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Langer Atem und Polyphonie im Kornspeicher

Der Kornspeicher der Dorfmühle in Lehrberg

Am 28. August 2021 spielte das Streichorchester Symphonia Momentum unter Leitung von Christoph Schlüren im Kornspeicher des Hotels Dorfmühle in Lehrberg die Streichersymphonie Nr. 13 c-Moll von Felix Mendelssohn Bartholdy, Bitten, den von Lucian Beschiu für Streicher gesetzten Schlussteil der Motette Über die Schwelle von Reinhard Schwarz-Schilling, und das Streichquintett F-Dur von Anton Bruckner als Streichersymphonie.

Mit dem Kornspeicher der ehemaligen Dorfmühle, deren Gebäude nunmehr das Hotel Dorfmühle beherbergen, verfügt Lehrberg, ein Markt in Mittelfranken nahe Ansbach, über eine Spielstätte besonderer Art. Der mit einer Orgel ausgerüstete Konzertsaal dient seit seiner Einweihung im Jahr 2017 als Veranstaltungsort der Lehrberger Mühlenkonzerte, in deren Rahmen es bereits zu einer stattlichen Anzahl an Aufführungen von Chor-, Orgel-, Kammer- und auch Orchestermusik gekommen ist. Die Ereignisse des Jahres 2020 hatten zu einer vorübergehenden Unterbrechung der erfolgreichen Reihe geführt, sodass im Kornspeicher insgesamt 20 Monate lang keine Konzerte stattfinden konnten. Nicht nur aus diesem Grund konnte man höchst gespannt sein auf das Konzert, das die erzwungene Stille am 28. August 2021 beendete und damit hoffentlich den Auftakt zu einem neuen Kontinuum musikalischer Veranstaltungen in Lehrberg gegeben hat.

Das 19-köpfige Streichorchester Symphonia Momentum (fünf erste und vier zweite Violinen, je drei erste und zweite Bratschen, drei Violoncelli und eine Kontrabassistin, die die ihr zugeteilten Stellen profund stützte) brachte unter der Leitung seines Gründers Christoph Schlüren drei Kompositionen zur Aufführung, die nicht nur verschiedenen Epochen angehören, sondern auch ursprünglich verschiedenen Besetzungen zugedacht waren: Die 1823 begonnene und nach dem ersten Satz nicht weiterführte Streichersymphonie Nr. 13 c-Moll des 14-jährigen Felix Mendelssohn Bartholdy, die den Abend eröffnete, wurde als einziges Werk des Programms original für Streichorchester komponiert. Mit Reinhard Schwarz-Schillings Bitten folgte ein Stück instrumental ausgeführter Vokalmusik: Es handelt sich um den Schlussteil der A-cappella-Motette Über die Schwelle op. 76 aus dem Jahr 1975, den der Komponist Lucian Beschiu der Streicherliteratur hinzugewonnenen hat. Das weitaus umfangreichste Stück bildete den Abschluss: Anton Bruckners Streichquintett F-Dur von 1879 war in chorischer Aufführung zu hören, und damit als zweite Streichsymphonie in diesem Konzert. Diese Werke mögen zeitlich weit auseinanderliegen – Mendelssohns Symphoniesatz entstand im Jahr vor Bruckners Geburt, Bruckners Quintett ein knappes Jahrhundert vor Schwarz-Schillings Motette –, und in ganz verschiedenen Schaffensphasen der jeweiligen Komponisten entstanden sein – ein Jugendwerk steht den Kompositionen eines 55- und eines 71-Jährigen gegenüber –, dennoch kam in dieser Vortragsfolge das ihnen Gemeinsame, sie miteinander Verbindende außerordentlich deutlich zum Ausdruck, während das, was sie historisch-stilistisch voneinander trennen mag, in den Hintergrund trat. Neben der formalen Abrundung, der Natürlichkeit, mit welcher sich die Verläufe der Stücke entfalten, als könnte es nicht anders sein, haben sie vor allem den fünfstimmigen Satz als Grundlage gemeinsam. Alle drei Werke entfalten die in ihnen niedergelegten musikalischen Gedanken in meisterhafter Polyphonie.

Dieses Zusammenwirken voneinander unabhängiger Stimmen hörbar zu machen, ist Christoph Schlüren der rechte Mann. Die Konzerte, die er in den letzten Jahren gegeben hat, sind sämtlich Feste der Polyphonie gewesen. Wie sehr er sich in die Struktur der Werke vertieft hat, zeigte sich in Lehrberg nicht nur an den Aufführungen selbst, sondern auch bei dem Einführungsvortrag, den er vor dem Konzert hielt. Mit knappen, auf den Punkt gebrachten Sätzen umriss er die Thematik des polyphonen Hörens im Allgemeinen und ging dann auf die besonderen Merkmale der Kompositionen ein, wobei ihm zur Verdeutlichung des Gesagten die Stimmführer der Orchestergruppen zur Seite standen.

Polyphonie ist melodische Musik, entwickelt sich aus der Linie heraus. Im Konzert zeigte sich, wie intensiv sie erlebbar wird, wenn die Melodielinien nach den ihnen innewohnenden tonalen Verhältnissen entwickelt und gut artikuliert vorgetragen werden. Die Einleitung des Mendelssohnsschen Symphoniesatzes bereitete angemessen darauf vor: Da hörte man nicht ein bloßes Hintereinander punktierter Motive, sondern einen großen melodischen Verlauf, der kontinuierlich Spannung aufstaute, welche sich dann blitzartig im ersten Thema des Allegros in Bewegungsenergie verwandelte. In der damit beginnenden Doppelfuge, deren Ereignisfolge wesentliche Eigenschaften eines Sonatensatzes aufweist – eine völlig organische Verschmelzung klassischer und barocker Formungsprinzipien gelingt dem jugendlichen Komponisten hier! –, hörte man jeden Einsatz der Themen genau. Alle Stimmen verstanden sich darauf, deutlich das Wort zu ergreifen, wenn es verlangt wurde, und vereinten sich zu einem veritablen kontrapunktischen Sturmwind. Die Themenkombinationen wurden in ihrer Eigenschaft als Momente gesteigerter Aktivität trefflich erfasst, was gerade dem Schlussteil des Satzes zugutekam. Der Energie, mit der das Orchester zu Werke ging, entsprach seine Fertigkeit im Spiel. Die Brillanz, mit der die Musiker Mendelssohns rasantes Allegro meisterten, ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass man es hier mit einem höchsten technischen Ansprüchen genügenden Klangkörper zu tun hatte.

Schwarz-Schillings Motettensatz evoziert mit seinen subdominantischen Harmoniefolgen eine Stimmung der Introspektion und Rückschau. Aus dieser entsteht gleichsam ein vorbarocker Stil auf Grundlage einer dem frühen 20. Jahrhundert entstammenden Harmonik. Die Musiker lösten in dieser sehr ruhig und verhalten vorzutragenden Musik die Aufgabe, auf ihren Instrumenten zu „singen“ und einen vollen Chorklang zu erzeugen, aus welchem keine Stimme über Gebühr heraussticht, durchweg überzeugend.

Bruckners Streichquintett teilt mit den Symphonien seines Komponisten die expansive Anlage und weitgehend auch den formalen Grundriss. Der wesentliche Unterschied besteht darin, dass alle Themen des Quintetts aus dem Geiste der Streichinstrumente erfunden sind. Besonders fällt dies im Kopfsatz auf, dem lyrischsten und zartesten, den Bruckner geschrieben hat, und seinem einzigen, der im Dreiertakt steht. Nichtsdestoweniger verzichtet der Komponist auch in diesem Werk nicht auf großangelegte Steigerungen, lautstarke Höhepunkte und abrupte Wechsel zwischen forte und piano, sprich: auf prägende Stilmittel seiner symphonischen Tonsprache. Eine Darbietung des Quintetts als Symphonie für Streichorchester liegt nicht zuletzt deshalb nahe. Mit rund einer Stunde war Schlürens Aufführung die längste, die ich je von dem Werke hörte, aber sie war auch die spannungsreichste. Der Dirigent nahm sich die Zeit, die zahlreichen Schönheiten des Werkes präzise herauszuarbeiten. Das kontrapunktische Miteinander, namentlich Bruckners bevorzugtes Tonsatzmodell mit einer tragenden Stimme als Hintergrund, um die sich die anderen Stimmen ranken, wurde in all seinen Varianten erlebbar gemacht. Dabei behielt Schlüren immer den Überblick über den Verlauf der Musik, war sich an jeder Stelle sicher, wie er diesen Moment als Teil des Gesamtgeschehens darzustellen habe – eine Sicherheit, die sich hörbar auf die Musiker übertrug und ihnen ermöglichte, stimmige Rubati auszuführen, in denen der Grundpuls der Musik bei aller Freiheit im Tempo noch vernehmbar nachklang. So entfalteten die Violinen und Bratschen wunderbar ihre breit gezogenen, durch den Raum schwebenden Achtelfolgen zu Beginn der Durchführung im ersten Satz und führten in der ähnlich gestalteten Rückleitung zur Reprise ebenso sicher wieder ins Hauptzeitmaß zurück. Schlürens umsichtige Tempogestaltung kam besonders dem Finale zu gute, dessen Anfang und Schluss eine selten zu hörende melodische Geschlossenheit ausstrahlten und nicht, wie leider in zu vielen Aufführungen, übereilt wirkten – lebhaft bewegt muss nicht gehetzt heißen. Die ungewöhnliche Bogenform des Satzes erfasste Schlüren als ein allmähliches Vordringen zum Kern, nämlich dem wuchtigen Fugato in der Mitte, nach dessen beruhigtem Abklingen die Musik in umgekehrter Reihenfolge zum Ausgangspunkt zurückkehrt. Der gleiche Prozess einer Intensivierung mit anschließender Entspannung wurde im Scherzo deutlich gemacht, das sich ebenfalls in seiner Mitte verlangsamt. Zum Höhepunkt des ganzen Konzerts geriet das Adagio des Quintetts, das sich voll innerer Ruhe in großen Bögen entfaltete. Der Beschaffenheit dieser Bögen konnten die Zuhörer bis in die kleinsten Phrasen nachspüren: Man hörte genau, wie die Melodien die metrischen Schwerpunkte berührten, sich von ihnen lösten und sich sammelten, um auf die jeweils nächsten zuzusteuern. Der wahre Takt dieser Musik wurde vernehmlich: nicht das metronomische Klopfen, wohl aber das musikalische Atmen.

[Norbert Florian Schuck, August 2021]