen, diese landschaftlichen Töne gehören wie die Liebe zu tänzerischen Rhythmen zum Grundrepertoire der musikalischen Ausdrucksweise Winterbergs, auch wenn sie in den meisten seiner Kompositionen dissonant geschärft auftreten und sich mitunter in urban-mechanische Klänge verwandeln. Aber auch, wenn er die böhmische Landschaft verlässt, verleugnet er seine Herkunft nicht, nur wechselt das Idiom vom slawischen Tanz zum modernen Tanz der 1920er Jahre, von den Fluren Tschechiens zu den impressionistischen Landschaften der damaligen französischen Musik. In jedem der drei Werke, die sämtlich vorzüglich wiedergegeben wurden, präsentierte sich der Komponist von einer etwas anderen Seite. Das Streichquartett ließe sich als expressionisch, die Cellosonate als klassizistisch mit deutlichen expressionistischen Untertönen charakterisieren, wohingegen die Trio-Suite an nationalromantische Vorbilder anknüpft. Insofern bot der Abend auch einen guten Überblick über die stilistische Vielseitigkeit Hans Winterbergs.

Die gut besuchte Veranstaltung fand beim Publikum sichtlich Anklang, und man kann wohl sagen, dass alle Zuhörer, ob sie nun ursprünglich wegen der musikalischen oder der literarischen Komponente des Abends den Weg in die Schwartzsche Villa eingeschlagen hatten, von dieser Spurensuche in der Geschichte Böhmens bereichert zurückgekommen sind.

Jaroslav Rudiš: Winterbergs letzte Reise, 3. Auflage, München: btb Verlag, 2021, 544 Seiten. ISBN 978-3-442-71967-9

[Norbert Florian Schuck, Juli 2024]

Richard-Strauss-Tage 2024 [2]: Ariadne auf Naxos und Norens Klaviertrio

Der zweite Teil des Berichts von den Richard-Strauss-Tagen Garmisch-Partenkirchen (zum ersten Teil siehe hier) befasst sich mit folgenden Konzerten:

9. Juni: Oper (Richard Strauss: Ariadne auf Naxos, konzertante Aufführung), Department für Oper und Musiktheater der Universität Mozarteum Salzburg, Angelika Prokopp Sommerakademie der Wiener Philharmoniker, Kai Röhrig

11. Juni: Kammerkonzert (Klaviertrios von Richard Strauss und Heinrich G. Noren), Phaeton Piano Trio

Garmisch-Partenkirchen, gesehen vom Aufgang zum Rießersee aus.

Nach dem Matinéekonzert konnte man, wieder im Festsaal Werdenfels, am Abend desselben Tages die Oper Ariadne auf Naxos in einer konzertanten Aufführung hören. Es handelte sich um eine Kooperation mit dem Department für Oper und Musiktheater der Universität Mozarteum Salzburg, das jährlich eine Auswahl vielversprechender Gesangsstudenten in speziellen Opernklassen auf die Bühnenlaufbahn vorbereitet. Entsprechend war ein großer Teil der Rollen mit jungen Leuten besetzt. Die Tenöre Konstantin Igl und Lucas Pellbäck sowie die Bässe Brett Pruunsild und Dominik Schumertl übernahmen dabei außer der Verkörperung der vier Komödianten noch die kleinen Partien, die nur zu Beginn des Vorspiels auftauchen. Als geschlossen auftretendes Quartettensemble sorgten sie im zweiten Teil mit frischem, kecken Vortrag für die nötige Auflockerung der statuarischen Opera-seria-Szenerie. Zerbinetta, die Frontfrau der Komödiantentruppe, fand in Yukari Fukui eine Darstellerin, der es auf ganz natürliche Weise gelang, sich den Charakter dieser verspielten, koketten, aber durchaus geistvollen Figur zu eigen zu machen. Julia Maria Eckes, Anastasia Fedorenko und Donata Meyer-Kranixfeld trugen als Nymphentrio mit zarten, ineinander verschlungenen Kantilenen wesentlich dazu bei, in der „Oper“ die angemessen entrückte Stimmung zu schaffen, zu welcher das unbekümmerte Trällern der Komödianten scharf kontrastieren konnte. Jesse Mashburn dominierte in der Hosenrolle des Komponisten den ersten Teil. Hinreißend gelang ihr die Darstellung dieses ebenso unerfahrenen wie idealistisch-verstiegenen jungen Menschen, der erleben muss, wie seine Traumgebilde hart in einer vom Geld beherrschten Realität aufschlagen (symbolisiert durch den nie auftretenden Hausherrn, der aus dem Hintergrund die Anweisungen gibt) und dadurch in emotionale Extreme gestürzt wird. Zweifellos ist der Komponist, der im zweiten Teil leider nicht mehr auftaucht, die interessanteste Figur des ganzen Stückes, da sich in seiner Partie Tragisches mit Komischem mischt und Strauss in seiner Vertonung beides sehr geschickt in der Schwebe hält. Den Trotz, die Verletzlichkeit und die Hoffnungen des Jünglings hat Jesse Mashburn trefflich zur Geltung gebracht. Bewährte, erfahrene Kräfte ergänzten die Schar der jungen Sängerinnen und Sänger: Juliane Banse exzellierte als energische, auf ihre Würde bedachte Primadonna und erfüllte die Kantilenen der Ariadne im zweiten Teil mit blühender Lyrik. Mit Christoph Strehl als Tenor in der Rolle des Bacchus stand ihr dazu ein ebenbürtiger Partner zur Seite. Bernd Valentin trug im Vorspiel als Lehrer des Komponisten, der zwischen dessen Idealismus und den Realitäten des Lebens zu vermitteln hat, wesentlich zur gelungenen Wirkung des turbulenten Geschehens bei.

Mit der Angelika Prokopp Sommerakademie der Wiener Philharmoniker stand dem Gesangsensemble ein Kammerorchester zur Seite, das hinsichtlich der Motivation hinter der Pilsener Philharmonie nicht zurückstand. Dirigent Kai Röhrig, Leiter der Opernklasse des Salzburger Mozarteums, führte mit festen, aber nicht unflexiblen Tempi die Musiker und Sänger souverän durch den Abend und wusste die delikaten Klangeffekte Straussens zu pointieren.

Ariadne auf Naxos enthält einige der besten Einfälle des Opernkomponisten Richard Strauss und stellt gewiss einen Höhepunkt in dessen Zusammenarbeit mit Hugo von Hofmannsthal dar. Das Vorspiel ist schlichtweg eine geniale komische Oper für sich, die den Zuhörer durch ständige Umschwünge der Handlung in Atem hält – oft verbunden mit der Sprechrolle des Haushofmeisters (in der Garmischer Aufführung durch Franz Tscherne verkörpert), der durch die von ihm übermittelten Anweisungen des Hausherrn das Geschehen in immer neue Richtungen lenkt. Allerdings stellt sich diesem temporeichen ersten Teil im zweiten eine recht statische Szenerie entgegen, in welcher sich zwar auch immer wieder wunderbare musikalische Gedanken finden, die im Großen und Ganzen aber die Wirkung des Vorspiels konterkariert. Dass die im ersten Teil so wichtigen Figuren des Komponisten, des Musiklehrers und des Haushofmeisters im zweiten verschwunden bleiben, trägt bedeutend dazu bei, dass die „Oper“ hinter dem Vorspiel zurückbleibt. War dort alles Interaktion Aller mit Allen, so beschränkt sich der zweite Teil im Wesentlichen darauf, Ariadne (am Ende Ariadne und Bacchus) mit Zerbinetta und den Komödianten alternieren zu lassen. Allen Schönheiten zum Trotz, an denen der zweite Teil, wie gesagt, nicht spart, hinterlässt das Stück insgesamt einen im wörtlichen Sinne zwiespältigen Eindruck.

Das letzte Konzert der Richard-Strauss-Tage 2024 war der zu Anfang des ersten Teils dieses Berichts bereits erwähnte Kammermusikabend des Phaeton Piano Trios am 11. Juni, der im kleineren Richard-Strauss-Saal des Garmisch-Partenkirchener Kongresshauses stattfand. Erneut teilten sich Strauss und Heinrich G. Noren das Programm. Die dargebotenen Werke kontrastierten wesentlich stärker zueinander als das Kaleidoskop und das Heldenleben, was nicht zuletzt daran liegt, dass es sich bei den beiden Klaviertrios von Richard Strauss um Jugendwerke handelt, die der Komponist im Alter von 13 Jahren schrieb. Sie repräsentieren also nicht seinen den Kompositionsstil seiner Hauptwerke. Man sollte sich davon aber nicht dazu verführen lassen, von diesen Stücken geringschätzig zu reden oder sie als „jugendlich unreif“ abzutun. Es ist nichts Unreifes in ihnen. Im Gegenteil: Der Autor ist ein junger Meister, der sich durch das Studium klassischer Vorbilder zu bemerkenswertem Können herangebildet hat und dem alles gelingt, was er sich vornimmt. Diese Musik hat nichts Himmelstürmendes an sich, nichts deutet darauf hin, dass von derselben Hand nur ein Jahrzehnt später die Violinsonate op. 18 geschrieben werden wird, von Don Juan und Macbeth ganz zu schweigen. Wir müssen bedenken, dass wir uns mit dem jungen Strauss in einem München befinden, das erst nach und nach zur „Richard-Wagner-Stadt“ wird und in dem Franz Lachner noch unter den Lebenden weilt, jener langjährige bayerische Hofkapellmeister, der die Pflege der ihm teils noch persönlich bekannt gewordenen Wiener Klassiker dort fest etabliert und als Vorgesetzter von Franz Strauss, dem Vater Richards, auf den Geschmack der Strauss-Familie einen nicht geringen Einfluss genommen hat. Es ist kurzum eine verlängerte Wiener Klassik, die der 13-Jährige hier präsentiert. Und das tut er mit Geschmack und Feingefühl!

Bei der Wiedergabe der Strausschen Trios fiel auf, dass sich der Pianist Florian Uhlig gerade im ersten Trio auffällig zurückhielt. Während Friedemann Eichhorn, Violine, und Peter Hörr, Violoncello, von Anfang an als ebenbürtige Partner auftraten, verblieb Uhlig lange in einem wenig differenzierten Mezzopiano, aus dem er erst nach und nach herausfand. Nehmen wir zu seinen Gunsten an, dass er sich seine Kräfte für die zweite Hälfte des Konzerts aufsparte. Jedenfalls war er bei der Aufführung von Norens Klaviertrio op. 28 ganz präsent und stand hinter den Streichern nicht zurück. Dieses viersätzige Werk ist das genaue Gegenteil der Strauss-Trios: Es handelt sich um monumentale Bekenntnismusik eines reifen Meisters, der alle klassizistischen Spiele hinter sich gelassen hat und eine eine starke Neigung zu „fremden Ländern und Menschen“ an den Tag legt. Hinsichtlich der zeitlichen Dimensionen von einer guten Dreiviertelstunde, wobei der riesige Kopfsatz allein 20 Minuten einnimmt, kann man dieses Trio getrost eine Symphonie für drei Instrumente nennen. Aber auch klanglich zieht Noren alle Register, um der Trioformation maximale Opulenz zu entlocken. Elemente slawischer Musik treten in dem Trio noch deutlich stärker zu Tage als in den Kaleidoskop-Variationen. Der Kopfsatz beginnt mit einem wuchtig einher schreitenden Thema, einem Bild heroischen Trotzes, das in der Durchführung in resignative Introversion gewendet wird. Die Gesangsthemen der Ecksätze und der langsame Satz entfalten jenes breit strömende Melos, das für russische Komponisten dieser Zeit so typisch ist. Das mäßig rasche Scherzo lässt in seiner Frische an Mussorgskij denken. Den langsamen Satz leitet ein Solo des Cellos ein, das eine archaische, schamanische Welt heraufzubeschwören scheint. Das ganze Werk durchziehen harmonisch-instrumentatorische Lichteffekte, die an die russischen Maler des Peredwischniki-Kreises denken lassen, denen ja auch Modest Mussorgskij nahestand. Im Finale, das mit einem flinken, etwas raubeinigen Tanzthema beginnt und dieses später als Fuge durchführt, wird der Farbenrausch schließlich auf die Spitze getrieben. Das ist ein großes, herrliches Werk, von dem man sich fragt, warum es so lange unbeachtet geblieben ist, und dem man sehr gern häufiger im Konzertsaal wieder begegnen möchte. Mit einem starken Plädoyer für einen unterschätzten Meister gingen also die Richard-Strauss-Tage 2024 zu Ende, und man fragt sich bereits, was dieses verdienstvolle Festival wohl im nächsten Jahr bringen wird.

[Norbert Florian Schuck, Juni 2024]

Richard-Strauss-Tage 2024 [1]: Heinrich Gottlieb Norens Auferstehung

Der folgende Bericht über die Richard-Strauss-Tage in Garmisch-Partenkirchen beschäftigt sich mit vier Konzerten:

8. Juni: Symphoniekonzert (Richard Strauss: Guntram-Vorspiel zum 2. Akt; Heinrich G. Noren: Kaleidoskop; Richard Strauss: Ein Heldenleben), Pilsener Philharmonie, Rémy Ballot

9. Juni: Matinéekonzert (Richard Wagner: Ouvertüre zu Tannhäuser; Richard Strauss: Don Juan, Gesänge op. 51, Träumerei am Kamin aus Intermezzo, Schlussmonolog aus Die schweigsame Frau), Günther Groissböck, Pilsener Philharmonie, Rémy Ballot

9. Juni: Oper (Richard Strauss: Ariadne auf Naxos, konzertante Aufführung), Department für Oper und Musiktheater der Universität Mozarteum Salzburg, Angelika Prokopp Sommerakademie der Wiener Philharmoniker, Kai Röhrig

11. Juni: Kammerkonzert (Klaviertrios von Richard Strauss und Heinrich G. Noren), Phaeton Piano Trio

Heinrich Gottlieb Noren (1861-1928) um 1912, Photographie von Aura Hertwig (1861-1944)

Am 11. Juni 2024, dem 160. Geburtstag von Richard Strauss, endeten die diesjährigen Richard-Strauss-Tage mit einem Kammerkonzert des Phaeton Piano Trios. Florian Uhlig, Klavier, Friedemann Eichhorn, Violine, und Peter Hörr, Violoncello, spielten sämtliche Werke, die der Jubilar für die Besetzung ihres Ensembles hinterlassen hat: die beiden Klaviertrios, die er als 13-Jähriger Ende 1877 und Anfang 1878 komponierte, und die drei an Vorbilder Couperins angelehnten Tänze, die in der letzten, 1942 uraufgeführten Oper Capriccio als Bühnenmusik dienen. Das Schlusswort erhielt allerdings ein anderer Komponist, der in Folge seiner Parteinahme für Strauss 1908 in einen Urheberrechtsstreit verwickelt wurde, dessen Ergebnis den Strauss-Gegnern zu einem schallenden Lacherfolg verhalf: Heinrich Gottlieb Noren (1861–1928). Norens Musik bildete einen der Schwerpunkte des Festprogramms. Mit dem Klaviertrio d-Moll op. 28, das im abschließenden Kammerkonzert zu hören war, und dem Orchesterwerk Kaleidoskop – Variationen und Doppelfuge über ein eigenes Thema op. 30, das durch die Pilsener Philharmonie unter der Leitung von Rémy Ballot Seite an Seite mit Straussens ihm eng verbundener Tondichtung Ein Heldenleben erklang, gelangten erstmals seit sehr langer Zeit (im Falle des Kaleidoskops seit mehr als einem Jahrhundert) wieder zwei Hauptwerke des Komponisten zur Aufführung.

Bekanntlich wurde in den letzten drei Jahrzehnten eine Vielzahl sogenannter vergessener Komponisten durch CD-Einspielungen, teils in Verbindung mit Konzertaufführungen und Rundfunksendungen, ins Gedächtnis der Musikwelt zurückgerufen – darunter auch zahlreiche Zeitgenossen von Richard Strauss. So haben wir heute wieder eine gute Vorstellung von Künstlerpersönlichkeiten wie Ludwig Thuille, Max von Schillings, Emil Nikolaus von Reznicek und Siegmund von Hausegger, um nur einige besonders wichtige Weggefährten des Garmischer Meisters zu nennen. Auch sein einziger Kompositionsschüler Hermann Bischoff ist durch Aufnahmen seiner Symphonien wieder mehr als nur ein bloßer Name in musikgeschichtlichen Darstellungen. Aber der hervorragenden Arbeit einer Reihe rühriger Musikproduktionen zum Trotz klaffen immer noch große Lücken in unserem Bild von der deutschen Musik des frühen 20. Jahrhunderts. Dass im Jahre 2024 keine einzige Aufnahme eines Werkes von Heinrich G. Noren vorliegt, darf als für diesen Zustand bezeichnend gelten, denn Noren war zu seinen Lebzeiten keineswegs ein Unbekannter. Gut ein Jahrzehnt lang gehörte er gar zu den prominentesten Komponisten seiner Generation im deutschsprachigen Raum. Nachdem er 1907 schlagartig bekannt geworden war, erklangen seine Werke bis zum Ende des Ersten Weltkriegs regelmäßig in deutschen Konzertsälen und wurden auch in anderen europäischen Ländern sowie in den Vereinigten Staaten gespielt (noch 1917, kurz vor dem Kriegseintritt der USA, führte Carl Muck in New York Norens Symphonie Vita auf). Erst in den 1920er Jahren verliert sich diese Erfolgsspur, gewiss zum Teil bedingt durch die neu aufgekommenen, gänzlich anders gearteten Stilrichtungen, aber auch, weil der Komponist – ähnlich wie Hausegger, Schillings und Bischoff – nicht mehr mit neuen großen Werken vor die Öffentlichkeit trat.

Der Verfasser dieser Zeilen war nur in der Absicht nach Garmisch gereist, sich dort als Rezensent zu betätigen. Unerwartet wurde er anderthalb Stunden vor dem Symphoniekonzert von Christoph Schlüren und Frank Harders-Wuthenow, denen die Konzerteinführung oblag, eingeladen, sich an derselben zu beteiligen, da er bereits Nachforschungen in Sachen Noren unternommen habe. Tatsächlich habe ich dies getan, und gern nahm ich die Einladung an. Allerdings bin ich weit davon entfernt ein „Noren-Experte“ zu sein. Was wissen wir eigentlich über Noren? Die Eckdaten seiner Biographie sind bekannt: Er hieß eigentlich Heinrich Suso Johannes Gottlieb und wurde 1861 in Graz als Sohn des Chemikers Johann Gottlieb geboren. Er bildete sich zuerst bei Henri Vieuxtemps in Brüssel, dann bei Lambert Massart in Paris zu einem hervorragenden Geiger aus und kam anschließend weit in Europa herum. Nachdem er als Konzertmeister in Belgien, Spanien, Russland und Deutschland gewirkt hatte, ließ er sich in Krefeld nieder, wo er 1896 ein Konservatorium gründete. Nach einem kurzen Intermezzo in Düsseldorf ging er 1902 ans Stern’sche Konservatorium nach Berlin, 1907 ans Dresdner Konservatorium. 1911 finden wir ihn wieder in Berlin, 1915 schließlich am Tegernsee, zuerst in Rottach-Egern, dann in Kreuth-Oberhof, wo er 1928 starb. Zunächst vor allem als ausführender Musiker und Pädagoge tätig, war der Schüler Friedrich Gernsheims, Ludwig Busslers und Otto Klauwells als Komponist ein Spätentwickler. Erst mit über 30 Jahren trat er mit eigenen Werken öffentlich in Erscheinung.

Über den Menschen Noren ist bislang kaum etwas bekannt. So wissen wir auch nicht, warum sich Heinrich Gottlieb das Pseudonym „Noren“ zulegte und wie er auf diesen Namen kam. Die Angabe im Österreichischen Biographischen Lexikon, er habe seit 1916 „Noren“ geheißen, bezieht sich nicht auf den tatsächlichen Zeitpunkt der Namensänderung, sondern auf deren nachträgliche Legitimierung durch die k.k. Steiermärkische Statthalterei vom 12. November 1916 (siehe MGG2). Nicholas Slonimsky schrieb in Baker’s Biographical Dictionary of Musicians, der Komponist habe den Namen seiner Ehefrau angenommen. Nachweislich war Noren mit einer norwegischen Sängerin namens Signe Giertsen (oder Gjertsen) verheiratet, die noch 1955 in Bergen lebte. Sie findet sich in den Musikzeitschriften der Zeit auch als „Signe Giertsen-Noren“ verzeichnet, allerdings nicht vor 1913. Damals führte ihr Ehemann den Namen bereits seit vielen Jahren. Sie hat diesen also mit der Heirat, die um 1912/13 stattgefunden haben dürfte, von ihm übernommen, nicht umgekehrt. Ob der Komponist zuvor bereits einmal verheiratet war, ist bislang nicht bekannt. Weiterhin ist möglich, dass Heinrich Gottlieb seine Herkunft verschleiert hat, da sein Vater jüdischer Abstammung war (Johann Gottlieb findet sich im Handbuch österreichischer Autorinnen und Autoren jüdischer Herkunft 18. bis 20. Jahrhundert verzeichnet). Solange keine intensiveren Forschungen zur Biographie des Komponisten konkrete Ergebnisse zu Tage fördern, bleibt freilich alles in diesem Punkt Spekulation. Auffällig ist jedenfalls, dass er im Laufe der Jahre die Formulierung seines Künstlernamens abwandelte. So taucht der eigentliche Familienname „Gottlieb“ teils als Vorname, teils als Nachname („Gottlieb-Noren“) auf und verschwindet schließlich hinter dem Mittelinitial („Heinrich G. Noren“).

Noren gehörte nicht zum engeren Kreis um Richard Strauss, dennoch war sein Aufstieg zu größerer Bekanntheit eng mit dem Namen des drei Jahre jüngeren Kollegen verbunden. Zu jener Zeit war in der deutschen Musikpresse ein großer Streit um den richtigen Fortschritt in der Musik losgebrochen. Felix Draeseke, der damals wohl angesehenste unter den lebenden deutschen Komponisten der älteren Generation und keineswegs ein Brahmsianer, hatte 1906 unter dem Titel Die Konfusion in der Musik ein Pamphlet veröffentlicht, in welchem er Richard Strauss scharf kritisierte: Der namentlich nicht Genannte, „von Haus aus in ungewöhnlicher Weise für die Musik befähigt, als Schöpfer sehr kühner, aber höchst interessanter Kunstwerke zu bezeichnen“ – Draeseke hatte einst den Don Juan ausdrücklich begrüßt –, sei vom Verismus ergriffen und von diesem dazu getrieben worden, „sich dem Kultus des Häßlichen zu ergeben und der Kunst in bis dahin unerhörter Weise Gewalt anzutun.“ Der Aufsatz löste eine Flut von Artikeln aus, in welchen sich eine Vielzahl namhafter Musiker pro oder contra Strauss äußerte. Die teils mit Witz, teils mit erbitterter Heftigkeit geführte Debatte zog sich über Jahre hin und verlor sich erst mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. (Die wichtigsten Texte erschienen gesammelt in Band 4 der Mitteilungen der Internationalen Draeseke-Gesellschaft: Die Konfusion in der Musik. Felix Draesekes Kampfschrift und ihre Folgen, Bonn: Gudrun Schröder Verlag, 1990.) Strauss selbst betrachtete den Pressekrach mit Gelassenheit und dürfte wohl manches Mal an „Des Helden Widersacher“ aus seiner Tondichtung Ein Heldenleben gedacht haben. Als sich die Kontroverse auf ihrem Höhepunkt befand, gelangten 1907 im Rahmen der Tonkünstlerversammlung des Allgemeinen deutschen Musikvereins in Dresden Norens Kaleidoskop-Variationen zur Uraufführung. Das Werk lässt sich kaum ohne die Vorgeschichte der „Konfusions-Debatte“ denken, da seine letzten beiden Abschnitte überdeutlich darauf anspielen. Noren zitiert (nicht ganz notengetreu, aber deutlich erkennbar) in der letzten Variation, die er ausdrücklich mit der Widmung „An einen berühmten Zeitgenossen“ überschreibt, die Themen des Helden und der Widersacher aus dem Heldenleben. Das Widersacher-Thema wird anschließend zum Ausgangspunkt der Doppelfuge, in welcher das originale Thema der Variationen als Gegensatz wiederkehrt. Kann man das alles anders deuten, als dass Noren dem Strausschen Helden auf dessen Walstatt zu Hilfe eilt und sich den gleichen Widersachern entgegen wirft? Was die Haltung zu letzteren betrifft, zeigt sich Noren optimistischer als Strauss. Besteht im Heldenleben zwischen dem Helden und den Widersachern bis zum Schluss eine unüberbrückbare Kluft – der weltflüchtig Gewordene hört sie von Ferne wieder missgünstig Knurren –, so lässt Noren im Kaleidoskop sein Variationsthema als Choral triumphieren, in den das erste Fugenthema, das seinen Charakter gänzlich gewandelt hat, begleitend einstimmt: Die Widersacher konnten hier offensichtlich zu Unterstützern gemacht werden.

Noren hatte sich für die Zitate aus dem Heldenleben die Genehmigung von Strauss eingeholt. Nichtsdestoweniger wurde er vom Verlag Leuckart, der die Straussche Tondichtung herausgebracht hatte, wegen Verletzung des Urheberrechts angeklagt. Der Prozess vor dem Königlichen Landgericht in Dresden endete 1908 mit einer Niederlage Leuckarts. Noren wurde mit der Begründung freigesprochen, es handle sich bei den beiden zitierten Themen nicht um Melodien, und nur diese seien geschützt. „Die Benutzung von Motiven und Themen fremder Musikstücke bleibt dagegen unter der Voraussetzung künstlerischer Verarbeitung und Neugestaltung nach § 13 Absatz 1 auch weiter freigegeben“, so das Urteil. Im nächsten Jahr erschien eine Faschingsausgabe der Zeitschrift Die Musik, auf deren Titelblatt das Anfangsthema des Heldenlebens mit folgendem Text unterlegt wurde: „Strauss ist ein großes Genie, aber ganz ohne Melodie. O, so hört Franz Lehár an, das ist doch noch ein ganz andrer Mann!“ …

Auch abgesehen vom Wert des Norenschen Variationszyklus als Zeitdokument handelt es sich um ein höchst bemerkenswertes Werk, zumal Noren keineswegs Straussens Stil zu imitieren sucht. So hebt das Thema der Variationen denkbar unstraussisch als eine schlichte Englischhornmelodie in modal getöntem e-Moll an, die ungefähr zwischen einem slawischem Volkslied und einem protestantischen Choral die Mitte hält. Von einem „Thema“ kann eigentlich nur in erweitertem Sinn gesprochen werden, denn der Komponist belässt es nicht bei dieser Melodie, sondern verarbeitet sie imitatorisch und modulierend, sodass ein in sich geschlossenes kurzes Charakterstück entsteht. Die anschließenden Variationen folgen dann nicht der klassischen Praxis, Ausmaße und Form des Themas im wesentlichen beizubehalten, wie dies auch noch Brahms tat, sondern greifen nur seine Motive auf und entwickeln daraus in freier Abwandlung völlig neue Gebilde. „Kaleidoskop“ ist genau der richtige Name für diese Art der Variationskomposition. In den einzelnen Variationen sprüht es nur so vor Einfällen! Noren zeigt sich als ein unbekümmert musikantischer Komponist, dem tänzerische Rhythmen im Blut liegen. Slawisches Temperament tritt immer wieder zutage, nicht nur in der explizit als „Slawischer Tanz“ bezeichneten Variation. Unter Verwendung üppigster nachwagnerischer Harmonik erschafft Noren aus dem Material seines Themas einen kontrastreichen Bilderbogen. Die Ausmaße einiger Variationen gestatten es durchaus, von ihnen als kleinen Tondichtungen zu sprechen, zumal sie charakterisierende Titel tragen, die teils ins Programmmusikalische hinüberspielen („Im Dom“, „Aus fernen Tagen“). Im Gegensatz zu Straussens Don Quixote sind sie aber nicht als Teile einer übergreifenden Handlung gedacht, das Ganze mithin nicht als Programmmusik im engeren Sinne anzusprechen. Die das Werk prägende Tendenz zum Symphonisch-Expansiven – außer in der Schlussfuge besonders spürbar in der „Dom“-Variation und im gewaltig auftrumpfenden zentralen Trauermarsch – zeigt sich auch darin, dass Noren dem Thema eine langsame Einleitung voranstellt, in welcher dessen Motive angedeutet werden, und den die Fuge krönenden Choral in eine leise Coda auslaufen lässt, die mit der Einleitung korrespondiert. Norens Instrumentation steht an Farbenpracht und Brillanz der Strausschen nicht nach. Auffällig ist seine Vorliebe für Schlaginstrumente, die in einigen Abschnitten des Werkes geradezu eine eigenständige Orchesterebene bilden.

Man muss dem künstlerischen Leiter der Richard-Strauss-Tage, Dominik Šedivý, für die Aufnahme dieses Meisterwerkes ins Festprogramm herzlich dankbar sein, wie man überhaupt die kluge Zusammenstellung der Garmischer Konzertprogramme loben muss. Die Koppelung des Kaleidoskops mit dem Heldenleben, die ja aufgrund der thematischen Bezüge auf der Hand liegt, mag aufgrund der Ausdehnung beider Werke und der großen Ansprüche, die sie an die Musiker stellen, in normalen Konzerten schwierig sein. Im Rahmen der Strauss-Tage war sie genau am richtigen Platz. Norens Werk kam dadurch außerdem in den Genuss einer Wiederbelebung in Form einer erstrangigen Aufführung – etwas, das viele großartige Kompositionen, die zuvor lange Zeit nicht gespielt worden sind, leider entbehren mussten und allzuoft noch müssen. Die Pilserner Philharmonie übertraf ihre Leistung vom letzten Jahr, als sie unter Rémy Ballot u. a. den Macbeth spielte, deutlich – und schon damals war das Ergebnis eine hervorragende Aufführung. Dieses Jahr erschien das Orchester allerdings noch um einiges agiler und motivierter – ideale Bedingungen also für einen so umsichtigen Gestalter wie Ballot, die großen Werke von Strauss und Noren – am 8. Juni im Festsaal Werdenfels des Kongresshauses Garmisch-Partenkirchen – zum Klingen zu bringen.

Als der Zwölftonkomponist Joseph Matthias Hauer einmal anmerkte, Beethoven habe doch sein Leben lang nur Kadenzen geschrieben, konterte Wilhelm Furtwängler: „Ja, aber was für Kadenzen!“ Rémy Ballots Aufführung des Heldenlebens machte erlebbar, „was für Kadenzen“ Richard Strauss geschrieben hat. Strauss macht es mit seiner Liebe zum Ornament, mit seinen durch alle Orchestergruppen flutenden Klangwogen, mit einem Notenbild, von dem sich Ferruccio Busoni einst an den New Yorker Straßenverkehr erinnert fühlte, den Dirigenten oft nicht leicht, in seinen Werken die roten Fäden zu finden. Freilich, diese sind da, und wenn sie erfasst und zur Geltung gebracht werden, dann zeigt sich, dass Strauss eben mehr war als bloß ein brillanter Orchestrationsvirtuose und dass in seinen Stücken die polyphone Kunst mannigfaltig blüht. Rémy Ballot hat als Bruckner-Dirigent hinreichend bewiesen, dass er weitestgespannte musikalische Verläufe zu realisieren in der Lage ist (siehe seinen kürzlich bei Gramola herausgekommenen Bruckner-Zyklus aus St. Florian). Er versteht es, den Musikern zu vermitteln, welche Bedeutung ihre Stimme im Zusammenhang des Ganzen besitzt. So vermag er auch, als wäre es das Selbstverständlichste, in der ganz anders gearteten Musik Straussens, jeden Winkel auszuleuchten. Wo es bei manch anderem Dirigenten nur blitzt und blendet, findet er Gegenstimmen, Kontrapunkte, Feinheiten des Tonsatzes und lässt diese in Interaktion miteinander geraten. So wird das Gefälle der Harmonien zum Erlebnis, die symphonische Handlung entsteht wie von selbst daraus – „Des Helden Walstatt“ ist kein konfuses Geplänkel und kein Schlagzeugkonzert, sondern Musikdrama im schönsten Sinne – und man kann mit Furtwängler feststellen: „Was für Kadenzen!“ Nirgendwo wurde das deutlicher als in jenem Abschnitt, bei dem ich mich nie ganz des Gedankens erwehren kann, Strauss habe ihn geschrieben, um die Geduld seiner Hörer zu testen, nämlich dem lang ausgesponnenen Dialog zwischen Solovioline und Orchester zu Beginn von „Des Helden Gefährtin“, welcher durch Ballots Weitsicht – und die hervorragende Leistung der Pilsener Konzertmeisterin – auffallend kurzweilig geriet. Den beiden großen Werken des Abends war, gleichsam als Ouvertüre, das Vorspiel zum zweiten Akt der Strausschen Erstlingsoper Guntram vorangestellt. Angesichts solch prächtiger Musik, wie sie in diesem knappen, schwungvollen Stück enthalten ist, würde es sich gewiss lohnen, den selten aufgeführten Guntram einmal wieder in Gänze vorzustellen – gern auch konzertant.

Das Matineekonzert der Richard-Strauss-Tage, das am Tag nach dem Symphoniekonzert dem festlichen Empfang des Bayerischen Staatsministeriums für Wissenschaft und Kunst vorangeht, litt im letzten Jahr an einer zu kurzen Probenzeit, sodass es die Höhe des damaligen Symphoniekonzerts nicht halten konnte. Umso erfreulicher gestaltete sich dagegen die diesjährige Matinee, denn das Orchester war, gewiss vom Erfolg am Abend zuvor noch zusätzlich bestärkt, bestens disponiert. Das Programm umfasste ausschließlich Kompositionen, in denen Liebesbeziehungen thematisiert werden, meist ohne glücklichen Ausgang: Richard Wagner hat den Gegensatz zwischen irdischer und himmlischer Liebe, der seiner Oper Tannhäuser zugrunde liegt, bereits im Aufbau der Ouvertüre zum Ausdruck gebracht; Strauss schickt in seiner Tondichtung Don Juan den Titelhelden von einem Liebesabenteuer zum anderen, bevor er ihn zum Schluss ausgebrannt zusammenbrechen lässt; die Texte seiner Zwei Gesänge op. 51 handeln vom Verlust der Liebe; in den beiden Opern Intermezzo und Die Schweigsame Frau, aus welchen Auszüge zu hören waren, kommen Komplikationen des ehelichen Zusammenlebens zur Sprache.

An den Darbietungen der Tannhäuser-Ouvertüre und des Don Juan fesselte ungemein, wie zwanglos sich das musikalische Geschehen entfaltete. Das hymnische Thema zu Beginn der Ouvertüre erklang sehr sorgsam phrasiert. Die harmonischen Schwer- und Leichtpunkte der Melodie wurden von den Musikern wirklich empfunden, sodass die Musik in ein ganz natürliches Ein- und Ausatmen geriet. Willkürliche Zergliederung konnte dadurch genauso wenig aufkommen wie übertriebene Theatralik. Hier wurden keine Posen eingenommen, sondern es wurde Musik innig erlebt und beseelt wiedergegeben. Noch deutlicher als anhand der Werke Straussens und Norens zeigte sich bei Wagners breiten Melodiebögen, dass Rémy Ballot ein Musiker ist, der aus tiefster innerer Ruhe heraus schafft und gerade deswegen fähig ist, die Musik sich so großartig steigern zu lassen und ihren Verlauf so sicher auf den Punkt gebracht zu gestalten. Eben deshalb wirkte auch Don Juan so ungeheuer profund. Das lebhafte Gebärdenspiel, das dieses kapriziöse Werk auszeichnet, hatte nichts Oberflächliches oder Erzwungenes an sich, sondern klang wie frei vom Herzen weg gesprochen, als ganz selbstverständlicher Ausdruck einer extravertiert-sinnenfreudig disponierten Persönlichkeit. Die Extreme, in die sich Straussens Held stürzt, kommen nicht zu kurz. Dass er das Schwelgen liebt und das Abenteuer sucht, glaubt man ihm in jeder Note. Ballots sicherer Überblick über das Geschehen verhinderte alles Übereilen, das vorzeitige Verschießen des Pulvers. Auch behielt die Musik in den langsamen Abschnitten durchweg ihren Fluss, verlor sich nirgends im bloß Momenthaften. Das feine Auskosten der Einzelheiten, ebenso wie der überlegte Aufbau der Steigerungen förderten dabei eine Vornehmheit zutage, wie sie sich bei weniger guten Aufführungen des Stückes schlicht nicht einstellt. Ballot fand den inneren Adel der Musik, sodass man tatsächlich Don Juan agieren hörte.

In den Gesängen op. 51 trat der Bassbariton Günther Groissböck zum Orchester hinzu. Beide Stücke sind in Zwielicht getaucht: Das Thal bietet vordergründig eine Idylle (mit Alphorn-Anklängen), über die sich aber immer wieder Schatten lagern, dagegen herrscht in Der Einsame Dunkelheit vor, in welche wiederholt Lichtstrahlen durchbrechen. Groissböcks ließ seine Stimme schwer und dunkel klingen, was sehr gut zum Charakter der Stücke passte. Die fein abgestuften Farbenspiele in Harmonik und Instrumentation kamen durch Ballots Dirigat wunderbar zur Geltung. Seine sorgsame Ausrichtung der Entwicklung auf den jeweiligen Höhepunkt hin, ließ deutlich werden, dass die beiden Lieder nicht nur bloße Stimmungsbilder, sondern symphonische Dichtungen im Kleinen sind. Dasselbe lässt sich auch vom Orchesterzwischenspiel Träumerei am Kamin aus der Oper Intermezzo sagen, einem beinahe kammermusikalisch anmutenden Stück, das hier in seiner ganzen raffiniert polyphonen Zartheit erblühen konnte. Das Schlusswort der Matinee gehörte Günther Groissböck, der für den Monolog des Sir Morosus, der Die Schweigsame Frau beschließt, deutlich sanftere Töne fand als für die beiden Gesänge. Die darin enthaltenen Worte „Wie schön ist doch die Musik, aber wie schön erst, wenn sie vorbei ist!“ möchte ich für das dargebotene Konzert jedenfalls nicht unterschreiben.

(Zur Fortsetzung siehe hier)

[Norbert Florian Schuck, Juni 2024]

[Korrektur: Im obigen Text wird als Quelle zu Norens Namensänderung die MGG2 genannt. Dies geschah in der Annahme, es finde sich dort ein Artikel über den Komponisten, da die Online-Ausgabe des Lexikons einen solchen enthält. Tatsächlich wird Noren in der ersten Auflage der MGG noch mit einem Artikel bedacht (dieser steht im Netz), die MGG2 erwähnt ihn dagegen nicht mehr. NF Schuck]

Konzerte der Internationalen Draeseke-Gesellschaft Juni-Juli 2024

Als Erster Vorsitzender der Internationalen Draeseke-Gesellschaft ist es mir eine Freude, auf drei in den kommenden Wochen anstehende Konzerte hinweisen zu können, die entweder von der Gesellschaft selbst veranstaltet werden oder unter ihrer Mitwirkung zustande gekommen sind:

Konzert im Rahmen der 38. Mitgliederversammlung der IDG

Bad Rodach, 23. Juni, 11 Uhr, Jagdschloss (Eintritt frei, um Spenden wird gebeten)

Haruka Izawa, Klavier

Felix Draeseke (1835–1913): Hold Gedenken aus Fata Morgana op. 13

Robert Schumann (1810–1856): Klaviersonate Nr. 2 g-moll op.22 

Franz Schubert (1797–1828): Klaviersonate Nr. 21 B-Dur D 960

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„Tanz durch Europa“

Heiligenberg (Bodenseekreis), 29. Juni, 19 Uhr, Schloss am Sennhof

Aris Alexander Blettenberg, Klavier

Johann Sebastian Bach (1685–1750): Französische Suite Nr. 5 BWV 816

Ludwig van Beethoven (1770–1827): Sechs Ecossaisen WoO 83

Franz Schubert (1797–1828): Grazer Galopp D 925

Felix Draeseke (1835–1913): Phantasiestück in Walzerform op. 3 Nr. 1

Felix Draeseke: Valse-Scherzo aus der Klaviersonate op. 6

Franz Liszt (1811–1886): Ungarische Rhapsodie Nr. 7 S. 244

Isaac Albéniz (1860–1909): Asturias

Aris Alexander Blettenberg (*1994): Drei Griechische Tänze

Edvard Grieg (1843–1907): Norwegischer Tanz Op. 35 Nr. 2

Béla Bartók (1881–1945): Rumänische Volkstänze Sz 56

Bedrich Smetana (1824–1884): Erinnerung an Pilsen

Frédéric Chopin (1810–1849): Polonaise op. 53

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The Art is in All of Us – Konzert zur Jubiläumsausstellung 200 Jahre Kunstverein Coburg

Coburg, 5. Juli, 19 Uhr, Pavillon des Kunstvereins

Haruka Izawa, Klavier

Franz Schubert (1797–1828) / Franz Liszt (1811–1886): Sei mir gegrüßt; Du bist die Ruh
Robert Schumann (1810–1856): Klaviersonate Nr. 2 g-Moll op. 22
Franz Schubert: Klaviersonate Nr. 21 B-Dur D 960

Die Eröffnung der Ausstellung am 6. Juli, 16 Uhr, im Pavillon des Kunstvereins wird von Haruka Izawa mit Klavierstücken von Felix Mendelssohn Bartholdy und Felix Draeseke umrahmt.

[Norbert Florian Schuck, Juni 2024]

Orchestermusik von Max Baumann und Felix Draeseke in Kronach

Anlässlich des 25. Todestages von Max Baumann veranstaltet die Kronacher Kulturförderung e. V. am 17. Mai 2024 um 19:30 im Kreiskulturraum Kronach ein Konzert zu Ehren des 1917 in Kronach geborenen Komponisten.

Die Hofer Symphoniker präsentieren unter der Leitung von Manuel Grund ein Programm, das neben Baumann einen weiteren Komponisten aus dem fränkischen Kulturraum in den Fokus rückt: Felix Draeseke. Von Richard Wagner entscheidend geprägt, gegen Ende seines Lebens in Opposition zu Richard Strauss geraten, war Draeseke eine herausragende Figur der sogenannten Neudeutschen Schule. Sein erst lange nach seinem Tod uraufgeführtes Symphonisches Andante für Violoncello und Orchester, entstanden an einem biographischen und künstlerischen Wendepunkt in Draesekes Leben und vermutlich ein autobiographisches Dokument, wird hier vom Vorspiel zu Wagners Lohengrin und der frühen Violoncello-Romanze des damals noch ganz im Fahrwasser der Klassiker segelnden Strauss umrahmt. Als Solist in den Werken von Draeseke und Strauss wird Jörg Ulrich Krah zu hören sein.

Max Baumann, Schüler Boris Blachers und seit 1946 als Musikpädagoge in Berlin tätig, wurde vor allem durch seine geistliche Musik bekannt, hinterließ allerdings ein Gesamtwerk, das von vokalen und instrumentalen Miniaturen bis zu Oratorien und Opern unterschiedlichste Gattungen umfasst. Seine Symphonie Nr. 1 op. 14 gehört zu seinen wichtigsten frühen Arbeiten und ist zugleich sein erstes größeres Orchesterwerk. Mit ihr auf dem Programm des Abends steht als Uraufführung ein Werk, dessen Autor und Titel noch nicht bekannt gegeben wurden: die Preisträger-Komposition des Max-Baumann-Kompositionswettbewerbs, welche als Variationen über ein Thema aus Baumanns Drei Radierungen op. 58 zu gestalten war.

[Norbert Florian Schuck, Mai 2024]

Hinweisung zur Transparenz: Der Autor obenstehender Zeilen ist Erster Vorsitzender der Internationalen Draeseke-Gesellschaft, welche das erwähnte Konzert finanziell unterstützt.

Perchtoldsdorf erkundet die musikalische Welt von Franz Schmidt

Das Franz Schmidt-Sinfonieorchester spielte am 14. April 2024 in der Pfarrkirche St. Augustin in Perchtoldsdorf unter der Leitung von Anthony Jenner ein Franz Schmidt gewidmetes Programm mit Werken verschiedener Besetzungen. An der Franz-Schmidt-Orgel der Pfarrkirche und am originalen Flügel des Komponisten war Stefan Donner zu hören.

St. Augustin, Perchtoldsdorf

Das musikalische Österreich hat 2024 einige Gründe zu festlichen Jubiläumsveranstaltungen, denn ins laufende Jahr fallen die runden Gedenktage gleich mehrerer herausragender österreichischer Komponisten. Am meisten präsent ist dabei Anton Bruckner, dessen Geburtstag sich im September zum 200. Male jähren wird. (Siehe dazu auch unseren Bericht über die Bruckner-Ausstellung der Österreichischen Nationalbibliothek.) Nicht lange danach steht der 150. Geburtstag Arnold Schönbergs an, und im November der 50. Todestag von Egon Wellesz.

Ein nicht minder wichtiges Jubiläum ist der 150. Geburtstag Franz Schmidts am 22. Dezember 2024. Der im heutigen Bratislava geborene Komponist der Notre Dame und des Buchs mit sieben Siegeln lebte von 1888 bis 1926 in Wien, danach in der südwestlich angrenzenden Marktgemeinde Perchtoldsdorf, wo er 1939 gestorben ist. Was das diesjährige Gedenken an den Meister betrifft, so hat der Vorort die Hauptstadt in den Schatten gestellt: Seit Ende Februar wird in Perchtoldsdorf mit einer Konzertreihe an Schmidt erinnert, die sich bis zur Feier seines Geburtstags im Dezember auf insgesamt zwölf Veranstaltungen erstrecken wird. Durchgeführt werden sie von der Perchtoldsdorfer Franz-Schmidt-Musikschule, die nicht nur durch ihren Namen und die Pflege seiner Werke an den Komponisten erinnert, sondern auch durch ihre Innenausstattung: In den Direktionsräumen steht normalerweise neben originalen Möbelstücken aus Schmidts letzter Wohnung, darunter Schränken, in welchen Partituren, Bücher und andere Gegenstände aus seinem persönlichen Besitz verwahrt werden, auch der Bösendorfer-Flügel, auf dem der Meister daheim zu Musizieren pflegte. Wer jedoch am 14. April 2024 die Musikschule betrat, fand das Klavier nicht an seiner üblichen Stelle: Man hatte es in die nahegelegene Pfarrkirche St. Augustin gebracht. In dieser Kirche, die sich burgenartig über den Marktplatz der Gemeinde erhebt, ereignete sich am Abend desselben Tages das zweite Konzert des Perchtoldsdorfer Schmidt-Zyklus.

Unter dem Motto Die musikalische Welt von Franz Schmidt präsentierte das Franz Schmidt-Sinfonieorchester unter Leitung des Regenschori der Pfarrkirche, Anthony Jenner, gemeinsam mit dem Organisten und Pianisten Stefan Donner ein Programm, das Schmidts künstlerische Vielseitigkeit verdeutlichte. Das Konzert begann mit einer Hommage des Komponisten an seine ungarischen Wurzeln, den Variationen über ein Husarenlied. Gespielt wurde nicht das komplette Orchesterwerk, sondern eine Kurzfassung, in welcher, gewiss aus Rücksicht auf das zu einem großen Teil aus Musikschülern und Laienmusikern bestehende Orchester, die ausgedehnte langsame Einleitung des Werkes und einige der Variationen fortgelassen wurden. Weiter ging es mit dem großen Orgelkomponisten, von dem Stefan Donner auf der Franz-Schmidt-Orgel der Pfarrkirche zwei Stücke zu Gehör brachte: die Toccata C-Dur und das G-Dur-Präludium aus den Vier kleinen Präludien und Fugen. Der Organist wählte deutlich kontrastierende Registrierungen für die charakterlich sehr verschiedenen Stücke. Klang die Toccata hell, strahlend und durchdringend, so war das ruhige Präludium in dezente, warme Klangfarben gehüllt. Loben muss man Donners Tempogestaltung in der Toccata. Er spielte sehr gebunden und wählte ein relativ gemessenes Zeitmaß, das es ihm ermöglichte, die harmonischen Ereignisse, die sich in der gleichmäßig strömenden Sechzehntelbewegung des Stückes verbergen, adäquat zur Geltung zu bringen. Eine großartige Aufführung!

In der Mitte des Programms stand ein heiteres Gelegenheitswerk, mit dem Schmidt all jenen einen Haken schlägt, die ihn allein auf den tiefgründigen Harmoniker, strengen Kontrapunktiker und schwerblütigen Introvertierten festnageln wollen: Vermutlich in den späten 1900er Jahren während eines Ferienaufenthalts für das Familienensemble seines Freundes Alexander Wunderer entstanden, zeigt die Tullnerbacher Blasmusik den Künstler von einer unbeschwerten, volkstümlichen Seite. Grundlage dieses kleinen dreisätzigen Werkes sind österreichische Heimatmelodien. Schmidt hat aus ihnen ein Lied, einen Ländler und einen Marsch zusammengestellt und effektvoll für Bläser und Schlagzeug gesetzt.

Wolfgang Amadé Mozarts Rondo für Klavier und Orchester A-Dur KV 386 war der Grund für die Überführung des Schmidtschen Bösendorfer-Flügels in die St. Augustinskirche. Diese lange Zeit nur in fragmentarischer Gestalt bekannte Komposition Mozarts wurde 1936 von Alfred Einstein rekonstruiert und herausgegeben. Franz Schmidt war der Pianist, der das Werk am 12. Februar 1936 gemeinsam mit den Wiener Symphonikern unter Oswald Kabasta erstmals wieder an die Öffentlichkeit brachte. Die Aufführung wurde von Radio Wien mitgeschnitten und bis nach Amerika übertragen. In Perchtoldsdorf kam es also auf Schmidts eigenem Bösendorfer zu Gehör, gespielt von Stefan Donner, der allerdings an der Orgel mehr in seinem Element zu sein scheint als am Klavier.

Zum Beschluss war Donner wieder an der Orgel zu hören, als er gemeinsam mit dem Orchester Schmidts gewaltige, halbstündige Chaconne cis-Moll aufführte. Das Werk liegt vom Komponisten selbst in zwei Fassungen vor: als Orgelstück und als nach d-Moll transponiertes Orchesterwerk. Dirigent Anthony Jenner hatte anlässlich des Konzerts beide Versionen miteinander kombiniert, wobei er die lange, durch vier Kirchentöne wandernde Variationenreihe sehr geschickt auf die zwei Klangkörper verteilte (die ursprüngliche Tonart cis-Moll wurde beibehalten). Einige Variationen spielt nur die Orgel, andere nur das Orchester. Manche werden von beiden vorgetragen. Was die Leistung des Orchesters in diesem Werk wie in den Husarenlied-Variationen betrifft, so will ich die Probleme, die sich bei der Bewältigung der ungemein schwierigen Aufgaben einstellten, gar nicht schwer ins Gewicht fallen lassen. Ja, es zeigten sich immer wieder einmal Intonationsschwächen, und ja, in der Chaconne verunglückte eine der Variationen zu einer undurchsichtigen, dunklen Klangwolke. Aber im Großen und Ganzen schlugen sich die Orchestermusiker mehr als wacker und begeisterten durch die Disziplin und den Enthusiasmus, mit denen sie zu Werke gingen! Anthony Jenner muss man als einen wahren Meister der Orchesterarbeit bezeichnen, anders ist ein solches Resultat nicht zu erklären. Jenner, ein in der Zeichengebung sparsamer und präziser Dirigent, bei dem jede Bewegung ihre Ursache hat, hetzte seine Spieler nie, sondern setzte auf sorgfältige Artikulation und auf spannungsvolle Ausgestaltung der melodischen Bögen. Die einzelnen Orchestergruppen interagierten gut aufeinander eingespielt, und alle schienen eine klare Vorstellung von der Bedeutung ihrer Stimmen zu haben. Ja, in der einfach gehaltenen Tullnerbacher Blasmusik, die den Ausführenden keine solchen Hürden in den Weg legt wie die polyphonen, chromatischen Orchesterwerke, stimmte uneingeschränkt alles, sodass die Aufführung dieses Werkes als die herausragende Ensembledarbietung des Abends erschien. Dennoch gebührt den Mitgliedern des Orchesters für den Mut, sich an die Variationen und die Chaconne zu wagen, und für das allen Schwächen zum Trotz letztlich gelungene Ergebnis ein vielleicht noch größerer Respekt.

Auf jeden Fall war dieses Konzert ein Triumph für das musikalische Perchtoldsdorf! Auf die weiteren Veranstaltungen der Marktgemeinde zum Franz-Schmidt-Jubiläum kann man jedenfalls gespannt sein. Namentlich den Wienern sei empfohlen, im Auge zu behalten, was sich im Nachbarort in Sachen Schmidt tut.

[Norbert Florian Schuck, April 2024]

Helmut Hofmanns Abschiedskonzert mit Schuberts „Winterreise“

Mit Helmut Hofmann hat sich ein in mehrfacher Hinsicht bemerkenswerter Musiker vom Konzertpodium verabschiedet. Ein würdigerer Beschluss seiner Pianistenlaufbahn als jene Aufführung der Winterreise im Saal der Musikschule von St. Andrä-Wördern, die Hofmann gemeinsam mit dem Bariton Günter Haumer am 13. April 2024 ins Werk setzte, ließe sich schwerlich denken, kam doch mit Franz Schubert derjenige Komponist zu Wort, dessen Schaffen seit einem Vierteljahrhundert im Zentrum der musikwissenschaftlichen Arbeit Hofmanns steht.

Der 1934 geborene Helmut Hofmann ist ein Mann mit vielen Talenten und Interessen. An der Wiener Musikakademie von einer Reihe bedeutender Lehrer – darunter Alfred Uhl, Otto Schulhof, Erwin Ratz und Josef Mertin – umfassend ausgebildet, entschied er sich nicht für die Musik als Brotberuf, sondern wurde Jurist und arbeitete im Bankenwesen. Auch war er lange Jahre als Sportfunktionär in der Wiener Leichtathletik tätig. Als Pianist gab er Konzerte in seiner österreichischen Heimat, außerdem in Deutschland, den Niederlanden, der Schweiz und Italien. 2001 erschien sein Buch Franz Schubert: Das Zeitmaß in seinem Klavierwerk in der Edition Text+Kritik als Band 114 der Reihe Musik-Konzepte.

Wer sich in St. Andrä-Wördern – einige Kilometer donauaufwärts von Wien – eingefunden hatte, konnte sich nicht nur davon überzeugen, wie tief Hofmann in Schuberts Liedschaffen eingedrungen ist, sondern auch, mit welchem Feingefühl er die Rolle des Begleiters ausfüllt. Günter Hauners kraftvolle, lyrische Baritonstimme stand durchweg im Zentrum des Geschehens. Nie hatte man das Gefühl, der Pianist nehme sich gegenüber seinem Sänger mehr als eine begleitende Funktion heraus. Hofmann versteht es, präsent zu bleiben, ohne zu forcieren. Er bildet immer „nur“ den Hintergrund für den Gesang, aber in diesem Hintergrund ist, ohne sich aufzudrängen, alles da, was zu hören sein muss. Wie schön bewahrheitet sich in dieser Wiedergabe Donald Toveys auf Schubert gemünztes Wort, dass ein guter Kontrapunktiker einer ist, der gute Bässe schreibt! Die Dialoge des Klaviers mit der Singstimme kommen ebenso trefflich zur Geltung wie die Dialoge innerhalb des Klaviersatzes. Auch wie Hofmann den Anschlag variiert, muß man loben. So gelingen ihm nicht nur starke Kontraste wie im Frühlingstraum oder zwischen den beiden vorletzten Liedern Mut (sehr hart) und Die Nebensonnen (sanft, aber völlig unsentimental), sondern auch Darstellungen seltsamer Mischzustände, wie sie der Dichter Wilhelm Müller durch die Gegenüberstellung flüssigen und gefrorenen Wassers andeutet. In Gefrorene Tränen und Auf dem Flusse meint man tatsächlich, inneren Erstarrungsprozessen zuzuhören. Die Musik klingt hier kantig, widerspenstig, und verliert doch nicht einen Rest von Leichtigkeit, der sie weiter fließen lässt.

Feinsinnig und mit echter Hingabe führen Haumer und Hofmann durch die Abgründe dieses düstersten Werkes der Liedliteratur. Nach Verklingen der letzten Töne des Leiermanns verriet ein Moment der Stille deutlich die Ergriffenheit der Zuhörer, bevor sie den Künstlern ihren verdienten Applaus zu Teil werden ließen.

Wenn Helmut Hofmann sich nun vom Konzertpodium zurückzieht, so wünscht man ihm umso mehr ein gutes Vorankommen bei seinen wissenschaftlichen Forschungen. Eine groß angelegte Studie über die Interpretation der Schubertschen Instrumentalmusik, Frucht 20-jähriger Arbeit, steht, wie man dem Programmheft des Liederabends entnimmt, kurz vor ihrer Vollendung.

[Norbert Florian Schuck, April 2024]

Ein Musizieren von edelster Art: Beth Levin spielt Mozart, Tiessen und Schubert in Wien

Am 22. März 2024 beendete Beth Levin mit einem Konzert im Bank Austria Salon des Alten Rathauses zu Wien ihre Mitteleuropa-Tournee, die sie am 12. des Monats nach Berlin und am 19. nach München geführt hatte (zum Berliner Konzert siehe den Bericht von Sara Blatt). Das Programm war in Wien dasselbe wie bei den Auftritten in Deutschland. Es begann mit Wolfgang Amadé Mozarts Sonate a-Moll KV 310 und endete mit Franz Schuberts Sonate G-Dur D 894. Ähnlich wie auf den Alben, die die Pianistin für Aldilà Records (Inward Voice, Hammerklavier live) und Navona Records (Personae, Bright Circle) eingespielt hat, kombinierte sie eine Repertoire-Erweiterung mit den beiden Klassikern. Allerdings handelte es sich dieses Mal – anders als bei den auf den genannten CDs zu hörenden Werken von Anders Eliasson und David Del Tredici – nicht um zeitgenössische Musik, sondern um ein lange verschollenes, erst vor kurzer Zeit wiederentdecktes Werk: Die Fünf Klavierstücke op. 21 von Heinz Tiessen entstanden 1915 und wurden im folgenden Jahr durch Tiessens Schüler Eduard Erdmann erstmals öffentlich gespielt. Was dann mit ihnen geschah, ist unklar. Wahrscheinlich verschwand das Manuskript durch unglückliche Umstände aus dem Gesichtskreis des Komponisten, sodass er annehmen musste, es sei verloren. Er vergab die Opuszahl 21 neu und wies sie dem Rondo G-Dur, der Orchesterfassung des Finales seines Amsel-Septetts op. 20, zu. Nur Die Amsel, das vierte Stück des ursprünglichen op. 21, tauchte noch einmal auf: 1923 erschien als Nr. 2 der Drei Klavierstücke op. 31 eine Neufassung, die sich so deutlich von der ursprünglichen Gestalt unterscheidet, dass man geneigt ist, eine Rekonstruktion aus dem Gedächtnis anzunehmen. Letztlich kamen die Klavierstücke op. 21 im Jahr 2019 wieder zum Vorschein. Der Sammler und Verleger Tobias Bröker hatte das Manuskript aus einem Nachlass erworben, es mit einem Notenschreibprogramm transkribiert und auf seiner Internet-Seite zum kostenlosen Herunterladen bereitgestellt.

Aufbauend auf der Harmonik des mittleren Richard Strauss und des frühen Arnold Schönberg fand Heinz Tiessen in den 1910er Jahren zu einem expressiven Kompositionsstil, der sich weitgehend abseits herkömmlicher Kadenzformeln bewegt, jedoch an der Tonalität als Zusammenhang stiftendem Grundgestaltungsmittel konsequent festhält. Die Klavierstücke op. 21 gehören zu den ersten Werken des Komponisten, in denen diese Ausdrucksweise zu voller Reife entwickelt erscheint. Hinter dem neutralen Titel verbirgt sich eine Satzfolge, deren einzelne Nummern durchaus als zusammengehörige Teile eines Ganzen erscheinen. Der erste Satz ist entsprechend als „Vorspiel“, der letzte als „Finale“ bezeichnet. Mit seinen wuchtigen Eingangs- und Schlussakkorden und den registerartigen Klangabstufungen wirkt das Vorspiel wie ein Orgelpräludium. Die an zweiter Stelle stehend Elegie und das ihr folgende Intermezzo sind bei langsamem Grundtempo von wellenartigen Bewegungen durchzogen. Die Harmonien flackern unruhig wie Mondlicht auf nächtlichem Meere. Anzunehmen, dass der gebürtige Königsberger Tiessen bei der Komposition dieser Stücke an die Ostsee dachte, erscheint nicht abwegig, da er in seiner kurz zuvor entstandenen Natur-Trilogie op. 18, einer dreisätzigen Tondichtung für Klavier, ganz ähnliche Stimmungen in Töne gefasst hat. Im vierten Stück, der bereits erwähnten Amsel, verarbeitet der Komponist originale Amselrufe zu einer schalkhaften, kapriziösen Musik, die sich deutlich von der Schwerblütigkeit der ersten drei Stücke abhebt. Das Finale ist der ausgedehnteste Satz des Werkes. Die Vortragsanweisung „Leidenschaftlich bewegt“ bedeutet nicht zwangsläufig „schnell“. Es ist kein agiles Finale nach Art klassischer Sonaten, sondern gleicht in seinem Duktus, wie auch im zweimaligen Wechsel emphatisch aufbrausender mit bedächtiger, ruhigerer Musik einer Rede in Tönen. Bekenntnishaft schließt sie im dreifachen Forte.

Eduard Erdmann hat einst das Klavier eine „unmögliche Maschine“ genannt, „zusammengesetzt aus Elfenbein, Holz, Filz, Draht und Stahl“, auf der „kein echtes Legato, kein Gesang“ möglich sei. Es gehört zu jenen Instrumenten, deren Klangerzeugung derjenigen der menschlichen Stimme am wenigsten verwandt ist. Mithin fordert es den Spieler durch seine Beschaffenheit dazu heraus, den Klang durch sein Spiel zu transzendieren, im wahrsten Sinne des Wortes „übersteigend“ zu musizieren. Die deklamatorische Melodik der Stücke Tiessens verlangt nach einen langem Atem, ihr orchestral anmutender Tonsatz nach einer feinen Abstufung der Tongebung. Um die Harmonik mit ihren alterierten Akkorden und abrupten Gegenüberstellungen entfernt verwandter Klänge adäquat darzustellen, braucht es einen wachen Sinn für tonale Beziehungen im Großen wie im Kleinen. Die Musik verlangt mithin nach Kantabilität, Farbigkeit und Spannung. Beth Levin ist definitiv die richtige Musikerin, den Stücken dazu zu verhelfen und ihnen neues Leben einzuhauchen.

Levins Spiel besitzt generell einen Zug ins Große, nicht nur hinsichtlich der tendenziell eher breiten Tempi, sondern auch im Bezug auf den Klangfarbenreichtum, den sie hervorzubringen in der Lage ist. Die „unmögliche Maschine“ verwandelt sich unter ihren Händen tatsächlich dergestalt, dass man von einem imaginären Orchester oder Chor sprechen möchte – und, mit Robert Schumann, von den Klavierstücken als „verschleierten Symphonien“. Es ist, als würde der mechanische Aspekt des Klavierspiels – das Ingangsetzen einer Hebel- und Hammerschlagapparatur durch das Drücken von Tasten – gänzlich aus dem Sinn geraten, als entstünde der Klang ganz direkt, wie aus einer menschlichen Kehle. Die Töne, die Beth Levin dem Klavier entlockt, haben die Präsenz scharf profilierter Charaktere, denen gegenüber man gar nicht anders kann als aufmerksam zu lauschen, gebannt von ihrer Persönlichkeit. So spielen heißt wahrlich auf dem Klavier singen!

Davon profitiert nicht nur das seit mehreren Generationen ungehörte Werk Tiessens. Auch Mozart und Schubert erklingen hier in einer Intensität, wie man sie selten zu hören bekommt. Mozarts a-Moll-Sonate entwickelt eine dämonische Energie sondergleichen, die alle Überlegungen, ob ein solches Spiel auch „historisch korrekt“ sei, gegenstandslos macht. Levin wirft die Frage, ob man sich in solch hemmende Gedanken begeben sollte oder nicht, gar nicht erst auf, sondern widmet sich hingebungsvoll der Darstellung der scharfen Kontraste, die das Stück durchziehen. Nicht weniger imponiert die tiefe Ruhe, aus der heraus sie Schuberts große G-Dur-Sonate sich entfalten lässt, um dann in der Durchführung des ersten Satzes ein zerklüftetes Hochgebirge aus Klängen zu errichten. Die abgründigen, tieftraurigen Seiten dieser Musik, verdeutlicht in abrupten Wechseln der harmonischen Richtung oder des Tongeschlechts, bringt sie trefflich zur Geltung, aber auch Schuberts musikantisches Element kommt nicht zu kurz. Im Finale der Sonate hört man gelegentlich die Gitarre durch, andere Abschnitte dieses Satzes klingen durch fein gegeneinander abgesetzte Außen- und Mittelstimmen wie Kammermusik.

Levins Tempi mögen verhältnismäßig langsam sein, aber es handelt sich nicht um Langsamkeit um der Langsamkeit willen, sondern um kluge Disposition: Die Pianistin will nach Möglichkeit alle klingenden Phänomene zur Geltung bringen und lässt sich folglich etwas mehr Zeit. Man merkt: Jeder einzelne Moment im Verlauf einer Komposition ist ihr wichtig, nichts soll unterbelichtet bleiben, alles genau so dargestellt werden, wie es seiner Funktion im Zusammenhang des Ganzen entspricht. Die Versenkung in die Feinheiten der Musik führt mitunter zu deutlich spürbaren Temposchwankungen. Aber auch diese wirken nicht willkürlich, sondern entstehen durch intensives Erleben der Harmonik während des Spiels. Levin musiziert mit einem Wagemut, der an Wilhelm Furtwängler erinnert – auch er ein Musiker, der sich vom Moment mitreißen lassen konnte und doch stets die Übersicht behielt. Wie im Falle des großen Dirigenten haben Beth Levins Beschleunigungen und Verlangsamungen immer ihre Grundlage in der musikalischen Struktur. Stets weiß die Pianistin, wohin sie will, welche Richtung die Musik nimmt. Alles folgt aufeinander in bezwingender Logik. Darum sind ihre breiten Tempi auch viel spannungsvoller als die rascheren mancher ihrer Kollegen. Zu ihrer Dynamik ist noch hinzuzufügen, dass sie laute Stellen wirklich liebt, denn diese klingen bei ihr nie grobschlächtig lärmend. Im Gegenteil wendet sie auf dieselben die gleiche Sorgfalt an wie auf die leisen, vernachlässigt auch bei höchster physischer Kraftentfaltung die Phrasierung nicht und lässt es selbst im härtesten Marcato nicht am Sinn für vokale Linearität fehlen. Gerade an solchen Stellen wird deutlich, dass wir es mit einem Musizieren von edelster Art zu tun haben.

Angesichts dieses Konzerts kann man nur hoffen, diese außergewöhnliche US-amerikanische Pianistin, eine der ganz großen Musikerinnen unserer Zeit, bald wieder einmal im deutschsprachigen Raum willkommen heißen zu können.

[Norbert Florian Schuck, März 2024]

Anmerkung (1. April 2024): Im Falle der Klavierstücke Tiessens spricht nichts dafür, dass der Komponist – wie der Herausgeber Tobias Bröker für möglich hält – das Opus zurückgezogen hätte. Tiessen hat selbst den unveröffentlichten Werken aus seiner Jugendzeit ihre Opuszahl belassen. Man kann also davon ausgehen, dass die Neubesetzung der Opuszahl 21 nicht aus freien Stücken, sondern aus einer Not heraus erfolgte: Nämlich, dass die Klavierstücke op. 21 für Tiessen unauffindbar waren und er nicht mehr damit rechnete, die im Werkverzeichnis klaffende Lücke durch den Fund des Manuskripts zu schließen. (N.F. Schuck)

„Der fromme Revolutionär“ in Wien – eine Ausstellung zum 200. Geburtstag Anton Bruckners

Österreichische Nationalbibliothek, Wien, Josephsplatz. Über dem Eingang in der Mitte ist das Transparent zur Ausstellung „Der fromme Revolutionär“ zu erkennen.

Am 20. März 2024 eröffnete die Österreichische Nationalbibliothek in Wien ihre Ausstellung Der fromme Revolutionär über Leben und Werk Anton Bruckners.

„Ich vermache die Originalmauscripte meiner nachbezeichneten Compositionen: der Symphonien, bisher acht an der Zahl – die 9te wird, so Gott will, bald vollendet werden, – der 3 großen Messen, des Quintettes, des Tedeum’s, des 150. Psalm’s und des Chorwerkes Helgoland – der kais. und kön. Hofbibliothek in Wien und ersuche die k. u. k. Direction der genannten Stelle, für die Aufbewahrung dieser Manuscripte gütigst Sorge zu tragen.“

Mit diesen Worten hatte Anton Bruckner in seinem Testament noch selbst den Grundstock zu einer Sammlung gelegt, die heute weltweit den größten Bestand an Dokumenten zu Leben und Schaffen des Komponisten darstellt und somit für die Bruckner-Forschung unerlässlich ist. Ursprünglich nur als Aufbewahrungsort der Autographen seiner Hauptwerke vorgesehen, vergrößerte die Österreichische Nationalbibliothek während der über zwölf Jahrzehnte nach Bruckners Tod ihre Sammlung um viele weitere Bruckneriana. Im Laufe der Zeit fanden so neben weiteren Kompositionshandschriften auch Briefe, Aufzeichnungen und andere persönliche Papiere Bruckners, Photographien, Konzertprogramme und künstlerische Rezeptionsdokumente (wie die bekannten Karikaturen Otto Böhlers) den Weg in die Nationalbibliothek.

Anlässlich der 200. Wiederkehr von Bruckners Geburtstag im Jahr 2024 kann seit dem 21. März noch bis zum 25. Januar 2025 im Prunksaal des Bibliotheksgebäudes am Josephsplatz die von Thomas Leibnitz, Präsident der Internationalen Bruckner-Gesellschaft, und Andrea Harrandt, Herausgeberin der Briefe Bruckners, kuratierte Ausstellung Der fromme Revolutionär besichtigt werden, die einen repräsentativen Überblick über die Bruckner-Sammlung der Nationalbibliothek verschafft, aber auch Gegenstände aus anderen Wiener Sammlungen sowie aus Privatbesitz zeigt. Erstmals finden sich dabei sämtliche Manuskripte der Symphonien Bruckners gemeinsam der Öffentlichkeit präsentiert. Die Partituren sind an charakteristischen Stellen aufgeschlagen, an denen Bruckners Arbeitsprozess deutlich wird. So zeigen Aufzeichnungen am Rande einer Seite aus der Achten Symphonie, wie der Komponist sich selbst Rechenschaft über jede einzelne Stimmführung eines bestimmten Taktes ablegt. Man sieht die Spuren des Abrasierens verworfener Noten und die Überklebungen von Stellen, an denen keine weiteren Rasuren möglich waren. Das Adagio der Siebten Symphonie ist an jener berühmten Stelle aufgeschlagen, an welcher Bruckner auf Anraten Arthur Nikischs und der Brüder Schalk Stimmen für Becken, Triangel und Pauken einklebte, um den Höhepunkt des Satzes zu markieren. Die mit Bleistift nachträglich auf dem Papierstreifen angebrachte Notiz „gilt nicht“ hat die Philologen bis heute nicht losgelassen. Ihr Urheber konnte nie bestimmt werden. Ja, es sieht sogar danach aus, dass die beiden Wörter von zwei unterschiedlichen Schreibern stammen. Eine für Bruckners Entwicklung zum unabhängigen Künstler besonders wichtige Notenhandschrift wird in dieser Ausstellung zum ersten Mal überhaupt öffentlich gezeigt: das sogenannte Kitzler-Studienbuch, das den Unterricht in freier Komposition dokumentiert, den Bruckner von dem Linzer Theaterkapellmeister Otto Kitzler zwischen 1861 und 1863 erhielt. Es enthält u. a. die vollständige Partitur des Streichquartetts in c-Moll. Bei der Auflösung von Bruckners Wohnung in die Hände Joseph Schalks gelangt, befand es sich lange Zeit im Besitz von dessen Nachkommen und wurde 2013 von der Nationalbibliothek erworben.

Aber nicht nur die Partituren Bruckners sind sehenswert. Auch an interessanten Zeugnissen seines Lebens fehlt es nicht. So finden wir etwa seinen Taufschein, sein Ehrendoktordiplom und die Verleihungsurkunde des Franz-Joseph-Ordens, einen Taschenkalender mit Bruckners täglichen Gebetsnotizen, Bruckners Reisepass, ausgestellt anlässlich seiner Urlaubsreise in die Schweiz („Besondere Kennzeichen: an der linken Seite des Halses eine Narbe“), Blätter, die Bruckner am Grabe Richard Wagners in Bayreuth aufgelesen hat, ein Passphoto von 1880, das der Komponist anscheinend besonders schätzte, da er es nachweislich zahlreichen Briefen an von ihm verehrte junge Frauen beilegte, und einen Brief Bruckners an Hans von Wolzogen aus dem Jahre 1885, durch welchen die Forschung definitiv belegen konnte, dass die Uraufführung der Siebten Symphonie in Leipzig ein großer Erfolg gewesen ist.

Was die Hörbeispiele anbetrifft, haben die Veranstalter der Ausstellung eine vorzügliche Wahl getroffen und zu Rémy Ballots bei Gramola erschienenem Symphonien-Zyklus gegriffen, der im letzten Jahr durch die Aufnahme der annullierten d-Moll-Symphonie (fälschlich „Nullte“ genannt) im Rahmen der St. Florianer Bruckner-Tage (zur Rezension siehe hier) abgeschlossen wurde.

Thomas Leibnitz merkte anlässlich der Eröffnung an, dass das Motto der Ausstellung die Gegensätze in Bruckners Wesen betont: Bruckner sei beides, sowohl ein frommer Mann, als auch ein Revolutionär gewesen. War er von den Zeitgenossen vor allem als radikal moderner Künstler wahrgenommen worden, so habe das Bruckner-Bild in der Zeit seit seinem Tode sich mehrfach gewandelt, wobei der Fromme und der Revolutionär als Pole erkennbar blieben. Im frühen 20. Jahrhundert wurde Bruckner zu einer Gallionsfigur konservativer politischer Kräfte, in der Zeit des Nationalsozialismus als deutsches Originalgenie gepriesen, das frühe Nachkriegsösterreich sah in ihm vor allem einen katholischen Künstler, wohingegen in den 1970er Jahren die neurotischen Züge seiner Persönlichkeit betont wurden. Die Ausstellung Der fromme Revolutionär strebe nicht danach, so Leibnitz, die Reihe dieser Bruckner-Bilder um ein weiteres zu erweitern, sondern Bruckner in der Vielseitigkeit und Widersprüchlichkeit seiner Person auf Grundlage des heutigen Forschungsstandes vorzustellen.

Nach Mitteilung von Johanna Rachinger, Generaldirektorin der Nationalbibliothek, und Andrea Harrandt werden gemäß geltenden Regeln die Manuskripte nach der Ausstellungseröffnung noch drei Monate lang im Original zu sehen sei. Bei mehrbändigen Werken (wie den meisten Symphonie-Handschriften) werden die Bände ausgewechselt, ansonsten wird man sich mit Faksimiles behelfen.

Die feierliche Eröffnungsveranstaltung am Abend des 20. März 2024 bot den anwesenden Gästen Großartiges in Ton und Wort. Clemens Hellsberg, Primgeiger im Orchester der Wiener Staatsoper und ehemaliger Vorstand der Wiener Philharmoniker, hielt einen Vortrag, in welchem er, angelehnt an Klaus Heinrich Kohrs‘ Buch Anton Bruckner. Angst vor der Unermesslichkeit, den Komponisten als einen krisenhaften Künstler schilderte, hin- und hergerissen zwischen seinem beständigen Drang zur grenzüberschreitenden Ausformulierung des Unermesslichen in Tönen und dem immer stärker hervortretenden Gedanken an den Tod – Grundgegensätze seines Denkens, die in der Neunten Symphonie in schärfster Konfrontation aufeinandertreffen und, da das Werk unvollendet blieb, letztlich zu keiner Lösung finden. Hellsberg nutzte im Laufe seiner Rede die Gelegenheit, mit diversen Legenden über Bruckner aufzuräumen. So wies er ausdrücklich Hans von Bülows Bezeichnung Bruckners als „halb ein Gott, halb ein Trottel“, die im Original „Halbgenie + Halbtrottel“ lautet, zurück, indem er Bruckners vorzügliche Leistungen in seinem Bildungsgang als Lehrer betonte. Aber auch einer Verklärung der weniger sympathischen Eigenschaften Bruckners trat er entgegen, war der Komponist doch, wie seine Briefe zeigen, mitunter durchaus zu störrischem Verhalten und ungerechten Äußerungen fähig (etwa gegen das Stift St. Florian und die Stadt Linz). Als besonders wichtig darf die Aufklärung über ein häufig angeführtes, Bruckner aber fälschlicherweise zugeschriebenes Zitat bezeichnet werden: „Weil die gegenwärtige Weltlage geistig gesehen Schwäche ist, flüchte ich zur Stärke und schreibe kraftvolle Musik“, soll Bruckner einmal gesagt haben. Tatsächlich handelt es sich um eine Äußerung Adalbert Stifters, die dieser am 17. Dezember 1860 in einem Brief an Gustav Heckenast niederschrieb und die eigentlich lautet: „Weil die gegenwärtige Weltlage Schwäche ist, flüchte ich zur Stärke und dichte starke Menschen und dies stärkt mich selber.“ Ein Schriftsteller hat dieses Zitat später auf Bruckner umgedichtet, unachtsame Autoren griffen es auf und gaben es als originalen Bruckner wieder.

Bruckner kam an diesem Abend selbst zu Wort in Form des langsamen Satzes aus dem Streichquartett c-Moll und des Scherzos aus dem Streichquintett F-Dur, gespielt vom Ballot-Quintett (Rémy Ballot und Iris Ballot, Violinen, Stefanie Kropfreiter und Nataliia Kuleba, Bratschen, und Marta Sudraba-Gürtler, Violoncello). Hinsichtlich der Feinabstufungen in Dynamik und Tempo, der Interaktion der einzelnen Stimmen miteinander, der Phrasierung und der schlüssigen Darstellung des musikalischen Verlaufs leistete das Ensemble, welches beide Werke bereits in veritablen Referenzeinspielungen vorgelegt hat, Hervorragendes und trug dadurch wesentlich zum Gelingen des Abends bei.

[Norbert Florian Schuck, März 2024]

Zum 75. Geburtstag: Kalevi Ahos Symphonie Nr. 18 uraufgeführt

Am 9. März 2024 vollendete Kalevi Aho sein 75. Lebensjahr. Wie könnte man das Jubiläum eines großen Symphonikers besser begehen als mit der Uraufführung seiner neuesten Symphonie? Als Aho vor genau einem Jahr anlässlich eines Konzerts zu Ehren seines 74. Geburtstags in Wien weilte, hatte er gerade den Kopfsatz seiner Symphonie Nr. 18 vollendet. Die Komposition war von der Saimaa Sinfonietta in Auftrag gegeben worden und wurde im finnischen Mikkeli am 8. Februar 2024 durch dieses Orchester unter der Leitung von Erkki Lasonpalo uraufgeführt. Das Konzert, in welchem Ahos Symphonie auf Beethovens Drittes Klavierkonzert (Solist: Olli Mustonen) folgte, wurde am Geburtstag des Komponisten von yle Radio 1 gesendet.

Ahos Achtzehnte Symphonie ist eine viersätzige Komposition von knapp 40 Minuten Spieldauer. Wie angesichts ihrer Vorgängerwerke nicht anders zu erwarten, spricht auch hier aus jedem Takt der virtuose Beherrscher des großen Orchesters. Feinheiten wie die aufhellende Beimischung eines Harfentons in den Oboenseufzer, der den ersten Satz abschließt, zeugen von Ahos Fertigkeit in der Modellierung von Klangfarben. Er ist ein Komponist, der nicht einfach nur instrumentiert, sondern wirklich orchestral denkt. Kontraste zwischen verschiedenen Orchestergruppen, aber auch zwischen hohen und tiefen Registern, prägen das Werk entscheidend. Der Verlauf, den die Musik nimmt, hängt eng mit der klanglichen Gestaltung zusammen.

Der mäßig bewegte erste und der langsame zweite Satz unterscheiden sich zwar charakterlich deutlich voneinander, entwickeln sich jedoch auf sehr ähnliche Weise. Zu Beginn werden jeweils scharfe Kontraste in den Raum gestellt, aus denen dann ein Dialog entsteht. Der Anfang des Kopfsatzes wird durchweg von martialischen Schlagzeugrhythmen grundiert, über denen Blechbläserakkorde und wellenartige Violinfiguren zu hören sind. Daraufhin erklingen die verhaltenen Rufe einzelner Holzbläser über Streichertremoli. Im zweiten Satz entsteht der Dialog weniger aus der schroffen Gegenüberstellung der Orchestergruppen als aus Registerwechseln: Die Musik beginnt in schimmernder Helligkeit ganz hoher Bläser und Violinen, denen tiefere Instrumente antworten. In beiden Sätzen entwickelt sich aus den Dialogen eine große Steigerung, die das ganze Orchester erfasst. Der zweite Satz verwandelt sich in eine Art Prozession, eingetaktet durch allmählich rascher werdende Paukenschläge. Nach dem Höhepunkt löst sich die Musik in Fragmente auf. Der Kopfsatz endet mit einem Seufzer, der langsame Satz fragend mit einem tiefen Streicherchoral.

Der dritte Satz lässt sich unschwer als das Scherzo dieser Symphonie erkennen. Die Gestaltungsweise der beiden ersten Sätze stellt Aho hier gewissermaßen auf den Kopf: Statt der Dialoge, die sich zu einem komplexeren Geschehen ausweiten, begegnet hier anfangs ein Durcheinander, in dem die verschiedenen Sektionen des Orchesters gleichzeitig das Wort ergreifen. Alle beharren auf ihrem Reden, ohne den übrigen Gehör zu schenken. Es entsteht eine fluktuierende Klangfläche aus rhythmisch verschiedenen Schichten, aus welcher teils die eine, teils die andere Gruppe heraussticht. Im Verlauf des Satzes klärt sich das Gewirr immer mehr auf, doch kehrt der Schlussteil zur Stimmung des Anfangs zurück.

Die Symphonie schließt mit einem lebhaften Finale, das wieder einen Verlauf analog dem ersten und zweiten Satz nimmt. Dem von knappen, vorübereilenden Motiven und grellen Effekten geprägten Anfang steht eine breite Melodie des Fagotts gegenüber, die sich über wogender Holzbläser- und Streicherbegleitung entfaltet. Sie wird später vom Blech aufgenommen und zum Höhepunkt geführt. Nach wuchtigem Schlagwerkeinsatz löst sich auch dieser Satz in seine Einzelteile auf. Ein dissonanter Tutti-Akkord verklingt im Decrescendo und ein Flötentriller mit Triangelschlag markiert das Ende.

Das Werk ist keine schwere, keine tragische Musik. Bei allem Ernst in der Grundhaltung hat sich Kalevi Aho eine spielerische Leichtigkeit bewahrt, die als Freude an brillanten Effekten auch in der Achtzehnten Symphonie durchaus spürbar ist. Im Großen und Ganzen wirkt das Stück sehr einheitlich, wie aus einem Guss. Keiner der Sätze fällt gegenüber den anderen ab. Nirgendwo zieht sich das Geschehen unangenehm in die Länge. Aho zeigt sich ein weiteres Mal als mit sicherer Hand gestaltender Symphoniker, der es meisterlich versteht, Spannung aufzubauen und große Formen zu schaffen. Man kann ihm nur wünschen, dass ihm die Kraft, über die er heute als 75-Jähriger verfügt, noch lange erhalten bleibt. Möge sie sich noch in vielen weiteren Meisterwerken manifestieren!

[Norbert Florian Schuck, März 2024]

Bei Brehm mit Bach nach Bosnien – Goran Stevanovich in Renthendorf

Im Rahmen der 20. Thüringer Bachwochen unternahm der aus Bosnien-Herzegowina stammende Akkordeonist Goran Stevanovich in diesen Tagen eine Konzerttournee besonderer Art durch Thüringen: Kirchen und Konzerthäuser sind als Spielstätten ausgeschlossen, weswegen die Musik mitunter an Orten erklingt, an denen man nicht unbedingt ein Konzert vermuten würde. Definitiv ein solcher ist der neue Anbau von BREHMS WELT – TIERE UND MENSCHEN, dem interaktiven Museum zu Ehren der Naturforscherfamilie Brehm im ostthüringischen Renthendorf, denn er befindet sich noch im Rohbauzustand. So nahm das zahlreich erschienene Publikum in einem Raum Platz, dessen gläserne Wände erst in ein paar Wochen eingesetzt werden. Die Raumtemperatur entsprach der Außentemperatur von etwa 10° Celsius und man hörte Vogelstimmen von den umstehenden Bäumen herab klingen – durchaus passend zu dem Ort, an dem der „Vogelpastor“ Christian Ludwig Brehm fünf Jahrzehnte lang lebte und forschte.

Stevanovichs Programm bestand ausschließlich aus Transkriptionen und entpuppte sich als musikalische Welt- und Zeitreise, die vom barocken Mitteldeutschland aus in die moderne Welt westlicher Großstädte und schließlich zur urwüchsigen Volkskultur des Balkans führte. Es begann mit der Air aus Johann Sebastian Bachs Orchestersuite BWV 1068 und führte dann mit zwei Konzertetüden von Philip Glass und Astor Piazzollas Libertango nach Nord- und Südamerika. Mit der Sarabande aus Bachs Französischer Suite c-Moll ging es nach Paris, zu Erik Saties Gymnopedie Nr. 1, die Stevanovich unmittelbar in Yann Tiersens Walzer aus der Musik zur Fabelhaften Welt der Amélie übergehen ließ. Der letzte Teil des Konzerts war Stevanovichs Heimat gewidmet. Der Akkordeonist ließ zunächst zwei Stücke aus dem Bereich der Sevdalinka erklingen, einer spezifisch bosnischen Volksmusikgattung, die Stevanovich in seiner Einführung als „bosnischen Fado“ charakterisierte: Musik zur Austreibung der Melancholie mittels leidenschaftlich gesteigerter Melancholie. Ein feuriger Ritualtanz im raschen 11/8-Takt schloss sich an. Mit der Zugabe, dem Andante aus der Solo-Violinsonate BWV 1003, schloss sich der Kreis zum Anfang.

Ein betont vielfältiges Programm, das so recht geeignet war, zu zeigen, welcher Reichtum an Klangfarben und Charakterschattierungen dem Akkordeon entlockt werden kann. Unter Stevanovichs Händen holt das Instrument Luft: nicht wie ein Blasebalg – oder „Heimatluftkompressor“, wie der Interpret zu Beginn witzelte –, sondern wie ein Sänger, der die Kunst des Einatmens vollendet beherrscht. Getragen von einem langen Atem, der nie stockt, gestaltet er das Tempo ist frei, ohne dass indessen das Gefühl eines grundierenden Pulses verloren ginge. Stevanovich kennt die Musik bis in die kleinsten Phrasen genau und kostet sie mit feinen Verzögerungen und Beschleunigungen genüsslich aus. Seine Darbietungen entfalten sich wie spontaner Gesang. Mir scheint, dass er sich besonders in den leisen Tönen wohlfühlt. Jedenfalls kamen Momente besonderer Spannung immer dann auf, wenn er sich ins Pianissimo zurückzog, namentlich in den äußerst leise vorgetragenen Mittelabschnitten des Libertango und des Amélie-Walzers. In den Sevda-Stücken zeigte der Akkordeonist, dass er nicht nur die Register seines Instruments wirkungsvoll einsetzen, sondern den Klangfarben durch Klopfen auf bestimmte Stellen des Korpus eine zusätzliche Schlagwerksektion hinzuzugewinnen in der Lage ist.

Dankbar für das schöne Konzert nimmt man Abschied von Brehms Welt und wünscht dem Museum, das sich den Anfängen der modernen Verhaltensforschung und des heutigen Umwelt- und Artenschutzes widmet, für sein Bauprojekt gutes Gelingen.

[Norbert Florian Schuck, März 2024]

Symphonische Urlandschaften: Die abenteuerlichen Reisen des Anders Eliasson

BIS, BIS-2368; EAN: 7 318599 923680

BIS hat ein Album mit drei symphonischen Werken Anders Eliassons herausgebracht. Zu hören sind die Symphonie Nr. 3 für Sopransaxophon und Orchester, gespielt von Anders Paulsson, Sopransaxophon, und den Göteborger Symphonikern unter Leitung von Johannes Gustavsson, sowie das Posaunenkonzert und die Symphonie Nr. 4, gespielt vom Königlichen Philharmonischen Orchester Stockholm unter Sakari Oramo. Solist im Posaunenkonzert ist Christian Lindberg, die Flügelhornsoli in der Vierten Symphonie spielt Joakim Agnas.

Anders Eliassons Musik ist ein Abenteuer. Irgendwo entspringt ein Quell – sei es dezent oder mit einem Knall, blitzschnell hervorzischend oder sanft plätschernd: Die Musik, als wäre sie bereits vor Erklingen des ersten Tons in Bewegung gewesen, fließt und fließt und bahnt sich ihren Weg. Mächtig anwachsend, dann wieder entschleunigend, bald dunkle, tiefe Seen, bald schäumende Katarakte bildend, drängt sie voran, unaufhaltsam wie das neptunische Element. Es ist, als hörte man Urstromtäler in Tönen sich formen – und so oft man den Werken Eliassons auch lauschen mag: Man wird doch jedes Mal von neuem der erste Mensch, der diese ewig unberührte Landschaft betreten darf.

Den Theoretikern hat dieser große Mann freilich härteste Nüsse zu knacken gegeben. Diese Musik ist ohne Frage tonal. Eliasson hat nie einer jener Theorien angehangen, denen zufolge sich angeblich Atonalität erzeugen und die vielbeschworenen (aber kaum je ordentlich definierten) „Grenzen der Tonalität“ überwinden ließen. Als Student studierte er fleißig alles, was es um 1970 an aktuellen Modernismen zu studieren gab – „Rhythmus, Melodien und gewisse Intervalle waren tabu“ –, aber heimlich ging er dabei dem nach, „was ich immer schon in mir gehört hatte“. Hört man Eliassons Musik, merkt man sofort, dass sie ebenso von harmonischen Spannungen bestimmt wird wie die Werke der Klassiker abendländischer Tonalität. Aber man gehe nur als Theoretiker heran und versuche Dominanten, Subdominanten etc. auszumachen! Wie würde man Bachs oder Mozarts Musik beschreiben, hätte man die ganzen Funktionsbegriffe nicht? Aber war es denn Bach oder Mozart so wichtig zu wissen, wie Riemann und andere Professoren ihre Stilmittel bezeichneten? Der Analytiker, der sich Eliasson mit dem üblichen Vokabular nähert, findet sich früher oder später ganz zurück an den Anfang versetzt – je nachdem wie lange er braucht, um zu merken, dass er einen am Ziel sicher vorbeiführenden Weg eingeschlagen hat. Aber ermahnt ein solcher Rückschlag nicht dazu, nun wirklich anzufangen?

Die musikalische Urlandschaft, die Anders Eliasson als erster betrat, zeigte sich mit jedem neuen Werk, das er schrieb, größer und reicher als zuvor vermutet. Er selbst war zu sehr mit ihrer Erkundung beschäftigt, als dass er in die Versuchung hätte geraten können, die Grundlagen seines Komponierens in ein theoretisch festgefügtes System zu überführen. Allenfalls sprach er von einem „System, das kein System ist“ und beschrieb sein musikalisches Material als „Alphabet“. Musik sei, so sagte er weiterhin, „wie H2O: Melos, Harmonik und Rhythmus sind eine Einheit. Und sie muss fließen.“ Versuche, absichtlich originell zu sein (wobei er „originell“ in Anführungszeichen setzte), waren ihm ein Ding der Unmöglichkeit, denn: „Man kann sich nicht von mehr als 1000 Jahren Tradition lösen, ohne unverständlich zu werden.“ Seine eigene Musik nannte er zwar „etwas völlig Neues“, doch bestand dieses Neue darin, „dass man das (tonale) Universum von einer neuen Position sieht“. Diese neue Perspektive verdeutlichte er einmal in einer Zeichnung, die in vereinfachter Form auch seinen Grabstein ziert: Eliasson ordnet darin die Töne des Quintenzirkels als eine Folge ineinander verschlungener Dreiecke an, wobei die einander entsprechenden Seiten der Dreiecke die drei möglichen Tonvorräte des verminderten Septakkords ergeben. Er überblickte die quintengestützte Ordnung also von einem Standpunkt aus, welcher deren Möglichkeiten zum Uneindeutigen deutlich hervortreten lässt. Nicht die Eindeutigkeit der Tonika-Dominant-Spannung, die ja selbst Schönbergs zwölftönige Werke gegen den Willen ihres Schöpfers beherrscht, interessierte Eliasson, sondern eine tonale Ordnung, die beständig mehrere Möglichkeiten der harmonischen Fokussierung anbietet. Die „triangulatorische“ Harmonik lässt die Musik auf eine Art und Weise flüssig erscheinen, wie dies zuvor bei keinem anderen Komponisten vorgekommen ist.

Eliassons Dreiecksskizze wurde als Titelbild zu einer CD-Veröffentlichung von BIS ausgewählt, die einen optimalen Einstieg in die Klangwelt des 1947 geborenen schwedischen Meisters bietet. Sie enthält ausschließlich Ersteinspielungen: Die Vierte Symphonie (2005) wurde vom Königlichen Philharmonischen Orchester Stockholm (Royal Stockholm Philharmonic Orchestra) unter der Leitung von Sakari Oramo aufgenommen, ebenso das Posaunenkonzert (2000), in dem Christian Lindberg, der das Werk seinerzeit uraufgeführt hat, als Solist zu hören ist. Die 1989 entstandene Dritte Symphonie erscheint bereits zum zweiten Mal auf CD, nun aber erstmals in ihrer überarbeiteten Fassung von 2010. Das Werk ist als konzertante Symphonie mit solistischem Saxophon angelegt und war ursprünglich für den Altsaxophonisten John-Edward Kelly geschrieben, auf dessen ausdrücklichen Wunsch hin der Komponist die Solostimme in Höhen führte, die außer Kelly selbst kaum ein anderer Spieler bewältigen konnte. Um Aufführungen des Werkes zu erleichtern, erstellte Eliasson schließlich 20 Jahre nach der Uraufführung eine Fassung für Sopransaxophon, deren erste Aufnahme hier durch den Solisten Anders Paulsson und die Göteborger Symphoniker unter Johannes Gustavsson vorgelegt wurde. Somit sind nun sämtliche vollendete Symphonien Eliassons für großes Orchester auf CD greifbar. Die Erste Symphonie (1986) wurde von Gennadij Roshdestwenskij und dem Symphonieorchester des Kulturministeriums der UdSSR aufgenommen (Caprice). Die Dritte in der Fassung für Altsaxophon liegt mit John-Edward Kelly und dem Finnischen Rundfunksymphonieorchester unter Leif Segerstam vor (NEOS). Seine Symphonie Nr. 2 hat Eliasson nie vollendet. Es existiert nur eine Anzahl von Skizzen, anhand derer sich kein geschlossener Werkverlauf erkennen lässt.

Die Dritte Symphonie besteht aus fünf Abschnitten, die nahtlos ineinander übergehen und gemeinsames Material verarbeiten. Sie sind mit Cerca (Suche), Solitudine (Einsamkeit), Fremiti (Schaudern), Lugubre (traurig) und Nebbie (Nebel) überschrieben. Zweimal lässt Eliasson einen raschen Satz in einen langsamen münden, wobei der Kontrast zwischen Teil 3 und Teil 4 denjenigen zwischen den ersten beiden deutlich übertrifft. Am Ende des dritten Abschnitts wird ein frenetischer Höhepunkt erreicht, auf den die düstere Musik des Lugubre antwortet. Der letzte Teil des Werkes ist kein umfangreicher Satz mehr, sondern eine kurze Coda, in der die Kontraste aufgehoben werden. Wenn der Nebel aufsteigt, beschleunigt sich die Musik wieder, ohne schnell zu werden. Helle Klangfarben scheinen auf, ohne zu strahlen. Kein Triumph, keine Tragödie, vielleicht das unvermutete Ergebnis der anfänglichen Suche, auf jeden Fall ein Ausatmen in frischer Luft. Das Saxophon ist eindeutig das führende Instrument. Es ist durchweg präsent, gibt meist die Richtung vor und hat Aufgaben zu bewältigen, die einen virtuosen Spieler verlangen. In John-Edward Kellys Worten hat Eliasson das Werk dennoch „Symphonie“ genannt, da „der ästhetische Schwerpunkt tiefer liegt als in einem Konzert“. Durch die Einspielung Paulssons kann man nun beide Fassungen der Symphonie vergleichend hören. Auf dem Sopransaxophon gespielt, wirkt sie deutlich leichtfüßiger, spielerischer als in Kellys Aufnahme mit Altsaxophon. Kelly hat den Komponisten ja explizit um höchste Anforderungen gebeten, er wollte mit der Materie kämpfen. Das ist ihm bravourös in seiner Einspielung gelungen. Einen vergleichbaren Existenzialismus strahlt Paulssons Aufnahme nicht aus. Das Werk zeigt sich hier allerdings von einer abgeklärten Seite, wie sie eine Aufführung der Altsaxophonversion kaum hervorbringen dürfte. Letzten Endes ist das Werk eine der größten Kompositionen für Saxophon und Orchester, die je geschrieben wurden, und sowohl Alt-, als auch Sopransaxophonisten erhalten höchst lohnende Aufgaben. Freilich wird die Fassung für Sopransaxophon wohl in Zukunft wesentlich häufiger gespielt werden als diejenige für Altsaxophon, da die Schwierigkeiten für letzteres Instrument wesentlich größer sind.

Das einsätzige Posaunenkonzert ist weniger virtuos als die Saxophon-Symphonie und betont nicht nur in der Einleitung und im Schlussteil, die beide in langsamem Tempo gehalten sind, die kantable Seite des Instruments. Im lebhaften Hauptteil, der in mehreren Steigerungswellen verläuft, fehlt es aber auch nicht an Machtworten in der Solostimme, namentlich wenn der Satz gegen Ende auf einen gewaltigen Höhepunkt zusteuert. Die Posaune steht nicht eigentlich im Gegensatz zum Orchester, eher scheint sie als ein Anführer die übrigen Instrumente aus dem Inneren des Orchesterverbandes heraus anzuspornen. Am deutlichsten tritt sie aus der Gruppe heraus, wenn sie zum Abschluss des Ganzen einen breit ausschwingenden Gesang anstimmt. Dass Eliasson mit diesem Stück auch den Posaunisten ein Werk höchsten Ranges geschenkt hat, braucht eigentlich nicht betont zu werden.

Wie die beiden anderen Werke auf der CD ist auch die Vierte Symphonie ein ununterbrochenes Kontinuum, das sich in mehrere Abschnitte in unterschiedlichen Tempi gliedert. Hier wechseln zweimal schnelle und langsame Musik einander ab, wobei der Schlussteil einen knappen Epilog darstellt, der das Werk mit der Musik des langsamen zweiten Teils beschließt. Das eigentliche Finale ist damit der dritte Teil, zugleich der lebhafteste der Symphonie. Lässt Eliasson die Musik in der Dritten Symphonie zu Beginn hervorsprudeln und im Posaunenkonzert mit dezenten Wellenschlägen einschwingen, eröffnet er die Vierte mit lauten Orchesterschlägen. Das Hauptmotiv besteht nur aus zwei Tönen, aber wie prägnant ist es formuliert und wie abwechslungsreich verwandelt! Tatsächlich erleben wir in diesem Werk, wie ein Motiv von alleräußerster Knappheit zur Grundlage eines höchst belebten Geschehens wird. Auch in der Vierten Symphonie spielt ein Soloinstrument, allerdings nicht durchgängig: Im langsamen zweiten Teil führt über weite Strecken ein Flügelhorn die Melodie (in der Aufnahme gespielt von Joakim Agnas), auch behält es in der Coda der Symphonie mit einem sanften Anschwellen, ohne laut zu werden, das letzte Wort. Virtuose Passagen, wie sie in der Dritten Symphonie und in geringerem Maße im Posaunenkonzert vorkommen, fehlen allerdings völlig. Die Vierte präsentiert sich als ein überwiegend lichtes, helles Werk. Mit ihrer markanten Thematik und der zarten Lyrik der Flügelhorngesänge kann sie als eine der unmittelbar ansprechendsten Kompositionen Eliassons bezeichnet werden.

Man kann nur wünschen, dass diese wunderbare CD, auf der hervorragende Dirigenten, Orchester und Solisten ihr Bestes geben, der Musik des 2013 vorzeitig gestorbenen Komponisten (der sich zum Zeitpunkt seines Todes mit Plänen zu einer Fünften Symphonie trug) viele Freunde gewinnen und zu weiteren Entdeckungsreisen in die abenteuerliche Welt des Anders Eliasson einladen wird. Angesichts solcher Werke in solchen Aufführungen ist eigentlich kein Zweifel mehr möglich: Anders Eliasson war einer der ganz großen Meister der Tonkunst nicht nur unserer Zeit.

[Norbert Florian Schuck, Januar 2024]

Quintessence, Resurrection, Zodiac – Ein Interview mit Christoph Schlüren

Ein reichhaltiges Programm aus bekannten wie unbekannten Werken und eine die kompositorischen Feinheiten der Musik tief ausleuchtende, hingebungsvolle Umsetzung zeichnen die beiden Alben aus, mit denen der Dirigent Christoph Schlüren bislang in Erscheinung getreten ist. Nach Symphonia Momentum/Declamatory Counterpoint (2010) und Die Kunst der Fuge (2020) veröffentlicht Aldilà Records nun drei weitere Alben Schlürens, die zwischen 2019 und 2022 aufgenommen wurden: Resurrection (Johann Sebastian Bach, Reinhard Schwarz-Schilling, Wolfgang Amadeus Mozart, Giorgio Federico Ghedini, Douglas Lilburn, Paul Büttner), Quintessence (Felix Mendelssohn Bartholdy, Reinhard Schwarz-Schilling, Anton Bruckner) und Zodiac (Arvo Pärt, Alessandro Marcello, Martin Scherber). Im Zuge dieser Projekte wurde am 1. Dezember 2019 in Barcelona die 1955 vollendete Dritte Symphonie von Martin Scherber erstmals öffentlich gespielt. The New Listener sprach mit Christoph Schlüren über seine neuen CDs und ihre Hintergründe. Das Interview führte Norbert Florian Schuck.

TNL: An Ihren drei neuen CDs fällt auf, dass sie alle ein Motto haben: Quintessence, Resurrection, Zodiac. Die jeweiligen Programme sind alle musikgeschichtlich und zum Teil auch geographisch weit gespannt. Welche Gedanken leiten Sie bei der Zusammenstellung Ihrer Programme?

CS: Solches Vorgehen liegt natürlich fernab der klassischen Tonträgertradition. Normalerweise wünschen die Händler, dass sie die Tonträger gut in ihren Regalen einsortieren können, und deswegen ist es ihnen recht, wenn die CD nur einem einzelnen Komponisten gewidmet ist, oder wenn sie sich auf ein bestimmtes Genre konzentriert. So kenne ich es natürlich auch von früher. Als Jugendlicher hatte ich Platten mit Tartini oder Vivaldi oder Bach oder Mussorgskij, und es gab Mischungen: italienische Violinkonzerte oder Klaviermusik der Romantik, und so weiter. Ich habe mich dann auch in einem bestimmten Alter sehr für Musik interessiert, die außerhalb des klassischen Bereichs liegt, für Fusion und Progressive Rock, wie man das heute nennt, und da fand ich diese Idee des Konzeptalbums großartig. Das heißt, dass man im ursprünglichen Sinn des Worts „komponieren“ etwas schafft, in dem Sinne, dass es als eine zusammenhängende Sache zusammengestellt ist. Und diese Idee, dass man ein Album vielleicht wie eine Reise konzipiert, mit der Grundidee, dass man von Anfang bis Ende zuhört und eine Gesamtdramaturgie verfolgt, die dann auch das Wiederhören zu einem sinnvollen Akt macht, diese Idee hat mich von Anfang an, schon beim allerersten Album, geleitet, und ebenso bei der Zusammenstellung der Konzertprogramme. Es sollen Bezüge entstehen, es soll Kontraste geben, die die unterschiedlichen Charaktere umso deutlicher hervortreten lassen, und das Ganze soll einen Weg zurücklegen, der auch als Weg interessant ist und nicht nur eine Folge von nacheinander gespielten Stücken darstellt. Es ist ja nie so gedacht gewesen, dass man etwa alle späten Klavierstücke von Brahms hintereinander spielt, oder alle vier Symphonien von Schumann. Natürlich kann man das tun, mich hat es aber mehr interessiert, aus dem Wechselspiel der unterschiedlichen Welten etwas Neues zu schaffen.

Es handelt sich übrigens eigentlich nicht um ein ‚Motto‘, sondern um eine nachträgliche Verbalisierung dessen, was auf der Suche nach den passenden musikalischen Elementen letzten Endes das Ganze am treffendsten umschreibt – so wie Debussy seine Préludes benannte, nachdem er sie komponiert hatte. Da sind dann plötzlich die „Hügel von Anacapri“ daraus geworden, aber sie sind das ja nicht von vornherein gewesen. Genauso bei Schumann, ähnlich bei vielen weiteren großen Komponisten.

Die Titel sind nicht als Programm gedacht. Ich habe einen Namen gesucht, nachdem wir die Stücke in dieses Wechselverhältnis zueinander gebracht hatten. Und der Name ist auf verschiedene Weise entstanden. Am Ende beschreibt er gar nicht das Programm. „Resurrection“ bezieht sich ganz primär auf Paul Büttner, dessen „Auferstehung“ – und so kann man es nur sagen – im deutschsprachigen Raum überfällig ist. In anderen Ländern handelt es sich gar nicht um eine „Resurrection“, sondern überhaupt um die Erweckung dieser Musik, die dort erst entdeckt werden muss. Büttner ist ja ein absoluter Spezialfall. Die beiden Hochs seiner Bekanntheit fielen jeweils in eine Zeit, in der Deutschland isoliert war: Zuerst die große Karriere während des Ersten Weltkriegs, die mit dem Ende des Krieges abbrach, da dann die ganze neue Strömung hoch kam – für viele Komponisten war damals ihre erfolgreiche Zeit zu Ende –; und zum anderen eine Karriere postum in der DDR, vor allen Dingen angeregt durch die intensive Tätigkeit seiner Witwe, aber auch weil die DDR den Komponisten als Repräsentanten haben wollte, obwohl er gar nichts mit der DDR zu tun hatte. In Deutschland ist also „Resurrection“ zutreffend, ansonsten ist Büttner überhaupt erst eine „Discovery“.

Der Titel des Albums Quintessence bezieht sich ganz einfach auf die real vorhandene Fünfstimmigkeit der Stücke, wie sie bei Mendelssohn und bei Bruckner auch maximal ausgenutzt wird. Bei Schwarz-Schilling ist es eher eine Verschmelzung der Stimmen, nicht so viel Kontrapunkt, obwohl er ja ein großer Kontrapunktiker ist. Dafür ist er in der Resurrection mit Da Jesus an dem Kreuze stund dabei. Natürlich hat dieses Stück auch eine Konnotation zur Auferstehung, was auch zur Wahl des Titels dieser CD beigetragen hat. Aber man darf das nicht intellektuell zu ernst nehmen, dann gerät man in die Irre.

Der Titel des dritten Albums Zodiac bezieht sich auf das Hauptwerk, die Dritte Symphonie von Martin Scherber. Wir haben dieses Werk uraufgeführt, aber zweiteingespielt. Bei der ersten Einspielung ist das Programm hinter dieser Musik gar nicht gesehen worden und am Produzenten, am Dirigenten, an allen Mitwirkenden vorbeigegangen. So bezieht sich der Titel auch darauf, dass wir es überhaupt erst als „Zodiak“, als Tierkreis, herausgebracht haben – vorher war es scheinbar nichts weiter als eine einsätzige Symphonie ohne bewusste Untergliederung.

Ja, so erklären sich die die Titel. Als „Mottos“ würde ich sie nicht bezeichnen. Meine Vorliebe zu solchen Titeln hat mit meiner Vergangenheit zu tun, mit einer sehr starken Neigung zu King Crimson, Univers Zero und ähnlichen Gruppen. Es ist ein ganz toller Zug dieser nichtklassischen Musik, die natürlich fürs Album konzipiert ist und nicht fürs Notenheft, dass die Musiker zusehen müssen, den Hörer mitzunehmen und ihn durch ein Programm hindurchzuführen. Sie müssen eine Idee von Anfang bis Ende entwickeln. Den Hörer bloß mit Repertoire zu versorgen, reicht nicht. Das Programm wird als eine schöpferische Aufgabe angesehen, gewissermaßen als lebendiger Zusammenhang, der als solcher von Anfang bis Ende gehört wird.

Nahezu alle Ihre Aufnahmen sind Konzertmitschnitte: Was unterscheidet einen Konzertmitschnitt von einer Studioaufnahme?

„Nahezu alle“ ist eigentlich übertrieben. Beim Scherber haben wir die Studioaufnahme zusammen mit dem Konzertmitschnitt auf zwei CDs herausgebracht. Der Unterschied besteht darin, dass die Studioaufnahme am Tag nach dem Konzert gemacht wurde. Die einzelnen 12 Teile dieser Zodiak-Symphonie wurden alle zweimal durchgespielt und dann an einigen Stellen eine minimale Nachkorrektur vorgenommen. Das ist, was andere „Studio Live“ nennen, was aber meines Erachtens eine gute Art ist, Studioaufnahmen zu machen: eben nicht Stückchen für Stückchen durch das Stück zu pflügen sondern, nachdem man das Stück durchgespielt und eine klare Vorstellung davon entwickelt hat, die Studioaufnahme in möglichst langen Zusammenhängen zu erstellen. Ich will nicht, dass wir Aufnahmen machen, wie das normalerweise üblich ist: Bei Produktionen von unbekanntem Repertoire kommt man meist ins Studio, hat vielleicht eine Probe hinter sich und nimmt dann einfach auf, Stück für Stück, bis man durch ist. Wir wollen, dass jeder versteht, was er da spielt. Wir proben wie für ein Konzert, dann spielen wir ein Konzert, wo alles im Zusammenhang erlebt werden kann, und danach gehen wir ins Studio und machen aufgrund der Erfahrung dieses Konzerts die Aufnahme als musikalisch zusammenhängende Sache, und eben nicht als etwas Stück für Stück aneinander Gereihtes. Wir haben einmal erfahren, wie sich das Ende auf den Anfang bezieht – oder wie auch immer man das ausdrücken kann – und dabei die gesamte Dynamik dieser Form erfahren. Danach nehmen wir auf. So sollten alle diese Aufnahmen sein.

Eine solche Aufnahme kostet viel mehr Geld als eine Studioaufnahme, bei der man sich einfach für zwei oder drei, maximal vier Tage hinsetzt und von Anfang bis Ende in kleinen Abschnitten aufnimmt, bis es eben notenmäßig stimmt. Hier aber ist ein ganz anderer Prozess angestoßen – und natürlich führt er auch zu einem ganz anderen Resultat, das viel mehr in die Tiefe gehen kann, das viel mehr aus dem verstehenden Musizieren heraus entstanden ist. „Verstehend“ meine ich nicht im Sinne von „intellektuellem“ Verstehen, sondern als ein begreifendes, erkennendes Musizieren, aus dem heraus etwas Organisches entsteht. Das ist natürlich etwas ganz anderes als wenn wir beim Aufnehmen Stückchen für Stückchen aneinander reihen würden. Das eine ist rein materialistisch gesprochen in Ordnung, das andere ist eine Sache, angesichts derer man sagen muss: Ja, Kunst ist nicht nur ein Materialanhäufungsprozess, sondern auch ein Prozess der geistigen Durchdringung eines erlebten Ganzen. Das dann in idealstmöglicher Weise zu dokumentieren, ist die Idee. Und das kostet uns dann eben eine Woche an Proben, zumal, wenn es sich um ein komplexes Programm handelt. Dazu suchen wir natürlich auch Menschen – und haben sie auch zum Teil gefunden –, die sagen: Ich möchte das mittragen, ich möchte das unterstützen, das ist mir ein Anliegen, dass Aufnahmen in dieser nicht nur materialmäßigen sondern tatsächlich im tiefen Sinne musikalischen Qualität erscheinen können. Ein Livemitschnitt ist freilich ideal, weil er tatsächlich eine Konzertsituation dokumentiert, aber wenn wir wirklich verstanden haben, was wir musizieren, dann ist für den Hörer der Unterschied zwischen einer Studio-Live-Aufnahme und einem Livemitschnitt gar nicht mehr wahrzunehmen.

Geht man die Liste der von Ihnen bislang aufgenommenen Kompositionen durch, so stößt man öfter auf die Namen bestimmter Komponisten. Sie scheinen sich wie ein roter Faden durch Ihre Alben zu ziehen. Da ist zum Beispiel Johann Sebastian Bach, vor allem aber Reinhard Schwarz-Schilling. Was verbindet Sie mit diesem Komponisten?

Reinhard Schwarz-Schilling

Zunächst verbindet Schwarz-Schilling viel mit Bach und der Bezug stellt sich sehr leicht her. Das allererste Werk, das wir damals aufgenommen haben, das Streichquartett als Symphonie für Streicher, bezieht sich mit seiner Fugentechnik, mit seiner im Sinne des 20. Jahrhunderts sehr archaischen Polyphoniebehandlung sehr stark auf Bach. Auch Schwarz-Schillings Da Jesus an dem Kreuze stund ist ein Bach-nahes Stück, auch wenn es viel modaler ist. Reinhard Schwarz-Schilling hat Bach geliebt. Ich selber bin durch eine frühe Aufnahme Sergiu Celibidaches auf Schwarz-Schilling gestoßen. Ich habe 16 Jahre bei Celibidache studiert, und es hat mich nicht nur wahnsinnig interessiert, wer seine Lehrer waren – dadurch stieß ich auf die Musik von Heinz Tiessen, was dann die Begegnung mit den Werken des anderen großen Tiessen-Schülers Eduard Erdmann, wie auch dieser ganzen Expressionistengeneration der 1920er Jahre nach sich zog –, sondern auch das Repertoire, das er dirigiert hat. Und da kam mir irgendwann eine Aufnahme aus der Zeit der sowjetischen Blockade von West-Berlin in die Hände, auf der er die Berliner Philharmoniker in der Uraufführung von Reinhard Schwarz-Schillings Introduktion und Fuge für Streichorchester leitet. Dieses Werk ist nichts anderes als ein Streichorchester-Arrangement des ersten Satzes des Streichquartetts von 1932, und Celibidaches Aufführung ist unglaublich spannungsgeladen und intensiv. Man hört in diesem Mitschnitt aus dem Titania Palast im Hintergrund merkwürdige tiefe Abwärtsglissandi: die landenden Rosinenbomber, die die Stadt Berlin versorgen. Dieses großartige Dokument hat mich fasziniert, sodass ich mir die Partitur des Werkes besorgte – das heißt nicht das Streichquartett, sondern tatsächlich die Introduktion und Fuge, die es als gesonderte Partitur gibt. Als ich aber das Streichquartett kennenlernte, sah ich, dass es drei Sätze hat: zwei ganze Sätze mehr! Dann habe ich Christian Schwarz-Schilling, den Sohn des Komponisten, kennengelernt, und wir haben uns gemeinsam ein Konzertprogramm zum 100. Geburtstag seines Vaters überlegt. Damals dirigierte Konrad von Abel. Christian Schwarz-Schilling hat das Ganze auf großzügigste Weise gefördert und bezahlt. Meinen Vorschlag, nicht allein Werke Schwarz-Schillings aufzuführen – Introduktion und Fuge sowie der Mittelsatz aus der Sinfonia Diatonica – , sondern den Kreis zu erweitern und den Komponisten in einen Kontext zu stellen, befürwortete Christian Schwarz-Schilling sofort. Wir nahmen deshalb noch Heinrich Kaminski, Reinhard Schwarz-Schillings Lehrer, ins Programm, sowie den anderen großen Kaminski-Schüler Heinz Schubert. Dessen Werk Vom Unendlichen, eine Zarathustra-Vertonung für Sopran und drei Streichquintette (mit der ausgezeichneten Solistin Susanne Winter), gab uns den Titel für das Konzertprogramm. Das Hauptwerk war Kaminskis Werk für Streichorchester, eine Bearbeitung von Kaminskis Streichquintett, die Reinhard Schwarz-Schilling während seiner Studienzeit 1928 als Gesellenstück unter Aufsicht des Lehrers gesetzt hatte.

Damit gingen die Musiker dann auf Tournee. Es hat einige sehr enthusiastische Besprechungen gegeben. Ich erinnere mich an Volker Tarnow in der Welt, der vor allem die Wiederentdeckung von Kaminski gepriesen hat. Auf mich hat dieses Erlebnis auf mancherlei Weise anregend gewirkt. Als ich dann zu Christian Schwarz-Schillings 80. Geburtstag im Jahr 2010 ein eigenes Konzert plante, dachte ich mir: jetzt mache ich das, was Reinhard Schwarz-Schilling mit dem Werk Kaminskis getan hat, und arrangierte den zweiten und dritten Satz von Schwarz-Schillings Streichquartett für Streichorchester, sodass sie, zusammen mit Introduktion und Fuge als erstem Satz, als Symphonie für Streichorchester gespielt werden konnten. Auch bei diesem Konzertprogramm hat Christian Schwarz-Schilling wieder alles finanziell getragen. Das Programm enthielt neben Bachs kleiner Fuge in g-Moll (eigentlich für Orgel) auch die Cavatina aus Beethovens Quartett op. 130 und den Kopfsatz aus Mozarts Dissonanzen-Quartett – es wundert mich, dass bislang keiner auf die Idee gekommen war, diese Werke mit Streichorchester aufzuführen –, außerdem das Bach’sche E-Dur-Violinkonzert mit Rebekka Hartmann, Arvo Pärts Orient und Okzident und eine Uraufführung von Peter Michael Hamel: Ulisono, eine Gedenkmusik für den verstorbenen Komponisten Ulrich Stranz. Quasi als „einkomponierte“ Zugabe gab es Anders Eliassons Violinsolo In medias. Dieses Programm hatte keinen Namen, so wählten wir einfach den Namen den Orchesters, das sich eigens dazu zusammengefunden hatte: Symphonia Momentum. Wir haben das Programm dann 2010 in einigen Konzerten gespielt, angefangen in München und Reutlingen, und in der wunderbaren Akustik der Berliner Nalepastraße auf CD aufgenommen. Die CD haben wir dann Declamatory Counterpoint genannt, nach einer spontanen Reaktion von Ivo Csampai, dem Bruder von Attila Csampai, der, als ich den Mitschnitt mit ihm angehört habe, sagte: „Das ist deklamatorisch flammender Kontrapunkt“, und damit war der Titel geboren. Dieses Album steht am Beginn einer Reihe „komponierter“ Alben. Bei Aldilà Records erschienen dann zunächst zwei Klavieralben mit Ottavia Maria Maceratini, die den gleichen Ideen folgten. Der Titel hat sich dabei immer erst im Nachhinein ergeben.

Hat Christian Schwarz-Schilling auch die Alben „Quintessence“ und „Resurrection“ unterstützt, auf denen sich Werke seines Vaters finden?

Ja, Christian Schwarz-Schilling hat auch diese beiden Alben ermöglicht. Natürlich ist wieder Musik seines Vaters dabei. Wie zuvor schon bei der Kunst der Fuge, die ich mit den Salzburg Chamber Soloists aufgenommen habe, finden sich auf Resurrection und Quintessence mehr oder weniger kurze Stücke Reinhard Schwarz-Schillings. Man muss dazu sagen, dass uns ein bisschen das orchestrale Repertoire von Schwarz-Schilling ausgegangen ist, denn inzwischen sind ja alle Orchesterwerke eingespielt worden, durch José Serebrier mit der Staatskapelle Weimar für Naxos. Christian Schwarz-Schilling war diesmal noch konkreter in die künstlerische Planung involviert als bei den vorangegangenen Projekten. Ich bin also immer mehrmals zu ihm hingefahren und habe ihm Vorschläge gemacht. Er hat Wünsche geäußert, und so sind auch seine Vorlieben sehr stark zum Tragen gekommen. Natürlich liebt er die Musik seines Vaters sehr, und die Musik von Bach ist für ihn Alpha und Omega aller Musik. Diese deutliche Betonung auf Bach hat also ganz stark damit zu tun, dass dies Christian Schwarz-Schillings Herzenswunsch war.

Bei anderen Vorhaben stünde von meiner Seite aus ein weit vielfältigeres Spektrum zur Verfügung. Zu vielen Komponisten hege ich eine ganz große Liebe: nordische, italienische, italoamerikanische, englische, slawische… Es gibt sehr viele Dinge, die ich ebenso gerne machen würde. Natürlich gehe ich mit der Person mit, die das Projekt finanziert. Dabei entsteht dann eine Symbiose unserer musikalischen Vorlieben, wie z. B. bei dem Quintessence-Programm: Christian Schwarz-Schilling wollte eine Streichersymphonie von Mendelssohn, mein großer Wunsch war Bruckner, und Reinhard Schwarz-Schilling sollte ebenfalls dabei sein. Bemerkenswert ist, wie sich am Ende alles so unglaublich organisch zusammengefunden hat: Mendelssohn ist praktisch der einzige Komponist, der im Original Streichersymphonien in Quintettbesetzung mit doppelten Bratschen geschrieben hat. Das Streichquintett im Orchester ergibt sich sonst ja immer aufgrund einer individuell geführten Kontrabassstimme, aber diese Besetzung mit zwei Geigen, zwei Bratschen und Violoncello (wo man letzterer dann den Kontrabass colla parte hinzufügt) existiert in der Streicherorchestermusik gar nicht. Mendelssohn ist mit einigen seiner frühen Streichersymphonien die absolute Ausnahme. Dass dann ausgerechnet die letzte dieser Symphonien – die eigentlich keine ist, sondern einfach ein aus Introduktion und Fuge bestehender symphonischer Satz – auch fünfstimmig ist, und von der Länge her genau zum Bruckner passt, ist wirklich ein tiefgründiger Zufall im schönsten Sinne. Es ist uns zugefallen.

Interessanterweise passen die Stücke ja auch harmonisch gut zueinander…

In der Tat! Ich habe nach dem richtigen Schwarz-Schilling-Stück gesucht, das sich gut zwischen Mendelssohn und Bruckner einfügt. Und da stieß ich auf dieses Chorwerk, das nicht nur von der Länge her wunderbar dazwischen passt, sondern auch als spirituelles Zentrum der CD erlebt werden kann. Weil es zu alledem noch die Modulation vom Mendelssohn zum Bruckner beschreibt, ist das Programm damit wirklich durchkomponiert! Das Wunderbare ist ja, dass dadurch die ganze Zusammenarbeit eine Krönung erfahren und uns eine Quintessenz an Erfahrung beschert hat: Christian Schwarz-Schillings Wunsch ist durch das Stück seines Vaters am Ende mit meinem verschmolzen, alles hat gestimmt. Natürlich könnte man jetzt sagen: Der Komponist Schwarz-Schilling kommt dabei zu kurz, der Bruckner ist so lang und der Schwarz-Schilling dauert lediglich 4 Minuten. Gewiss, aber er steht im Zentrum als das Herz dieser ganzen Angelegenheit! Und auf diese Weise wird das Stück vielleicht mehr Verbreitung erfahren als wenn es auf einer Schwarz-Schilling allein gewidmeten CD aufgenommen worden wäre.

Auf „Resurrection“ findet sich mit „Da Jesus an dem Kreuze stund“ ein etwas längeres Werk Schwarz-Schillings. Es ist sehr komplex kanonisch durchgeführt, sodass es eine Herausforderung war, die Musik als wirklich durchsichtige Faktur zu gestalten. Am Ende ist es uns gelungen, aber es hat wirklich Arbeit gekostet! Die Musiker haben wunderbar mitgemacht, und so ist eine sehr schöne Aufführung herausgekommen.

Und bei Resurrection?

Mein Vorschlag, das Streichquartett von Paul Büttner einzuspielen, hat Christian Schwarz-Schilling sehr gefallen. Er hat mich gebeten, Bach hinzuzunehmen, und dann haben wir uns gemeinsam noch auf diese fantastische Fantasie in f-Moll von Mozart geeinigt. So ist auch hier wieder ein gemeinsames Programm entstanden, das dann natürlich in die richtige Abfolge gebracht werden musste. Zwischen den Mozart und den Büttner, die beide Schwergewichte sind ist, tritt dann Raquele Magelhães mit ihrem unglaublich schönen Flötenspiel. Wir hören den dritten Satz aus den drei Solostücken von Giorgio Federico Ghedini und (in einem Arrangement von Lucian Beschiu) eine Canzona aus einer Musik zu Hamlet von Douglas Lilburn, dem großen Neuseeländer, ein Stück von absoluter Einfachheit – einfach wie ein Beatles-Song, einfacher geht es nicht. Das bildet den Entspannungspol zwischen diesen großen Blöcken. Ein Programm nur aus dichtestem Kontrapunkt kann man natürlich auch machen, aber es ist doch sehr gut, wenn sich für ein paar Minuten das Ohr erholen und dann umso besser wieder in eine dicht gearbeitete Faktur einsteigen kann.

Auf zwei Ihrer neuen CDs ist das jeweils umfangreichste Werk eine Streichersymphonie, die aber ursprünglich ein Streichquartett bzw. -quintett ist: zum einen Bruckners Quintett, zum anderen Büttners Quartett. Worin liegt der Reiz der Aufführung eines Kammermusikwerkes in orchestraler Besetzung?

Der ist nicht immer gegeben! Manche Kammermusikwerke werden gerne orchestral aufgeführt, wobei ich meine, dass es sich um keine glücklichen Entscheidungen handelt. Ich finde Beethovens Quartetto serioso für Streichorchester problematisch, das Verdi-Quartett mehr als problematisch. Auch ein Brahms-Quintett ist schwierig. – Vor den Büttner- und Bruckner-Aufführungen hatten wir ja bereits das Streichquartett von Schwarz-Schilling orchestral gespielt, und Die Kunst der Fuge ist auch kein genuines Streichorchesterwerk…

Die Kunst der Fuge ist übrigens ein gutes Beispiel. Es begann damit, dass ich von einer alten Aufnahme Celibidaches aus Neapel sehr fasziniert war: einem Ricercar und einer Toccata aus den Fiori Musicali von Frescobaldi. Das wurde in der Kritik fälschlicherweise als Bearbeitung bezeichnet. Das ist keine Bearbeitung, sondern eine für vierstimmiges Ensemble ausgesetzte Komposition für Orgel! Frescobaldi hat nämlich genau dasselbe getan wie Bach – der seinen Frescobaldi im Notenschrank stehen hatte – ein Jahrhundert später: Die Fiori Musicali sind ein Orgelwerk, das in partiture a quattro, also in vierstimmig ausgesetzter Fassung, gedruckt wurde. Jetzt kann man sagen: „Das ist ja klar, damit die Organisten einfach besser die Stimmführung verfolgen können.“ Ja, aber die Organisten können die Stimmführung auch weitgehend verfolgen, wenn die Musik nicht in vier Notensystem ausgesetzt ist.

Man streitet sich, ob Die Kunst der Fuge für Cembalo oder für Orgel geschrieben ist. Ich glaube, dieser Streit ist absurd! Das Cembalo kann hier nur als Notbehelf dienen, weil die kurze Dauer, die der Cembaloton hält, für diese langen Themen völlig ungeeignet ist. Das Klavier ist schon besser geeignet, noch mehr aber die Orgel. Die Orgel kann aber nicht wirklich phrasieren, sie kann also dynamisch im Moment nichts hervorheben. Das geht nur agogisch, und das ist schwierig in solcher Musik, die so streng kontrapunktisch ist. Man muss äußerst feinsinnig agieren, und dann bleibt es immer noch schwierig. Also ist die Alternative, wie schon bei Frescobaldi, im Grunde vorgesehen: Natürlich konnte man das damals schon mit einem Ensemble zu vier Stimmen spielen. Und man hat die Musik auch sicherlich so gespielt. Selbstverständlich kann man das auch mit Bach machen, und deswegen ist das keine Bearbeitung, sondern nur der umgekehrte Vorgang zu einer Tabulatur. Man hat damals große Werke für Chor in Lautentabulatur gesetzt, damit man sie auch alleine für sich spielen konnte. Genauso kann man ein Werk, das für die Orgel geschrieben ist, individuell verteilt in vierstimmigem Satz spielen. Da gibt es keine Tabus! Nicht umsonst sagt man, Die Kunst der Fuge ist Musik für ein unbestimmtes Instrumentarium. Ich würde sagen: Sie ist ein Orgelwerk, das aber von einem vierstimmigen Ensemble jeglicher Art gespielt werden kann. Auch dazu gibt es Auseinandersetzungen. Man sagt, der Klang sollte möglichst trennscharf sein, man sollte auf möglichst verschiedenen Instrumenten spielen, damit die Polyphonie herauskommt. Das ist ein Irrtum! Die Vokalpolyphonie braucht auch nicht völlig verschieden gebaute Typen von Sängern. Es reichen vier Stimmen gleicher Art. Das funktioniert wunderbar, und deswegen ist es natürlich auch im Instrumentalsatz so, dass die Polyphonie am besten herauskommt, wenn der Klang von möglichst gleichartigen oder ähnlichen Instrumenten erzeugt wird. Die Polyphonie wird durch die Phrasierung hervorgehoben und nicht durch die Klangfarbe. Wenn zu viele verschiedenartig klingende Stimmen spielen, bewirkt das eine Dissoziierung des Eindrucks, wobei man natürlich das Einzelne heraushören kann – aber es geht ja darum, dass das Einzelne im Dienst eines Gesamten steht. Das heißt, dass es sowohl Transparenz als auch Verschmelzung gibt.

Und jetzt kommen wir zurück zu den Streichorchester-Fassungen. Vom Streichorchester gespielt kann das Symphonische in der Anlage, das heißt die großen Kontraste, die machtvollen Entfaltungen, aber auch das Lyrische, in seinen Extremen eine Verstärkung erfahren. Es gibt bestimmte Werke, die für Streichquartett oder -quintett geschrieben sind und im Streichorchester besser wirken. Zwei extreme Beispiele haben wir bei Beethoven, nämlich die Cavatina aus dem Quartett op. 130 und die Große Fuge op. 133 – ursprünglich Sätze desselben Werkes. Die Cavatina kann im Streichorchester noch viel elegischer werden als im Quartett, da man in der Gruppe viel leiser spielen kann und der Ton trotzdem nicht abreißt. Man kann sozusagen alles noch mehr nach innen gewandt musizieren. Die Große Fuge lässt sich in ihren machtvollen Entfaltungen, in ihrem über das Quartett-Potenzial eigentlich hinausgehenden Anspruch natürlich im Streichorchester besser verwirklichen. Ein typisches Beispiel, in dem das Streichorchester besser funktioniert, ist das Adagio von Barber. Das kann man in einem Streichquartett wunderschön machen, aber im Streichorchester trägt der Klang noch ganz anders, bekommt das Werk eine ganz andere Dimension. Es gibt noch manche anregenden Fälle, in denen das auffällt: Kaminski hat sein Streichquintett von Schwarz-Schilling als Werk für Streichorchester setzen lassen. Wenn das wirklich gut aufgeführt wird, besitzt es noch eine ganz andere Spannweite als das ursprüngliche Quintett!

So ging es mir dann mit Schwarz-Schillings Quartett. Der Komponist hat selbst den ersten Satz für Streichorchester gesetzt. Warum hat er das gemacht? Weil die Kontraste viel größer werden, das Symphonische mehr zum Tragen kommt. Also haben wir das auf alle drei Sätze des Quartetts erweitert. Das hat wunderbar funktioniert, das Werk ist symphonischer geworden. Die gleiche Idee liegt dem Bruckner-Arrangement zugrunde. Bei Büttner ist es ein bisschen schwieriger. Auch dieses Werk ist sehr symphonisch konzipiert. Jetzt gibt es Komponisten, die etwas liefern, das sich leicht übertragen lässt – das ist bei Beethoven zum Teil der Fall, das ist bei Bruckner der Fall, das ist auch bei Schwarz-Schilling der Fall. Bei ihnen ist es sehr klar, wo man, als einzigen Unterschied in der Instrumentation, den Kontrabass mit dem Cello mitspielen lässt und wo er schweigt. Ihn durchweg mitspielen zu lassen, wirkt nivellierend, das wäre eine willkürliche Monochromisierung.

Bei Bruckner sind die Stellen, an denen man den Kontrabass hinzunehmen kann, von den übrigen wunderbar klar zu unterscheiden. Auch bei Kaminski, bei Schwarz-Schilling geht das sehr gut, bei Brahms hingegen ist es ein großes Problem, weil sich dort das Cello immer wieder zwischen Stellen, an denen eine Kontrabassverstärkung passend wäre, und solchen, die das nicht vertragen, hin und her bewegt. Es gibt keine klaren Trennlinien, also muss man wahnsinnig vorsichtig verfahren, wo man den Kontrabass einsteigen und wo man ihn aussteigen lässt, ohne dass sich der Moment bemerken lässt, in dem das passiert. Diese Trennung soll hier, der Musik angemessen, nicht unterstrichen werden, sondern undeutlich verlaufen. Der Hörer soll nicht merken, wo der Kontrabass dazu kommt und wo er wieder aussteigt, weil die Linie beständig fortgeführt wird. Und das ist auch bei Büttner oft der Fall. Es ist schon eine delikate Aufgabe, an den richtigen Stellen den Kontrabass hinzuzunehmen und wieder wegzulassen. Natürlich gibt es auch Stellen, die eindeutig sind, doch es gibt eben viele Stellen, an denen er sich einschleicht und wieder hinausschleicht. Dieses Werk gewinnt dadurch, vor allem im Kopfsatz und im Finale, aber auch im Scherzo, eine sehr symphonische Dimension, die es als Quartett nicht hat. In dem langsamen Intermezzo-Satz vor dem Finale und in dem ins Finale eingeschobenen Doppelkanon-Fugato ist die chorische Besetzung gleichfalls ein großer Gewinn. Der einzige Satz, der sie nicht bräuchte, ist der zweite Satz, der eine Art romantische Palestrina-Polyphonie darstellt. Folgerichtig haben wir diesen Satz ohne Kontrabass aufgeführt, was auch im Ganzen einen sehr feinen Kontrast erzeugt hat.

Was sind allgemein Ihre Aufgaben als Dirigent?

Zu meinen Aufgaben als Dirigent verweise ich auf das französische Orchester Les Dissonances. Seit es dieses Orchester gibt, das so unglaubliche Aufnahmen ins Netz gestellt hat wie die zweite Daphnis-und-Cloé-Suite von Ravel und die Suite aus dem Wunderbaren Mandarin von Bartók, kann man sehen, dass es in einem Orchester, wenn wirklich alle wollen und alle immer dabei sind, keinen Dirigenten braucht. Er ist eigentlich nicht nötig, wenn es im Orchester jemanden gibt, der das Ganze zusammenhält – in diesem Fall David Grimal vom ersten Konzertmeisterpult aus.

Für die Koordination in dem Sinne, wie es traditionell notwendig war, braucht es den Dirigenten nicht mehr, wenn das Orchester bereit ist, das von selbst zu leisten. Die Orchester sind heute gut genug individuell besetzt. Für diese Polizistenrolle – Einsätze geben, koordinieren und so weiter – braucht es den Dirigenten heute nur noch in beschränkter Weise. Früher war das anders, damals hat man ihn in der Regel gebraucht, als die Orchester von der individuellen Qualität der Spieler her nicht auf diesem Niveau waren, wie das heute allgemein gegeben ist. Jeder Dirigent sollte sich heute Les Dissonances anschauen, um zu wissen, wozu man ihn nicht braucht.

Die Rolle eines Dirigenten hat sich verändert: Von einem dominierenden Mitspieler hin zu einem Trainer, der, wie im Fußball, das Spiel von der Seite noch befeuern kann, im Übrigen aber bereits dafür gesorgt hat, dass die Mannschaft von selbst spielen kann. Das hat natürlich auch damit zu tun, dass sich auch sonst vieles verändert hat. Hand in Hand mit diesen Veränderungen geht, dass das Dirigieren nicht mehr so autoritär in dem Sinne funktioniert, wie es bisher war. Jedenfalls glaube ich nicht, dass wirklich gute Resultate auf Dauer zu erzielen sind, indem man als Dirigent diktatorisch durchgreift. Stattdessen sollte es so sein, dass die Musiker selbst als tatsächlich im besten Sinne aktiv Mitwirkende dabei sind. Insofern stelle ich mir vor, mit dem Orchester so zu arbeiten, dass das Orchester die Musik von selbst realisiert und man als Dirigent am Ende so überflüssig wie möglich ist, eigentlich nur noch eingreift, wenn es unbedingt sein muss. Dadurch, dass man selbst nicht mit dem Spiel eines Instruments okkupiert ist und man dort steht, wo man alle gut hören kann, hat man natürlich genau diese Freiheit und diesen Überblick, den der einzelne Musiker, der mitwirkt, durch Position und Tätigkeit bedingt gar nicht in dem ausgeglichenen Maße haben kann.

Sie haben jetzt mit dem Album Zodiac Ihr erstes Orchesteralbum vorgelegt, nachdem Sie bislang nur Aufnahmen mit Streichorchester gemacht hatten. Wie unterscheiden sich, aus Sicht des Dirigenten, Streichorchester und großes Orchester in ihren Anforderungen als Klangkörper?

Ja, ich habe zum ersten Mal überhaupt ein großes Orchester dirigiert, als wir Scherbers Dritte Symphonie uraufgeführt haben. Das war natürlich eine riskante Entscheidung, gleich an die Aufnahme eines so komplexen Werkes zu gehen. Aber das Orchestra Simfònica Camera Musicae war phänomenal, ein bisschen wie Les Dissonances: Jeder wollte; es gab den Tropfen Zitrone nicht, der die Milch zum Kippen gebracht hätte. Niemand hat das Kollektiv gestört, und das Orchester war unglaublich selbstsicher, wach und empfänglich zugleich. Das Stück stellt ganz spezifische Anforderungen. Scherber verlangt vor allen Dingen ein ganz weit disponiertes Gestalten, extrem weittragende Steigerungen, ohne zu frühes Verausgaben. Alles ist in großen Strecken gedacht. Das Orchester hat wunderbar mitgewirkt.

Ein gutes Streichorchester ist schwieriger zu bekommen als ein gutes Orchester. Das hat auch damit zu tun, dass das Orchester bereits die konkreten Klangfarben bereitstellt, die vom Komponisten durch die Instrumentation vorgeschrieben sind. Im Streichorchester, wenn es nicht eine langweilige und monochrome Angelegenheit sein soll – womöglich noch ganz massiv von der Oberstimme dominiert und vielleicht noch vom Bass, mit Mittelstimmen, die irgendwo dazwischen herumschwimmen –, da muss man beim Arbeiten die Farben überhaupt erst herstellen. Die Instrumentation erfolgt also erst durch die Arbeit mit dem Streichorchester: Dass etwas klingt wie Trompeten, etwas anderes wie Posaunen, wie eine Flöte und so weiter, alles das kann erst im Probenprozess geschaffen werden, und dann kann ein wunderbarer, vielfältiger Streichorchesterklang herauskommen.

Die Arbeit mit dem Streichorchester wird auch dadurch erschwert, dass, weil die Farben der anderen Instrumente wegfallen, die Intonation für die ersten Geigen viel heikler wird. Bei einer so homogenen Besetzung ist insgesamt viel mehr klangliche Verschmelzung gefragt. Das große Orchester ist nicht so homogen besetzt, so fällt es auch nicht so auf, wenn das Verhältnis zwischen den Instrumenten im Einzelnen nicht so homogen ist. Es ist überhaupt nicht selbstverständlich, dass ein gutes Orchester, wenn man die Bläser weglässt, auch ein gutes Streichorchester ist – es sei denn der Dirigent hat mit diesem Orchester schon daran gearbeitet, dass die Streicher sich allein als homogener Klangkörper erfahren können.

Ein Laie mag übrigens den Eindruck haben, dass in einem guten Streichorchester fast ausschließlich die ersten Geigen gelegentlich dazu neigen, unsauber zu spielen. Das ist natürlich nicht richtig.  Tatsächlich verhält es sich so, dass, wenn die Bassregion total sauber intoniert, jede kleine Unsauberkeit in den darüber liegenden Registern sofort auffällt. Die Lage ist sofort ganz anders, wenn der Bass nicht wirklich sauber ist, z. B. wenn man mit zwei Kontrabässen besetzt, was die Sache immer intonationsmäßig besonders anfällig macht — es ist ja nichts so schwer zu intonieren wie zwei Sänger oder zwei Instrumente, die unisono zusammen singen, dann sind die Schwebungen durch die minimalen Tondifferenzen, die auf jeden Fall immer da sind, am meisten verstärkt. Sobald ein dritter dazu kommt, gleicht sich das schon wieder ein bisschen aus, und wenn es eine größere Gruppe ist, dann fällt es nicht mehr so auf, wenn etwas darin ein bisschen abweicht. Außerdem: nirgends ist so schwer sauber zu spielen wie im Bassregister, und wenn wir jetzt zwei Kontrabässe haben, die nicht für sich alleine spielen, sondern in einem Orchester, dann ist es gar nicht immer so einfach, dass die beiden hören, ob sie wirklich miteinander komplett im Einklang sind. Tatsächlich kann man dann unsaubere höhere Register dank eines unsauberen Basses einigermaßen kaschieren – dann ist alles relativ unrein, und innerhalb dessen ist es tendenziell unklar, wer mehr oder weniger dazu beiträgt. Auf wackligem Fundament lässt sich kein solides Gebäude errichten. Folglich brauche ich einen einzigen Kontrabass, oder drei oder mehr, dann kann ich erreichen – wenn Kontrabass und Cello sehr sauber zusammen spielen – dass sich ein richtig sauberer Grund bildet, wodurch dann das, was drüber liegt, total deutlich durchhörbar wird. Sobald hingegen die Intonation in der Tiefe nicht mehr ganz sauber ist, ist das, wie wenn wir einen See haben, wo das Wasser in Bewegung gesetzt wird: man kann nicht mehr klar auf den Grund blicken, es ist nicht mehr deutlich.

Um zu den ersten Geigen zurück zu kommen: Wenn es aber ganz sauber ist, ist es wie ein stilles Wasser, wo man bis zum Grund schauen kann, und entsprechend hört man jede kleine Abweichung nach oben, und am meisten fällt eben auf, was ganz oben ist: Das hört jeder sofort! Was dazwischen liegt, ist viel schwerer zu unterscheiden und präsentiert sich dem Ohr undeutlicher. Im Vergleich mit Bratschen oder zweiten Geigen werden die ersten Geigen daher meist unverhältnismäßig höher geschätzt oder unnachsichtiger getadelt.

Von Ihrer praktischen Tätigkeit als Musiker zeugen nicht nur die CDs, auf denen Sie dirigieren, sondern auch Kammermusikalben, die Sie als Produzent betreut haben. Auf dem YouTube-Kanal von Aldilà Records sieht man Sie mit einem Kammerensemble, in dem Fall dem Trio Monsterrat, proben. Verdeutlicht das diesen fließenden Übergang vom Dirigenten zum musikalischen Trainer?

Ja, und man kann natürlich mit einem Streichtrio, das selbstständig spielt, noch ganz anders arbeiten – auch gestisch – als mit einem Orchester. Im Kammerensemble sind die Musiker bereits mit ihrer Stimme innerlich verbunden, und sie sind als Trio schon da. Da kann man sozusagen sehr frei gestikulierend Dinge einbringen, die bei der Arbeit mit einem Orchester nicht funktionieren würden. Im Orchester herrscht immer noch eine Mentalität, dass der Dirigent mir als Musiker beständig zeigen soll, wie es geht. Ich wünsche mir weniger von dieser Mentalität – ein waches Aufnehmen der Impulse, die vom Dirigenten kommen, ist natürlich gut, aber die Musiker sollten selbstständiger sein!

Die Streichtrio-CD German Counterpoint ist die einzige, an der ich in der Weise mitgewirkt habe, wie es in den Videos zu sehen ist. Eigentlich wollten wir damals auch wieder ein Streichorchester-Projekt realisieren, aber dann kamen die Corona-Maßnahmen dazwischen. In dieser Situation konnten wir, auch gegenüber Christian Schwarz-Schilling, der auch hier wieder unser Sponsor war, das Risiko nicht eingehen, ein Streichorchester zu organisieren – was wäre gewesen, wenn das Ganze hätte abgesagt werden müssen, aber die zugesicherten Honorare trotzdem fällig gewesen wären! So haben wir uns dann entschlossen, mit drei hervorragenden katalanischen Musikern ein Kammermusikalbum einzuspielen.

Das Programm war horrend schwer, vor allem wegen der Kammersonate Heinz Schuberts, die überhaupt alle Grenzen dessen überschreitet, was man vom Streichtrio an Komplexität gewohnt ist – ein unglaubliches Stück, in seiner kontrapunktischen Kunst ein absoluter Gipfel der Streichtrioliteratur! Ich hoffe sehr, dass wir auf Dauer mit dieser Aufnahme dazu beitragen, dass dieser Komponist, der ein absolutes Genie war und in diesem Werk auch wirklich ein überragendes Meisterwerk hinterlassen hat, angemessen geschätzt wird. Das späte Schwarz-Schilling-Trio ist von einer unglaublich feinen, verinnerlichten Haltung. Interessanterweise haben die Musiker über den zweiten Satz dieses Werkes gesagt: „Das ähnelt sehr unserer katalanischen Musik!“ Sie haben das Stück wie ein Heimspiel empfunden. Paul Büttners Trio besteht aus sieben kurzen Sätzen. Eigentlich sollte dieses Werk ein absolutes Repertoirestück sein. Es ist nämlich nicht so schwer wie der Heinz Schubert, den ja die allerwenigsten überhaupt so gut spielen könnten, dass die Polyphonie richtig herauskommt. In dem Stück geht es wirklich über Stock und Stein, „halsbrecherisch“ ist das richtige Wort. Das kann man von Büttners Werk nicht sagen. Es ist aber durchaus virtuos und effektvoll und, wie gesagt, als Repertoirestück für jedes Streichtrioensemble geeignet.

Im Grunde ist German Counterpoint eine „Schrittmacherplatte“ fürs ganze Repertoire. Alle drei Werke sind wunderbar gespielt. Ich war dabei für das Strukturelle zuständig. Das ist ja keine Sache, die in sich existiert, sondern die verwirklicht werden muss. Auch habe ich dem Ganzen den Rahmen gegeben, aber die wirkliche Leistung kommt von den drei Musikern, die allesamt ganz wunderbar gespielt haben – auch die Position, die manchmal ein bisschen schwächer belichtet ist, die Bratsche, ist hier ganz wunderbar besetzt. Alles ist hier außergewöhnlich schön realisiert, sodass ich sagen muss: dieses Album ist mindestens so stark und wesentlich wie die Orchesteralben.

Kommen wir zum Hauptwerk der Zodiac-CD, zu Martin Scherbers Dritter Symphonie! Scherber ist zum einen ein sehr an der Tradition, vor allem an Bruckner, orientierter Komponist, zum anderen aber schreibt er Musik in Formen, die historisch keinerlei Vorbilder haben. Sie haben die Symphonie 2019 in Barcelona uraufgeführt, doch wurde sie vor vielen Jahren schon einmal eingespielt, sodass Ihre Aufnahme bereits die zweite ist. Was ist das Besondere an Scherbers Musik und wie kam es zu dieser Zweit-Aufnahme?

Der Fall Martin Scherber ist sehr speziell – er stand zum einen unter sehr unglücklichen, zum andern aber auch unter sehr glücklichen Vorzeichen. Scherber wurde 1907 in Nürnberg geboren, hat dann in München an der Akademie für Tonkunst bei Gustav Geierhaas studiert, einem Vertreter der deutschen kontrapunktischen Tradition, bei dem auch einige andere wichtige Leute studiert haben. Es spricht sehr für Geierhaas – auch er ein Komponist, um den wir uns gerne kümmern würden –, dass diese Komponisten sich sehr individuell entwickelt haben. Heinrich Sutermeister beispielsweise ist ein komplett anderer Komponist als Scherber. Man kann daran sehen, dass der Lehrer diesen Schülern das exzellente Handwerk, das er selbst hatte, mitgegeben, sie aber stilistisch nicht auf seine Bahn gezwungen hat. Das ist ein ganz wichtiger Punkt, den man nicht unterschätzen sollte, und das macht einen guten Lehrer aus. Auch Heinz Tiessen und Boris Blacher sind solche ausgezeichneten Lehrer gewesen, die ihren Schülern ebendiese Freiheit gelassen haben. Als ich einmal mit Günter Bialas, der genau derselbe Jahrgang ist wie Scherber, ein Interview gemacht habe, sagte auch er mir, dass es ihm ein zentrales Anliegen ist, dass jeder Student sich auf seiner ganz eigenen intuitiven Fährte entwickeln kann. Nach seinem Studium hat Scherber ein Engagement in Aussig angenommen, dem heutigen Ústí nad Labem in Tschechien, und dort als Kapellmeister das Provinzleben kennengelernt: mit ganz viel Operette. Es hat ihm dann sehr schnell gegraust davor. Er hatte aber zu dieser Zeit auch schon Goethes Metamorphosenlehre und Rudolf Steiners Anthroposophie kennengelernt, die ihn immens in seiner allgemeinen Kunstanschauung, in der Weltanschauung und natürlich auch in Bezug auf sein Komponieren beeinflusst haben. Er hat dann in Aussig gekündigt. Man wollte ihn dort behalten, aber er hatte genug von diesem trivialen und, wie er es empfand, auch frivolen Musikleben. Er ging wieder zurück nach Nürnberg und hat sich mit sich selbst darauf geeinigt, jetzt von einem Privatlehrereinkommen zu leben. Durch Steiners Schriften angeregt, suchte er die Nähe zur Anthroposophischen Gesellschaft und zur Waldorfschule. Damit ging aber auch ein Problem los, das ich gleich beschreiben will. Er hat dann vor allem Lieder komponiert, aber irgendwann sein gesamtes Frühwerk vernichtet. Erst die danach entstandenen Werke betrachtete er als gültig. 1938 schrieb er seine erste Symphonie, ein einsätziges Werk zu einer Zeit, als einsätzige Symphonien noch recht neu waren. Natürlich fällt mir Heinz Tiessens Symphonie Stirb und werde! ein, und die Erste Kammersymphonie von Schönberg, die ihrerseits eine Tradition begründet hat, und Sibelius‘ Siebte! Es gibt also durchaus einige Vorläufer. Man muss freilich auch berücksichtigen, dass daneben einsätzige Werke existieren, die vielleicht nicht „Symphonie“ heißen, aber symphonisch komponiert sind, und dass es viele sogenannten Symphonien gibt, die keine Symphonien im eigentlichen Sinne sind.

Martin Scherber, 1952

Ich meine, wenn wir „das Symphonische“ als etwas wirklich Zusammenhängendes, Organisches begreifen, dann ist die Symphonie Fantastique von Berlioz zwar dem Namen nach eine Symphonie, wie auch z. B. die Strawinsky-Symphonien, diese Werke sind aber nicht sehr symphonisch konzipiert, sondern entweder Programmmusik oder eine Art Ballettmusik. Andererseits findet sich symphonische Entwicklung in vielen Konzertouvertüren und anderen Orchesterstücken. Insofern könnte man nach dem heutigen Stand auch Mendelssohns Sommernachtstraum-Ouvertüre eine Symphonie nennen. Und definitiv hätte Debussy La Mer und Bartók sein Konzert für Orchester als Symphonie bezeichnen können. Wir müssen schon verstehen, wie idiotisch es eigentlich ist, sich am bloßen Wort orientieren zu wollen! Viele große symphonische Dichtungen sind eher Symphonien, andere eben nicht. Auf jeden Fall hat Scherber zu dieser Form der einsätzigen Symphonie ganz bewusst gegriffen. Die Erste dauert eine gute halbe Stunde und ist aus einem Themenkern entwickelt. Ziemlich deutlich lassen die Abschnitte noch die traditionellen vier Sätze durchscheinen, also auch einen langsamen Mittelsatz und ein Scherzo. Diese Symphonie wurde erst nach dem Kriege in den 1950er Jahren aufgeführt. Scherber hat den Krieg als Soldat mitmachen müssen, kam dann aus der Gefangenschaft zurück, und dann hat er sich eingeschwungen auf die großen Metamorphosen-Symphonien, die er schreiben wollte. Als Vorübung erstellte er Klavierauszüge der Symphonien Nr.  3–9 von Bruckner. Er schickte sie Furtwängler zur Begutachtung, der sie ausgezeichnet fand. In der ersten Hälfte der 1950er Jahre entstand zuerst Scherbers Zweite, dann seine Dritte Symphonie, auch diese beiden einsätzige Werke. Der Komponist gab an, dass die Zweite eine Stunde dauert, die Dritte etwas länger. Er hat alle drei Symphonien für zwei Klaviere transkribiert und sie zusammen mit seinem Schüler Willi Held im Wohnzimmer aufgenommen. Die Aufnahmen sind erhalten. Die Stücke dauern hier wesentlich kürzer als angegeben: die zweite eine Dreiviertelstunde, die Dritte 53 Minuten. Das liegt daran, dass sie auf Klavieren gespielt werden. Scherbers eigene Angaben beziehen sich aber auf orchestrale Aufführungen, von denen er deutlich längere Spieldauern erwartet hat. Sein Freund Fred Thürmer hat die Erste Symphonie uraufgeführt und auch mehrere Male wiederaufgeführt. Auch die Zweite Symphonie hat er als Erster dirigiert. Als die Dritte vollendet war, hatte Türmer aber nicht mehr eine solche Position inne, in der er über ein so gutes großes Orchester verfügte, das für dieses Werk notwendig gewesen wäre. So kam keine Aufführung mehr zustande, auch keine weitere der Zweiten. Scherber hat in den eineinhalb Jahrzehnten danach beinahe nichts mehr komponiert. Dann wurde er 1970 von einem betrunkenen Autofahrer über den Haufen gefahren und hat schwer verkrüppelt noch drei Jahre gelebt. Mit dem Komponieren war es endgültig vorbei. Seine Dritte Symphonie hat er nie gehört.

Aber noch zu seinen Lebzeiten wurde in Krefeld um Fred Thürmer ein Bruckner-Kreis gegründet, der sich auch der Werke Scherbers annahm. Und als er bereits durch den Unfall unheilbar gezeichnet darniederlag, überredeten ihn die Schüler, seine Symphonien, deren Veröffentlichung zu seinen Lebzeiten er nicht beabsichtigt hatte, als Manuskriptpartituren zu publizieren. So sind sie alle drei zum Dürer-Jahr 1971 in schwarzen Kunstledereinbänden gedruckt und an alle möglichen Bibliotheken verschickt worden. Auf diese Weise hoffte man, auf Resonanz für die Werke zu stoßen. Es kam aber keine einzige Aufführung zustande. Immerhin waren nun die Partituren da und hatten sich einigermaßen verbreitet. Vor allem wurde die Erste Symphonie überall hingeschickt, sodass von diesem Bestand heute kein Exemplar mehr beim Bruckner-Kreis vorhanden ist.

Dann verging eine lange Zeit. Mittlerweile hatte sich eine anthroposophische Exegesetradition um Scherber entsponnen. Man muss dazu sagen, dass aus dem anthroposophischen Kreis sowohl für, als auch gegen ihn starke Impulse kamen. Allerdings haben sich führende anthroposophische Musiker ganz aggressiv gegen Scherber ausgesprochen. Das ging soweit, dass Hans Börnsen forderte, man müsse diese Musik verbieten. Scherber war zwar enttäuscht von der Haltung der Anthroposophen zu seiner Symphonik, hat aber trotzdem testamentarisch die Originalhandschriften seiner Partituren dem Goetheanum in Dornach vermacht, wo sie heute im Archiv vor sich hin schlummern. Für mich ist es ganz klar, dass die Ablehnung, auf die Scherber hier stieß, ihre Gründe auch darin hat, dass mit Scherber ein so großer Fisch in einem doch relativ kleinen Teich herumschwamm. Das wäre für die anderen Komponisten schwierig geworden, auch wollten sie moderner sein. Jürgen Schriefer und so weiter wollten lieber wie Stockhausen klingen als wie Bruckner. Das muss man einfach verstehen.

Ganz klar hört man Brucknersche Stilelemente in Scherbers Musik. Man hört auch, zum Teil ganz deutlich, etwa auf dem Höhepunkt des „Wassermann“-Satzes der Zodiak-Symphonie, Wagner heraus. Die Musik kommt eindeutig aus dieser Tradition, aber die Physiognomie, die Psychologie ist eine komplett andere. Scherber schafft wirklich alles aus einem Thema! Es ist eine sehr deutsche, radikale Idee, alles aus einem Themenkern abzuleiten wie in der Kunst der Fuge. Dem Werk Bachs liegt bekanntermaßen ein handwerklich-kontrapunktischer Gedanke zugrunde. Scherber ist aber kein kontrapunktischer Handwerker in diesem Sinne. Er ist überhaupt kein konservativer Kontrapunktiker: Es gibt, wie bei Sibelius, keine Fugen in seinem Schaffen und nur wenige Kanons. Ausgerechnet der erwähnte Satz allerdings, in dem sich dieser wagnerische Höhepunkt findet, der sehr an den Höhepunkt des Tristan-Vorspiels erinnert, beginnt mit kanonischer Führung. Dieser „Wassermann“-Satz ist übrigens der einzige Abschnitt des Werkes, vor dem sich eine deutliche Atempause findet.

Konventionelle Kontrapunktik gibt es bei Scherber ebenso wenig wie bei Sibelius, wie ja auch Bruckner sehr freie Fugen schreibt, wenn sie denn einmal bei ihm vorkommen. Ansonsten hat sich Bruckners Musik von den hergebrachten kontrapunktischen Formen komplett abgelöst, bezieht aber alle Stimmen als kontrapunktische Elemente ein – das Streichquintett ist ein gutes Beispiel. Sibelius hat sich von den traditionellen kontrapunktischen Formen komplett verabschiedet – er ist ein kontrapunktischer Komponist, aber ein ganz freier! Deshalb gibt es bei ihm auch keine starke Betonung des Kontrapunktischen. Scherbers Musik ist schon deutlicher kontrapunktisch. Es finden sich Techniken, die aus dem Proportionskanon übernommen sind, also verschiedenene Tempi, die gleichzeitig ablaufen. Aber sie werden frei angewendet. Als Kontrapunktiker erweist sich Scherber außerdem durch eine ganz andere Eigenschaft: Er will keine Begleitstimmen. In der Symphonie sind alle Stimmen für die Musiker dankbar geschrieben, da sie alle für sich selbst einen Sinn ergeben. Das ist eine ganz wichtige Sache! Er wollte, dass das Orchester aus gleichberechtigten Individuen besteht, die in einem großen Organismus zusammenwirken. Überhaupt ist das Ganze eigentlich eine einzige Verwebung, auch formal. Die einzelnen Abschnitte der dritten Symphonie sind oft nicht eindeutig voneinander abgegrenzt. Es könnten auch andere Einschnitte vermutet werden, wenn nicht alles so klar hingeschrieben wäre. Die Glieder des Werkes, wie Scherber selbst sie nennt, verdeutlicht er durch die Tierkreis-Symbole in der Partitur. Und es ist auch hinten in der gedruckten Partitur vermerkt, wo die 12 Glieder der Symphonie beginnen. Das ist in der Zweiten Symphonie nicht so. Zwar hat Scherber die Bemerkung hinterlassen, dass sie siebenteilig sei, auch gibt es drei Abschnitte, die ganz klar abgegrenzt sind, aber wo genau die anderen vier beginnen und enden, ist nicht eindeutig zu bestimmen. Wenn ich jetzt nur anhand der Noten schauen müsste, wo die Abschnitte in der Dritten beginnen, dann würde mir das teilweise ebenfalls unklar bleiben müssen und ich würde vielleicht andere Stellen ausmachen als der Komponist selbst. Auch das ist ein Zeichen dafür, dass es bei Scherber nie schematisch zugeht. Es gibt keinen mechanischen, von außen her regulierenden Zugriff auf die Form. Das ist ganz wichtig: Das Werk ist organisch gewachsen!

Als Scherber gestorben war, hat sich erst einmal nicht viel getan für seine Musik. Es gab aber Menschen, die daran gearbeitet haben, dass sich etwas tut. Und es ist ihnen schließlich gelungen, lange nach dem tragischen Tod des großen Scherber-Dirigenten und Bruckner-Kreis-Initiators Fred Thürmer, genügend Geld zu akkumulieren, um 1999 in Ludwigshafen die Dritte Symphonie aufnehmen zu lassen. Dirigent war der Komponist Elmar Lampson, selbst ein Anthroposoph. Allerdings hat man damals einfach übersehen, dass Scherber durch die Tierkreis-Symbole die Symphonie in 12 Abschnitte gegliedert hat, und deshalb gar nicht gemerkt, wie sich diese Einsätzigkeit unterteilt. Man kommt sich, hört man die Aufnahme aus Ludwigshafen, ein bisschen so vor wie bei manchen Allan-Pettersson-Aufnahmen: Das ist sozusagen, als würde die Musik durch einen Tunnel fahren, um am Ende dann wieder herauszukommen. Ja, es hat in gewisser Weise etwas Überwältigendes, aber nach meinem Empfinden erscheinen dadurch auch ziemlich monotone Längen. Die Musik wurde damals recht heftig von der Kritik abgelehnt. Reinhard Schulz hat ganz böse von einer „Schimäre der Zeitlosigkeit“ geschrieben, die allenfalls lästig sei; die Metamorphose würde auf der Stelle treten. Mein Freund Til Köster, der ein sehr guter Musiker und sehr gelehrter Musikwissenschaftler war, hat das Werk auch abgelehnt, als völlig formlos und so weiter.

Dann wurde die Zweite Symphonie eingespielt. Diese Aufführung in Moskau unter Samuel Friedmann ist insgesamt auf jeden Fall besser! Beide Aufführungen, die der Dritten und die der Zweiten, haben sich aber an den Tempi der privat von Scherber aufgenommenen Fassungen für zwei Klaviere orientiert, die ja nicht mit dem übereinstimmen, was Scherber von Aufführungen der originalen Orchesterfassungen erwartet hat. Sie sind einfach viel schneller, und dadurch, wenn man das einfach ins Orchester übernimmt wie in beiden Fällen, leidet die Aufführung deutlich unter sehr stressigen Tempi. Ein Freund von mir sagte, als er die Aufnahme der Zweiten hörte, das klinge wie russische Ballettmusik. Sehr lustig! Die Zweite Symphonie enthält ganz lange Temposteigerungen, wie wir sie eigentlich nur aus einem Werk wie dem Kopfsatz der Fünften Symphonie von Sibelius kennen. Es braucht also eine besonders behutsame Art, das Tempo psychologisch zu steigern, damit der Eindruck des ständigen Tempozuwachses über 30, 40 Partiturseiten erhalten bleibt. Das ist noch eine ganz andere Herausforderung in Bezug auf den Anspruch, Steigerungen zu bauen, als eine bloße dynamische Steigerung. Es gibt aber dafür durchaus Hebel und Mittel! In Bezug auf die kontinuierliche Temposteigerung ist es natürlich hilfreich, auf gar keinen Fall das Tempo dort zu entspannen, wo die Struktur gleich bleibt. Jede Form von Strukturänderung, überhaupt der Eintritt von etwas Neuem als Primärerscheinung, lässt eine unauffällige Entspannung des Tempos zu, weil die Aufmerksamkeit der Hörer anderswohin gelenkt wird. In diesem Moment kann das Tempo nachlassen, ohne dass wir spüren, dass das Tempo wirklich langsamer würde. Dadurch kann der Eindruck einer ständigen Auffrischung des Tempos erhalten bleiben. Aber das ist eine Arbeit, die für uns noch zu tun ist! So Gott will, werden wir das Werk im Juli 2024 mit dem gleichen Orchester wie in der Dritten in Barcelona aufführen können.

Die Erste Symphonie ist von Adriano in Bratislava aufgenommen worden. Adriano hat dabei, wie immer, alles an Identifikation gegeben, was möglich war. Für diese CD bat man mich, den Booklettext zu schreiben. Über diese Arbeit kam ich mit den Scherberianern in Berührung. Der Mann, der mir damals den Auftrag für den Einführungstext erteilt hat, Friedwart Kurras, ist bald darauf gestorben, und der gesamte Scherber-Nachlass, der noch da war, ging an Friedemann Grau, einen pensionierten Lehrer, über. Ihn habe ich dann getroffen. Er ist ein absolut liebenswürdiger und bescheidener Mensch und ein sehr feiner Musikkenner, auch selbst praktizierender Musiker. Wir haben uns sehr gut verstanden, und er hat mir viele Materialien über Scherber zukommen lassen. Auch war er froh, dass mein Text nicht aus der so stark anthroposophisch gefärbten Richtung kam, sondern die Sache von einer anderen Warte aus betrachtete. Es geht mir nicht darum, negativ über diese anthroposophischen Texte zu sprechen, aber das war sicher eine neue Perspektive. Und es ist schon so, dass eine gewisse Form der Allgemeinverständlichkeit mit der anthroposophischen Sprachstilistik schon eher schwierig war. Es sind nicht alle Menschen gewohnt, Steiner zu lesen. Auch Schriften wie die von Schwers über Bruckner sind einfach für viele Menschen schwer lesbar. Es wird eine Terminologie vorausgesetzt, die nicht zum allgemeinen Repertoire der Menschheit gehört, die man darum nicht als selbstverständlich erachten kann, auch nicht bei fachspezifisch gebildeten Menschen. Irgendwann haben Herr Grau und ich über die Erstaufnahme der Dritten Symphonie gesprochen, und ich habe gesagt: Das ist noch nicht wirklich das, was es sein könnte! Er fragte mich daraufhin: „Wollen Sie es noch einmal machen?“ Da habe ich „Ja“ gesagt! Friedemann Grau hat dann alles ermöglicht und bezahlt. Es ist unglaublich, was er getan hat. Als ehemaliger Lehrer an einer staatlichen Schule ist er sicherlich mit einer ausreichenden Pension ausgestattet, aber dass hier ein Mensch tatsächlich aus eigener Tasche die Mittel bereitgestellt hat, diesen unglaublichen Aufwand zu bezahlen, ohne dass irgendwelche sonstigen Förderungen hinzugekommen sind, das ist ein Zeichen von absoluter Widmung und Liebe für diese Sache, in seinem Fall auch von tiefstem Verständnis! Dass er jetzt auch die Aufnahme der Zweiten Symphonie und weitere Scherber-Projekte finanziert, ist wunderbar! Ottavia Maria Maceratini wird die Erstaufnahme des ABC-Zyklus für Klavier vorlegen. Sie hat ihn vor wenigen Tagen ganz großartig eingespielt! Dann werden die zwei kleinen Trios für zwei Geigen und Klavier von Rémy Ballot, Iris Ballot und Masha Dimitrieva aufgenommen, zusammen mit Heinrich Kaminskis hochkomplexer Musik für zwei Geigen und Cembalo (auf dem Klavier gespielt), Hugo Distlers Trio für zwei Geigen und Klavier – ein wunderbares Werk, auch von einem Nürnberger, der nur ein Jahr jünger war als Scherber –, dem symphonisch angelegten Violinduo op. 86 von Felix Draeseke und sechs Duo-Miniaturen für zwei Violinen von Heinz Tiessen. Auf jeden Fall hat Herr Grau seinen Dienst für die Ewigkeit schon getan! Und ich hoffe, dass wir es ihm in unserer Funktion gleichtun können, indem wir seinen Wunsch auch umsetzen und angemessen Realität werden lassen.

Besonders bemerkenswert erscheint mir, dass der Komponist dieses Werk, diese mehr als einstündige Dritte Symphonie, in Partitur und Stimmen ohne einen einzigen Fehler niedergeschrieben hat. Wir haben aus Stimmen gespielt, die noch nie benutzt wurden, handschriftlichen Stimmen vom Komponisten, der das Werk nie gehört hat – und wir mussten nicht eine einzige Korrektur vornehmen. Das spricht eben auch für ihn! Dieser verkannte Künstler war zugleich ein unglaublich präziser Handwerker. Unglücklicherweise hat er damals die Partitur der Dritten Symphonie an Bruno Walter geschickt, der dann schrieb, er könne in dem Werk keinen Funken von Schöpferkraft erkennen. Walter mochte natürlich Bruckner, wobei man damals Bruckner immer noch generell als mit Formschwächen behaftet ansah. Aber Walter war vor allem Mahlerianer, und Gustav Mahler ist der äußerste Gegensatz, den man sich zu Scherber vorstellen kann. Wenn Mahler sagte, die Musik solle wie die Welt sein und alles umfassen, so kann man seine Musik als zentrifugal bezeichnen. Es ist wirklich wie in einer Achterbahn! Die Musik ist episodisch, voller unglaublicher Einfälle. Sie lebt auch ganz stark eine Diskontinuität, eine Zerrissenheit aus. Aber das ist das Gegenteil von Bruckner! Mahler mag auf Schubert und Bruckner fußen, auch vielleicht auf Bach, aber Bruckner, Schubert und Bach schrieben zentripetale Musik: eine Musik, die sich total in die Innenwelt hinein bewegt, die primär den inneren Kosmos erforscht, nicht die Außenwelt. Scherbers Musik musste Walter fremd bleiben. Anderen ist sie nicht fremd geblieben, namentlich Fred Thürmer. Thürmer war wirklich ein großartiger Dirigent, was man aus seiner erhaltenen Aufführung der Ersten Symphonie mit einem sehr unzureichenden Orchester hören kann. So großartig wie die Erste hätte er auch die Dritte gemacht! Leider bekam er dazu nicht die Gelegenheit. Auch von der Zweiten gab es einen Aufführungsmitschnitt, doch hat er sich leider nicht erhalten. Da hätte man hören können, wie der Dirigent das Werk in enger Zusammenarbeit mit dem Komponisten realisiert hat.

Interessanterweise sind Sie wie Fred Thürmer Schüler von Sergiu Celibidache. Inwiefern kann Celibidache für heutige Musiker ein Vorbild sein?

Thürmer war drei Jahrzehnte vor mir am Berliner Musikinstitut Student von Celibidache. 1949 hat er dort seinen Abschluss gemacht, mit Auszeichnung und einem ganz superben Zeugnis Celibidaches, wie das fast niemand sonst je vorweisen konnte. Celibidache schrieb darin, dass er Thürmer eigentlich nur eines wünsche: ein Orchester, das adäquat umsetzen kann, was er an Potenzial bereitzustellen vermag.

Die Frage, inwiefern Celibidache für heutige Musiker ein Vorbild sein kann, ist gar nicht so einfach zu beantworten, da er sich sehr kontrovers zum Musikleben verhalten hat. Die Strukturen des Musiklebens, die für ihn offensichtlich fehlgeleitet waren, hat er offen bekämpft. Er hat sich offen gegen die Kommerzialisierung gewandt, er hat sich offen gegen die ästhetische Dogmatisierung gewandt. Seine Haltung lässt sich gut mit einem Zitat von Artur Schnabel beschreiben. Bei der Londoner Erstaufführung von Artur Schnabels Erster Symphonie hat Norman Del Mar den Einführungstext geschrieben, worin stand, das Werk sei in Zwölftontechnik komponiert – was nicht der Fall ist, es ist dissonant-freitonal. Del Mar ließ dabei seine Ansicht durchscheinen, dass bei der Zwölftontechnik keine wirkliche Musik herauskomme. Gegen beides hat sich Schnabel gewehrt und erklärt: „Ich brauche keine Angeschirrung, kein Gefängnis, keinen Führer, keine Kirche.“ Das würde Celibidache auch sagen! Seine sehr kritische Haltung zur Dodekaphonie erklärt sich daraus, dass sie nicht hergibt, was sie sich vorgenommen hat. Das heißt nicht, dass die Dodekaphonie abzulehnen ist, sondern dass sie phänomenologisch ganz natürliche Konsequenzen hat. Da kommen wir jetzt zur Phänomenologie.

Phänomenologie ist keine Philosophie – das ist ein ganz großer Irrtum! –, Phänomenologie hat keinen Inhalt, Phänomenologie ist eine Methode: eine Methode, die, soweit es geht, unsere Willkür der Interpretation ausschließen soll. Natürlich interpretieren wir, was wir sehen und hören, wenn wir darüber sprechen, was wir erleben. Wenn wir etwas sehen, ist das keine Interpretation, es sei denn wir laden es mit persönlichen Gefühlen auf. Wenn wir also in den Sonnenuntergang schauen und dieses wunderbare Rot erblicken, und wir dann daran denken, wie schön es doch war damals, als man mit seiner Liebsten im Federbett lag und Tee getrunken hat, dann sind wir natürlich Interpreten dieser Situation. Denn der Sonnenuntergang hat nichts mit dem leckeren Tee zu tun, und nichts mit dem schönen Sex, der dem Tee vorangegangen ist. Wir tragen unsere Gedanken und Sehnsüchte in diesen Sonnenuntergang. Die Phänomenologie geht zurück zu den Phänomenen, den Dingen selbst. Dieses „zurück“ wurde von Husserl geprägt. Man kann auch einfach sagen: Beziehe dich auf das, was da ist und nicht auf das, was du hinzufügst! Dadurch, dass du selbst etwas dazu bringst, nämlich deine Interpretation, interpretierst du zwangsläufig. Aber der Sinn der Sache besteht darin, so wenig wie möglich zu interpretieren. Tun wir das, wird uns ganz viel bereitgestellt, vor allen Dingen die grundsätzliche Erkenntnis, worauf die Wirkung der Harmonik auf den menschlichen Affekt beruht, nämlich auf der Quintgebundenheit, und zwar der Quintgebundenheit in beiden Richtungen: Die Abwärtsquint führt in die introvertierte Region, die Aufwärtsquint in die extravertierte Region; und alle Intervalle lassen sich auf Quinten zurückführen, die entweder in die eine oder die andere Richtung weisen – bis hin zum Tritonus, wo die Entfernung in beiden Richtungen die gleiche und damit diese Eindeutigkeit nicht mehr gegeben ist. Das alles hat Celibidache systematisch begriffen und weitergegeben, was bis heute von der Musikwissenschaft nicht erkannt ist, und auch nicht anerkannt. Im Gegenteil denken sehr viele Menschen aufgrund der etwas dümmlichen Behauptung einiger Musikkritiker, die, da ihnen die musikalische Ausbildung fehlt, gar nicht verstehen würden, von was da die Rede ist, es handele sich um eine sogenannte ‚Privatphilosophie‘ – ungefähr wie man von Philosophen spricht, die von der akademischen Philosophie nicht anerkannt werden. Dabei gibt die Phänomenologie eine Grundlage, wie sie von nichts anderem in Bezug auf Musik bereitgestellt werden kann. Das war für mich entscheidend, als ich damals mit dem Studium begonnen habe. Ich merkte: Das gilt für alle Musik, nicht nur für bestimmte Stilrichtungen, nicht nur für bestimmte ethnische Varianten, nicht nur für Klassik alleine! Was da verstanden wird, das versteht man für jede Art von musikalischer Betätigung. Heinz Tiessen, Celibidaches großer Lehrer, hatte in den 1920er Jahren noch die Hoffnung geäußert, dass vielleicht eines Tages jemand komme und all diese damals als so divergierend erscheinenden Dinge – traditionelle Harmonik, freie Tonalität, „Atonalität“ – in einer Synthese zusammenführen würde, der etwas herausfinden könne, was für all das als Grundlage gilt. Und genau dazu steht die Phänomenologie bereit!

Ich kam 1981 durch glückliche Umstände zu Celibidache. Damals habe ich dilettantisch komponiert, vor allem spielte ich in einer Art Prog-Rock-Band, die aus Geige, Bass und Schlagzeug bestand. Wir waren eine rein instrumentale Gruppe und ließen uns von Univers Zero inspirieren, von diesen absolut diabolischen Ganoven der feinsten Art aus Belgien und ihren abgründigen Sachen. Ich war aber zugleich ein ganz großer Bewunderer von King Crimson und von Oregon, dieser amerikanischen Gruppe, die sich ganz stark mit indischer Musik und mit Weltmusik im Allgemeinen auseinandergesetzt hat. Damals kam ich auf die Idee, dass man eine Fusion aus allen Stilen der Welt versuchen sollte! Ich hatte das Glück, ein Jahr bevor ich Celibidache kennenlernte, auf dem Flughafen in Karachi, wohin unsere Maschine, die eigentlich nach Delhi gehen sollte, wegen eines Sandsturms abdrehen musste, Ravi Shankar kennenzulernen. Shankar hat mir damals gesagt, ich sollte meine Erkundungen in der Musik dieser Welt weiter verfolgen, aber ich solle auch beginnen zu verstehen, dass man nicht alles mit allem fusionieren kann. Wo Gewinn ist, ist auch Verlust, sagte er. Das war ein ganz wichtiger Schlüsselsatz! Und er gilt für die ganze Musikgeschichte. Beispielsweise führt die chromatische Ausdeutung eines Monteverdi, Marenzio oder Gesualdo dazu, dass der Kontrapunkt auf ein Minimum reduziert wird. Egal was man tut, es kostet etwas! In dem Moment, in dem die Polyphonie auftauchte, verloren die Modi ihre tatsächliche Bedeutung und verschwand die Mikrotonalität. Mit dem Aufkommen der Modulation gingen die Modi endgültig verloren, da man nun die eindeutige dominantische Kraft benötigte, um neue Tonarten zu bekräftigen. Wir verstehen heute die indische Musik nicht. Für uns klassische Musiker ist es unmöglich, die Mikrotonalität bewusst zu hören, da wir uns daran gewöhnt haben, mit einem Klavier oder mit einer Orgel einverstanden zu sein. Aber auch in Indien hat man mit solchen Instrumenten die Mikrotonalität weitgehend ruiniert. John Foulds hat in den 1930er Jahren gegen die Verwendung des Harmoniums in der Volksmusik Partei ergriffen. Interessanterweise hat Ravi Shankar damals die Radiosendungen von Foulds West Meets East gehört, und wurde dann selbst der Pionier eines wirklich die Welt umspannenden und sich durchsetzenden „West Meets East“.

Bei Celibidache habe ich dann studiert, bis er 1996 gestorben ist. Mein musikalischer Anspruch war damals immens, aber meine Praxis war gleich null. Da ich Kinder hatte und dringend irgendwie Geld verdienen musste, gab mir ein Freund den Rat, mich als Journalist zu betätigen. So habe ich mein Geld mit Musikjournalismus verdient. Ich fing dann an, mit einzelnen Musikern zu arbeiten, wobei wir wunderbare Resultate erzielten, weil das eben auch wunderbare Musiker waren. Auf diesem Umweg kam ich zum Dirigieren und habe 2010, mit 49 Jahren, zum ersten Mal ein Programm dirigiert, das wir damals auch gleich aufgenommen haben – das neugegründete Streichorchester Symphonia Momentum mit dem Debüt-Album Declamatory Counterpoint. Im Grunde ist es für mich immer ein fließender Übergang von allem zu allem: vom Arbeiten mit Solisten über Kammermusik zum Dirigieren und Schreiben. Die Forschertätigkeit, die mich leitet, begleitet mich dabei stets. Ich liebe es nach wie vor, neue Dinge zu entdecken und glaube überhaupt nicht auch nur im Mindesten an das, was mir über den „Kanon der großen Kultur“ erzählt wird. Das ist total uninteressant! Natürlich gibt es ganz große anerkannte Komponisten, die nicht zu übertreffen sind – Bach, Mozart, Beethoven, Schubert, Bruckner, Tschaikowsky, Bartók etc. Aber dann komme ich etwa zu einem Martin Scherber. Am Anfang war ich auch skeptisch, da ich nur die alte Aufnahme der Dritten Symphonie kannte. Ich habe gedacht: Ob das funktioniert, ist eine andere Sache, aber dass dieser Komponist tolle Sachen machen kann, ist klar. Ich musste mich ihm wirklich annähern. Aber wie hat das Orchester diese Musik geliebt, als wir sie dann gemeinsam erkundeten: jeder Musiker im Orchester! Natürlich gab es auch psychologische Hilfsmittel in der Probe: „Wer von euch ist ein Fisch? Wer von euch ist eine Jungfrau?“, und so weiter. Für jeden war ein Satz dabei, das stimmt, aber es lag nicht daran. Tatsächlich sind die Stimmen für alle Musiker so wunderbar geschrieben, dass wir innerhalb dieser kurzen Zeit von vier Proben ein so unglaublich gutes Resultat erzielen konnten. Wie großartig ist es, ein Orchester mit einer so unglaublichen Agilität, Aufmerksamkeit und Demut gegenüber der Musik zu erleben! Freunde haben mir zwar gesagt, das sei zum Glück das beste Orchester in Spanien, es würde mir aus der Hand fressen, aber so gesagt trifft das nicht den Kern der Sache: Das Orchester war von selbst schon so aktiv, alle haben aufeinander gehört.

Wie man lange Steigerungen aufbaut, habe ich natürlich bei Celibidache „inhaliert“, und das hat mir, wie auch das intuitive Erfassen der Balance, sehr geholfen. Mir ist weitgehend klar, was ich ihm verdanke. Die Phänomenologie übrigens entwickelt sich unvorhersehbar weiter. Viele Dinge habe ich im Detail näher ausgekundschaftet, gerade was die Frage nach der Herkunft der Molltonleiter, aber auch viele andere Dinge betrifft. Keineswegs hat die Phänomenologie der Musik mit Celibidache ihr Ende gefunden, er war ihr grandioser Anfang! Woran also sollen sich Musiker heute orientieren? Das lässt sich schwer in wenigen Worten sagen. Jeder kann sich bei mir oder den anderen, die bei ihm gelernt haben, melden. Es kann sehr viel weitergegeben werden. Zur Zeit bin ich dabei, ein Buch über diese Grundlagen zu schreiben. Aber allein aus einem Buch werden diese sich nicht vermitteln lassen. Wir Musiker brauchen ein direktes Feedback zu dem, was wir gerade erleben, tun und denken und sagen. Das ist wichtig, denn Musik soll ja aus dem Lebendigen heraus entstehen. Das Buch wird viel zur Klärung der Fragen beitragen können, aber man muss bedenken, dass es nur einen Teil der Arbeit leisten kann. Es werden Menschen ja auch nicht zwangsläufig spirituell, nur weil sie spirituelle Bücher lesen, und seien diese noch so großartig. Wichtig ist auf jeden Fall, dass man nichts glauben soll, was man nicht selbst nachvollziehen kann, und absolut nichts einfach so zu übernehmen! Ich habe in meinem Leben als junger Mensch mehrfach den Fehler gemacht, dass ich mich nach irgendetwas gerichtet und dann auch arrogant dumme Dinge nachgeredet habe, weil ich dachte, damit auf der richtigen Seite zu sein und klug zu erscheinen. Und dann hat mir irgendwann gedämmert, dass das grundsätzlich dumm und oft genug auch falsch ist. Glaube nichts, was Du nicht erkannt hast! Es geht nicht um Skeptizismus, es geht nicht um ein intellektuelles Misstrauen, um eine scheinbare innere Unabhängigkeit damit zu gewinnen. Es geht darum, nur das, was man wirklich komplett verdauen kann, anzunehmen.

Welche Projekte würden Sie gerne in der Zukunft realisieren?

Da gibt es sehr, sehr viel, was ich unbedingt machen möchte. Müsste ich einzelne Komponisten nennen, so fällt mir etwa sofort Giorgio Federico Ghedini ein, der große Norditaliener, für mich der bedeutendste italienische Komponist des 20. Jahrhunderts. Oder diese beiden phänomenalen Italoamerikaner Vittorio Giannini und Nicolas Flagello, die großen Belcanto-Komponisten des 20. Jahrhunderts. Flagello ist für mich der Tschaikowskij seiner Zeit. Natürlich ist das eine andere Musik, aber diese unglaubliche Direktheit seiner emotionalen Welt, die er dem Hörer schenkt, hat Flagello mit Tschaikowskij gemeinsam. Sie trägt ebenfalls ein großes Leidenspotential. Ein anderer Amerikaner, zufälligerweise auch italienischer Abstammung, ist Peter Mennin, der ganz große amerikanische Symphoniker. Und dann natürlich der Russe Gabriel Popov, aber auch sein jüngerer Landsmann Revol Bunin.

Paul Büttner

Und dann haben wir die ganzen vergessenen Meister des deutschen Expressionismus: Heinz Tiessen, sein Schüler Eduard Erdmann, Philipp Jarnach, Max Butting, Heinz Schubert, Edmund von Borck. Da gibt es große Leute in Deutschland! Natürlich auch in den vorangegangenen Generationen! Da sind die phänomenalen Dresdner Komponisten wie Jean Louis Nicodé, der ganz große Programmsymphoniker auf einer Stufe mit Strauss und Hausegger, auch ein großer Meister der Anverwandlung, dem, wenn er wie Beethoven oder Schumann schreiben will, das auf dieser Qualitätsstufe auch gelingt. Das schaffen die meisten anderen nicht, die so etwas versuchen! In Dresden finden wir auch Felix Draeseke und seine Schüler Paul Büttner und Paul Scheinpflug. Aus England muss natürlich John Foulds genannt werden, aber auch Bernard Stevens, Peter Racine Fricker, Arnold Cooke, Christian Darnton. Es gibt so verschiedene Komponisten, die einen sind mehr konservativ, die anderen öffnen völlig neue Fenster. Der Franzose Jean-Louis Florentz ist für mich einer der ganz großen Komponisten der abendländischen Musik überhaupt, die Krönung der französischen Orchestermusik auf der Grundlage von Debussy, Ravel und Florent Schmitt; ein moderner Meister, Schüler von Messiaen, aber weit über den Lehrer hinausgegangen, mit einer Lebendigkeit, einem Sinn für Geschlossenheit der Form und einer ganz anderen Neuerungskraft als wie die akademische Moderne sie sich vorstellt. Auch Anders Eliasson aus Schweden ist solch ein ganz großer moderner Meister abseits dessen, was man als modern versteht. Oder der große Improvisator Pehr Henrik Nordgren, ein Komponist von einer unglaublichen Authentizität. Ja, da gibt es ganz viel phänomenale Musik!

Celibidache verdanke ich auch hier wichtige Anregungen. Erst einmal bin ich durchgegangen, was er alles an neuer Musik dirigiert hat. Natürlich sind das nicht alles große Werke gewesen. Es finden sich auch Stücke darunter, die wurden aufgeführt, weil ein Auftrag vergeben worden war und Celibidache eben zu der Zeit dort dirigiert hat. Die Partita für Streichorchester von Franco Margola beispielsweise ist kein bedeutendes Werk. Aber was er von Ghedini dirigiert hat, etwa die Contrappunti per tre archi ed orchestra, von denen es eine fantastische Aufnahme Celibidaches gibt, hat mir, wie man so schön sagt, den Boden unter den Füßen weggezogen. Oder die Erste Symphonie von Egon Wellesz, oder Paul Höffer – er hat Werke als erster aufgeführt, die ganz großartig sind! Und das hat mich angeregt. Dann habe ich das Feld noch viel weiter erforscht – ich war ja bis 2010 nicht als Dirigent tätig. Meine Tätigkeit als Journalist habe ich genutzt, um jeden mir erreichbaren Winkel auszuforschen, mir die Partituren zu besorgen, mich mit der Musik zu beschäftigen und im Unbekannten nach dem zu suchen, was wirklich Substanz hat. Und da ist viel!

In Spanien ist gerade Conrado del Campo, ein ganz großer Streichquartettkomponist, im Kommen, weil die Spanier selbst gemerkt haben, wie wertvoll seine Musik ist. Ja, so geht das Stück für Stück, man findet immer wieder die unglaublichste Musik: jetzt eben erst ein Violinkonzert von Mario Guarino, ein Meisterwerk der Post-Puccini-Musik, instrumentaler Verismo vom Allerbesten – und von Aldo Ferraresi auch so aufgeführt, dass man verstehen kann, dass das ganz große Musik ist. Es gibt meiner Meinung nach noch unglaublich viele große Komponisten, die noch nicht entdeckt sind, und natürlich unglaublich viele unbedeutende. Selbstverständlich muss man seine Nase schulen! Bei der Suche kommen mitunter glückliche Fügungen zu Hilfe. Ich bin natürlich in sehr vielen Antiquariaten unterwegs gewesen. Als es das Knobloch-Antiquariat in München noch gab, lag da einmal eine Partitur von Heinz Schubert, Präludium und Toccata für doppeltes Streichorchester. Und darin lag als Schreibmaschinendurchschlag ein Brief von Heinz Schubert mit Aufführungsanweisungen an den Dirigenten Wilhelm Sieben, der das Werk damals mit den Berliner Philharmonikern aufführte. In Barcelona stieß ich auf Conrado del Campos Caprichos Románticos für Streichquartett: Plötzlich liegt so eine Musik vor dir und du siehst, dass das wirklich Substanz, wirklich etwas zu sagen hat! So habe ich auch eines Tages die drei Scherber-Symphonien in dem erwähnten Münchner Antiquariat gefunden: jede für 10 €!

Ja, so geht das, und plötzlich stößt man auf ein Wunder wie John Foulds, der eine solch lichte Welt in diese Moderne hineingebracht hat, ganz gegen den herrschenden Zeitgeist der Destruktion. Natürlich ist sein Werk mittlerweile erschlossen, aber noch nicht eigentlich entdeckt. In jedem Land finden sich große Komponisten, man kannst durch alle Gegenden gehen. In Tschechien habe ich jetzt Viktor Kalabis für mich entdeckt, aus dem Kosovo Rexho Mulliqi. Und kaum habe ich da wieder etwas gefunden, tauchen auch schon wieder am Horizont die nächsten ein, zwei, drei Leute auf. Der eine oder andere darunter stellt sich dann als sich relativ schnell abnutzend heraus: Man merkt sehr bald, dass eine Masche vorliegt. Der andere wird umso größer, je besser man ihn kennenlernt. Ghedini, der so unglaublich vielseitig war und doch immer seine eigene Stimme hat, ist es in einmaliger Weise gelungen, das alte Italien heraufzubeschwören und mit einer neuen Sprache zu verschmelzen. Daraus entstand eine wirklich italienische Musik im schönsten Sinne für das 20 Jahrhundert. Vittorio Giannini, der einer Opera Company entstammt, sozusagen in der Oper aufgewachsen ist, hat dann einfach in dieses Italienische in die Neue Welt hineingeschrieben. Amerikanische Elemente haben dabei auch Einzug in seinen Stil gehalten, wobei aber eine tiefe Musik entstanden ist, ganz im Widerspruch zu allem, was man vielleicht von einer solchen Verschmelzung erwartet hätte. Sein Schüler Nicolas Flagello mit seinem verzweifelten inneren Wesen hat diesem Idiom dann zu einer existenziellen Dimension verholfen und letztlich damit Giannini wieder rückbeeinflusst.

Es geschehen in der Musikwelt Dinge, von denen die Allgemeinheit keine Ahnung hat, abgesehen von ein paar Leuten, die damit speziell vertraut sind, die dann aber wieder Anderes nicht kennen. Es ist unglaublich, was alles da ist, und was davon wirklich in eine breite Öffentlichkeit gehört! Deswegen ist es für uns so wichtig, dass wir nicht einfach drei Tage ins Studio gehen und dann Flagello aufnehmen. Wir wollen die Musik nicht konservatorisch behandeln. Wir wollen keine museale Repertoireerschließung, wie sie heutzutage zu oft betrieben wird. Etwas einzuspielen, nur damit es auf Tonträger vorliegt und ins Archiv gestellt werden kann, ist nicht Sinn der Sache! Wir wollen so nahe wie möglich zum Kern vorstoßen und im Prozess gemeinsamer Arbeit die Musik so einstudieren, dass sie jedermanns innerer Besitz werden kann, dass wir sie in einem oder mehreren Konzerten, am besten auf einer Tournee, in der Öffentlichkeit spielen, sie auf diese Weise mit den Konzertbesuchern und schließlich durch eine Aufnahme mit der Welt teilen können. Dazu suchen wir Geldgeber, Menschen, die diese Idee genauso mittragen wollen und sagen: „Das ist es wert, damit die Kultur wirklich lebendig wird!“

Vielen Dank für das Gespräch!

[Norbert Florian Schuck, Dezember 2023]

Ein wunderbares Adventskonzert: Pierné, Zilcher und Woyrsch in Würzburg

Am 9. und 10. Dezember 2023 dirigierte Matthias Beckert den Monteverdichor Würzburg und die Jenaer Philharmonie in Gabriel Piernés Les enfants à Bethléem, Hermann Zilchers Nachtmusik op. 64 und Felix Woyrschs Die Geburt Jesu op. 18. Als Solisten waren die Sopranistinnen Anna Feith, Maine Takeda, Mechthild Söffler und Rebecca Suta, die Altistin Barbara Bräckelmann, der Tenor Michael Ha und der Bariton Stefan Stoll zu hören.

Die Würzburger Neubaukirche, Aufführungsort des Konzerts

Der Würzburger Monteverdichor hat sich im Laufe der letzten Jahre nicht nur durch seine gesanglichen Qualitäten, sondern auch durch seine reichhaltigen Programme einen ausgezeichneten Ruf erworben. Mit Matthias Beckert steht ihm ein Dirigent vor, der sich nicht mit einer kleinen Zahl bewährter Repertoirestücke begnügt, sondern wirklich eine Vorstellung davon besitzt, wie umfassend der vorhandene Bestand hochwertiger Musik tatsächlich ist. Bei der Auswahl der Stücke für seine Konzerte achtet Beckert mithin darauf, Wiederholungen zu vermeiden, um seinem Publikum die Bekanntschaft mit möglichst vielen Werken zu ermöglichen. Beispielhaft zeigt sich das anhand der Weihnachtskonzerte des Monteverdichors. Die Programme des vergangenen Jahrzehnts boten Musik verschiedenster Epochen und Stile. Es erklangen abendfüllende Weihnachtsoratorien von Joseph Eybler, Jules Massenet, Philipp Wolfrum, Richard Wetz und Frank Martin (Le Mystère de la Nativité als deutsche Erstaufführung), aber auch kürzere Werke, etwa von Friedrich Kiel (Der Stern von Bethlehem), Felix Draeseke (Adventlied), Edward Elgar (The Light of Life), Walter Braunfels (Adventskantate und Weihnachtskantate), Heinrich Kaminski (Magnificat) und Gerald Finzi (Dies Natalis). 2017 wurde Michael Ostrzygas Oratorium Puer Natus Est vom Monteverdichor zur Uraufführung gebracht. Man kann also in Würzburg jedes Jahr aufs Neue gespannt sein, was am zweiten Adventswochenende in der Neubaukirche, die als Universitätskirche regelmäßige Spielstätte des aus Studierenden und Alumni bestehenden Chores ist, gesungen und gespielt wird. Die orchestrale Unterstützung der Weihnachtskonzerte leistet seit 2016 durchgehend die Jenaer Philharmonie.

Bei der Zusammenstellung der Werke für die diesjährigen Konzerte am 9. und 10. Dezember hat Matthias Beckert eine besonders glückliche Wahl getroffen, denn die drei Kompositionen bildeten ein Programm von ungewöhnlicher innerer Geschlossenheit. Das gern gebrauchte Wort von der „Einheit durch Kontrast“ ist hier durchaus am Platze! Die beiden Oratorien, die den Anfang und den Schluss bildeten, führten anschaulich vor Ohren, auf welch unterschiedliche Weise man um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert die Geschichte der Geburt Christi in Musik gesetzt hat.

Gabriel Pierné war ein Alters- und Studiengenosse Claude Debussys, Schüler César Francks, dem er als Organist an Ste-Clotilde nachfolgte, und angesehener Dirigent, dem zahlreiche Werke der damaligen musikalischen Moderne (etwa Strawinskijs Feuervogel und Ravels Daphnis et Cloé) ihre Uraufführung verdanken. Sein „Mystère“ Les enfants à Bethléem (in Würzburg unter dem Titel Die Kinder zu Bethlehem auf Deutsch gesungen) ist eine Art französisches Volksoratorium. Wir erleben, geleitet von einem melodramatischen Erzähler, wie eine Schar von Hirtenkindern um Georg, Nicola und Jeanette sich nach der Verkündigung durch den Stern aufmacht, den Heiland in seiner Krippe zu besuchen. Unterwegs begegnen sie den Heiligen drei Königen, denen sie sich anschließen, um letztlich im Stall zu Bethlehem dem Jesuskind zu huldigen, das dort von der Heiligen Jungfrau gemeinsam mit Ochs und Esel behütet wird. Der Librettist Gabriel Nigond hat anscheinend bewusst offen gelassen, wo die kindlichen Helden seiner Handlung zeitlich und räumlich zu verorten sind. Die Namen (im Original heißen Georg und Nicola „Lubin“ und „Nicolas“), wie auch die Rundtanzmusik im 6/8-Takt, mit der die Kinder vorgestellt werden, lassen vermuten, dass sie eher als französische Kinder um 1900 denn als orientalische Kinder der Zeit um Christi Geburt gedacht sind. Im imaginären Raum des Weihnachtsmysteriums finden jedenfalls unterschiedliche Ort-, Zeit und Stilebenen mühelos zusammen. Kaspar, Melchior und Balthasar sind nicht einfach drei Weise, sondern wirkliche Könige, die eine Karawane von Kamelen samt Elefant nach Bethlehem führen. Pierné geleitet sie mit einem üppig instrumentierten Festmarsch in der Tradition des französischen Orientalismus zur Krippe. Orientalische „couleur locale“ verbreitet auch der Ruf eines Hirten aus der Ferne, der eindeutig einem Muezzinruf nachgebildet ist. Beinahe unmittelbar schließt sich ihm ein trauriges Lied der Kinder an, das im weiteren Verlauf des Werkes motivisch wichtig wird und gleichermaßen die Trostlosigkeit des Winters wie, in seiner hymnisch gesteigerten Variante, die Hoffnung auf den Heiland zu verdeutlichen scheint. In seiner Schlichtheit könnte es ein französisches Volkslied sein. Ganz nah an Debussy ist Pierné in der mysteriösen Einleitungsmusik des Werkes, die gleichfalls mehrere Male wiederkehrt, um das Geschehen zu gliedern. Es spricht sehr für den Komponisten, dass bei aller stilistischen Buntscheckigkeit das Werk nicht wie ein Konglomerat, sondern als ein zusammenhängendes Ganzes erscheint; wie denn auch der Tonfall bei aller Effektfreudigkeit und Popularität nie ins Banale umschlägt. Der Text mag an manchen Stellen unfreiwillig komisch wirken, wenn man ihn nur liest, Piernés Musik allerdings veredelt auch diese Abschnitte. Was Ochs und Esel singen, ist nicht minder würdevoll als die Musik der Heiligen Jungfrau oder des Sterns – immerhin sind sie die treuen Wächter des Jesuskindes und werden als solche von den Kindern auch gewürdigt. Der ganzen Anlage des Werkes gemäß endet das Oratorium mit einer Art Feld-, oder besser: Stallgottesdienst. Der Stern und die Heilige Jungfrau agieren als Vorsänger, die Kinder antworten mit beständig wiederholten Fürbitten. Danach erklingt das Quasi-Volkslied ein letztes Mal in der Flöte, nun aber in Dur. Der Schluss ist von einer Einfachheit, die man genial nennen muss: Nach einem Akkord der Streicher singen die Kinder a cappella nur das Wort „Weihnacht“, woraufhin ein leiser Paukenwirbel das Stück beschließt.

Führt uns Pierné zu Weihnachten in Feld und Stall und in exotische Länder, so finden wir uns in dem Kurzoratorium Die Geburt Christi op. 18 seines deutschen Zeitgenossen Felix Woyrsch, des langjährigen Städtischen Musikdirektors von Altona, in eine festlich geschmückte, protestantische Kirche versetzt. Den Text dieses Werkes hat der Komponist selbst aus Bibelstellen zusammengestellt, in die er die Choräle „Vom Himmel hoch, da komm ich her“, „Ach, liebster Heiland Jesu Christ“ und „Wie soll ich dich empfangen“ geschickt eingearbeitet hat. Auch die originalen Melodien der Choräle sind zu hören. Jede wird auf andere Weise bearbeitet: Als sechsstimmige Chorfuge mit kanonischen Choral-Einsätzen (letztere in der Aufführung von den Soli gesungen), als orgelbegleiteter Choral mit Zwischenspielen der Streicher oder als von ostinaten Figurationen begleiteter Choral, zwischen dessen Strophen kleine Ariosi des Solo-Soprans eingeschoben sind. Neben dem Sopran ist auch dem Bass eine Solo-Nummer zugedacht, während der Tenorsolist nach Art des Evangelisten barocker Oratorien die erzählenden Rezitative zwischen den durchweg knapp gefassten Chören und Arien übernimmt. So deutlich Woyrsch mitunter mit seiner Satztechnik prunkt, so glücklich vermeidet er jeden Bombast. Das Werk ist sparsam instrumentiert. Nahezu jede Nummer hat ihre bestimmte Klangfarbe. Nur in wenigen Takten sind alle Sänger und Instrumentalisten gleichzeitig zu hören. Am Ende scheint ein furioses Finale einzusetzen, doch geht die stürmische Fuge bald in einen breiten Wechselgesang von Chor und Soli über. Ein instrumentales Nachspiel, in dem die Orgel noch einmal „Vom Himmel hoch“ anstimmt, führt das Werk zu einem ruhigen Ausklang.

Woyrschs Geburt Jesu war das einzige Stück, in welchem alle Sängerinnen und Sänger dieser Konzerte mitwirkten. Es ist für einen gemischten Chor geschrieben, während Piernés Kinder zu Bethlehem nur nach einem Kinderchor oder, wie in unserem Fall, einem Frauenchor verlangt. Eine ideale Brücke zwischen beiden Werken fand sich mit dem Werk eines Würzburger Komponisten, der Nachtmusik op. 64 für Orchester, Männerchor und Sopransolo von Hermann Zilcher. Zilchers Wirken in Würzburg, das 1920 mit seiner Ernennung zum Konservatoriumsdirektor begann, markiert – das kann man sagen, ohne bedeutenden Vorgängern wie Giovanni Benedetto Platti oder Friedrich Witt Unrecht zu tun – den bisherigen Höhepunkt der städtischen Musikgeschichte. Das von ihm 1921 ins Leben gerufene Mozartfest gehört nach wie vor zu den wichtigsten Musikveranstaltungen Deutschlands. Zilchers Nachtmusik lässt sich nur schwer einer bestimmten Gattung zuordnen. Ihre Entstehung ist eng mit dem Mozartfest verknüpft. Der Komponist pflegte das Werk, das er nicht drucken ließ, ausschließlich während des Festes bei Nacht im illuminierten Garten der Würzburger Residenz aufzuführen. Am ehesten könnte man es als Symphonische Dichtung mit Gesang bezeichnen. Das Stück beginnt mit einem längeren, rein orchestralen Teil, der sich in mehrere Unterabschnitte gliedert. Obwohl es nicht als Weihnachtsmusik gedacht ist, verbreitet der Anfang mit seiner liedhaften, vom Glockenspiel untermalten Trompetenmelodie eine Stimmung, die das Werk für Weihnachtskonzerte sehr geeignet erscheinen lässt. Dem folgen leicht beschwingte, rokokohafte Töne. Nahezu unauffällig verändert sich die Szenerie. Die Musik wird dunkler, tiefgründiger, geheimnisvoll, wie die aufziehende Nacht. Das Anfangsthema erscheint als breiter Streicherhymnus über blechernem Bass mit Tamtamschlägen. Dann setzt, auf der Empore der Kirche aufgestellt, der Männerchor mit einem Gedicht der Würzburger Lyrikerin Elisabeth Dauthendey ein: „Abend senkt sich nieder […] Hört ihr den Sang der Sphären erklingen!“ Aus der wogenden Polyphonie des Chores schält sich der Solo-Sopran heraus und bleibt am Ende als einzige Singstimme übrig, mit der „Jubel und Tanz“ in der Stille der Nacht verschwinden. Das letzte Wort hat die leise schlagende Mitternachtsglocke. – Dieses großartige Werk sollte endlich im Druck publiziert werden!

Der musikalischen Qualität der drei aufgeführten Stücke – jedes auf seine Art ein Meisterwerk – entsprach die Qualität der Darbietungen. Matthias Beckert ist ein wahrhaft inspirierender Chorleiter, der seine Sänger zu Höchstleistungen anspornt. Da das Programm die Gelegenheit bot, Frauen- und Männerstimmen des Monteverdichors getrennt zu hören, bevor sie am Ende in Woyrschs Oratorium zusammenwirkten, konnte man sich davon überzeugen, dass dieser Chor in allen seinen Stimmgruppen aufs schönste ausgebildet ist. Ein frischer, kräftiger, klarer Klang entströmt diesen Kehlen, die auch hinsichtlich der Textverständlichkeit vorbildlich agieren. Die Jenaer Philharmonie gab das sichere Fundament zur Entfaltung der vokalen Kräfte. Dirigent Beckert führt takt- und tempofest durch das Geschehen. Den einzelnen Sektionen des Orchesters lässt er nicht weniger Aufmerksamkeit zukommen als den Stimmen des Chores. Nie gerät er dabei in einen mechanischen Trott, beschwingt und kantabel atmet die Musik unter seinen Händen. Mit ihren durchweg ausgezeichneten Leistungen fügten sich die Solisten trefflich ins Gesamtbild ein. Der Sopranistin Anna Feith waren in allen drei Werken gewichtige Aufgaben zugeteilt – als „Stern“ bei Pierné, wie als Solistin bei Zilcher und Woyrsch –, die sie glänzend und scheinbar mühelos erfüllte. Mit heller, durchdringender, dabei stets vornehm bleibender Stimme, singt sie tonsicher und textverständlich auch in ganz hohen Lagen. In Piernés Werk waren noch drei andere junge Sopranistinnen zu loben, die innige Darstellungen der drei Hirtenkinder boten: Maine Takeda, Mechthild Söffler und Rebecca Suta. Die Altistin Barbara Bräckelmann verkörperte im gleichen Stück die Gottesmutter höchst würdevoll. Esel und Ochs, die, wie gesagt, keine Tierlaute von sich geben, sondern von Pierné sehr menschlich gezeichnet werden, fanden in dem Tenor Michael Ha und dem Bariton Stefan Stoll einfühlsame Interpreten. Stefan Stoll führte zudem als stimmgewaltiger Erzählter durch die Handlung der Kinder zu Bethlehem und sang als Hirte in der Ferne wie als himmlische Stimme gelegentlich auch hinter dem Publikum bzw. hinter der Bühne. Michael Ha überzeugte später bei Woyrsch auch als Evangelist. An beiden Konzertabenden waren die Leistungen sämtlicher Ausführenden gleichermaßen ausgezeichnet.

Angesichts solcher Konzerte braucht man sich über das Würzburger Musikleben keine Sorgen zu machen. Dass mithin gerade selten zu hörenden Chorwerken durch den Monteverdichor unter Matthias Beckerts Leitung eine so hingebungsvolle Umsetzung zuteil wird, muss als ein Glücksfall bezeichnet werden. Man kann nur wünschen, dass dieser Musizierpraxis noch viele weitere mustergültige Aufführungen entspringen und möglichst viele zu Unrecht vernachlässigte Stücke dem Konzertleben zurückgewonnen werden.

[Norbert Florian Schuck, Dezember 2023]