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Richard-Strauss-Tage 2024 [2]: Ariadne auf Naxos und Norens Klaviertrio

Der zweite Teil des Berichts von den Richard-Strauss-Tagen Garmisch-Partenkirchen (zum ersten Teil siehe hier) befasst sich mit folgenden Konzerten:

9. Juni: Oper (Richard Strauss: Ariadne auf Naxos, konzertante Aufführung), Department für Oper und Musiktheater der Universität Mozarteum Salzburg, Angelika Prokopp Sommerakademie der Wiener Philharmoniker, Kai Röhrig

11. Juni: Kammerkonzert (Klaviertrios von Richard Strauss und Heinrich G. Noren), Phaeton Piano Trio

Garmisch-Partenkirchen, gesehen vom Aufgang zum Rießersee aus.

Nach dem Matinéekonzert konnte man, wieder im Festsaal Werdenfels, am Abend desselben Tages die Oper Ariadne auf Naxos in einer konzertanten Aufführung hören. Es handelte sich um eine Kooperation mit dem Department für Oper und Musiktheater der Universität Mozarteum Salzburg, das jährlich eine Auswahl vielversprechender Gesangsstudenten in speziellen Opernklassen auf die Bühnenlaufbahn vorbereitet. Entsprechend war ein großer Teil der Rollen mit jungen Leuten besetzt. Die Tenöre Konstantin Igl und Lucas Pellbäck sowie die Bässe Brett Pruunsild und Dominik Schumertl übernahmen dabei außer der Verkörperung der vier Komödianten noch die kleinen Partien, die nur zu Beginn des Vorspiels auftauchen. Als geschlossen auftretendes Quartettensemble sorgten sie im zweiten Teil mit frischem, kecken Vortrag für die nötige Auflockerung der statuarischen Opera-seria-Szenerie. Zerbinetta, die Frontfrau der Komödiantentruppe, fand in Yukari Fukui eine Darstellerin, der es auf ganz natürliche Weise gelang, sich den Charakter dieser verspielten, koketten, aber durchaus geistvollen Figur zu eigen zu machen. Julia Maria Eckes, Anastasia Fedorenko und Donata Meyer-Kranixfeld trugen als Nymphentrio mit zarten, ineinander verschlungenen Kantilenen wesentlich dazu bei, in der „Oper“ die angemessen entrückte Stimmung zu schaffen, zu welcher das unbekümmerte Trällern der Komödianten scharf kontrastieren konnte. Jesse Mashburn dominierte in der Hosenrolle des Komponisten den ersten Teil. Hinreißend gelang ihr die Darstellung dieses ebenso unerfahrenen wie idealistisch-verstiegenen jungen Menschen, der erleben muss, wie seine Traumgebilde hart in einer vom Geld beherrschten Realität aufschlagen (symbolisiert durch den nie auftretenden Hausherrn, der aus dem Hintergrund die Anweisungen gibt) und dadurch in emotionale Extreme gestürzt wird. Zweifellos ist der Komponist, der im zweiten Teil leider nicht mehr auftaucht, die interessanteste Figur des ganzen Stückes, da sich in seiner Partie Tragisches mit Komischem mischt und Strauss in seiner Vertonung beides sehr geschickt in der Schwebe hält. Den Trotz, die Verletzlichkeit und die Hoffnungen des Jünglings hat Jesse Mashburn trefflich zur Geltung gebracht. Bewährte, erfahrene Kräfte ergänzten die Schar der jungen Sängerinnen und Sänger: Juliane Banse exzellierte als energische, auf ihre Würde bedachte Primadonna und erfüllte die Kantilenen der Ariadne im zweiten Teil mit blühender Lyrik. Mit Christoph Strehl als Tenor in der Rolle des Bacchus stand ihr dazu ein ebenbürtiger Partner zur Seite. Bernd Valentin trug im Vorspiel als Lehrer des Komponisten, der zwischen dessen Idealismus und den Realitäten des Lebens zu vermitteln hat, wesentlich zur gelungenen Wirkung des turbulenten Geschehens bei.

Mit der Angelika Prokopp Sommerakademie der Wiener Philharmoniker stand dem Gesangsensemble ein Kammerorchester zur Seite, das hinsichtlich der Motivation hinter der Pilsener Philharmonie nicht zurückstand. Dirigent Kai Röhrig, Leiter der Opernklasse des Salzburger Mozarteums, führte mit festen, aber nicht unflexiblen Tempi die Musiker und Sänger souverän durch den Abend und wusste die delikaten Klangeffekte Straussens zu pointieren.

Ariadne auf Naxos enthält einige der besten Einfälle des Opernkomponisten Richard Strauss und stellt gewiss einen Höhepunkt in dessen Zusammenarbeit mit Hugo von Hofmannsthal dar. Das Vorspiel ist schlichtweg eine geniale komische Oper für sich, die den Zuhörer durch ständige Umschwünge der Handlung in Atem hält – oft verbunden mit der Sprechrolle des Haushofmeisters (in der Garmischer Aufführung durch Franz Tscherne verkörpert), der durch die von ihm übermittelten Anweisungen des Hausherrn das Geschehen in immer neue Richtungen lenkt. Allerdings stellt sich diesem temporeichen ersten Teil im zweiten eine recht statische Szenerie entgegen, in welcher sich zwar auch immer wieder wunderbare musikalische Gedanken finden, die im Großen und Ganzen aber die Wirkung des Vorspiels konterkariert. Dass die im ersten Teil so wichtigen Figuren des Komponisten, des Musiklehrers und des Haushofmeisters im zweiten verschwunden bleiben, trägt bedeutend dazu bei, dass die „Oper“ hinter dem Vorspiel zurückbleibt. War dort alles Interaktion Aller mit Allen, so beschränkt sich der zweite Teil im Wesentlichen darauf, Ariadne (am Ende Ariadne und Bacchus) mit Zerbinetta und den Komödianten alternieren zu lassen. Allen Schönheiten zum Trotz, an denen der zweite Teil, wie gesagt, nicht spart, hinterlässt das Stück insgesamt einen im wörtlichen Sinne zwiespältigen Eindruck.

Das letzte Konzert der Richard-Strauss-Tage 2024 war der zu Anfang des ersten Teils dieses Berichts bereits erwähnte Kammermusikabend des Phaeton Piano Trios am 11. Juni, der im kleineren Richard-Strauss-Saal des Garmisch-Partenkirchener Kongresshauses stattfand. Erneut teilten sich Strauss und Heinrich G. Noren das Programm. Die dargebotenen Werke kontrastierten wesentlich stärker zueinander als das Kaleidoskop und das Heldenleben, was nicht zuletzt daran liegt, dass es sich bei den beiden Klaviertrios von Richard Strauss um Jugendwerke handelt, die der Komponist im Alter von 13 Jahren schrieb. Sie repräsentieren also nicht seinen den Kompositionsstil seiner Hauptwerke. Man sollte sich davon aber nicht dazu verführen lassen, von diesen Stücken geringschätzig zu reden oder sie als „jugendlich unreif“ abzutun. Es ist nichts Unreifes in ihnen. Im Gegenteil: Der Autor ist ein junger Meister, der sich durch das Studium klassischer Vorbilder zu bemerkenswertem Können herangebildet hat und dem alles gelingt, was er sich vornimmt. Diese Musik hat nichts Himmelstürmendes an sich, nichts deutet darauf hin, dass von derselben Hand nur ein Jahrzehnt später die Violinsonate op. 18 geschrieben werden wird, von Don Juan und Macbeth ganz zu schweigen. Wir müssen bedenken, dass wir uns mit dem jungen Strauss in einem München befinden, das erst nach und nach zur „Richard-Wagner-Stadt“ wird und in dem Franz Lachner noch unter den Lebenden weilt, jener langjährige bayerische Hofkapellmeister, der die Pflege der ihm teils noch persönlich bekannt gewordenen Wiener Klassiker dort fest etabliert und als Vorgesetzter von Franz Strauss, dem Vater Richards, auf den Geschmack der Strauss-Familie einen nicht geringen Einfluss genommen hat. Es ist kurzum eine verlängerte Wiener Klassik, die der 13-Jährige hier präsentiert. Und das tut er mit Geschmack und Feingefühl!

Bei der Wiedergabe der Strausschen Trios fiel auf, dass sich der Pianist Florian Uhlig gerade im ersten Trio auffällig zurückhielt. Während Friedemann Eichhorn, Violine, und Peter Hörr, Violoncello, von Anfang an als ebenbürtige Partner auftraten, verblieb Uhlig lange in einem wenig differenzierten Mezzopiano, aus dem er erst nach und nach herausfand. Nehmen wir zu seinen Gunsten an, dass er sich seine Kräfte für die zweite Hälfte des Konzerts aufsparte. Jedenfalls war er bei der Aufführung von Norens Klaviertrio op. 28 ganz präsent und stand hinter den Streichern nicht zurück. Dieses viersätzige Werk ist das genaue Gegenteil der Strauss-Trios: Es handelt sich um monumentale Bekenntnismusik eines reifen Meisters, der alle klassizistischen Spiele hinter sich gelassen hat und eine eine starke Neigung zu „fremden Ländern und Menschen“ an den Tag legt. Hinsichtlich der zeitlichen Dimensionen von einer guten Dreiviertelstunde, wobei der riesige Kopfsatz allein 20 Minuten einnimmt, kann man dieses Trio getrost eine Symphonie für drei Instrumente nennen. Aber auch klanglich zieht Noren alle Register, um der Trioformation maximale Opulenz zu entlocken. Elemente slawischer Musik treten in dem Trio noch deutlich stärker zu Tage als in den Kaleidoskop-Variationen. Der Kopfsatz beginnt mit einem wuchtig einher schreitenden Thema, einem Bild heroischen Trotzes, das in der Durchführung in resignative Introversion gewendet wird. Die Gesangsthemen der Ecksätze und der langsame Satz entfalten jenes breit strömende Melos, das für russische Komponisten dieser Zeit so typisch ist. Das mäßig rasche Scherzo lässt in seiner Frische an Mussorgskij denken. Den langsamen Satz leitet ein Solo des Cellos ein, das eine archaische, schamanische Welt heraufzubeschwören scheint. Das ganze Werk durchziehen harmonisch-instrumentatorische Lichteffekte, die an die russischen Maler des Peredwischniki-Kreises denken lassen, denen ja auch Modest Mussorgskij nahestand. Im Finale, das mit einem flinken, etwas raubeinigen Tanzthema beginnt und dieses später als Fuge durchführt, wird der Farbenrausch schließlich auf die Spitze getrieben. Das ist ein großes, herrliches Werk, von dem man sich fragt, warum es so lange unbeachtet geblieben ist, und dem man sehr gern häufiger im Konzertsaal wieder begegnen möchte. Mit einem starken Plädoyer für einen unterschätzten Meister gingen also die Richard-Strauss-Tage 2024 zu Ende, und man fragt sich bereits, was dieses verdienstvolle Festival wohl im nächsten Jahr bringen wird.

[Norbert Florian Schuck, Juni 2024]

Gipfeltreffen der Klavierkunst

hänssler CLASSIC, HC17040; EAN: 8 81488 17040

Thorofon, CTH2667; EAN: 4 003913 126672

Ein günstiges Geschick hat es gefügt, dass im Herbst 2020 kurz hintereinander die neuesten Folgen zweier der meistbeachteten Gesamtaufnahmen-Projekte von Klaviermusik erschienen sind, die in jüngerer Zeit in Angriff genommen wurden. Damit sind Pervez Mody und Florian Uhlig ihren Vorhaben, das Klaviermusikschaffen Alexander Skrjabins bzw. Robert Schumanns auf CD festzuhalten, einen weiteren Schritt näher gekommen.

Bei allen persönlichkeits-, kultur- und epochenbedingten Verschiedenheiten, die sich zwischen Schumann und Skrjabin feststellen lassen, verbindet beide, dass ihnen das Klavier zu Beginn ihrer Laufbahn ein unverzichtbarer Begleiter war, an dem sie während des Prozesses ihrer künstlerischen Selbstfindung den nötigen Halt fanden. Beide blieben sie dem Instrument, bis sie ein früher Tod um ihr Spätwerk betrog, eng verbunden: Skrjabin mehr als Schumann, was – abgesehen natürlich von den jeweiligen Eigentümlichkeiten der Inspiration – vielleicht auch damit erklärt werden kann, dass die geschichtliche Situation beim Eintritt Skrjabins ins Musikleben um 1890 sich deutlich von derjenigen unterschied, die Schumann sechs Jahrzehnte zuvor vorgefunden hatte. Schumann war von Anfang an ein ganz eigener Kopf, der – ohne dass er eine Revolution der Mittel ausrufen musste – eine Ausdrucksweise kultivierte, die sich von den bislang gekannten Gestaltungsprinzipien völlig abhob. Donald Tovey hat sie als musikalische Mosaikarbeit charakterisiert: Die Perioden sind kurz und im Bau regelmäßig, bestimmt durch rhythmisch prägnante, häufig in Sequenzen angeordnete Motive. Diese Art der Formung prädestiniert zur Arbeit im kleinen Rahmen der Miniaturistik. So eroberte sich Schumann, nachdem er sich an kurzen Klavierstücken zum Meister gebildet hatte, alle anderen Gebiete kompositorischen Schaffens, seine charakteristische Schreibweise dabei stets beibehaltend. Skrjabin dagegen wuchs am Ende des 19. Jahrhunderts in jene große Tradition der Klaviermusik hinein, die einst von Schumann mitbegründet worden war. Er konnte von Anfang an auf einen Fundus prägnant formulierter Stilmittel zurückgreifen und begann seinen Weg auf den Spuren eines überragenden Vorbilds: Frédéric Chopin. Während viele frühe Klavierwerke Schumanns eigentümlich gattungslos, da vorbildlos sind, komponiert der junge Skrjabin in den Gattungen, denen Chopin zu charakteristischem Profil verholfen hatte – Mazurka, Prélude, Étude, Polonaise –, und entwickelt einen eigenen Tonfall in der Auseinandersetzung mit diesem Erbe explizit klavieristisch gedachter Kunst. Zu historisch völlig Neuem gelangt Skrjabin, im Gegensatz zu Schumann, erst durch einen radikalen Akt der Abkehr von hergebrachten Gestaltungsmitteln: durch die Einführung seiner synthetischen, „mystischen“ Akkorde.

Angesichts dieser Unterschiede in der Stilentwicklung beider Komponisten ist es interessant zu sehen, wie Florian Uhlig und Pervez Mody ihre CD-Zyklen einteilen. Uhlig hat jede Folge seines Schumann-Projekts unter ein bestimmtes Motto gestellt. Im Fokus der jeweiligen Veröffentlichung steht bei ihm entweder eine Werkgruppe („Schumann und die Sonate“, „Schumann und der Kontrapunkt“) oder ein biographisch-sozialer Bezug („Der junge Virtuose“, „Schumann und seine Töchter“). Dies geht durchaus mit der bei Schumann immer wieder festzustellenden Tendenz einher, sich über längere Zeit intensiv einer Gattung zuzuwenden: Man denke etwa an sein „Liederjahr“ oder die kurz nacheinander komponierten Quartette samt Klavierquintett. Einen wichtigen Aspekt von Uhligs Tätigkeit stellt dabei die in Zusammenarbeit mit seinem Beiheft-Autor Joachim Draheim, einem der wichtigsten Schumann-Forscher, unternommene Präsentation von Zweitfassungen, Entwürfen, unvollendeten oder schlicht bislang unbeachteten Arbeiten des Komponisten dar, die es dem Zuhörer gleichsam ermöglicht, einen Einblick in Schumanns Werkstatt zu erhalten und an den Fragen Anteil zu nehmen, die ihn beschäftigten. In der 14. Folge widmet sich Uhlig auf zwei CDs Schumanns Beiträgen zur Gattung des Variationszyklus. Auf diesem Gebiet darf Schumann das Recht für sich in Anspruch nehmen, als musikgeschichtlich bedeutendster Komponist nach Beethoven betrachtet zu werden, denn er hat eine neue Art des Variierens begründet: Die Form des Themas ist dabei nur noch von untergeordneter Bedeutung; stattdessen werden aus seinen Motiven in freier Weise neue Stücke gebildet. Interessanterweise hat Brahms als Variationen-Komponist diese neuen Bahnen nie beschritten, spätere Meister wie Dvořák, Elgar, Reger und Dohnányi folgten ihnen namentlich in ihren Orchestervariationen. Dass Schumann seine Klaviervariationen zum Teil mit Titeln wie „Impromptus“ (op. 5), „Etüden“ (op. 13), „Fantasien“ (Erstfassung von op. 13), „Exercises“ (letzte Fassung der Beethoven-Variationen WoO) versah, hat wohl nicht nur seinen Grund darin, dass er sich von den Verfassern brillanter Salon-Variationen abgrenzen wollte, sondern dürfte auch zum Ausdruck bringen, dass ihm der Unterschied zwischen seinem neuen Variationstypus und demjenigen Beethovens deutlich bewusst gewesen ist. Uhligs Doppel-CD bietet Jedem einen wunderbaren Überblick, der nicht nur Schumanns Vielseitigkeit im Variieren erfahren, sondern auch einen Eindruck vom Ringen des Komponisten um die Gestalt seiner Stücke erhalten möchte. Das Programm vereint wohlbekannte Werke – Impromptus sur une Romance de Clara Wieck op. 5 (in der Fassung des Erstdrucks), Études Symphoniques op. 13 und die sogenannten Geistervariationen – mit einer faszinierenden Nachlese. Da finden sich neben der Urfassung der Symphonischen Etüden (Fantaisies et Finale sur une thême de M. le Baron de Fricken) ein bislang noch unveröffentlichtes kurzes Variationswerk über ein eigenes Thema in G-Dur und eine Reihe nicht abgeschlossener Projekte über Themen von Paganini („La campanella“), Schubert („Sehnsuchtswalzer“), Chopin (Nocturne op. 15/3) und Beethoven (Allegretto aus der Siebten Symphonie), die zum großen Teil von Joachim Draheim für die vorliegende Aufnahme erstmals zur Aufführung eingerichtet worden sind. Von diesen sind die Beethoven-Variationen bzw. -Etüden bzw. -Exercises am weitesten gediehen. Uhlig spielt die erste und dritte Fassung sowie Teile der zweiten, die in den anderen beiden fehlen. Letztlich scheiterte Schumann nur daran, diesem Zyklus einen befriedigenden Abschluss zu geben; doch was davon existiert, ist von echter Schumannscher Genialität und durchaus würdig, gelegentlich aufs Konzertprogramm gesetzt zu werden. Sympathisch berührt, dass Uhlig den Arbeiten, die die Werkstatt nie verließen, die gleiche Aufmerksamkeit zuwendet wie den vom Autor als gültig anerkannten Schöpfungen. Wenn er die ersten Takte der G-Dur-Variationen durch abwechslungsreichen Anschlag belebt, weiß man sofort: An diesem Stück hat Schumann mit Ernst gearbeitet, dies ist keine Skizze, kein Entwurf, sondern ein Werk! Uhlig verschreibt sich bei seinen Aufführungen nicht einseitig einem Interpretationsansatz. Ihm geht es darum zu zeigen, wie lebendig Dynamik, Tonalität, Satztechnik bei der Formung der Musik zusammenwirken – besonders in kontrapunktischen Abschnitten wie der vierten Etüde aus op. 13 oder der Fuge im letzten Teil von op. 5. Schumanns „mosaikartige“ Phrasen fügt er zu fest verbundenen Perioden aneinander, ohne dass der Eindruck mechanischer Starre entstünde (sehr schön in op. 5, Nr. 9); mit behutsam eingesetztem Rubato gibt er der Musik zugleich die Atemluft, die sie braucht um zu singen. Schumann, der Romantiker, war stets ein reflektierter Formkünstler; und der Formkünstler Schumann stets eine empfindsame romantische Seele – Uhlig macht dies deutlich.

Pervez Mody präsentiert Skrjabins Klaviermusik nicht nach Gattungen oder Schaffensphasen geordnet und widersteht dabei einer Möglichkeit, die sich sehr wohl anbieten würde. Stattdessen stellt er die Programme seiner CDs dergestalt zusammen, dass jeweils ein imaginärer Konzertabend entsteht, in dessen Verlauf die dargebotenen Stücke einander nach dem Prinzip der Einheit durch Kontrast gegenseitig beleuchten. So müssen bei ihm Sammlungen von Miniaturen nicht zwingend vollständig auf einer CD untergebracht werden, sondern können sich auf mehrere Folgen der Reihe verteilen. Auch bei der vorliegenden Folge 6 ist dies der Fall: Von den neun Mazurken des op. 25 finden sich nur drei, von den zwölf Etüden des op. 8 nur vier auf der Scheibe. Modys Vorgehen hat den großen Vorteil, dass auf diese Weise Skrjabin als Künstlerpersönlichkeit insgesamt besser fassbar wird. Der frühe Skrjabin erscheint nicht vom „späten“ getrennt, der „Revolutionär“ nicht von seinen scheinbar „epigonalen“ Anfängen abgegrenzt. Stattdessen zeigt Mody: Dies alles gehört zum Gesamtbild von Alexander Skrjabin dazu! Auf der neuesten CD der Reihe lädt Mody im wahrsten Sinne des Wortes zu einem Rundgang durch das Schaffen des Komponisten ein, denn das Programm verläuft zeitlich kreisförmig: von der Polonaise op. 21 die Werkzahlen über die opp. 25, 35 und 48 aufwärts bis zu den Préludes op. 67, und vom Mittelpunk des Programms, der Sonate Nr. 6 op. 62, über op. 40, op. 33 und op. 10 zurück bis zu den Études op. 8. In dieser Abfolge gehört, hinterlässt es einen anderen Eindruck, als wenn es chronologisch geordnet wäre. Man erlebt zwar Skrjabins stilistische Entwicklung hin zu den „Mystischen Akkorden“, wird aber durch die umgekehrte Chronologie der zweiten Programmhälfte dazu angeregt, sich zu fragen, was Skrjabins Persönlichkeit abseits seiner Neuerungen in der Harmonik ausmacht, welche Kontinuitäten sich in seinem Schaffen feststellen lassen, wie, kurzum, der frühe mit dem späteren Skrjabin zusammenhängt. John Foulds hat 1934 in seinem Buch Music To-Day. Its Heritage from the Past and Legacy to the Future op. 92 Skrjabin als denjenigen Komponisten bezeichnet, dem es seit Palestrina am überzeugendsten gelungen sei, in seiner Musik die Schwingungen der Devas (der übernatürlichen „leuchtenden Wesen“) zu vermitteln. Damit ist zwar vor allem das unter dem Eindruck theosophischer Ideen entstandene Schaffen ab 1905, seit dem Poéme de l’Extase, gemeint; hört man jedoch Modys Darbietungen der frühen Klavierwerke, so kann man kaum daran zweifeln, dass bereits in diesen Stücken die Flamme zu lodern begonnen hatte, die später so ekstatisch emporschießen sollte. Mody spielt, was in den Noten steht, und liest zugleich beständig zwischen den Zeilen. Die Notation versteht er offenbar als größtmögliche Annäherung an ein Ideal – zeitgenössischen Berichten zufolge muss Skrjabin ein begnadeter Improvisator gewesen sein –, und nimmt sich bei der Gestaltung der Zeitmaße immer wieder Freiheiten, um Spannungsaufbau und Entspannung innerhalb der musikalischen Verläufe bis in die kleinsten Phrasen hinein erlebbar werden zu lassen. Eine gute Probe von Modys Sinn für Formung gibt seine Interpretation des Préludes op. 35/1, in dem er aus den rauschenden Sechzehnteln die in der Partitur nicht explizit als solche gekennzeichnete Hauptmelodie hervorhebt. Seine Kultiviertheit im Anschlagen der Tasten trägt das ihre zur Wirkung seiner Aufführungen bei. Wiederholt wird man Zeuge, wie meisterlich es Mody beherrscht, echtes Piano und Pianissimo zu spielen, und gleichzeitig deutlich zu artikulieren. Den melodischen Faden, der Skrjabin, wie die vielen langen Bindebögen beweisen, sehr wichtig war, lässt Mody nie abreißen, und verhindert dadurch, dass diese Musik, wie unter weniger berufenen Händen oft zu hören, statisch oder verschwommen wirkt. Hier strömt sie wie in Feuerzungen aus. Wie Uhlig in Draheim hat auch Mody einen sehr kompetenten Beiheft-Autor gefunden: Daniel Tiemeyers ausführliche Erläuterungen der einzelnen Werke laden dazu ein, die Noten aufzuschlagen und sich auf eigene Faust in die Stücke zu vertiefen.

Dem Rezensenten bleibt noch, den Künstlern bei der Fortsetzung ihrer Projekte weiterhin so gutes Gelingen zu wünschen, wie es die beiden vorliegenden Veröffentlichungen auszeichnet.

[Norbert Florian Schuck, November 2020]