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Gipfeltreffen der Klavierkunst

hänssler CLASSIC, HC17040; EAN: 8 81488 17040

Thorofon, CTH2667; EAN: 4 003913 126672

Ein günstiges Geschick hat es gefügt, dass im Herbst 2020 kurz hintereinander die neuesten Folgen zweier der meistbeachteten Gesamtaufnahmen-Projekte von Klaviermusik erschienen sind, die in jüngerer Zeit in Angriff genommen wurden. Damit sind Pervez Mody und Florian Uhlig ihren Vorhaben, das Klaviermusikschaffen Alexander Skrjabins bzw. Robert Schumanns auf CD festzuhalten, einen weiteren Schritt näher gekommen.

Bei allen persönlichkeits-, kultur- und epochenbedingten Verschiedenheiten, die sich zwischen Schumann und Skrjabin feststellen lassen, verbindet beide, dass ihnen das Klavier zu Beginn ihrer Laufbahn ein unverzichtbarer Begleiter war, an dem sie während des Prozesses ihrer künstlerischen Selbstfindung den nötigen Halt fanden. Beide blieben sie dem Instrument, bis sie ein früher Tod um ihr Spätwerk betrog, eng verbunden: Skrjabin mehr als Schumann, was – abgesehen natürlich von den jeweiligen Eigentümlichkeiten der Inspiration – vielleicht auch damit erklärt werden kann, dass die geschichtliche Situation beim Eintritt Skrjabins ins Musikleben um 1890 sich deutlich von derjenigen unterschied, die Schumann sechs Jahrzehnte zuvor vorgefunden hatte. Schumann war von Anfang an ein ganz eigener Kopf, der – ohne dass er eine Revolution der Mittel ausrufen musste – eine Ausdrucksweise kultivierte, die sich von den bislang gekannten Gestaltungsprinzipien völlig abhob. Donald Tovey hat sie als musikalische Mosaikarbeit charakterisiert: Die Perioden sind kurz und im Bau regelmäßig, bestimmt durch rhythmisch prägnante, häufig in Sequenzen angeordnete Motive. Diese Art der Formung prädestiniert zur Arbeit im kleinen Rahmen der Miniaturistik. So eroberte sich Schumann, nachdem er sich an kurzen Klavierstücken zum Meister gebildet hatte, alle anderen Gebiete kompositorischen Schaffens, seine charakteristische Schreibweise dabei stets beibehaltend. Skrjabin dagegen wuchs am Ende des 19. Jahrhunderts in jene große Tradition der Klaviermusik hinein, die einst von Schumann mitbegründet worden war. Er konnte von Anfang an auf einen Fundus prägnant formulierter Stilmittel zurückgreifen und begann seinen Weg auf den Spuren eines überragenden Vorbilds: Frédéric Chopin. Während viele frühe Klavierwerke Schumanns eigentümlich gattungslos, da vorbildlos sind, komponiert der junge Skrjabin in den Gattungen, denen Chopin zu charakteristischem Profil verholfen hatte – Mazurka, Prélude, Étude, Polonaise –, und entwickelt einen eigenen Tonfall in der Auseinandersetzung mit diesem Erbe explizit klavieristisch gedachter Kunst. Zu historisch völlig Neuem gelangt Skrjabin, im Gegensatz zu Schumann, erst durch einen radikalen Akt der Abkehr von hergebrachten Gestaltungsmitteln: durch die Einführung seiner synthetischen, „mystischen“ Akkorde.

Angesichts dieser Unterschiede in der Stilentwicklung beider Komponisten ist es interessant zu sehen, wie Florian Uhlig und Pervez Mody ihre CD-Zyklen einteilen. Uhlig hat jede Folge seines Schumann-Projekts unter ein bestimmtes Motto gestellt. Im Fokus der jeweiligen Veröffentlichung steht bei ihm entweder eine Werkgruppe („Schumann und die Sonate“, „Schumann und der Kontrapunkt“) oder ein biographisch-sozialer Bezug („Der junge Virtuose“, „Schumann und seine Töchter“). Dies geht durchaus mit der bei Schumann immer wieder festzustellenden Tendenz einher, sich über längere Zeit intensiv einer Gattung zuzuwenden: Man denke etwa an sein „Liederjahr“ oder die kurz nacheinander komponierten Quartette samt Klavierquintett. Einen wichtigen Aspekt von Uhligs Tätigkeit stellt dabei die in Zusammenarbeit mit seinem Beiheft-Autor Joachim Draheim, einem der wichtigsten Schumann-Forscher, unternommene Präsentation von Zweitfassungen, Entwürfen, unvollendeten oder schlicht bislang unbeachteten Arbeiten des Komponisten dar, die es dem Zuhörer gleichsam ermöglicht, einen Einblick in Schumanns Werkstatt zu erhalten und an den Fragen Anteil zu nehmen, die ihn beschäftigten. In der 14. Folge widmet sich Uhlig auf zwei CDs Schumanns Beiträgen zur Gattung des Variationszyklus. Auf diesem Gebiet darf Schumann das Recht für sich in Anspruch nehmen, als musikgeschichtlich bedeutendster Komponist nach Beethoven betrachtet zu werden, denn er hat eine neue Art des Variierens begründet: Die Form des Themas ist dabei nur noch von untergeordneter Bedeutung; stattdessen werden aus seinen Motiven in freier Weise neue Stücke gebildet. Interessanterweise hat Brahms als Variationen-Komponist diese neuen Bahnen nie beschritten, spätere Meister wie Dvořák, Elgar, Reger und Dohnányi folgten ihnen namentlich in ihren Orchestervariationen. Dass Schumann seine Klaviervariationen zum Teil mit Titeln wie „Impromptus“ (op. 5), „Etüden“ (op. 13), „Fantasien“ (Erstfassung von op. 13), „Exercises“ (letzte Fassung der Beethoven-Variationen WoO) versah, hat wohl nicht nur seinen Grund darin, dass er sich von den Verfassern brillanter Salon-Variationen abgrenzen wollte, sondern dürfte auch zum Ausdruck bringen, dass ihm der Unterschied zwischen seinem neuen Variationstypus und demjenigen Beethovens deutlich bewusst gewesen ist. Uhligs Doppel-CD bietet Jedem einen wunderbaren Überblick, der nicht nur Schumanns Vielseitigkeit im Variieren erfahren, sondern auch einen Eindruck vom Ringen des Komponisten um die Gestalt seiner Stücke erhalten möchte. Das Programm vereint wohlbekannte Werke – Impromptus sur une Romance de Clara Wieck op. 5 (in der Fassung des Erstdrucks), Études Symphoniques op. 13 und die sogenannten Geistervariationen – mit einer faszinierenden Nachlese. Da finden sich neben der Urfassung der Symphonischen Etüden (Fantaisies et Finale sur une thême de M. le Baron de Fricken) ein bislang noch unveröffentlichtes kurzes Variationswerk über ein eigenes Thema in G-Dur und eine Reihe nicht abgeschlossener Projekte über Themen von Paganini („La campanella“), Schubert („Sehnsuchtswalzer“), Chopin (Nocturne op. 15/3) und Beethoven (Allegretto aus der Siebten Symphonie), die zum großen Teil von Joachim Draheim für die vorliegende Aufnahme erstmals zur Aufführung eingerichtet worden sind. Von diesen sind die Beethoven-Variationen bzw. -Etüden bzw. -Exercises am weitesten gediehen. Uhlig spielt die erste und dritte Fassung sowie Teile der zweiten, die in den anderen beiden fehlen. Letztlich scheiterte Schumann nur daran, diesem Zyklus einen befriedigenden Abschluss zu geben; doch was davon existiert, ist von echter Schumannscher Genialität und durchaus würdig, gelegentlich aufs Konzertprogramm gesetzt zu werden. Sympathisch berührt, dass Uhlig den Arbeiten, die die Werkstatt nie verließen, die gleiche Aufmerksamkeit zuwendet wie den vom Autor als gültig anerkannten Schöpfungen. Wenn er die ersten Takte der G-Dur-Variationen durch abwechslungsreichen Anschlag belebt, weiß man sofort: An diesem Stück hat Schumann mit Ernst gearbeitet, dies ist keine Skizze, kein Entwurf, sondern ein Werk! Uhlig verschreibt sich bei seinen Aufführungen nicht einseitig einem Interpretationsansatz. Ihm geht es darum zu zeigen, wie lebendig Dynamik, Tonalität, Satztechnik bei der Formung der Musik zusammenwirken – besonders in kontrapunktischen Abschnitten wie der vierten Etüde aus op. 13 oder der Fuge im letzten Teil von op. 5. Schumanns „mosaikartige“ Phrasen fügt er zu fest verbundenen Perioden aneinander, ohne dass der Eindruck mechanischer Starre entstünde (sehr schön in op. 5, Nr. 9); mit behutsam eingesetztem Rubato gibt er der Musik zugleich die Atemluft, die sie braucht um zu singen. Schumann, der Romantiker, war stets ein reflektierter Formkünstler; und der Formkünstler Schumann stets eine empfindsame romantische Seele – Uhlig macht dies deutlich.

Pervez Mody präsentiert Skrjabins Klaviermusik nicht nach Gattungen oder Schaffensphasen geordnet und widersteht dabei einer Möglichkeit, die sich sehr wohl anbieten würde. Stattdessen stellt er die Programme seiner CDs dergestalt zusammen, dass jeweils ein imaginärer Konzertabend entsteht, in dessen Verlauf die dargebotenen Stücke einander nach dem Prinzip der Einheit durch Kontrast gegenseitig beleuchten. So müssen bei ihm Sammlungen von Miniaturen nicht zwingend vollständig auf einer CD untergebracht werden, sondern können sich auf mehrere Folgen der Reihe verteilen. Auch bei der vorliegenden Folge 6 ist dies der Fall: Von den neun Mazurken des op. 25 finden sich nur drei, von den zwölf Etüden des op. 8 nur vier auf der Scheibe. Modys Vorgehen hat den großen Vorteil, dass auf diese Weise Skrjabin als Künstlerpersönlichkeit insgesamt besser fassbar wird. Der frühe Skrjabin erscheint nicht vom „späten“ getrennt, der „Revolutionär“ nicht von seinen scheinbar „epigonalen“ Anfängen abgegrenzt. Stattdessen zeigt Mody: Dies alles gehört zum Gesamtbild von Alexander Skrjabin dazu! Auf der neuesten CD der Reihe lädt Mody im wahrsten Sinne des Wortes zu einem Rundgang durch das Schaffen des Komponisten ein, denn das Programm verläuft zeitlich kreisförmig: von der Polonaise op. 21 die Werkzahlen über die opp. 25, 35 und 48 aufwärts bis zu den Préludes op. 67, und vom Mittelpunk des Programms, der Sonate Nr. 6 op. 62, über op. 40, op. 33 und op. 10 zurück bis zu den Études op. 8. In dieser Abfolge gehört, hinterlässt es einen anderen Eindruck, als wenn es chronologisch geordnet wäre. Man erlebt zwar Skrjabins stilistische Entwicklung hin zu den „Mystischen Akkorden“, wird aber durch die umgekehrte Chronologie der zweiten Programmhälfte dazu angeregt, sich zu fragen, was Skrjabins Persönlichkeit abseits seiner Neuerungen in der Harmonik ausmacht, welche Kontinuitäten sich in seinem Schaffen feststellen lassen, wie, kurzum, der frühe mit dem späteren Skrjabin zusammenhängt. John Foulds hat 1934 in seinem Buch Music To-Day. Its Heritage from the Past and Legacy to the Future op. 92 Skrjabin als denjenigen Komponisten bezeichnet, dem es seit Palestrina am überzeugendsten gelungen sei, in seiner Musik die Schwingungen der Devas (der übernatürlichen „leuchtenden Wesen“) zu vermitteln. Damit ist zwar vor allem das unter dem Eindruck theosophischer Ideen entstandene Schaffen ab 1905, seit dem Poéme de l’Extase, gemeint; hört man jedoch Modys Darbietungen der frühen Klavierwerke, so kann man kaum daran zweifeln, dass bereits in diesen Stücken die Flamme zu lodern begonnen hatte, die später so ekstatisch emporschießen sollte. Mody spielt, was in den Noten steht, und liest zugleich beständig zwischen den Zeilen. Die Notation versteht er offenbar als größtmögliche Annäherung an ein Ideal – zeitgenössischen Berichten zufolge muss Skrjabin ein begnadeter Improvisator gewesen sein –, und nimmt sich bei der Gestaltung der Zeitmaße immer wieder Freiheiten, um Spannungsaufbau und Entspannung innerhalb der musikalischen Verläufe bis in die kleinsten Phrasen hinein erlebbar werden zu lassen. Eine gute Probe von Modys Sinn für Formung gibt seine Interpretation des Préludes op. 35/1, in dem er aus den rauschenden Sechzehnteln die in der Partitur nicht explizit als solche gekennzeichnete Hauptmelodie hervorhebt. Seine Kultiviertheit im Anschlagen der Tasten trägt das ihre zur Wirkung seiner Aufführungen bei. Wiederholt wird man Zeuge, wie meisterlich es Mody beherrscht, echtes Piano und Pianissimo zu spielen, und gleichzeitig deutlich zu artikulieren. Den melodischen Faden, der Skrjabin, wie die vielen langen Bindebögen beweisen, sehr wichtig war, lässt Mody nie abreißen, und verhindert dadurch, dass diese Musik, wie unter weniger berufenen Händen oft zu hören, statisch oder verschwommen wirkt. Hier strömt sie wie in Feuerzungen aus. Wie Uhlig in Draheim hat auch Mody einen sehr kompetenten Beiheft-Autor gefunden: Daniel Tiemeyers ausführliche Erläuterungen der einzelnen Werke laden dazu ein, die Noten aufzuschlagen und sich auf eigene Faust in die Stücke zu vertiefen.

Dem Rezensenten bleibt noch, den Künstlern bei der Fortsetzung ihrer Projekte weiterhin so gutes Gelingen zu wünschen, wie es die beiden vorliegenden Veröffentlichungen auszeichnet.

[Norbert Florian Schuck, November 2020]

Ein Tiger und Erzromantiker

Alexander Scriabin: Klavierwerke Vol. 5
Pervez Mody
Sonate Nr. 5 op. 53,  Morceaux op. 2 Nr. 2 & 3, 5 Préludes op. 15, Études op. 8 Nr. 2, 4, 5 & 9, 2 Danses op. 73, Scherzo op. 46, 2 Poèmes op. 44, 2 Impromptus op. 12, 2 Préludes op. 27, Fantaisie op. 28
Thorofon CTH 2632 (EAN: 4003913126320)

Pervez Mody ist ein Tiger auf den Tasten, voller Geschmeidigkeit, Eleganz, würdiger Schönheit und wuchtiger Kraft. Fernab des Rummels der großen Labels spielt er seit 2008 für Thorofon das komplette Klavierwerk Alexander Scriabins ein und ist nun bei der fünften Folge angekommen. Er ist ein sehr vielseitiger Pianist, von dem ich beispielsweise auch sehr fesselnden Beethoven gehört habe, und als Inder widmet er sich – wie auch die wunderbare italienische Pianistin Ottavia Maria Maceratini – der großartigen Klaviermusik des West-Meets-East-Pioniers John Foulds. Und Pervez Mody ist vor allem eins: ein echter Romantiker, jedoch nicht mit jenem morbide-sentimentalen, nostalgischen Flair, wie es heute viele Pseudoromantiker in ihrer fahlen Sehnsucht nach einer längst vergangenen Zeit, in der wir alle eigentlich nicht leben wollen, dem Publikum schmackhaft machen wollen. Bei Mody ist Romantik keine Dekadenz, sondern lebenspulsierende, kraftstrotzende Erotik des Klanges, der Linie, in üppiger und verfeinerter Sinnlichkeit. Diesmal präsentiert er uns zu Beginn die einsätzige Fünfte Klaviersonate (jetzt fehlen noch die Nummern 6 und 8, die wohl auf den nächsten zwei Alben folgen dürften). Er spielt diese Musik mit einer gelassen-leidenschaftlichen Freiheit, die sie als seine ganz eigene Welt erscheinen lässt. Und bei ihm geht es – bei aller Akrobatik – eben nicht um Klavier-Akrobatik als Selbstzweck, auch nicht verträumte Stimmungsnebel, sondern stets um eine dynamische Entwicklung, die auszufalten der Komponist den Musikern wahrlich nicht leicht machte. Wie lange muss ein lebendiges Pianissimo zu gestalten wissen, bevor die Dynamik wirklich höher steigen darf! Und wie sparsam muss, bei allem entfesselten Tumult, mit dem Äußersten sein, denn nach dem Forte und Fortissimo muss noch Platz für das fff sein! Das gelingt auch Mody nicht so wirklich, aber die Frage ist natürlich, wem das überhaupt gelingt. Ich wüsste es aus meinen bisherigen Erfahrungen nicht. Gelegentlich macht er geschmeidige Übergänge, wo in eher Beethoven’scher Manier dynamische Kontraste aufeinanderprallen sollten. Auch wäre es großartig, wenn Mody bei aller Freiheit der rhythmischen Gestaltung doch noch mehr darauf achtete, dass der Hörer innerhalb der flexiblen Agogik doch stets eine eindeutige metrische Orientierung erhält, ohne danach suchen zu müssen. Aber auch dafür gibt es keine Vorbilder. Warum also von ihm fordern, was die anderen – darunter die großen russischen Legenden – auch nicht verwirklichten? Nach vielen herrlich sinnfällig angeordneten Miniaturen – er weiß wirklich, was er wie zusammenstellt! – endet das Programm mit einer lebenssprühenden und herzerwärmenden Wiedergabe der nicht sehr bekannten Fantaisie h-moll op. 27 – und man kann das Ganze wie in einem übermütig errichteten Bogen hören – und wieder und wieder hören. Auch die vier Vorgängeralben sind als Ganzes nicht weniger gelungen, und auf dem ersten Album hatte er es doch tatsächlich gewagt, eine Bonus-CD mit Geräusch- und Gedicht-Montagen zu den Werken anzuhängen, in der er seiner wilden Fantasie ungebremsten Lauf ließ. Die einen werden es als Sakrilegsbruch ablehnen, die anderen teils amüsiert, teils gespannt genießen. Hier macht einer wirklich, was er will, ohne dies als Akt der Willkür auf die musikalische Gestaltung zu übertragen. Und ohne großes Aufsehen, ohne prätentiöses Rühren der Werbetrommeln wächst hier ein Scriabin-Zyklus heran, der das Zeug hat, nach Vladimir Sofronitzky und Igor Shukov nicht nur einfach Klavier- und Scriabin-Fans in Erregung zu versetzen, sondern auch die Kenner zu entzücken.

[Ernst Richter, September 2016]

Kammermusik in Freimann

Ein mannigfaltiges Programm für Violine und Klavier war am 20. September in der Villa Mohr in München-Freimann (Situlistraße) zu hören. Der Bogen wurde dabei von Isabel Steinbach geführt und an den Tasten agierte der aus Bombay stammende Pianist Pervez Mody, zusammen treten sie als Duo Appassionata auf. Altwiener Tanzweisen von Fritz Kreisler und eine Duobearbeitung von Edvard Griegs Peer Gynt Suite Nr. 1 durch Hans Sitt standen neben Ludwig van Beethovens siebter Violinsonate in c-moll op. 30/2 und Franz Schuberts Rondeau brillant h-Moll op. 70 auf dem Programm.

Eine recht eigentümliche und doch erstaunlich stimmige Werkreihenfolge bietet der Abend in Freimann auf, Kreislers Altwiener Tanzweisen vor Beethovens ernster „Grande Sonate“ c-Moll in der ersten Hälfte und Griegs berühmte Peer Gynt Suite Nr. 1 vor dem recht selten dargebotenen Rondo in h-Moll von Schubert nach der Pause sind durchaus interessante Kombinationen von divergierenden Stilsphären. Der schnelle Wechsel zwischen so unterschiedlichen Welten ist eine wahre Herausforderung für die Musiker, die erst kurz vor dem Konzert aus Österreich eintreffen. Ganz ohne Anspielprobe, ohne Warm Up müssen sie das anspruchsvolle Programm präsentieren!

So ist es nicht verwunderlich, dass Liebesfreud und Liebesleid aus Kreislers Feder noch nicht den Wiener Schwung erhalten, wodurch der Tanzcharakter fast etwas stolpert. Pervez Mody besticht dessen ungeachtet durch eine außergewöhnlich leichtfüßige Begleitung in strahlendem Staccato, das zwar an sich viel zu kurz ist, aber in der eleganten Art der Ausführung einen sehr eigenen Charme erhält. Die Violinstimme wirkt darüber etwas statisch, ist aber auch durchgehend durchdacht und sanglich geführt. Der kühne Wechsel zu den düstereren Welten von Beethovens Violinsonate Nr. 7 gelingt tatsächlich und das schlichte Thema begibt sich auf seine Reise durch den technisch äußerst delikaten Kopfsatz, in dem beide ihre zweifelsohne brillanten Fähigkeiten unter Beweis stellen können. Gerade im ersten Satz muss der Hörer unweigerlich darauf stoßen, wie eingespielt diese beiden Musiker sind, jedes Thema wird übergangslos vom jeweils anderen Spieler aufgenommen und weitergeführt, dynamisch sind sie perfekt aufeinander abgestimmt und auch in der Phrasierung herrscht große Einigkeit – was bei allzu vielen Duetts nicht wirklich anzufinden ist. Anzumerken ist hier nur, dass beide Musiker immer wieder der heute sehr beliebten Mode verfallen, gegen jede Verstellung von natürlichem Spannungsaufbau die Auflösung einer Linie ebenso wie die Taktschwerpunkt oft ungeachtet ihrer kontextuellen Bedeutung zu akzentuieren. Nach einem ziemlich unstetigen und vielerorts zu sehr nach vorne drängendem (von Anfang an bereits zu eiligen) Adagio reißt das Duo Appassionata in Scherzo und Finale mit. Pervez Mody erweist sich als so geschmeidiger Begleiter, so dass sich Isabel Steinbach vollends auf dieser hervorragenden Grundlage entfalten kann, sein Spiel ist auch in den zerklüftetsten Passagen rein und durchsichtig mit einer unerschütterlichen Lockerheit.

Nach der Pause wird das Programm durch Grieg fortgeführt, dessen erste Suite aus der Bühnenmusik zu Peer Gynt von Henrik Ibsen hier in einer Duobearbeitung von Hans Sitt erklingt. Der in Prag geborene Sitt ist heute als Komponist vollkommen in Vergessenheit geraten, abgesehen von kurzen Stückchen für den Geigenunterricht, eine Entdeckung unter anderem seiner Violinkonzerte oder seines Bratschenkonzerts (er war neben seiner Geigenlehrtätigkeit in Leipzig auch als Bratschist im Brodsky-Quartett tätig) wäre sehr wünschenswert. Zu lesen ist der Name nur auf Arrangements, viele der international berühmten Geigenvirtuosen greifen immer wieder auf seine Bearbeitungen zurück (zu nennen beispielsweise Henryk Szeryng, der Nardinis e-moll-Konzert ausschließlich in Sitts Fassung spielte). Die Version für Violine und Klavier ist erstaunlich gut gelungen, die Musik erhält eine ausgewogene Abstimmung zwischen den unterschiedlichen Kräften, zwischen denen die Themen stimmig aufgeteilt sind. Die Morgenstimmung erklingt in der Darbietung des Duos Appassionata noch recht willkürlich, die kleinen Ritardandi schmälern den Eindruck der aufgehenden Sonne, wobei allerdings im späteren Verlauf das Tempo so stark beschleunigt, dass von einer Morgenidylle nicht mehr die Rede sein kann. Wesentlich gelungener sind dafür vor allem die folgenden Stücke Åses Tod und Anitras Tanz in all ihren verschiedenartigen Ausdrucksmitteln. Hier zeigt sich, wie stark sich die Instrumentalisten mit der skandinavischen Musik auseinandergesetzt haben – auch ihr letztes gemeinsames Album enthält Sonaten von Sinding, Gade und Grieg. Das Klangresultat erhält eine spielerische Natürlichkeit und schäumt nicht über vor falschem Pathos.

Das Finale bildet Schuberts Rondo für Violine und Klavier h-Moll op. 70, das wohl risikoreichste Werk des Abends; so schnell kann die komplexe Struktur zerbrechen und die dramatische Tiefgründigkeit in oberflächliche Virtuosität umkippen. Immerhin gelang es dem Duo, den Hörer hineinzuziehen in das musikalische Geschehen; dennoch können auch sie nicht verhindern, dass der große Zusammenhang und die potentielle Stringenz dieses viertelstündigen Werks teils abglitt und der Hörer kurzzeitig seinen Halt in der fragilen Welt verliert. Dennoch ist das Rondo durchwegs reflektiert dargeboten und die musikalische Leistung sehr beachtlich, gerade im Vergleich mit vielen teils großen Virtuosen, die aus dem packenden Seelengemälde weitaus weniger herauszuholen vermögen als Steinbach und Mody. Als Zugabe gibt es erneut Kreisler, diesmal wesentlich schwungvoller und wienerischer als zu Beginn des Abends, und den Brautraub aus der zweiten Peer Gynt-Suite, der durch feine Klangeffekte betört.

Das Duo Appassionata überzeugt den gesamten Abend durch ein äußerst fein abgestimmtes Zusammenspiel, das sich in vierzehn Jahren gemeinsamen Wirkens gefestigt hat. Dadurch schleichen sich allerdings auch routinemäßig willkürliche Elemente mit ein, so beispielsweise genannte Überakzentuierung von Auflösungen und Taktschwerpunkten oder auch zerfasernde Tempi, welche immer wieder treiben oder unbedacht schwanken, was allerdings angesichts der enormen Musikalität im Spiel der beiden verziehen werden kann. Isabel Steinbach präsentiert sich als technisch ausgereifte Violinistin, die ihr Programm nüchtern und distanziert betrachtet, sich also zu keiner Zeit von zu Unachtsamkeit lockenden Schwärmereien hinreißen lässt, Pervez Mody hingegen trumpft auf mit ungeahnter Klangkontrolle und -vorstellung sowie seiner entspannten Art des Klavierspiels, bei beiden ist ein feinfühliges Aufeinander-Eingehen spürbar.

[Oliver Fraenzke, September 2015]