Archiv für den Monat: August 2021

Langer Atem und Polyphonie im Kornspeicher

Der Kornspeicher der Dorfmühle in Lehrberg

Am 28. August 2021 spielte das Streichorchester Symphonia Momentum unter Leitung von Christoph Schlüren im Kornspeicher des Hotels Dorfmühle in Lehrberg die Streichersymphonie Nr. 13 c-Moll von Felix Mendelssohn Bartholdy, Bitten, den von Lucian Beschiu für Streicher gesetzten Schlussteil der Motette Über die Schwelle von Reinhard Schwarz-Schilling, und das Streichquintett F-Dur von Anton Bruckner als Streichersymphonie.

Mit dem Kornspeicher der ehemaligen Dorfmühle, deren Gebäude nunmehr das Hotel Dorfmühle beherbergen, verfügt Lehrberg, ein Markt in Mittelfranken nahe Ansbach, über eine Spielstätte besonderer Art. Der mit einer Orgel ausgerüstete Konzertsaal dient seit seiner Einweihung im Jahr 2017 als Veranstaltungsort der Lehrberger Mühlenkonzerte, in deren Rahmen es bereits zu einer stattlichen Anzahl an Aufführungen von Chor-, Orgel-, Kammer- und auch Orchestermusik gekommen ist. Die Ereignisse des Jahres 2020 hatten zu einer vorübergehenden Unterbrechung der erfolgreichen Reihe geführt, sodass im Kornspeicher insgesamt 20 Monate lang keine Konzerte stattfinden konnten. Nicht nur aus diesem Grund konnte man höchst gespannt sein auf das Konzert, das die erzwungene Stille am 28. August 2021 beendete und damit hoffentlich den Auftakt zu einem neuen Kontinuum musikalischer Veranstaltungen in Lehrberg gegeben hat.

Das 19-köpfige Streichorchester Symphonia Momentum (fünf erste und vier zweite Violinen, je drei erste und zweite Bratschen, drei Violoncelli und eine Kontrabassistin, die die ihr zugeteilten Stellen profund stützte) brachte unter der Leitung seines Gründers Christoph Schlüren drei Kompositionen zur Aufführung, die nicht nur verschiedenen Epochen angehören, sondern auch ursprünglich verschiedenen Besetzungen zugedacht waren: Die 1823 begonnene und nach dem ersten Satz nicht weiterführte Streichersymphonie Nr. 13 c-Moll des 14-jährigen Felix Mendelssohn Bartholdy, die den Abend eröffnete, wurde als einziges Werk des Programms original für Streichorchester komponiert. Mit Reinhard Schwarz-Schillings Bitten folgte ein Stück instrumental ausgeführter Vokalmusik: Es handelt sich um den Schlussteil der A-cappella-Motette Über die Schwelle op. 76 aus dem Jahr 1975, den der Komponist Lucian Beschiu der Streicherliteratur hinzugewonnenen hat. Das weitaus umfangreichste Stück bildete den Abschluss: Anton Bruckners Streichquintett F-Dur von 1879 war in chorischer Aufführung zu hören, und damit als zweite Streichsymphonie in diesem Konzert. Diese Werke mögen zeitlich weit auseinanderliegen – Mendelssohns Symphoniesatz entstand im Jahr vor Bruckners Geburt, Bruckners Quintett ein knappes Jahrhundert vor Schwarz-Schillings Motette –, und in ganz verschiedenen Schaffensphasen der jeweiligen Komponisten entstanden sein – ein Jugendwerk steht den Kompositionen eines 55- und eines 71-Jährigen gegenüber –, dennoch kam in dieser Vortragsfolge das ihnen Gemeinsame, sie miteinander Verbindende außerordentlich deutlich zum Ausdruck, während das, was sie historisch-stilistisch voneinander trennen mag, in den Hintergrund trat. Neben der formalen Abrundung, der Natürlichkeit, mit welcher sich die Verläufe der Stücke entfalten, als könnte es nicht anders sein, haben sie vor allem den fünfstimmigen Satz als Grundlage gemeinsam. Alle drei Werke entfalten die in ihnen niedergelegten musikalischen Gedanken in meisterhafter Polyphonie.

Dieses Zusammenwirken voneinander unabhängiger Stimmen hörbar zu machen, ist Christoph Schlüren der rechte Mann. Die Konzerte, die er in den letzten Jahren gegeben hat, sind sämtlich Feste der Polyphonie gewesen. Wie sehr er sich in die Struktur der Werke vertieft hat, zeigte sich in Lehrberg nicht nur an den Aufführungen selbst, sondern auch bei dem Einführungsvortrag, den er vor dem Konzert hielt. Mit knappen, auf den Punkt gebrachten Sätzen umriss er die Thematik des polyphonen Hörens im Allgemeinen und ging dann auf die besonderen Merkmale der Kompositionen ein, wobei ihm zur Verdeutlichung des Gesagten die Stimmführer der Orchestergruppen zur Seite standen.

Polyphonie ist melodische Musik, entwickelt sich aus der Linie heraus. Im Konzert zeigte sich, wie intensiv sie erlebbar wird, wenn die Melodielinien nach den ihnen innewohnenden tonalen Verhältnissen entwickelt und gut artikuliert vorgetragen werden. Die Einleitung des Mendelssohnsschen Symphoniesatzes bereitete angemessen darauf vor: Da hörte man nicht ein bloßes Hintereinander punktierter Motive, sondern einen großen melodischen Verlauf, der kontinuierlich Spannung aufstaute, welche sich dann blitzartig im ersten Thema des Allegros in Bewegungsenergie verwandelte. In der damit beginnenden Doppelfuge, deren Ereignisfolge wesentliche Eigenschaften eines Sonatensatzes aufweist – eine völlig organische Verschmelzung klassischer und barocker Formungsprinzipien gelingt dem jugendlichen Komponisten hier! –, hörte man jeden Einsatz der Themen genau. Alle Stimmen verstanden sich darauf, deutlich das Wort zu ergreifen, wenn es verlangt wurde, und vereinten sich zu einem veritablen kontrapunktischen Sturmwind. Die Themenkombinationen wurden in ihrer Eigenschaft als Momente gesteigerter Aktivität trefflich erfasst, was gerade dem Schlussteil des Satzes zugutekam. Der Energie, mit der das Orchester zu Werke ging, entsprach seine Fertigkeit im Spiel. Die Brillanz, mit der die Musiker Mendelssohns rasantes Allegro meisterten, ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass man es hier mit einem höchsten technischen Ansprüchen genügenden Klangkörper zu tun hatte.

Schwarz-Schillings Motettensatz evoziert mit seinen subdominantischen Harmoniefolgen eine Stimmung der Introspektion und Rückschau. Aus dieser entsteht gleichsam ein vorbarocker Stil auf Grundlage einer dem frühen 20. Jahrhundert entstammenden Harmonik. Die Musiker lösten in dieser sehr ruhig und verhalten vorzutragenden Musik die Aufgabe, auf ihren Instrumenten zu „singen“ und einen vollen Chorklang zu erzeugen, aus welchem keine Stimme über Gebühr heraussticht, durchweg überzeugend.

Bruckners Streichquintett teilt mit den Symphonien seines Komponisten die expansive Anlage und weitgehend auch den formalen Grundriss. Der wesentliche Unterschied besteht darin, dass alle Themen des Quintetts aus dem Geiste der Streichinstrumente erfunden sind. Besonders fällt dies im Kopfsatz auf, dem lyrischsten und zartesten, den Bruckner geschrieben hat, und seinem einzigen, der im Dreiertakt steht. Nichtsdestoweniger verzichtet der Komponist auch in diesem Werk nicht auf großangelegte Steigerungen, lautstarke Höhepunkte und abrupte Wechsel zwischen forte und piano, sprich: auf prägende Stilmittel seiner symphonischen Tonsprache. Eine Darbietung des Quintetts als Symphonie für Streichorchester liegt nicht zuletzt deshalb nahe. Mit rund einer Stunde war Schlürens Aufführung die längste, die ich je von dem Werke hörte, aber sie war auch die spannungsreichste. Der Dirigent nahm sich die Zeit, die zahlreichen Schönheiten des Werkes präzise herauszuarbeiten. Das kontrapunktische Miteinander, namentlich Bruckners bevorzugtes Tonsatzmodell mit einer tragenden Stimme als Hintergrund, um die sich die anderen Stimmen ranken, wurde in all seinen Varianten erlebbar gemacht. Dabei behielt Schlüren immer den Überblick über den Verlauf der Musik, war sich an jeder Stelle sicher, wie er diesen Moment als Teil des Gesamtgeschehens darzustellen habe – eine Sicherheit, die sich hörbar auf die Musiker übertrug und ihnen ermöglichte, stimmige Rubati auszuführen, in denen der Grundpuls der Musik bei aller Freiheit im Tempo noch vernehmbar nachklang. So entfalteten die Violinen und Bratschen wunderbar ihre breit gezogenen, durch den Raum schwebenden Achtelfolgen zu Beginn der Durchführung im ersten Satz und führten in der ähnlich gestalteten Rückleitung zur Reprise ebenso sicher wieder ins Hauptzeitmaß zurück. Schlürens umsichtige Tempogestaltung kam besonders dem Finale zu gute, dessen Anfang und Schluss eine selten zu hörende melodische Geschlossenheit ausstrahlten und nicht, wie leider in zu vielen Aufführungen, übereilt wirkten – lebhaft bewegt muss nicht gehetzt heißen. Die ungewöhnliche Bogenform des Satzes erfasste Schlüren als ein allmähliches Vordringen zum Kern, nämlich dem wuchtigen Fugato in der Mitte, nach dessen beruhigtem Abklingen die Musik in umgekehrter Reihenfolge zum Ausgangspunkt zurückkehrt. Der gleiche Prozess einer Intensivierung mit anschließender Entspannung wurde im Scherzo deutlich gemacht, das sich ebenfalls in seiner Mitte verlangsamt. Zum Höhepunkt des ganzen Konzerts geriet das Adagio des Quintetts, das sich voll innerer Ruhe in großen Bögen entfaltete. Der Beschaffenheit dieser Bögen konnten die Zuhörer bis in die kleinsten Phrasen nachspüren: Man hörte genau, wie die Melodien die metrischen Schwerpunkte berührten, sich von ihnen lösten und sich sammelten, um auf die jeweils nächsten zuzusteuern. Der wahre Takt dieser Musik wurde vernehmlich: nicht das metronomische Klopfen, wohl aber das musikalische Atmen.

[Norbert Florian Schuck, August 2021]

Strenge Exerzitien statt totaler Versenkung

Wergo 7328 2; EAN: 4 010228732825

Nach den Suiten Nr. 9 & 10 (Wergo 6794) hat die Münchner Pianistin Sabine Liebner nun Einspielungen der Klaviersuiten Nr. 8 & 11 des italienischen Außenseiters Giacinto Scelsi auf CD veröffentlicht.

Sabine Liebner hat sich seit etlichen Jahren vor allem einen Namen durch engagierte Interpretationen von Klavierwerken aus dem Umfeld der sogenannten New York School gemacht, namentlich der Komponisten Morton Feldman, Earle Brown, Christian Wolff und vor allem John Cage. Dieser Musik ist sicher gemeinsam, dass sie sich allem „Gewollten“ – wofür exemplarisch das Werk Beethovens wie auch ein Großteil der Musik romantischer Tradition stünde – ganz bewusst (oder ist dieses Wort dafür bereits zu stark?) verweigert; nur eine Form der „Ablehnung des künstlerisch sich ausdrückenden Subjekts als kompositorische Instanz“ (Federico Celestini) in den 1950ern. Außerdem spielt nicht nur bei Cage die Beschäftigung mit fernöstlicher Philosophie und Mystik (I Ging) eine gewichtige Rolle. Was liegt da näher, als sich nun mit der Klaviermusik des italienischen Exzentrikers Giacinto Scelsi (1905–1988) zu beschäftigen?

Bis in die 1980er Jahre nahezu unbekannt, erlangte der wohlhabende, italienische Adlige – der nur sporadisch unterrichtet wurde, sich selbst mehr als Medium denn als Komponist sah – durch hochrangige Darbietungen auf internationalen Festivals noch kurz vor seinem Tod fast Kultstatus. Man unterscheidet bei Scelsi zwei Schaffensphasen: vor und nach einer veritablen psychischen Krise an der Wende der späten 1940er zu den 1950er Jahren. Nur die Werke ab 1952 sah der Komponist als „eigentlich“ an. Tatsächlich hielt Scelsi – zumindest in dieser 2. Periode – die Musik in seinem Kopf nicht etwa auf Papier fest, sondern nahm Improvisationen am Klavier, später an der Ondiola, einem frühen, elektronischen Instrument, auf Tonband auf und ließ diese dann von anderen Musikern transkribieren, bis hin zu kompletten Orchestrationen großbesetzter Stücke. Klar, dass das bis heute zu Diskussionen über deren Authentizität führte.

Scelsi verstand seine Asien-Rezeption – gerade die intensive Beschäftigung mit Yoga, aber vor allem die Erforschung der „Klanglichkeit“ des Einzeltons: wesentlicher Aspekt seiner spiritualistischen Ästhetik – als Lösung seiner psychischen Probleme. Bereits im ersten, umfangreicheren Stück nach der „Wende“, eben der Suite für Klavier Nr. 8 Bot-Ba („Tibet“) von 1952, wird die Bedeutung von wenigen Zentraltönen deutlich: etwa f im ersten oder a im dritten Satz. Dies führt dann in extremer Reduktion bis zu seinen berühmten Quattro pezzi su una nota sola (1959) für Orchester, in der sich die Musik komplett den – mikrotonalen und klanglichen, dort also instrumentierten – Aspekten des Einzeltons widmet.

Auch wenn Scelsi seine 8. Suite als „eine Evokation Tibets mit seinen Klöstern im Hochgebirge – Tibetische Rituale – Gebete und Tänze“ beschreibt, darf der Hörer natürlich keinerlei pittoreske Darstellungen, ebenso wenig direkte, klangliche Bezüge zu tibetanischer Musik erwarten. Hier geht es um komplexe Seelenzustände, ein obsessives In-sich-Hineinhorchen: reine Kontemplation. Dies fällt gar nicht leicht angesichts der flirrend-schillernden, oft hochvirtuosen Faktur dieser Klaviermusik, die dann doch der Feldmans irgendwie diametral entgegengesetzt erscheint. Sabine Liebner ist – wie schon in ihrer Einspielung der Stockhausen-Klavierstücke (siehe Rezension) – zunächst einmal eine zuverlässige Sachwalterin des Notentextes, mit enormer Präzision in der Umsetzung gerade dynamischer Angaben. Darüber hinaus wird durch ihr Spiel das durchaus vorhandene Bemühen Scelsis um Form – der zweite Satz z.B. ist fast ein Rondo – überaus deutlich. Dennoch wirkt dies aber langatmig und viel zu gleichförmig; eine vollkommene Versenkung in den Klang, wie etwa beim beinahe ekstatischen Werner Bärtschi, findet absolut nicht statt. Versucht Liebner allen Ernstes, Scelsis Musik zu objektivieren?

Weitaus überzeugender gelingt ihr die etwas anders gelagerte Suite Nr. 11 von 1956 – bereits das letzte Stück der Reihe. Danach gab Scelsi sein Interesse für das Klavier praktisch auf, wohl vor allem wegen der fehlenden Möglichkeit, Tonhöhen zu manipulieren: Die späteren Instrumentalwerke verlangen in der Regel mindestens Vierteltönigkeit. Hier finden sich nun ebenso größere Akkordballungen und Cluster; dies kommt Sabine Liebner, die sich intensiv mit Henry Cowell oder Galina Ustwolskaja auseinandergesetzt hat, anscheinend sehr entgegen. Die im Vergleich zu Bot-Ba schrofferen Gegensätze meißelt sie teils gnadenlos heraus, eine für den Hörer wirklich existenzielle Klangerfahrung: Scelsi verglich dies mit seiner Action Music (1955), eine Anspielung auf das action painting (Jackson Pollock) des amerikanischen, abstrakten Expressionismus. Liebner hat allerdings auch bei dieser Suite Probleme mit der schieren Länge (> 38 Min.!). Einen großen Bogen – den die erst nachträglich vom Komponisten kompilierten Stücke kaum hergeben – versucht die Künstlerin erst gar nicht zu spannen. So erlebt man pianistisch höchst beeindruckende, oft sehr strenge Exerzitien, denen aber das entscheidende Moment totaler Versenkung über weite Strecken fehlt und die den Hörer schwerlich bei der Stange halten. Die Aufnahmetechnik hebt den klaren, harten Klang der Pianistin eher noch hervor, was dem Verständnis Scelsis von Räumlichkeit wenig zugutekommt, ist aber ansonsten vorzüglich. Dies gilt auch für den sehr detaillierten Booklettext von Friedrich Jaecker.

Vergleichseinspielung: Suiten Nr. 8 & 9 – Werner Bärtschi (Accord 200802, 1991)

[Martin Blaumeiser, August 2021]

Mit makelloser Technik im Dienst am Ganzen

SWR Classic, SWR19097CD; EAN: 7 47313 90978

SWR Classic hat in den letzten Jahren eine stattliche Reihe von CDs veröffentlicht, auf denen die Zusammenarbeit Friedrich Guldas mit dem Südwestrundfunk während der 50er-, 60er- und 70er-Jahre dokumentiert ist. Daran knüpft die vorliegende Doppel-CD an, auf welcher Gulda mit Frédéric Chopins Préludes op. 28 und zwei Variationswerken Ludwig van Beethovens, den chaconneartigen Variationen c-Moll WoO 80 und den Diabelli-Variationen op. 120, zu hören ist. Die Aufnahmen entstanden 1953 und 1968.

Dass Friedrich Guldas Ruf sich in späteren Jahren vor allem auf seine Bach-, Mozart- und Beethoven-Aufführungen, sowie sein Wirken als Jazzmusiker gründete, sollte nicht den Ruhm vergessen machen, den er zu Beginn seiner Pianistenlaufbahn als Chopin-Spieler genoss. Chopins Balladen, Sonaten und Préludes bildeten zunächst gar einen der Grundpfeiler seines Repertoires. Die 24 Préludes op. 28 spielte er 1947 als 17-Jähriger zum ersten Mal öffentlich und setzte sie in den folgenden Jahren regelmäßig auf seine Programme. Für den SWR nahm er den Zyklus am 11. April 1953, kurz vor seinem 23. Geburtstag, auf. Die lange Lagerungszeit der Bänder mag die klangliche Qualität der Einspielung etwas beeinträchtigt haben, aber die überwältigende Frische, die einem aus den Tönen hier entgegenschlägt, lässt diesen kleinen Makel als vollkommen vernachlässigenswert erscheinen.

Für Gulda war Chopin ein „männlicher, ritterlicher“ Komponist. Er empfand keinerlei Bedürfnis, die Werke des Meisters mit jener Patina aus willkürlichen Temposchwankungen und verschwommener Rhythmik zu überziehen, mit welcher weniger einsichtsvolle Pianisten dem romantischen Geist dieser Musik Rechnung zu tragen streben. Stattdessen zeigte er, dass die Größe Chopins – des Romantikers, der das Vokabular der Virtuosen- und Salonmusik seiner Zeit vollkommen transzendiert und dadurch fähig gemacht hat, Träger wahrer Leidenschaft und tragischer Handlungen zu sein – namentlich dann zur Geltung kommt, wenn man die Konturen dieser Musik durch Disziplin im Rhythmischen und stringente Tempi schärft. Gulda versucht nicht, Chopin einen „Ausdruck“ aufzuzwingen. Ihre Ausdruckskraft erhalten die Préludes dadurch, dass er Chopins Meisterschaft im Formen, seine Fähigkeit, durch kleinste Veränderungen den Verlauf der Musik voranzubringen, verdeutlicht – eben jene Eigenschaft, die Chopin mit Johann Sebastian Bach gemeinsam hat. Durch subtile Rubati, unaufdringliche Beschleunigungen und Verlangsamungen, die stets im Einklang mit den harmonischen Ereignissen geschehen, macht Gulda die Entfaltung der Chopinschen Melodiebögen immer wieder zu einem Erlebnis. Ebenso kommt unter seinen Händen die Vielschichtigkeit des Tonsatzes zur Geltung. Sehr deutlich pflegt er Melodien hervorzuheben, die sich in raschen Figurationen verstecken. Die makellose Technik, mit der der Pianist dies alles leistet, wird dabei im Grunde zur Nebensache: Sie geht vollkommen im Dienst am Werk auf.

Die gleichen Vorzüge lassen sich für die 15 Jahre später, am 6. November 1968 aufgezeichneten Variationszyklen Beethoven anführen. Die 32 Variationen über ein eigenes Thema in c-Moll WoO 80 – eigentlich müsste man sagen: Beethovens Chaconne – spielt Gulda mit einem Brio, das vom ersten bis zum letzten Takt fesselt. Mit nicht einmal achteinhalb Minuten ist seine Einspielung eine der schnellsten, die es von diesem Stück gibt. Bei aller Ausrichtung auf Vorwärtsdrang wirkt sie dennoch nicht übereilt, da Gulda es trotz sehr hohem Tempo schafft, die dynamischen und artikulatorischen Kontraste, die Beethoven nicht nur zwischen den einzelnen Variationen, sondern auch häufig innerhalb derselben auskomponiert hat, herauszuarbeiten.

Auch in Beethovens Diabelli-Variationen op. 120 gehört Gulda zu den schnellen Pianisten. Das ganze Werk, mit allen vorgeschriebenen Wiederholungen, bringt er in 46 Minuten zu Ende. Gulda fasst den Zyklus, wie die ganz anders gearteten c-Moll-Variationen, offensichtlich als ein zusammenhängendes Ganzes auf, nicht als Suite von knapp drei Dutzend Charakterstücken. Seine rhythmische Präzision, sein wacher Sinn für melodische Entwicklungen und seine Sicherheit in der Darstellung des kontrapunktischen Zusammenwirkens der einzelnen Stimmen erweisen sich hier als nicht minder vorteilhaft als im Falle der anderen Werke. Auch die dynamischen Kontraste kommen trefflich zur Geltung. Die ausgedehnte Largo-Variation (Nr. XXXI) spielt Gulda so zart, dass man beinahe meinen könnte, er hätte ein Clavichord unter den Fingern. Die anschließende Fuge klingt sehr straff, das Hauptthema wird bei jedem Erscheinen markant herausgehoben. Graziös, aber mit allem Gewicht, das dem Finale eines solch umfangreichen und vielgestaltigem Werkes zukommt, trägt Gulda die abschließende Menuett-Variation vor.

Für die Veröffentlichung dieser Aufnahmen, die Friedrich Gulda als vorzüglichen Vermittler der Werke Chopins und Beethovens zeigen, kann man SWR Classic nur dankbar sein.

[Norbert Florian Schuck, August 2021]

Der Symphoniker Jan Hanuš (1915–2004)

Smetana, Dvořák, Janáček und Martinů haben der tschechischen Musik zu Weltgeltung verholfen und sind aus dem Repertoire des abendländischen Musiklebens nicht mehr wegzudenken. Dennoch ist der reiche Schatz an Meisterwerken, die tschechische Komponisten hinterlassen haben, mit diesen großen Namen noch lange nicht erschöpft. Der nachfolgende Beitrag widmet sich einem der herausragenden Tonsetzer der jüngeren tschechischen Musikgeschichte: Jan Hanuš. 1915 gegen Ende der Habsburgermonarchie geboren und 2004 im modernen Tschechien gestorben, schuf er Opern, Ballette, geistliche Werken, Kammermusik und Orchesterkompositionen, darunter sieben Symphonien.

Jan Hanuš wurde am 2. Mai 1915 in eine hochmusikalische Prager Familie hineingeboren: Die Mutter war Klavierschülerin Zdeněk Fibichs gewesen, der Großvater mütterlicherseits, František Urbánek, prägte als bedeutendster tschechischer Musikverleger seiner Zeit das Musikleben Prags entscheidend mit. Durch ihn kam Jan Hanuš bereits als Kind mit dem Verlagswesen in Kontakt, eine Verbundenheit, die auch sein weiteres Leben bestimmen sollte. Das Familienunternehmen rettete er über die Zeit der deutschen Besatzung und den Zweiten Weltkrieg hinweg, bevor es 1949 von der kommunistischen Regierung verstaatlicht wurde. Seine dort erworbenen editorischen Fähigkeiten halfen Hanuš jedoch, sich auch unter den neuen politischen Verhältnissen über Wasser zu halten. Er wirkte an der Reihe Musica Antiqua Bohemica mit und war Gründungsmitglied der kritischen Gesamtausgaben der Werke Dvořaks, Fibichs und Janáčeks, außerdem Mitbegründer des Panton-Musikverlags (heute zu Schott gehörig), dem er von 1963 bis 1975 als Direktor vorstand.

Seine kompositorische Ausbildung erhielt Hanuš in den frühen 30er Jahren von Otakar Jeremiáš, dem Dirigenten des Prager Rundfunkorchesters. Frühzeitig entwickelte er ein ausgeprägtes Interesse an der Musik seiner Zeitgenossen und trat 1939 dem Vorstand der Gegenwart bei, der führenden Gesellschaft zur Pflege neuer tschechischer Musik. Damit begann sein lebenslanges Engagement als Musikvereinsmann. 1955 berief ihn der neugegründete Tschechische Komponistenverein zu seinem Sekretär, was er vier Jahre lang blieb. Daneben setzte sich Hanuš als Mitglied der Foerster-, Fibich- und Ostrčil-Gesellschaften auch für das Andenken dieser früheren Meister ein.

Jan Hanuš Leben beginnt mitten im Ersten Weltkrieg. Seine Jugend fällt in die Zeit der von Tomaš G. Masaryk geprägten Tschechoslowakischen Republik. Der Zweite Weltkrieg begann, als er 24 war. Zu Beginn der kommunistischen Herrschaft war er 33, an ihrem Ende 74 Jahre alt. Der Großteil seines Schaffens entstand also unter politischen Bedingungen, die Hanuš, der sich zur katholischen Religion und zum Humanismus bekannte, wenig günstig geneigt waren. Sein beruflicher Erfolg war vor allem in den frühen Jahren des Kommunismus offenbar das Ergebnis geschickter Ballanceakte und persönlicher Beziehungen. So vollendete er eine nachgelassene Oper seines jung gestorbenen Kollegen Vít Nejedlý und sicherte sich dadurch das Wohlwollen von dessen Vater, des Kultusministers Zdeněk Nejedlý. Er verstand es, den Herrschern zu geben, was sie wollten, und gleichzeitig sein Gesicht zu wahren. Die biographische Musikgeschichtsschreibung hat Jan Hanuš noch nicht für sich entdeckt. Sie dürfte hier auf einen Lebenslauf stoßen, der Parallelen zu demjenigen Schostakowitschs aufweist. Auch bei Hanuš lassen sich anscheinend versteckte Botschaften finden. So tragen seine Symphonien laut dem Werkverzeichnis in der MGG Überschriften, nach denen man in den zeitgenössischen Druckausgaben vergeblich sucht. Dass etwa der Komponist seine 1957 vollendete Dritte Symphonie „Die Wahrheit der Welt“ nannte, wurde in der Partitur nicht vermerkt, ebenso wenig erwähnt das nicht von Hanuš stammende Vorwort, das dem Werk eine Inhaltsangabe im Sinne der sozialistisch-realisitschen Kulturdoktrin beilegt, ihren Entstehungshintergrund und den Widmungsträger: Rudolf Margolius. Der Jurist und Jugendfreund des Tonsetzers, der nach dem Krieg in die Kommunistische Partei eingetreten und zum stellvertretenden Außenhandelsminister aufgestiegen war, wurde im Rahmen einer der letzten stalinistischen Säuberungen 1952 verhaftet und nach einem Schauprozess gehängt. Hanuš war der erste, der Margolius‘ sozial geächtete Witwe unterstützte. Auch bewies er Mut, indem er als einziger Kollege mit dem 1954 in die USA geflüchteten und in der Heimat als Unperson erklärten Komponisten Karel Husa weiterhin Briefkontakt hielt. Nichtsdestoweniger erhielt Hanuš hohe staatliche Auszeichnungen, so wurde er 1954 Verdienter Künstler und 1988 Nationalkünstler der Tschechoslowakei. Beide Titel gab er dem Staat 1989 aus Protest gegen die repressive Behandlung demonstrierender Studenten zurück und beteiligte sich daraufhin an der Samtenen Revolution. Václav Havel ehrte ihn 1999 mit der höchsten tschechischen Verdienstmedaille „Za zásluhy udeleni“. Jan Hanuš starb 89-jährig am 30. Juli 2004 in seiner Heimatstadt Prag.

Die künstlerisch aktive Zeit Hanušs dauerte etwa sechs Jahrzehnte, von seinen ersten kleineren Chorwerken aus den mittleren 30er Jahren bis zu seinem 1995 vollendeten Requiem. Angesichts dieser Zeitspanne verwundert der quantitative Umfang seines Schaffens, der sich auf über 120 Opuszahlen beläuft, nicht. Hanuš war nahezu auf allen Gebieten der Komposition tätig, von der Klavierminiatur bis zur abendfüllenden Oper. Auch der Filmmusik hat er sich zugewandt und etwa den französisch-westdeutschen Abenteuervierteiler Die Schatzinsel untermalt. Die weiteste Verbreitung dürften seine geistlichen Werke a cappella gefunden haben, insbesondere das Magnificat.

Der Komponist Hanuš ist grundsätzlich Traditionalist. Versucht man, ihn stilistisch einzuordnen, so lohnt ein Blick auf die tschechischen Meister der vorangegangenen Generationen. Als markanteste Künstlerpersönlichkeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts darf Leoš Janácek gelten, der mit seinen kurzen, der Sprache abgelauschten Phrasen eine völlig neue Schreibweise in die tschechische Musik einführte. Seine zur aphoristischen Formulierung und Repetition tendierende Musik bot einen Gegenentwurf zu Smetanas und Dvořaks breit ausgeführten Melodiebögen und der klassizistischen Verlaufsgestaltung vor allem des letzteren. Allerdings blieb Janáček, obwohl er rasch zu Ansehen gelangte, zunächst künstlerisch weitgehend isoliert, da seine jüngeren Zeitgenossen Josef Bohuslav Foerster (1859–1951), Vitěslav Novák (1870–1949), Josef Suk (1874–1935) und Otakar Ostrčil (1879–1935) auf den Errungenschaften Smetanas und Dvořáks aufbauten. Auch Hanušs Lehrer Otakar Jeremiáš (1892–1962) fühlte sich dieser Traditionslinie verpflichtet, während der Weg Janáčeks vor allem bei Pavel Haas (1899–1944) und Miloslav Kabeláč (1908–1979) eine Fortsetzung fand. Hanuš scheint am stärksten von Ostrčil geprägt worden zu sein, dessen Musik zeigt, dass Gustav Mahler seine eigentlichen Nachfolger weniger in Wien als in Prag gefunden hat: Ostrčils symphonische Werke knüpfen in ihrer polyphonen Anlage und Orchesterbehandlung direkt an die letzten Werke Mahlers an, sind dabei aber deutlich knapper gefasst als diese; melodisch dominieren lange, chromatische Linien, die die Tonarten eher umschreiben als bestätigen; die Harmonik ist entsprechend dissonant. All diese Eigenschaften zeichnen auch Hanušs Schaffen aus. Ausgehend von Ostrčils Methoden erkundet er die Möglichkeiten der Dissonanzen weiter, jedoch bleibt der Bezug zum Dur-Moll-System stets wirksam. Ebenso arbeitet er meist mit traditionellen Verlaufsmodellen wie Sonate, Variationen, Fuge etc.

Gleich einem roten Faden zieht sich die Reihe seiner sieben Symphonien durch Hanušs Schaffen. Die Erste, op. 12, Dolorosa genannt, datiert von 1942 und steht den Angaben des Werkverzeichnisses zufolge in E-Dur, wovon man allerdings wenig hört. Die chromatisch durchsetzte Melodik tendiert bis kurz vor Schluss nahezu durchgängig zu Moll. Kopfsatz, Scherzo und Finale des viersätzigen Werkes werden von Marschrhythmen und Fanfarenmelodik beherrscht. Man kann dies der Entstehungszeit zuschreiben, allerdings bleibt die Vorliebe für den Marsch im symphonischen Schaffen des Komponisten bis zum Schluss erhalten. Es ist der Marsch Mahlerschen Typus‘, der es Hanuš angetan hat, der unerbittliche Marschtritt der Revelge und der Sechsten Symphonie, der zahlreiche Symphoniesätze des tschechischen Meisters in Gang bringt. Die Besonderheit der Hanušschen Ersten liegt im dritten Satz, einer Vertonung des Stabat Mater, zu der das Orchester um eine Mezzosopranstimme erweitert wird. Die deutschen Zensoren bemerkten die Botschaft des jungen Symphonikers und untersagten die Aufführung. Das Werk konnte erst nach Kriegsende erklingen.

Im Gegensatz zu Nr. 1 erfüllt Nr. 2 op. 26 völlig die Erwartungen, die ihre Tonartangabe weckt: G-Dur dominiert das Werk, das nahtlos an die Musik Dvořaks und Suks anzuknüpfen scheint, nahezu unangefochten. Die Symphonie, zu der der Komponist vom Sonnengesang des Franz von Assisi inspiriert wurde, steht als verhältnismäßig dissonanzarm und diatonisch unter ihren Geschwistern einzig dar. Sie ist ein Dokument aus dem für tschechische Künstler sehr ungünstigen Jahr 1951. Hanuš begab sich hier in die Schranken der sozialistisch-realistischen Ästhetik, mit Erfolg, denn das Werk wurde preisgekrönt. Freilich hielten die Kulturfunktionäre den leisen Schluss des finalen Variationssatzes sehr zu Unrecht aus dogmatischen Gründen für schwach. Unabhängig von den Entstehungsumständen handelt es sich hierbei um eine ebenso meisterliche Komposition wie die Erste Symphonie. Der marschartige Kopfsatz ist nicht weniger geglückt, nur der Tonfall ist ein anderer. Gleiches gilt von dem Andante und dem von Furiantrhythmen geprägten Scherzo. Motivisch wird das Werk vom zweiten Thema des Kopfsatzes zusammengehalten, das dort nur eine untergeordnete Rolle spielt, aber in den Folgesätzen mehrfach auftaucht und schließlich das Finale völlig dominiert.

Die bereits erwähnte Dritte Symphonie d-Moll op. 38, zu Beginn der Entstalinisierung 1957 geschrieben, stellt in mancherlei Hinsicht einen Gegenentwurf zur Zweiten dar, der sie formal auffällig ähnelt. Auch hier steht eine Variationenreihe am Schluss, die auf ein Nebenthema des Kopfsatzes zurückgreift. Während Nr. 2 jedoch still und beruhigt ausklingt, mündet die Musik hier in einen grellen Blechbläserchoral. Hinsichtlich der Behandlung von Melodik und Harmonik geht Hanuš in der Dritten auf dem Weg weiter, den er in Nr. 1 eingeschlagen hatte. Charakteristisch ist gleich der Beginn des Werkes, wo über einem grundierenden D ein b-Moll- und ein verminderter C-Septakkord als Vorhalte zur Haupttonart genutzt werden.

Ab seiner Vierten Symphonie, seinem 1960 fertiggestellten op. 49, verzichtet Hanuš auf Tonartangaben. Scherzo und Finale des wie seine Vorgänger viersätzigen Werkes stehen stilistisch der Ersten und Dritten Symphonie noch sehr nahe, während der Komponist im Kopfsatz und besonders im langsamen dritten Satz über diese hinausgeht. Besonders letzterer zeigt eine Intensivierung seiner Schreibweise. Der Satz beginnt mit einem Fugato, dessen chromatische Linien die Harmonik in einem permanenten dissonanten Schwebezustand halten, was durch einen Mittelteil in klarem Dur, der an den Stil der Zweiten Symphonie erinnert, noch unterstrichen wird. Die Vierte trägt laut MGG den Titel Das Lied von Bernadette, dürfte also von Franz Werfels religiösem Roman gleichen Titels inspiriert sein. Wie die Überschriften der übrigen Symphonien Hanušs lässt er sich kaum im Sinne eines Programms verstehen und verweist wahrscheinlich nur auf den außermusikalischen Schaffensanstoß.

Waren die bisherigen Symphonien viersätzig, schreibt Hanuš 1965 seine Fünfte Symphonie op. 58 in fünf Sätzen, von denen die ersten vier den traditionellen Satztypen entsprechen. Den Abschluss bildet allerdings ein knappes Adagio, das als Fugato beginnt, dann in eine Passacaglia übergeht und nach einem Tutti-Höhepunkt leise ausklingt. Die Harmonik der Fünften ist auf Grundlage der in der Vierten angestellten Erkundungen gestaltet. Trotz aller Chromatik sticht Es als tonales Zentrum in den Ecksätzen hervor. Das metrisch sehr unregelmäßige Werk kann als Hanušs schroffste Symphonie gelten. Inspirationsquelle war diesmal die Bergpredigt.

Die 1978 vollendete Sechste Symphonie op. 92, betitelt Nacht ohne Mond, hat nur zwei Sätze, und das ist nicht das einzige ungewöhnliche Merkmal dieses Werkes. Hanuš zeigt sich hier von einer zuvor nicht gekannten experimentierfreudigen Seite, sowohl was den Verlauf, als auch was die Klanglichkeit betrifft. So wird der langsame Kopfsatz über weite Strecken von einer elektrischen Gitarre grundiert. Auch das Flexaton kommt zum Einsatz. Der bewegte zweite Satz entwickelt nicht die gleiche Antriebskraft anderer Allegrosätze Hanušs und wird mehrmals von langsamen Episoden unterbrochen, die auf den Kopfsatz zurückgreifen. Eine solche Reminiszenz beschließt auch das Werk. Zweifellos trägt diese Symphonie originelle Züge, der Komponist scheint mit ihr allerdings weniger zufrieden gewesen zu sein als mit seinen übrigen, was vor allem angesichts des Finales verständlich ist.

In seiner siebten und letzten Symphonie Die Schlüssel des Königreichs op. 116 bringt Hanuš 1990 zum ersten Mal seit seinem Erstling wieder die menschliche Stimme ins Geschehen, diesmal allerdings in Gestalt eines Chores nebst Solisten. Das dreisätzige Werk ist mit einer Spieldauer von etwa 45 Minuten die längste Symphonie des Komponisten – die übrigen dauern ungefähr 30 bis 35 Minuten – und nicht nur hinsichtlich Besetzung und Ausdehnung offenbar als krönender Abschluss seines symphonischen Schaffens konzipiert. Es beginnt mit einem rein instrumentalen Sonatenallegro, einem Marschsatz, der in Umfang und Intensität alles übertrifft, was Hanuš vorher an Ähnlichem geschrieben hat. Er verklingt überraschend im Pianissimo. Nun ergreift der Chor das Wort und stimmt das Te Deum an. Als Finale folgt diesem eine Vertonung der Seligpreisungen. In beiden Sätzen zeigt der Komponist auf vielfältige Weise seinen Einfallsreichtum in der Verwendung des Chorklangs. Anders als man es angesichts der geistlichen lateinischen Texte meinen könnte, fehlt es auch nicht an humoristischen Zügen, etwa wenn Hanuš auf dem Höhepunkt der Passage „Dominus Deus Sabaoth“ den Chor mit einem Glissando in die Tiefe stürzen lässt. Das Werk endet mit dem Preis der Friedfertigen, doch scheint der Frieden angesichts der den Schlussteil bestimmenden Chromatik und Dissonanzen eher erwünscht als bereits vorhanden zu sein.

Diskographisch steht es um Jan Hanušs Werk zur Zeit sehr schlecht, womit er unter den tschechischen Komponisten seiner Generation keineswegs allein dasteht. So ist von den Symphonien nur die Zweite auf CD greifbar, allerdings in einer mustergültigen Einspielung Karel Ancerls. Der als Folge 42 in der Karel-Ancerl-Edition von Supraphon erschienene Tonträger enthält außerdem noch die Orchestersuite aus dem Ballett „Salz besser als Gold“. Auf Folge 11 dieser Reihe findet sich (zusammen mit zwei grandiosen Orchesterwerken Miloslav Kabeláčs) die Konzertante Symphonie für Orgel, Harfe, Streichorchester und Pauken, die ebenfalls aus den frühen 50er Jahren stammt. Supraphon hat weiterhin zwei Kammermusikwerke, die Oboensonate und das Trio für Oboe, Harfe, und Klavier herausgebracht. Von anderen Firmen sind der Liederzyklus Hölzerner Christus (Český Rozhlas) und die gemeinsam mit Luboš Sluka geschaffene Filmmusik zur Schatzinsel (BSC Music) noch erhältlich. Angesichts der zahlreichen Rundfunkmitschnitte, die dem Verfasser dieser Zeilen vorliegen, ist dies eine bemerkenswert magere Ausbeute. Auch sind die offenbar nicht wenigen Supraphon- und Panton-LPs aus der Zeit des Ostblocks nicht ins CD-Format übertragen worden.

Aus dem tschechischen Musikleben ist Hanuš vor allem dank seiner Chorwerke nicht verschwunden. Auch wurden in den letzten Jahren einige seiner Symphonien erfolgreich wieder zu Gehör gebracht. Es bleibt zu hoffen, dass das zunehmende Interesse an traditionalistisch ausgerichteter Musik des 20. Jahrhunderts auch Hanušs Schaffen zu größerer Aufmerksamkeit verhelfen wird. Außerhalb der tschechischen Grenzen kann dabei von einer Wiederentdeckung nicht gesprochen werden. Es gilt, diesen Meister erst richtig zu entdecken! Ihn gerade als Symphoniker dem Repertoire der großen Orchester zuzuführen, wäre durch die Qualität seines Schaffens zweifellos gerechtfertigt.

[Norbert Florian Schuck, August 2021]