Schlagwort-Archive: Thorofon

Ein Panorama georgischer und russischer Klaviermusik des 20. Jahrhunderts

Thorofon, CTH2677, EAN: 4 003913 126771

Der junge georgische Pianist Misho Kandashvili präsentiert auf seinem Debütalbum ein buntes Spektrum an georgischer und russischer Klaviermusik des 20. Jahrhunderts. Neben bekannten Namen wie Kantscheli, Prokofjew oder (frühem) Schnittke gibt es hier etliche auf CD nur spärlich vertretene Komponisten zu entdecken.

Für seine (bereits im letzten Jahr erschienene) Debüt-CD beim Label Thorofon hat der georgische Pianist Misho Kandashvili, 1993 in Tiflis geboren, ein recht vielfältiges Programm von Werken georgischer und russischer Komponisten zusammengestellt. Dabei dürfte gerade der georgische Teil des Albums für viele Musikfreunde unserer Gefilde einen anregenden Einblick in die Musikszene eines bislang womöglich eher weniger beachteten Landes bieten, während der russische Teil die bekannteren Namen und am Ende mit Prokofjews Klaviersonate Nr. 3 ein genuines Repertoirestück aufbietet.

Es lohnt sich, zu Beginn wenigstens einen kurzen Blick auf die Geschichte der georgischen klassischen Musik zu werfen. Die Entwicklungen, die man im Russland des 19. Jahrhunderts mit Glinka, der Gruppe der Fünf, Tschaikowski und vielen mehr verzeichnen kann, setzte in der Peripherie des Russischen Reichs, den späteren Sowjetrepubliken, einige Jahrzehnte, im Falle Zentralasiens sogar eher ein Jahrhundert später in durchaus vergleichbarer Form ein. In Georgien etwa gab es eine erste Generation von Komponisten, geboren ab den 1860er Jahren (wie Meliton Balantschiwadse, Sakaria Paliaschwili, Dmitri Arakischwili oder Viktor Dolidse), die in erster Linie Vokalmusik schufen, besonders prominent natürlich (National-) Opern. Ungefähr mit der Gründung der Sowjetunion und der allmählichen Etablierung von Institutionen wie Konservatorien oder Orchestern kam eine zweite Generation ins Spiel, die nun auch verstärkt Instrumentalmusik schuf. So war es etwa Andria Balantschiwadse (der Sohn des oben erwähnten Meliton Balantschiwadse und Bruder des Choreographen Georges Balanchine), der das erste georgische Ballett komponierte, und seine Sinfonie Nr. 1 aus dem Jahre 1944 wurde allgemein als Meilenstein der georgischen Sinfonik betrachtet. Man beachte insbesondere: die Geschichte der georgischen Sinfonik beginnt also faktisch erst in den 1940er Jahren! So jung ist diese Musikszene (jedenfalls, was klassische Musik westlicher Prägung anbelangt), und gleichzeitig ist es beeindruckend zu sehen, wie rasch sich in der Folge eine Musikkultur von mehr als beachtlichem Niveau entwickelte (um beim Beispiel der Sinfonik zu bleiben, kommen dann noch in den 1940ern Namen wie Schalwa Mschwelidse, Aleksi Matschawariani oder Otar Taktakischwili hinzu, nur wenig später auch Sulchan Zinzadse oder Sulchan Nassidse). Auch dies sind Aspekte sowjetischer Musikgeschichte, die freilich häufig unbeachtet bleiben. Insofern kann man Kandashvilis Album auch als einen Überblick, eine Sammlung von Kostproben vom Schaffen dieser Komponisten begreifen.

Am Beginn der CD stehen acht der zwölf Romantischen Stücke des bereits erwähnten Andria Balantschiwadse (1906–1992). Dabei handelt es sich um einen Zyklus aus dem Jahre 1972, was insofern von Bedeutung ist, als dass man Balantschiwadse hier zu einer Zeit erlebt, zu der er sich intensiver mit moderneren Tendenzen befasste als in früheren Jahren (wenigstens tendenziell schrieben die meisten sowjetischen Komponisten – natürlich insbesondere politisch bedingt – im Spätstalinismus ihre traditionellsten Werke, spätestens ab den 1960er Jahren werden dann in unterschiedlichem Maße modernere Einflüsse rezipiert). Balantschiwadse bewegt sich dabei in eher gemäßigten Bahnen, Atonalität spielt keine Rolle, wohl aber Bi- und Polytonalität, und ganz generell ist der Titel leicht irreführend, denn so romantisch wirken diese eher etwas herben Miniaturen eigentlich nicht. In der Tat, denkt man dabei an einen warmen, vollen Klaviersatz, wird man von der eher kargen Zweistimmigkeit (und den gelegentlichen Sekundreibungen) von Nr. 2 und Nr. 4 überrascht werden, die Freude in Nr. 7 ist ebenfalls keine überschäumende, und auch dann, wenn sich Nr. 10 als eine Art folkloristisch kolorierte Aria in Es-Dur darstellt, ähnlich wie sie Otar Taktakischwili meisterhaft zu komponieren wusste, sorgt Balantschiwadse mit allerlei herberen Einsprengseln für eine gewisse Distanz. Überhaupt könnte man davon sprechen, dass die romantischen Topoi, die die Titel der Stücke zweifelsohne suggerieren, eben aus der Distanz betrachtet, ein wenig verfremdet werden. Einen Bogen schlagen dabei die an Prokofjew gemahnenden Grüße (Nr. 1), die am Ende des letzten Stücks zitiert werden. Ein nicht immer unbedingt eingängiger und teilweise auch etwas spröder, aber insgesamt nicht uninteressanter Zyklus.

Deutlich früher, nämlich bereits 1951, entstand das Poem von Balantschiwadses Schüler Otar Taktakischwili (1924–1989). Taktakischwili konnte bereits als junger Mann mit seinen Kompositionen reüssieren; dass er mit seinem Beitrag den Wettbewerb für die Hymne der Georgischen SSR gewann, war offenbar für ihn selbst zunächst eine Überraschung, aber gegen Ende der 1940er Jahre trat er mit einer Reihe größerer Werke hervor, die durch ihre ungemein einprägsame Melodik, effektvolle Dramatik, farbenreiche Orchestrierung und große Geste bestechen – dabei stets deutlich an der georgischen Folklore orientiert – und entsprechende Resonanz fanden. Sein Klavierkonzert Nr. 1 etwa ist ein echter Reißer, eigentlich wohl eines der publikumswirksamsten Klavierkonzerte jener Zeit, wenn es denn nur einmal aufgeführt würde. Später wandte sich Taktakischwili, der u. a. auch Generalsekretär des georgischen Komponistenverbands und langjähriger Kulturminister der Georgischen SSR war, verstärkt, aber nicht ausschließlich Vokalmusik zu, etwa in Form von Opern oder national getönten Oratorien; zu seinen inspiriertesten Instrumentalwerken jener Zeit zählen das Violinkonzert Nr. 1 f-moll von 1976 oder das Mitte der 1980er komponierte Streichquartett. Moderne Tendenzen spielen in Taktakischwilis Schaffen auch in späteren Jahren eine eher untergeordnete Rolle, auch wenn es sicherlich einen Unterschied gemacht hätte, wenn sich Kandashvili beispielsweise für die Klaviersuite Imitation georgischer Volksinstrumente (1973) entschieden hätte. Das kurze Poem, das auch unter dem Titel Elegie durchgehen könnte, ist ein eher kleineres Werk, wobei das lyrische, melismatisch geprägte Melos dieses Stücks die charakteristische Handschrift seines Schöpfers deutlich verrät.

Besonders als Komponistin von Musik für Kinder hervorgetreten ist die gleichaltrige Meri Dawitaschwili (1924–2014), ebenfalls Schülerin Balantschiwadses. Ihr Chorumi (ein georgischer Kriegstanz) aus dem Jahre 1949 (oder bereits 1945?) ist ein kurzes, rhythmisch pointiertes, sehr effektvolles Konzertstück im 5/8-Takt, das nicht nur in der Wahl der Tonart (es-moll) einen gewissen Einfluss von Chatschaturjans Toccata verrät (man beachte etwa die markante Akkordik des Beginns). Der bei weitem bekannteste georgische Komponist dieser Zusammenstellung ist Gija Kantscheli (1935–2019), der hier mit vier Stücken aus seiner Simple Music, einer Sammlung von 33 Miniaturen nach (eigenen) Filmmusiken, vertreten ist, kurze Skizzen, Petitessen, von leichter Hand gezeichnet, betont schlicht gehalten und mit einer gewissen Nähe zur Salonmusik gekonnt spielend.

Wascha Asaraschwili (* 1936) schließlich, einmal mehr ein Schüler Balantschiwadses, hat neben einem expressiven, durchaus national getönten Neoklassizismus (repräsentiert z. B. durch sein Cellokonzert Nr. 1, für das sich in jüngerer Zeit Maximilian Hornung eingesetzt hat) auch eine Vielzahl von Werken geschaffen, die eher in Richtung Unterhaltungsmusik gehen, u. a. zahlreiche Lieder. In diesen Kontext gehört auch sein Nocturne aus dem Jahr 1986, das zudem in einer Version für Orchester vorliegt, eine Art Arie zunächst in G-Dur, später dann nach E- und schließlich – emphatisch gesteigert, am Ende Harfenklänge suggerierend – C-Dur wechselnd; ein Stück, das man sich auch sehr gut als Filmmusik vorstellen könnte. Im Unterschied zu Kantscheli spielt Asaraschwili weniger mit entsprechenden Vorlagen, sondern adaptiert sie. Für mich bleibt hier ein leicht zwiespältiger Eindruck, weil sich die Musik doch arg direkt an Paradigmen westlicher Unterhaltungsmusik orientiert (wobei Asaraschwili damit kein Einzelfall ist, man denke etwa an Andrei Eschpais leichtere Ader).

So interessant ein georgisches Programm per se ist, ist die Idee, ihm einen russischen Part gegenüberzustellen, grundsätzlich berechtigt, allein schon deshalb, weil die russische Musik natürlich – wie in nahezu allen ehemaligen Sowjetrepubliken – bei der Entwicklung der georgischen klassischen Musik eine wichtige Rolle gespielt hat. Man darf sich die zweite Programmhälfte allerdings weniger als Spiegelbild der ersten vorstellen, denn bereits angesichts des obigen kurzen historischen Abrisses ist ziemlich klar, dass es keinen georgischen Prokofjew oder georgischen Mossolow gegeben haben kann. Insofern darf die Wahl der russischen Beiträge auf dieser CD wohl insbesondere als Zusammenstellung von Werken gelten, die Kandashvili selbst wichtig sind.

Alexander Mossolow (1900–1973) gehört zweifelsohne zu den Komponisten, deren Schaffen durch die politischen Rahmenbedingungen der Sowjetunion am stärksten und am nachhaltigsten beeinflusst wurde, sodass man in seinem Fall ganz deutlich von zwei sehr unterschiedlichen Schaffensperioden sprechen kann: auf der einen Seite das radikale, expressionistische, avantgardistische Frühwerk, auf der anderen die Zeit nach dem Gulag (1937/38), die zu großen Teilen einen völlig veränderten Komponisten zeigt. Mossolows Klaviersonate Nr. 4 op. 11 (1925) gehört zu seinem frühen Schaffen, ein Einsätzer, dessen tritonusgesättigte Harmonik, voller Klaviersatz (manchmal Glockenklänge beschwörend) und dunkel-fatalistisch getönte Ausdruckssphären weniger an Prokofjew erinnern, dessen Musik Mossolow grundsätzlich wesentlich beeinflusst hat, sondern entschieden an den späten Skrjabin anknüpfen.

Bei den hier eingespielten Drei Präludien von Alfred Schnittke (1934–1998) handelt es sich um Juvenilia aus den Jahren 1953/54, präziser um die ersten drei Stücke einer Sammlung, die bei Toccata Classics als Sechs Präludien auf CD veröffentlicht worden bzw. unter dem Titel Fünf Präludien und Fuge im Druck erschienen ist. Man darf bei diesen (hübschen) Stücken nicht an den reifen Schnittke denken; vielmehr vollzieht der junge Komponist hier Muster aus der Klaviermusik des 19. Jahrhunderts nach bis hin zu Einflüssen von Nikolai Mjaskowski (sehr deutlich im zweiten Präludium), bei dessen Schüler Jewgeni Golubew (1910–1988) Schnittke seinerzeit im Übrigen selbst am Moskauer Konservatorium studierte. Am Ende des Programms steht Sergei Prokofjews (1891–1953) kompakte, energisch-brillante Klaviersonate Nr. 3 a-moll op. 28, wiederum ein Einsätzer also, den Prokofjew 1917 „nach alten Skizzen“ (aus dem Jahr 1907) verfasste.

Misho Kandashvili präsentiert sich auf dieser CD als technisch beschlagener, umsichtig und kontrolliert musizierender Pianist. Seine Interpretationen muten in der Tendenz eher sachlich-ausgeglichen als (emotional) zugespitzt an. So wirkt Balantschiwadses eigene Interpretation seiner Romantischen Stücke eine Spur wärmer, aber andererseits lässt Kandashvili z. B. den Glückseligen Abend in Nr. 6 sehr schön, die ruhigen, wohlig-entspannten Linien dieser Musik vorzüglich nachvollziehend zur Entfaltung kommen, überzeugt er in der Erleuchtung von Nr. 10 durch differenzierte Anschlagskultur. Voll in seinem Element ist er in Kantschelis Miniaturen, Taktakischwilis Poem könnte vielleicht etwas mehr Emphase und Dawitaschwilis Chorumi etwas mehr Ekstase vertragen, wobei er das treibende rhythmische Element im Chorumi klar herausarbeitet und seine Interpretation nie rabiat oder über Gebühr forciert wirkt.

Insgesamt überzeugend und im Vergleich zu den anderen Stücken eigentlich fast überraschend massiv, wuchtig auch die Interpretation von Mossolows Sonate Nr. 4, deren bedrohliche, düster-vergrübelte Atmosphärik Kandashvili gekonnt zu realisieren weiß. Tatsächlich ist es vor allem Prokofjews Dritte Sonate, die etwas schwächer gerät, nicht nur angesichts der natürlich extrem dichten diskographischen Konkurrenz. Die fulminante Verve etwa von Gilels’ Live-Mitschnitten geht Kandashvilis – gewiss solider – Lesart ab, aber auch generell wären hier intensiver nachvollzogene musikalische Linien (speziell in den zurückgenommeneren Abschnitten), präziser herausarbeitete Kontraste und stärkere Differenzierung möglich (nur als Beispiel beachte man etwa die kurzen Quasi-tromba-Einwürfe in der Coda, die bei Kandashvili zu kurz kommen). Etwas schade ist, dass sich das Beiheft im Wesentlichen mit Kurzbiographien der hier präsentierten Komponisten begnügt.

Am Ende steht ein gelungenes Debütalbum zu Buche, auf dem sich Kandashvili als junger Pianist von beachtlichem technischen und musikalischen Niveau vorstellt und – ganz besonders hervorzuheben – ein Programm vorstellt, das dem interessierten Hörer eine ganze Reihe von Anregungen bietet, sich intensiver mit der Musik Georgiens auseinanderzusetzen.

[Holger Sambale, Juni 2023]

Gipfeltreffen der Klavierkunst

hänssler CLASSIC, HC17040; EAN: 8 81488 17040

Thorofon, CTH2667; EAN: 4 003913 126672

Ein günstiges Geschick hat es gefügt, dass im Herbst 2020 kurz hintereinander die neuesten Folgen zweier der meistbeachteten Gesamtaufnahmen-Projekte von Klaviermusik erschienen sind, die in jüngerer Zeit in Angriff genommen wurden. Damit sind Pervez Mody und Florian Uhlig ihren Vorhaben, das Klaviermusikschaffen Alexander Skrjabins bzw. Robert Schumanns auf CD festzuhalten, einen weiteren Schritt näher gekommen.

Bei allen persönlichkeits-, kultur- und epochenbedingten Verschiedenheiten, die sich zwischen Schumann und Skrjabin feststellen lassen, verbindet beide, dass ihnen das Klavier zu Beginn ihrer Laufbahn ein unverzichtbarer Begleiter war, an dem sie während des Prozesses ihrer künstlerischen Selbstfindung den nötigen Halt fanden. Beide blieben sie dem Instrument, bis sie ein früher Tod um ihr Spätwerk betrog, eng verbunden: Skrjabin mehr als Schumann, was – abgesehen natürlich von den jeweiligen Eigentümlichkeiten der Inspiration – vielleicht auch damit erklärt werden kann, dass die geschichtliche Situation beim Eintritt Skrjabins ins Musikleben um 1890 sich deutlich von derjenigen unterschied, die Schumann sechs Jahrzehnte zuvor vorgefunden hatte. Schumann war von Anfang an ein ganz eigener Kopf, der – ohne dass er eine Revolution der Mittel ausrufen musste – eine Ausdrucksweise kultivierte, die sich von den bislang gekannten Gestaltungsprinzipien völlig abhob. Donald Tovey hat sie als musikalische Mosaikarbeit charakterisiert: Die Perioden sind kurz und im Bau regelmäßig, bestimmt durch rhythmisch prägnante, häufig in Sequenzen angeordnete Motive. Diese Art der Formung prädestiniert zur Arbeit im kleinen Rahmen der Miniaturistik. So eroberte sich Schumann, nachdem er sich an kurzen Klavierstücken zum Meister gebildet hatte, alle anderen Gebiete kompositorischen Schaffens, seine charakteristische Schreibweise dabei stets beibehaltend. Skrjabin dagegen wuchs am Ende des 19. Jahrhunderts in jene große Tradition der Klaviermusik hinein, die einst von Schumann mitbegründet worden war. Er konnte von Anfang an auf einen Fundus prägnant formulierter Stilmittel zurückgreifen und begann seinen Weg auf den Spuren eines überragenden Vorbilds: Frédéric Chopin. Während viele frühe Klavierwerke Schumanns eigentümlich gattungslos, da vorbildlos sind, komponiert der junge Skrjabin in den Gattungen, denen Chopin zu charakteristischem Profil verholfen hatte – Mazurka, Prélude, Étude, Polonaise –, und entwickelt einen eigenen Tonfall in der Auseinandersetzung mit diesem Erbe explizit klavieristisch gedachter Kunst. Zu historisch völlig Neuem gelangt Skrjabin, im Gegensatz zu Schumann, erst durch einen radikalen Akt der Abkehr von hergebrachten Gestaltungsmitteln: durch die Einführung seiner synthetischen, „mystischen“ Akkorde.

Angesichts dieser Unterschiede in der Stilentwicklung beider Komponisten ist es interessant zu sehen, wie Florian Uhlig und Pervez Mody ihre CD-Zyklen einteilen. Uhlig hat jede Folge seines Schumann-Projekts unter ein bestimmtes Motto gestellt. Im Fokus der jeweiligen Veröffentlichung steht bei ihm entweder eine Werkgruppe („Schumann und die Sonate“, „Schumann und der Kontrapunkt“) oder ein biographisch-sozialer Bezug („Der junge Virtuose“, „Schumann und seine Töchter“). Dies geht durchaus mit der bei Schumann immer wieder festzustellenden Tendenz einher, sich über längere Zeit intensiv einer Gattung zuzuwenden: Man denke etwa an sein „Liederjahr“ oder die kurz nacheinander komponierten Quartette samt Klavierquintett. Einen wichtigen Aspekt von Uhligs Tätigkeit stellt dabei die in Zusammenarbeit mit seinem Beiheft-Autor Joachim Draheim, einem der wichtigsten Schumann-Forscher, unternommene Präsentation von Zweitfassungen, Entwürfen, unvollendeten oder schlicht bislang unbeachteten Arbeiten des Komponisten dar, die es dem Zuhörer gleichsam ermöglicht, einen Einblick in Schumanns Werkstatt zu erhalten und an den Fragen Anteil zu nehmen, die ihn beschäftigten. In der 14. Folge widmet sich Uhlig auf zwei CDs Schumanns Beiträgen zur Gattung des Variationszyklus. Auf diesem Gebiet darf Schumann das Recht für sich in Anspruch nehmen, als musikgeschichtlich bedeutendster Komponist nach Beethoven betrachtet zu werden, denn er hat eine neue Art des Variierens begründet: Die Form des Themas ist dabei nur noch von untergeordneter Bedeutung; stattdessen werden aus seinen Motiven in freier Weise neue Stücke gebildet. Interessanterweise hat Brahms als Variationen-Komponist diese neuen Bahnen nie beschritten, spätere Meister wie Dvořák, Elgar, Reger und Dohnányi folgten ihnen namentlich in ihren Orchestervariationen. Dass Schumann seine Klaviervariationen zum Teil mit Titeln wie „Impromptus“ (op. 5), „Etüden“ (op. 13), „Fantasien“ (Erstfassung von op. 13), „Exercises“ (letzte Fassung der Beethoven-Variationen WoO) versah, hat wohl nicht nur seinen Grund darin, dass er sich von den Verfassern brillanter Salon-Variationen abgrenzen wollte, sondern dürfte auch zum Ausdruck bringen, dass ihm der Unterschied zwischen seinem neuen Variationstypus und demjenigen Beethovens deutlich bewusst gewesen ist. Uhligs Doppel-CD bietet Jedem einen wunderbaren Überblick, der nicht nur Schumanns Vielseitigkeit im Variieren erfahren, sondern auch einen Eindruck vom Ringen des Komponisten um die Gestalt seiner Stücke erhalten möchte. Das Programm vereint wohlbekannte Werke – Impromptus sur une Romance de Clara Wieck op. 5 (in der Fassung des Erstdrucks), Études Symphoniques op. 13 und die sogenannten Geistervariationen – mit einer faszinierenden Nachlese. Da finden sich neben der Urfassung der Symphonischen Etüden (Fantaisies et Finale sur une thême de M. le Baron de Fricken) ein bislang noch unveröffentlichtes kurzes Variationswerk über ein eigenes Thema in G-Dur und eine Reihe nicht abgeschlossener Projekte über Themen von Paganini („La campanella“), Schubert („Sehnsuchtswalzer“), Chopin (Nocturne op. 15/3) und Beethoven (Allegretto aus der Siebten Symphonie), die zum großen Teil von Joachim Draheim für die vorliegende Aufnahme erstmals zur Aufführung eingerichtet worden sind. Von diesen sind die Beethoven-Variationen bzw. -Etüden bzw. -Exercises am weitesten gediehen. Uhlig spielt die erste und dritte Fassung sowie Teile der zweiten, die in den anderen beiden fehlen. Letztlich scheiterte Schumann nur daran, diesem Zyklus einen befriedigenden Abschluss zu geben; doch was davon existiert, ist von echter Schumannscher Genialität und durchaus würdig, gelegentlich aufs Konzertprogramm gesetzt zu werden. Sympathisch berührt, dass Uhlig den Arbeiten, die die Werkstatt nie verließen, die gleiche Aufmerksamkeit zuwendet wie den vom Autor als gültig anerkannten Schöpfungen. Wenn er die ersten Takte der G-Dur-Variationen durch abwechslungsreichen Anschlag belebt, weiß man sofort: An diesem Stück hat Schumann mit Ernst gearbeitet, dies ist keine Skizze, kein Entwurf, sondern ein Werk! Uhlig verschreibt sich bei seinen Aufführungen nicht einseitig einem Interpretationsansatz. Ihm geht es darum zu zeigen, wie lebendig Dynamik, Tonalität, Satztechnik bei der Formung der Musik zusammenwirken – besonders in kontrapunktischen Abschnitten wie der vierten Etüde aus op. 13 oder der Fuge im letzten Teil von op. 5. Schumanns „mosaikartige“ Phrasen fügt er zu fest verbundenen Perioden aneinander, ohne dass der Eindruck mechanischer Starre entstünde (sehr schön in op. 5, Nr. 9); mit behutsam eingesetztem Rubato gibt er der Musik zugleich die Atemluft, die sie braucht um zu singen. Schumann, der Romantiker, war stets ein reflektierter Formkünstler; und der Formkünstler Schumann stets eine empfindsame romantische Seele – Uhlig macht dies deutlich.

Pervez Mody präsentiert Skrjabins Klaviermusik nicht nach Gattungen oder Schaffensphasen geordnet und widersteht dabei einer Möglichkeit, die sich sehr wohl anbieten würde. Stattdessen stellt er die Programme seiner CDs dergestalt zusammen, dass jeweils ein imaginärer Konzertabend entsteht, in dessen Verlauf die dargebotenen Stücke einander nach dem Prinzip der Einheit durch Kontrast gegenseitig beleuchten. So müssen bei ihm Sammlungen von Miniaturen nicht zwingend vollständig auf einer CD untergebracht werden, sondern können sich auf mehrere Folgen der Reihe verteilen. Auch bei der vorliegenden Folge 6 ist dies der Fall: Von den neun Mazurken des op. 25 finden sich nur drei, von den zwölf Etüden des op. 8 nur vier auf der Scheibe. Modys Vorgehen hat den großen Vorteil, dass auf diese Weise Skrjabin als Künstlerpersönlichkeit insgesamt besser fassbar wird. Der frühe Skrjabin erscheint nicht vom „späten“ getrennt, der „Revolutionär“ nicht von seinen scheinbar „epigonalen“ Anfängen abgegrenzt. Stattdessen zeigt Mody: Dies alles gehört zum Gesamtbild von Alexander Skrjabin dazu! Auf der neuesten CD der Reihe lädt Mody im wahrsten Sinne des Wortes zu einem Rundgang durch das Schaffen des Komponisten ein, denn das Programm verläuft zeitlich kreisförmig: von der Polonaise op. 21 die Werkzahlen über die opp. 25, 35 und 48 aufwärts bis zu den Préludes op. 67, und vom Mittelpunk des Programms, der Sonate Nr. 6 op. 62, über op. 40, op. 33 und op. 10 zurück bis zu den Études op. 8. In dieser Abfolge gehört, hinterlässt es einen anderen Eindruck, als wenn es chronologisch geordnet wäre. Man erlebt zwar Skrjabins stilistische Entwicklung hin zu den „Mystischen Akkorden“, wird aber durch die umgekehrte Chronologie der zweiten Programmhälfte dazu angeregt, sich zu fragen, was Skrjabins Persönlichkeit abseits seiner Neuerungen in der Harmonik ausmacht, welche Kontinuitäten sich in seinem Schaffen feststellen lassen, wie, kurzum, der frühe mit dem späteren Skrjabin zusammenhängt. John Foulds hat 1934 in seinem Buch Music To-Day. Its Heritage from the Past and Legacy to the Future op. 92 Skrjabin als denjenigen Komponisten bezeichnet, dem es seit Palestrina am überzeugendsten gelungen sei, in seiner Musik die Schwingungen der Devas (der übernatürlichen „leuchtenden Wesen“) zu vermitteln. Damit ist zwar vor allem das unter dem Eindruck theosophischer Ideen entstandene Schaffen ab 1905, seit dem Poéme de l’Extase, gemeint; hört man jedoch Modys Darbietungen der frühen Klavierwerke, so kann man kaum daran zweifeln, dass bereits in diesen Stücken die Flamme zu lodern begonnen hatte, die später so ekstatisch emporschießen sollte. Mody spielt, was in den Noten steht, und liest zugleich beständig zwischen den Zeilen. Die Notation versteht er offenbar als größtmögliche Annäherung an ein Ideal – zeitgenössischen Berichten zufolge muss Skrjabin ein begnadeter Improvisator gewesen sein –, und nimmt sich bei der Gestaltung der Zeitmaße immer wieder Freiheiten, um Spannungsaufbau und Entspannung innerhalb der musikalischen Verläufe bis in die kleinsten Phrasen hinein erlebbar werden zu lassen. Eine gute Probe von Modys Sinn für Formung gibt seine Interpretation des Préludes op. 35/1, in dem er aus den rauschenden Sechzehnteln die in der Partitur nicht explizit als solche gekennzeichnete Hauptmelodie hervorhebt. Seine Kultiviertheit im Anschlagen der Tasten trägt das ihre zur Wirkung seiner Aufführungen bei. Wiederholt wird man Zeuge, wie meisterlich es Mody beherrscht, echtes Piano und Pianissimo zu spielen, und gleichzeitig deutlich zu artikulieren. Den melodischen Faden, der Skrjabin, wie die vielen langen Bindebögen beweisen, sehr wichtig war, lässt Mody nie abreißen, und verhindert dadurch, dass diese Musik, wie unter weniger berufenen Händen oft zu hören, statisch oder verschwommen wirkt. Hier strömt sie wie in Feuerzungen aus. Wie Uhlig in Draheim hat auch Mody einen sehr kompetenten Beiheft-Autor gefunden: Daniel Tiemeyers ausführliche Erläuterungen der einzelnen Werke laden dazu ein, die Noten aufzuschlagen und sich auf eigene Faust in die Stücke zu vertiefen.

Dem Rezensenten bleibt noch, den Künstlern bei der Fortsetzung ihrer Projekte weiterhin so gutes Gelingen zu wünschen, wie es die beiden vorliegenden Veröffentlichungen auszeichnet.

[Norbert Florian Schuck, November 2020]

Skurril und überspitzt

Thorofon, CTH26522; EAN: 4 003913 126528

Auf zwei CDs hören wir Peter P. Pachl und Rainer Maria Klaas mit Kompositionen für das 1901 gegründete musikalische Kabarett „Überbrettl“. Auf dem Programm stehen Lieder und Melodramen von Oscar Strauss, Alexander Zemlinsky, Arnold Schönberg, Ludwig Thuille, Conradin Kreutzer, Robert Stolz, Hugo Schindler, Friedrich Hollaender und Rainer Maria Klaas.

Liedkompositionen mit merkwürdigen, etwas abgedrehten oder verrückten Texten können großen Charme besitzen, wenn sie richtig vorgetragen werden. Doch dafür bedarf es ein feines Gespür, wie viel man nun in die Musik hineingeben kann, und wie viel der Wirkung von der Musik selbst entfaltet wird. Je eigentümlicher der Text, desto mehr spricht er auch für sich. Eben dieses Gespür fehlt in den Aufnahmen der Überbrettl-Kompositionen durch Peter P. Pachl und Rainer Maria Klaas.

Für Aufsehen sorgten die beiden Musiker durch ihre Trippel-CD mit Melodramen verschiedener, größtenteils unbekannter Komponisten, von denen manch einer eine Entdeckung wert wäre. Die neue Produktion trägt den sprechenden Titel: „Wagner-Zyklus und andere erotische und animalische Extremi- und Perversitäten“. Das titelgebende Lied von Robert Stolz dauert übrigens nur etwa dreieinhalb Minuten und prangt vermutlich nur wegen des Namens Wagner als Aufreißer über den 40 Titeln. Das Überbrettl wurde 1901 gegründet und sollte Künstlern die Chance geben, ihre Kompositionen in kleinem Rahmen vorzutragen und dort zu prüfen, wie sie denn beim Publikum ankämen. Humoristisches nahm dabei eine zentrale Rolle ein, wobei die Künstler auch Wert auf ihre musikalische Ernsthaftigkeit legten – denn trotz des Witzes handelt es sich um durchdachte Kompositionen.

In ihrem Vortrag jedoch unterminieren Peter P. Pachl und Rainer Maria Klaas diese Seriosität. Pachl überspitzt die Texte derart maßlos, dass sie ihren teils doch subtilen Humor nicht mehr unterschwellig vermitteln können: denn dieser wird dem Hörer so stark unter die Nase gehalten, dass man gar nicht dazu kommt, den Duft selbst zu erschnuppern. Wie ein Schauspieler will Pachl die einzelnen Rollen und Charaktere darstellen, mit der Folge, dass man sie ihm eben nicht abkauft, da sie reinen Klischees entsprechen; darüber hinaus zahlt die Intonation den Preis für die bildhafte Darstellung. Dazu kommt, dass Pachl auch Lieder wählte, die weit über seinen Ambitus hinausreichen (z.B. Urschlamm-Idyll) – mit entsprechenden Resultaten. Rainer Maria Klaas, der Pianist mit dem „größten Repertoire Europas“, präsentiert glänzend langweiliges und uninspiriertes Spiel. Struktur, Kontraste oder irgendeine Art von Form sucht man vergebens, mehr als nackte Noten gibt Klaas nicht wieder. In den Liedern steht das Klavier deutlich im Hintergrund, doch in den eingestreuten Solostücken kommt die Monotonie voll zum Ausdruck. Vorbildlich zeigt sich alleinig das umfangreiche und informierte Booklet.

[Oliver Fraenzke, November 2018]

   Bestellen bei jpc

Gleichgültigkeit statt Romantik

Thorofon, CTH2649; EAN: 4 003913 126498

„Sie liebten sich beide.“; Robert & Clara Schumann, Johannes Brahms; Cornelia Lanz (Mezzosopran), Stefan Laux (Klavier)

 

Die Mezzosopranistin Cornelia Lanz und der Pianist Stefan Laux spielen Lieder der deutschen Romantik um Schumann. Auf dem Programm stehen Robert Schumanns Zyklus „Frauenliebe und -leben“ op. 42, vier Lieder aus op. 13 von Clara Schumann sowie eine bunte Auswahl an Klavierliedern von Johannes Brahms.

Es ist die berühmteste ‚Dreiecksbeziehung‘ der europäischen Musikgeschichte: Noch immer ranken sich Gerüchte darum, was zwischen Clara Schumann und Johannes Brahms tatsächlich geschehen ist. Robert Schumann entdeckte den jungen Brahms und setzte sich für dessen Erfolg ein, was eine lebenslange Freundschaft zwischen den beiden Kollegen zur Folge hatte. Intensiver scheint allerdings die Verbindung zwischen Brahms und Schumanns Frau Clara gewesen zu sein – vor allem von Brahms‘ Seite aus, was Briefe zeigen, ebenso wie Widmungen und der finale Entschluss, Frauen und Liebe zugunsten des Komponierens aufzugeben.

Entsprechend regelmäßig hören wir Werke dieser drei Komponisten zusammen auf einem Programm, so auch in dieser Aufnahme. Bei der Hintergrundgeschichte und den romantischen Themen der Lieder erwarte ich entsprechend eine dramatische, emotional aufgeladene Darbietung, in der Gefühle von unglücklicher Liebe mitschwingen. Ich werde überrascht und ernüchtert, als ich höre, welch eine Gleichgültigkeit mir von der CD entgegenklingt. Nichts kommt herüber zum Hörer von den zutiefst menschlichen Abgründen, die sich in den Gedichtsvertonungen auftun, die Emotionen wirken nicht glaubhaft. Es scheint, die Musiker hätten keinerlei Bezug zu der von ihnen gespielten Musik, kein Verlangen, sich selbst darin zu finden und auszudrücken. Wobei allgemein wenig in den Stücken gesucht wurde: Die Mezzosopranpartie klingt hektisch und das Klavier eintönig. Ich frage mich: Wenn man als Musiker nichts auszusagen hat, warum sucht man sich dann ein Programm aus, das von der Aussage lebt?

[Oliver Fraenzke, Oktober 2018]

    Bestellen bei jpc

Die Oper von der Erde?

GUSTAV MAHLER (1860-1911): Das Lied von der Erde (Fassung für Gesang und Klavier)
Alexandra von Roepke, Mezzosopran; Peter Furlong, Tenor; Christian Kälberer, Klavier

Thorofon CTH 2638; 4 003913 126382

‚Das Lied von der Erde’ – heute allbekannt in der Orchesterfassung – wurde von Gustav Mahler selbst auch für Klavier bearbeitet. Allerdings kam es zur Uraufführung dieser Fassung erst 1989 und es ist ausdrücklich kein ‚Klavierauszug’ jener Orchesterfassung, die heute längst die Konzertsäle erobert hat.

Die Frage, warum es diese „abgemagerte“ Fassung gibt, was Mahler dazu bewegt haben könnte, möchte ich mit einer Hypothese beantworten: So kommt das ‚Lied von der Erde’ noch unverstellter zum Ausdruck als in der beliebten Orchestrierung.

Und genau das ist der Ansatz meiner CD-Kritik, denn hier wird nicht das ‚Lied von der Erde’ aufgeführt, sondern eine „Oper von der Erde“. Der Pianist Christian Kälberer realisiert diese Mahler’sche Musik mit bewundernswerter Klarheit, mit Musikalität und Spürsinn für die typische Klanglichkeit in Mahlers Musik. (Auch seine Biographie im Booklet ist von seltener Zurückhaltung, Selbst-Ironie geprägt, und gipfelt in dem Satz: „…wenn diese CD-Einspielung hörbar dazu beitragen kann, ist eigentlich alles gesagt.“ Ecce homo!)

Was Kälberer betrifft, ist das auch voll und ganz erfüllt. Wie er aber als Erfüllungsgehilfen diese beiden Sängern hinzuziehen konnte  – er selbst ist für die Produktion verantwortlich –, ist und bleibt mir schleierhaft. Solch ein Danebengehen einer Einspielung ist mir selten untergekommen.

Dass man bei normal „verbildeten“ Sängern und Sängerinnen – vor allem, wenn sie aus dem Opernfach kommen – bei Liedern meist kein Wort versteht, ist man ja inzwischen gewöhnt, dass aber zwei Sänger aus dem Lied von der Erde eine „Oper von der Erde“ machen mit weite Strecken unkontrolliertem Vibrato, absoluter Text-Unverständlichkeit und einem opernhaft oberflächlichen Pathos, das den Texten und auch der musikalischen Aussage total zuwider läuft, das ist ein Höhepunkt der Unkultur. Dabei gibt es auch heute durchaus Sänger, die Stimme mit Textverständlichkeit – also Musik mit Poesie – verschwistern können, als Beispiel führe ich hier nur Herrn Gerhaher an. Und zitiere wieder einmal Hans Gal (1890-1987) aus seinem bis heute unübertroffenen Buch über Schubert: „…und man hat das Recht, bei der Erwägung einer solchen Frage an den vornehmsten Typ eines Interpreten, eines Hörers und an die vollkommenste Wortdeutlichkeit  zu denken – , so wird für ihn eine Meistervertonung eines Gedichts von höchster Vollendung ein Erlebnis sein wie kein anderes“. (S. 86)

Schade, denn mit diesem höchst musikalischen Gestalter am Klavier und zwei adäquaten Sängerinnen und Sängern könnte die Wiederentdeckung der Klavierfassung dem „Lied von der Erde“ von Gustav Mahler neue berechtigte Begeisterung bringen. So aber muss man von einem totalen Missverständnis –ausschließlich bei den beiden Gesangs-Protagonisten – sprechen. (Was übrigens bei den Biographien der beiden bestätigend hinzukommt: Name-Dropping pur.)

[Ulrich Hermann, Juni 2017 ]

Ein Tiger und Erzromantiker

Alexander Scriabin: Klavierwerke Vol. 5
Pervez Mody
Sonate Nr. 5 op. 53,  Morceaux op. 2 Nr. 2 & 3, 5 Préludes op. 15, Études op. 8 Nr. 2, 4, 5 & 9, 2 Danses op. 73, Scherzo op. 46, 2 Poèmes op. 44, 2 Impromptus op. 12, 2 Préludes op. 27, Fantaisie op. 28
Thorofon CTH 2632 (EAN: 4003913126320)

Pervez Mody ist ein Tiger auf den Tasten, voller Geschmeidigkeit, Eleganz, würdiger Schönheit und wuchtiger Kraft. Fernab des Rummels der großen Labels spielt er seit 2008 für Thorofon das komplette Klavierwerk Alexander Scriabins ein und ist nun bei der fünften Folge angekommen. Er ist ein sehr vielseitiger Pianist, von dem ich beispielsweise auch sehr fesselnden Beethoven gehört habe, und als Inder widmet er sich – wie auch die wunderbare italienische Pianistin Ottavia Maria Maceratini – der großartigen Klaviermusik des West-Meets-East-Pioniers John Foulds. Und Pervez Mody ist vor allem eins: ein echter Romantiker, jedoch nicht mit jenem morbide-sentimentalen, nostalgischen Flair, wie es heute viele Pseudoromantiker in ihrer fahlen Sehnsucht nach einer längst vergangenen Zeit, in der wir alle eigentlich nicht leben wollen, dem Publikum schmackhaft machen wollen. Bei Mody ist Romantik keine Dekadenz, sondern lebenspulsierende, kraftstrotzende Erotik des Klanges, der Linie, in üppiger und verfeinerter Sinnlichkeit. Diesmal präsentiert er uns zu Beginn die einsätzige Fünfte Klaviersonate (jetzt fehlen noch die Nummern 6 und 8, die wohl auf den nächsten zwei Alben folgen dürften). Er spielt diese Musik mit einer gelassen-leidenschaftlichen Freiheit, die sie als seine ganz eigene Welt erscheinen lässt. Und bei ihm geht es – bei aller Akrobatik – eben nicht um Klavier-Akrobatik als Selbstzweck, auch nicht verträumte Stimmungsnebel, sondern stets um eine dynamische Entwicklung, die auszufalten der Komponist den Musikern wahrlich nicht leicht machte. Wie lange muss ein lebendiges Pianissimo zu gestalten wissen, bevor die Dynamik wirklich höher steigen darf! Und wie sparsam muss, bei allem entfesselten Tumult, mit dem Äußersten sein, denn nach dem Forte und Fortissimo muss noch Platz für das fff sein! Das gelingt auch Mody nicht so wirklich, aber die Frage ist natürlich, wem das überhaupt gelingt. Ich wüsste es aus meinen bisherigen Erfahrungen nicht. Gelegentlich macht er geschmeidige Übergänge, wo in eher Beethoven’scher Manier dynamische Kontraste aufeinanderprallen sollten. Auch wäre es großartig, wenn Mody bei aller Freiheit der rhythmischen Gestaltung doch noch mehr darauf achtete, dass der Hörer innerhalb der flexiblen Agogik doch stets eine eindeutige metrische Orientierung erhält, ohne danach suchen zu müssen. Aber auch dafür gibt es keine Vorbilder. Warum also von ihm fordern, was die anderen – darunter die großen russischen Legenden – auch nicht verwirklichten? Nach vielen herrlich sinnfällig angeordneten Miniaturen – er weiß wirklich, was er wie zusammenstellt! – endet das Programm mit einer lebenssprühenden und herzerwärmenden Wiedergabe der nicht sehr bekannten Fantaisie h-moll op. 27 – und man kann das Ganze wie in einem übermütig errichteten Bogen hören – und wieder und wieder hören. Auch die vier Vorgängeralben sind als Ganzes nicht weniger gelungen, und auf dem ersten Album hatte er es doch tatsächlich gewagt, eine Bonus-CD mit Geräusch- und Gedicht-Montagen zu den Werken anzuhängen, in der er seiner wilden Fantasie ungebremsten Lauf ließ. Die einen werden es als Sakrilegsbruch ablehnen, die anderen teils amüsiert, teils gespannt genießen. Hier macht einer wirklich, was er will, ohne dies als Akt der Willkür auf die musikalische Gestaltung zu übertragen. Und ohne großes Aufsehen, ohne prätentiöses Rühren der Werbetrommeln wächst hier ein Scriabin-Zyklus heran, der das Zeug hat, nach Vladimir Sofronitzky und Igor Shukov nicht nur einfach Klavier- und Scriabin-Fans in Erregung zu versetzen, sondern auch die Kenner zu entzücken.

[Ernst Richter, September 2016]

Der unbekannte E.J. Wolff

Erich Jacques Wolff
Im Wendekreis des Goldbocks

Ausgewählte Lieder, Transkriptionen für Klavier

Rebecca Broberg, Sopran
Rainer Klaas, Klavier
Pianopianissimo-musiktheater

Thorofon, CTH2631
4 003913 126313

Während eigentlich jeder Arnold Schönberg (1874-1951), oder auch Alexander Zemlinsky (1871-1942) und gewiss Gustav Mahler (1860-1911) heute kennt, ist der österreichische Komponist und Zeitgenosse Erich Jacques Wolff (1874-1913) bis heute fast gänzlich unbekannt geblieben. Diesem Umstand abzuhelfen ist eines der Hauptziele der amerikanischen Sängerin und Forscherin Rebecca Broberg – vor allem als Wagner-Sängerin bekannt.  Mit dem Pianisten Rainer Klaas sorgt sie auf dieser CD dafür, dass ein damals durchaus bekannter und geschätzter Musiker wieder in unser Bewusstsein rückt. Seine Kompositionen umfassen ca. 200 Lieder, Bühnenwerke und anderes, es lohnt sich also, die Bekanntschaft mit seiner Musik zu machen. Als Lehrer von Alma Schindler – der späteren Alma Mahler – ersetzte er den unsterblich in seine Schülerin verliebten Zemlinsky, wenn sie auch kein besonders positives Urteil über Wolff fällte: der Antisemitismus war auch damals schon sehr verbreitet.

Die Lieder und Stücke auf dieser CD sind natürlich dem Stil der damaligen Zeit verbunden, auch wenn sich die „reine Lehre“ Schönbergs nicht wiederfindet, da sie erst nach Wolffs Tod entwickelt wurde. Dazu sind Poesie und Musik eben vor allem im Lied keine Gegner (prima la musica, poi le parole, was in der Oper durchaus am Platz sein mag). Darunter leidet leider auch ein wenig die Textverständlichkeit, was aber dank des ausführlichen Booklets mit allen Texten lässlich ist. Viel wichtiger ist, dass eine Lücke geschlossen wird, die uns mit einem spannenden und interessanten Zeitgenossen der damaligen Musikerzunft bekannt macht. Auch der von den Nazis durchaus nicht verpönte Komponist Clemens Schmalstich (1880-1960) ist mit einer Improvisation über Wolffs „Märchen“ für Klavier solo vertreten.

Wolffs Bühnenwerk „Zlatorog“ (Romantische Ballettpantomime in 4 Bildern nach der gleichnamigen Alpensage von Martin Zunkovic) von 1906 wurde durch die Vermittlung Alexander Zemlinskys nach dem Tod des Komponisten 1913 in Prag uraufgeführt.

Diese CD vermittelt die Bekanntschaft mit einem fast verschollenen Musiker, dessen Vielseitigkeit auch heute noch bemerkenswert ist und dankenswerter Weise durch diese Scheibe – wie auch durch einige wenige andere – ins Bewusstsein der Gegenwart zu rücken beginnt.

[Ulrich Hermann, Juli 2016]

Inniglich berührend in sehr guter Interpretationsqualität

Julius Röntgen
Werke für Violine und Violoncello (3 CD-Box)
Label:
Art.-Nr.: CTH2628/3, EAN: 4003913126283

CTH26283

Musik für Solostreicher ist unter musikalischen Laien häufig als schwierig und akademisch verrufen. Während das bei der Musik Johann Sebastian Bachs wahrscheinlich vor allem daran liegt, dass man zwar sehr viele aber verschwindend wenige wirklich gute Aufnahmen seiner Musik für Solovioline und -Cello findet, so liegt es bei musikgeschichtlich späteren Komponisten durchaus wohl auch manchmal daran, dass diese sich beim Messen mit ihrem großen Vorbild Bach, einfach als untalentiert und uninteressant herausstellten. Monolithen wie die Solosonaten des Belgiers Ysaÿe sind eben das, was sie sind: Monolithen – herausragende Ereignisse der Musikgeschichte, echte Jahrhundertwerke, die nun einmal nicht alle Tage und von jedem komponiert werden.

Wenn dann ein CD-Label daherkommt, und erklärt, man habe praktisch unbekannte Musik für Solostreicher anzubieten, die sich auch mit großen Vorbildern der Gattung messen kann, dann ist Skepsis selbst dann angebracht, wenn als Komponist Julius Röntgen einem vom Cover anschaut. Mit entsprechender Skepsis ging ich also diese Box an: Solomusik für Violine und für Cello sowie für die Kombination aus beiden Instrumenten, und das auf drei CDs. Was würde mich da erwarten?

Einerseits ist in einem solchen Fall davon auszugehen dass der Komponist es wirklich ernst meinte, und sich intensiv mit der Gattung Solostück auseinandergesetzt hat. Andererseits verheißt das, ehrlich gesagt, auch Mühsal: drei CDs mit Musik für Solostreicher. …und schon war auch ich den gängigen Klischees verfallen. Zu viel bekommt man wohl als Rezensent auf den Tisch, was der Erwähnung eigentlich streng genommen nicht wert ist.

Zum Glück wurde ich bei dieser Box eines Besseren belehrt. Vor allem die Musik für Solo-Cello ist hier erwähnenswert. Julius Röntgen hat außerordentlich inspirierte, eigentlich für ein breites Publikum genießbare Werke komponiert, die von der Cellistin Katharina Troe wirklich begnadet dargeboten werden. Mit viel, viel Musikalität, einem sicheren Händchen für flüssige Phrasierung, und einer Innigkeit, die man bei Musikern heute nur selten findet, macht sie vor allem für CD 2 dieser 3-CD-Box zu etwas ganz Besonderem. Hier trifft die stärkste Interpretin dieses Sets auf die stärkste Musik, die Röntgen für Solostreicher komponiert hat.

Auf CD 1 liefert Oliver Kipp ebenfalls einen guten Job ab, wirkt aber vor allem aus technischer Perspektive manchmal um eine Nuance bemüht. Dieser leichte Makel wird jedoch auch von Kipp durch eine Musikalität und Hingabe wettgemacht, die in heutiger Zeit einfach etwas Besonderes ist.

Auf CD 3 spielen beide im Duo, was allerdings offenbart, dass es sich da um zwei recht unterschiedliche musikalische Typen handelt. Auch den Klang der Instrumente finde ich im Duo nicht ganz zueinander passend. Kipp spielt eine brillante, „Stradivari-like“ klingende Violine, Katharina Troe hat einen Celloklang, den ich als „samtig“ beschreiben würde, etwas zurückhaltender, vielleicht auch mit ein wenig Understatement gesegnet, was mir an ihr sehr gut gefällt.

Bleibt abschließend die Frage, ob man diese Box, die immerhin rund 45 € kostet, auch kaufen sollte. Und ich würde sagen: das sollte man auf jeden Fall! Röntgen erweist sich als ein sehr interessanter Komponist. Im Gegensatz zu vielen anderen aus der Zeit, die ihre Hörer mit Solowerken plagten, hatte Röntgen wirklich etwas beizusteuern. Wenn er sich am Vorbild Bach rieb, und das ist durchaus nicht in allen Werken der Fall, die auf dieser CD erklingen (Gott sei Dank!), so hatte Röntgen wirklich etwas zur Musikgeschichte hinzuzufügen, so blitzte die Inspiration dieses ungewöhnlichen Komponistentalents auf und bildete eine eigene, starke Stimme aus. Während mich persönlich aber die symphonische Musik Röntgens nie wirklich berühren konnte, hat es diese, auf das einzelne Streichinstrument reduzierte Kammermusik vom ersten Ton an geschafft.

Ich bin begeistert, und empfehle deshalb diese wunderbare Musik jedem Hörer, für den Musik mehr ist, als bloße Hintergrundbeschallung. Diese CD-Box wird viele Jahre zu begeistern wissen und hiterlässt dankbare, beglückte Hörer. Man kann sich mit diesen Werken immer wieder neu beschäftigen, und von der Interpretation wird man definitiv nicht enttäuscht. Insofern sind die 45 €, die diese Box kostet, eine Investition im besten Wortsinne: Man kann über die Zeit nur gewinnen.

 [Grete Catus, März 2016]

Ein Schlag aufs Wasser

Placidus von Camerloher (1718-1782)
Kamermusik, Sinfonien, Arien

Neue Freisinger Hofmusik Leitung: Sabina Lehmann

CTH 2629 Thorofon
4 003913 126290

Ulrich9
Placidus von Camerloher, der Zeitgenosse Glucks und Philipp Emanuel Bachs, ist mithin ein Vorläufer von Haydn, Mozart und deren Zeitgenossen, und durchaus kein Unbekannter in der Musica Bavarica. Jetzt also eine neue CD der neugegründeten Neuen Freisinger Hofmusik, geleitet von der Cellistin Sabina Lehmann: die elf Instrumentalistinnen und Instrumentalisten von der Traversflöte bis zur Erzlaute spielen aus dem bis heute nur spärlich veröffentlichten Werk  des Freisinger Musikers und Geistlichen Herrn Camerloher zwei Sinfonien, zwei Arien auf lateinische Texte und ein paar Stücke aus seiner Kammermusik.
Was als durchaus von mehreren Seiten unterstütztes Projekt daherkommt – die Danksagungen im Booklet sprechen es aus –, entpuppt sich allerdings beim Anhören als ein ziemlich uninspiriertes Unterfangen, das an der Oberfläche des Notentextes und somit an den Ohren vorbeirauscht. Von Phrasierung oder irgendwie zusammenhängend bewusstem musikalischen Ansatz scheinen die Spieler weder je etwas gehört zu haben noch gar zu wissen. Ihr Tun erschöpft sich darin, die vorliegenden Noten in meist sehr hurtigen Tempi herunterzuspielen. So nebensächlich und rasch vorbei ist diese Musik sicher weder gemeint noch einst gespielt worden, da nützen auch die beiden Solostücke auf der Gallichone nichts,  oder auch die beiden Arien, die Bass Matthias Winckler bemüht, aber mit viel abgehackter Sechzehntel-Artikulation realisiert.  (Wie so etwas wirklich gesungen werden kann, könnte er sich bei Cecilia Bartoli einmal zu Gemüte führen, da muss das Zwerchfell einfach auf Zack sein bei solchen Läufen).
Dabei ist der Stil Camerlohers, wie die Leiterin Sabina Lehmann im Begleitheft beschreibt, alles andere als uninspiriert oder altmodisch. Sie nennt ihn sogar einen modernen Tonkünstler seiner Zeit, der größten Wert legte auf melodische und harmonische Klarheit und Einfachheit. Und die auf- und niederfahrenden Tonleitern in der neuen Mannheimer Art, häufige Synkopen, Seufzermotive, Sechzehnteltriolen oder unvermutet eintretende Generalpausen gehören zwar durchaus zu seinem musikalischen Stil, müssen aber auch dementsprechend erlebt und musiziert werden, sonst bleiben es bloße Beschreibungen ohne Inhalt. Denn so neu, wie Camerlohers Musik damals gewesen zu sein schien, davon muss auch der heutige Hörer etwas mitbekommen.
Es ist und bleibt der Makel bei unzähligen unserer heutigen – zwar ausdauernd geübt habenden, aber musikalisch so wenig beschlagenen – Musikerinnen und Musikern, dass sie zwar technisch alles „draufhaben“, aber die Bedeutung der „Klangrede“ ihnen sehr oft vor lauter Geschwindigkeit völlig entgeht.
Allerdings könnte jede Person sich die Violinschule von 1756 von Leopold Mozart zum Lesen nehmen oder auch die beiden sehr „erleuchtenden“ Bücher des Altmeisters Nikolaus Harnoncourt, etwa „Musik als Klangrede“, einverleiben, die einem einen entsprechenden Ansatz vermitteln können, wenn außer dem „Üben“ noch Zeit zum Lesen und Verstehen bliebe! Warnte doch schon Frédéric Chopin seine Schüler, nicht länger als drei Stunden am Klavier zu verbringen, sonst würden sie nämlich: „doof“.

Insofern ist diese CD mit Musik eines Zwischenmeisters leider ein – zugegeben recht lautstarker – Schlag ins Wasser, der vielleicht Placidus Camerlohers lokale Reputation unterstreichen, ihm jedoch keinen überregionalen Glanz verschaffen kann. Schade. Denn dass hinter Noten Musik zum Staunen und Überraschen steckt, konnte man zwar ahnen beim Anhören dieser CD, aber eben leider nicht hören. Mit der Exekution der auf dem Pult liegenden Noten ist es einfach nicht getan, wenn es um Musik geht.

[Ulrich Hermann, Dezember 2015]