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Der Komponist Wilhelm Furtwängler und seine Gegner (2)

Hatten wir uns in Teil 1 dieses Aufsatzes den drei großen Vorurteilen gegen den Komponisten Wilhelm Furtwängler und ihrer Widerlegung gewidmet, so befasst sich der zweite Teil (der heute zum 136. Geburtstag Furtwänglers erscheint) zunächst mit den Reaktionen der Musikkritik auf die 2021 bei cpo erschienene Aufnahme der Ersten Symphonie durch die Württembergische Philharmonie Reutlingen unter Fawzi Haimor und schließt mit einer Untersuchung der Vorgehensweise eines besonders hartnäckigen Gegners des Komponisten.

Presseschau: Fawzi Haimors Einspielung der Ersten Symphonie

Vor kurzem erschien bei cpo eine Aufnahme der Ersten Symphonie durch die Württembergische Philharmonie Reutlingen unter Fawzi Haimor. Sie bedeutet in der Diskographie insofern einen Markstein, als dass mit Haimor sich erstmals ein Dirigent des Werkes angenommen hat, der an ihm keine Grundlagenarbeit mehr geleistet hat, denn der Dirigent der Erstaufnahme, Alfred Walter, leitete auch die Uraufführung, George Alexander Albrecht, der die zweite Einspielung durchführte, war Herausgeber des Erstdrucks. Es ist also ein Schritt getan vergleichbar dem, als der Komponist 1954, kurz vor seinem Tod, mit Rolf Agop erstmals einem anderen Dirigenten seine Zweite Symphonie anvertraute – gewissermaßen ein Schritt in die Normalität. Die Kritiken fielen für das Werk nahezu durchweg anerkennend aus.

So meint Operalounge zum Finale der „überraschenden Ersten“: „Es grenzt an Unmöglichkeit, hiervon unberührt zurückzubleiben.“

In Svens Opernparadies liest man, dass von diesem „überaus melodischen Werk“ eine Interpretation vorgelegt wurde, „die man unbedingt gehört haben sollte“. Außerdem sei es ein „Vorurteil“, wenn behauptet würde, Furtwänglers Werke seien „hoffnungslos veraltet“.

Auf der Angebotsseite von jpc haben die dort regelmäßig schreibenden Rezensenten „meiernberg“ und „JAW-Records“ dem Werk und der Einspielung die Höchstpunktzahl (5/5) gegeben.

Die Neckar-Chronik gibt dem Interview mit dem Dirigenten Fawzi Haimor den Titel: „Meistersinfonie aus dunkler Zeit“.

Dagegen wärmte der Kulturabdruck alte Kamellen auf: „Die 1. Symphonie, die zwischen 1938 und 1941 entstand und am äußersten Rand der Spätromantik einen monströsen Kampf gegen das Verschwinden derselben führt, ist ein besonders undankbares Objekt. Denn obwohl die vier Sätze mit klassischen Grundmustern und Nachklängen aus der Welt Anton Bruckners aufwarten, verliert sich der Hörer immer wieder in Furtwänglers labyrinthischen Tonfolgen. Nach 90 Minuten bleibt das Gefühl einer vielfachen Überspannung und die Frage, ob hier nicht ein Kosmos um einen leeren Kern kreist.“

In Crescendo bemerkte Christoph Schlüren: „Tatsächlich handelt es sich bei Fawzi Haimors Reutlinger Aufnahme für cpo um die aufnahmetechnisch bislang gelungenste Darbietung des knapp 90-minütigen Kolossalwerks, das in seiner Innenschau so gar nichts gründerzeitlich Macherhaftes bietet, sondern die von aller Effekthascherei völlig unabhängige Konzentration auf die pure organische Formentwicklung einfordert. Und wir warten weiter auf einen Dirigenten, der die gewaltigen Spannungsbögen adäquat zu verwirklichen versteht. Dann können wir auch dieses Werk, das noch immer erratisch erscheint, verstehen.“

Auf Classical CD Reviews hielt Gavin Dixon zwar an der Auffassung fest, Furtwänglers „major flaw“ sei „a tendency towards large-scale, expansive structures, which, although in traditional forms, are not supported by the scale or invention of his melodic writing“ – also dem von mir in Teil 1 beschriebenen Vorurteil Nr. 3 –, gesteht ihm jedoch als Komponisten „a distinctive voice“ zu und lobt immerhin das Scherzo ohne Einschränkung.

Ähnlich äußert sich Rob Maynard auf Musicweb International, der seinen Artikel mit folgendem Fazit beschließt: „We must hope that it foreshadows a full cycle of Furtwängler’s symphonic oeuvre that will bring his frequently flawed but nonetheless fascinating – and most certainly enjoyable – music to a wider audience.“

Ich selbst habe die Aufnahme auf Klassik-Heute rezensiert und dort auch meine vom Großteil der zitierten Rezensionen abweichende Ansicht dargelegt, warum ich Haimors Einspielung nicht für diejenige Aufnahme halte, die den bestmöglichen Eindruck von der Komposition vermittelt. Aber darum geht es hier nicht. Wichtig erscheint mir festzuhalten, dass unter den Kritiken der cpo-CD die positiven Stimmen weit überwiegen. Man kann anscheinend tatsächlich davon sprechen, dass die lange Zeit dominierende, von Vorurteilen geprägte Sicht auf den Komponisten Furtwängler nun einer unvoreingenommenen, von echtem Interesse geprägten Herangehensweise an seine Musik weicht.

Norman Lebrechts Attacke

Doch halt! Da meldet sich ein älterer Herr zu Wort, um energisch sein Veto einzulegen. Es ist der britische Kritiker und Buchautor Norman Lebrecht, der sich in der Vergangenheit regelmäßig zu Wilhelm Furtwängler geäußert hat. Er steht offenbar im Ruf, ein Furtwängler-Experte zu sein, denn sonst hätte ihn die Deutsche Grammophon 2019 kaum damit beauftragt, einen Einführungstext zu ihrer 34 CDs und eine DVD umfassenden Edition sämtlicher DG- und Decca-Aufnahmen Furtwänglers zu schreiben. Seine Kritik der Haimor-Aufnahme unterscheidet sich von den oben erwähnten dadurch, dass sie in einem Kontext steht, den ihr Autor im Laufe vieler Jahre schuf. Lebrecht inszeniert sich als eine Art Enthüllungsjournalist der Musikwelt. Eine Konstante seiner Tätigkeit als Autor ist die Suche nach charakterlichen Schwächen namhafter Musiker. Liest man seine Texte, meint man mitunter, ihn geradezu aufjauchzen zu sehen vor Freude, wenn er meint, etwas gefunden zu haben, das ihm die Möglichkeit gibt, eine bekannte Figur des Musiklebens als fehlerhaften Menschen darstellen zu können. Der Energie, die Lebrecht in Suchaktionen dieser Art steckt, steht eine bemerkenswerte Unachtsamkeit in Sachen Fakten gegenüber. Wer sich kurz informieren möchte, wie dicht in seinen Veröffentlichungen Fehler auf Fehler folgt, der lese die in der englischen Wikipedia zitierten Ausschnitte aus Besprechungen des Buches The Maestro Myth (1991, deutsch: Der Mythos vom Maestro) durch John von Rhein (Chicago Tribune), Roger Dettmer (Baltimore Sun) und Martin Bernheimer (Los Angeles Times).

Lebrechts Texte sind als Informationsliteratur nicht zu gebrauchen. Ihr Erfolg gründet sich auf die Art und Weise, wie der Autor Fakten, oder was er dafür hält, präsentiert. Wer sich von seiner Diktion einlullen lässt und ausreichend unkritisch alles schluckt, was Lebrecht seinen Lesern vorsetzt, wird am Ende damit belohnt, dass er es ihm gleichtun und sich wonnig in Schadenfreude suhlen kann. Diese Schadenfreude erscheint als die eigentliche Motivation der Lebrechtschen Schriftstellerei.

Wilhelm Furtwängler gehört offensichtlich zu Lebrechts Lieblingszielscheiben. Was Lebrecht über Furtwängler schreibt, ist im Grunde nicht interessant. Aber es ist interessant zu sehen, wie er gegen Furtwängler vorgeht und wie er Furtwänglers Kompositionen in diesem Zusammenhang benutzt. Zunächst lässt sich feststellen, dass er Furtwängler keineswegs pauschal verdammt. Auch für Lebrecht ist Furtwängler ein großer Dirigent. Das muss er auch sein, denn Lebrecht gibt sich nicht mit kleinen Fischen zufrieden. Einem großen Mann Anrüchiges anzuhängen, das ist seine Freude. Außerdem gehört Lebrecht zu jenen Autoren, die nie ernsthaft gegen den Strom schwimmen. Er möchte ein großes Publikum bedienen und braucht demzufolge die gängigen Klischees seiner Zeit, an die er anknüpfen und die er in seinem Sinne zuspitzen kann. Also kann er sich in diesem Falle gar nichts anderes leisten als den Dirigenten Furtwängler einen großen Mann sein zu lassen. Er versucht deshalb, ihn auf anderen Gebieten zu demontieren: Sein Ziel ist es zu zeigen, dass der berühmte Dirigent als Komponist wie als Mensch versagt habe. Auch dazu bedient er sich gängiger Klischees. Erwartet man etwas anderes?

Im Jahre 1992 veröffentlichte Lebrecht bei Simon & Schuster, New York, einen Companion to 20th Century Music, der acht Jahre später unter dem hochtrabenden Titel Complete Companion to 20th Century Music in erweiterter Form neu aufgelegt wurde. Auf S. 127 der Erstfassung findet sich über Furtwänglers Werke der folgende Absatz, der wörtlich auch in die Neufassung übernommen wurde:

He saw himself, like Mahler, as primarily a composer, yet his music is of little consequence. In three symphonies (1941–54), he seems repeatedly to linger and luxuriate in the sound he has created, though none of it bears the mark of an original mind. The works lack momentum, daring and, above all, anything personal to say – an unbelievable neutrality, given the times and the composer’s musical stature. The third in C-minor is classically formed and derivative of Bruckner. There is also a piano concerto that does a thematic tour around the great composers.“

Hier finden sich alle im ersten Teil des vorliegenden Textes ausführlich behandelten Vorurteile gegen Furtwängler gleichsam in der Nussschale zusammengefasst. Vor allem die Behauptung einer Bruckner-Abhängigkeit der Dritten Symphonie kann jeden, der mit dem Werk einigermaßen vertraut ist, nur belustigen. Kennt jemand eine Bruckner-Symphonie, die mit einem langsamen Satz beginnt, oder ein Scherzo enthält, in dem das Trio die Stelle einer Sonatendurchführung vertritt? Kann man sich auch nur ein Thema aus Furtwänglers Werk in eine Bruckner-Symphonie versetzt vorstellen? Welche Themen anderer Komponisten Lebrecht im Klavierkonzert gehört hat, verschweigt er. Würde er seine Funde öffentlich machen, hätte er zwei Möglichkeiten: Entweder müsste er zugeben, dass die Ähnlichkeiten zu gering sind um von einer „thematic tour“ zu sprechen (unter der er sich wahrscheinlich eine Art Potpourri vorstellt), oder dass Furtwängler die fremden Themen (welche auch immer es sein mögen) so stark verwandelt hat, dass sie zu seinen eigenen geworden sind. Außerdem fällt auf, dass Lebrecht sich in der Tonart der Dritten Symphonie irrt (cis-Moll muss es heißen, nicht c-Moll!). Furtwängler schien ihm wohl der Mühe nicht wert gewesen zu sein, den Fehler in der zweiten Auflage auszubessern. Dort steht er noch auf S. 136.

Seine zweite Angriffsfläche sieht Lebrecht in Furtwänglers Charakter im Allgemeinen und seinem Handeln während der NS-Zeit im Besonderen. Da greift er sehr hoch: „Moralisch lässt sich an Furtwängler nichts finden, das man bewundern könnte“, heißt es im Begleittext zur oben genannten Edition der Deutschen Grammophon. Was soll man davon halten angesichts dessen, dass Furtwänglers Einsatz für zahlreiche von den Nationalsozialisten Verfolgte eine durch Quellen hinreichend belegte Tatsache ist, und dass es darunter wenigstens zwei Fälle gegeben hat, in denen akut bedrohte Menschenleben durch eine direkte Intervention Furtwänglers gerettet worden sind (Carl Flesch und Heinrich Wollheim)? Aber nein, Lebrecht will in ihm nur einen „Günstling des Führers“ sehen, der „[n]ach einem Zwist mit Joseph Goebbels wegen einer Hindemith-Symphonie [gemeint ist Mathis der Maler] […] für kurze Zeit von seinem Amt bei den Berliner Philharmonikern suspendiert“, dann aber „von Hitler höchstselbst wieder eingesetzt“ worden sei. Wieder ein Lebrechtscher Fehler! Furtwängler ist als Chefdirigent der Philharmoniker 1934 aus eigenem Antrieb zurückgetreten und übernahm dieses Amt erst 1952 wieder. Es hat ihn niemand suspendiert, und erst recht hat ihn kein Hitler wieder eingesetzt.

Anscheinend immer bereit, in diese Kerbe zu hauen, frohlockte Lebrecht am 27. März 2019 auf seiner Seite Slipped Disc über ein angebliches „unknown pic[ture] of Furtwängler and the Füh[rer]“, das er mit folgenden Zeilen begrüßte: „After decades of censorship, whitewash and hagiolatry, documents continue to emerge of Wilhelm Furtwängler’s deeply compromised position with the leadership of the Third Reich. This latest discovery is from the Süddeutsche Zeitung archives. It shows Furtwängler conducting a factory concert in 1939 in front of a huge portrait of his Führer.“ Wer genau liest, wird feststellen, dass Lebrecht seine Leser mit der Überschrift in die Irre führt, denn, wie er ja selbst im Text schreibt, handelt es sich nicht um ein Bild, das Furtwängler mit Hitler zeigt, sondern lediglich um eine Aufnahme Furtwänglers vor einem überdimensionalen Hitler-Plakat (dem er übrigens mit nicht gerade begeistertem Blick den Rücken zukehrt). Das eigentlich Interessante an Lebrechts Beitrag ist allerdings, dass diese „latest discovery“ gar nicht neu ist. Das Bild, von dem er spricht, war der Öffentlichkeit spätestens bekannt, seit Fred K. Prieberg es 1986 in seinem Buch Kraftprobe. Wilhelm Furtwängler im Dritten Reich publiziert hatte, auf dessen Schutzumschlag es außerdem zu sehen ist. 1986 bis 2019 macht 33 Jahre. Lebrecht hat sich also wieder einmal geirrt. Nicht „censorship, whitewash and hagiolatry“ haben dafür gesorgt, dass er die Photographie erst mit solch immenser Verspätung zur Kenntnis genommen hat, sondern schlicht seine Unwilligkeit, sich korrekt zu informieren. Bezeichnend erscheint auch der Umstand, dass er auf ein Bild, das vor Jahrzehnten in dem Buch eines Musikhistorikers abgedruckt wurde, durch die Süddeutsche Zeitung aufmerksam geworden ist. (Die Photographie gefiel Lebrecht übrigens so gut, dass er sie am 25. September 2019 zur Illustration eines weiteren Beitrags auf Slipped Disc verwendete, in welchem er „a series of videocasts, elaborating on the unofficial aspects of the great conductor“ ankündigte.)

Das angeblich neu entdeckte Bild 2019 auf Lebrechts Seite…
… und 1986 auf dem Umschlag von Priebergs Buch.

Soviel zu Lebrechts früheren Eskapaden. Die Veröffentlichung von Fawzi Haimors Aufnahme der Ersten Symphonie durch cpo nahm er nun zum Anlass, seinem jahrzehntelangen Verächtlichkeitsfeldzug die Krone aufzusetzen.

Seine Kritik findet sich im englischen Original auf My Scena, ist aber auch bereits auf Französisch, Tschechisch und Spanisch erschienen. Auf seiner eigenen Seite kündigte Lebrecht noch weitere Übersetzungen an.

Was er da in die Welt hinausgeschickt hat, ist, um es vorneweg zu sagen, ein Gebräu aus offensichtlichen Fehlern, Halbwahrheiten, Verleumdungen und schwachen Versuchen witzig zu sein. Aber sehen wir uns den Text Absatz für Absatz genauer an!

In the spring of 1943, with millions being murdered across the continent of Europe, Germany’s wealthiest conductor summoned the Berlin Philharmonic Orchestra to rehearse a symphony he had written in B minor, his first. Furtwängler had been writing it, on and off, since 1908 and had lately added a fourth movement for which he had high hopes. These aspirations were dashed on first play-through. ‘Am very depressed,’ he told his wife. [/] Of all things to get depressed about at this darkest moment in modern history, a symphony seems relatively trivial, but such was the size of the maestro’s ego that it occluded most things around him, including the Nazi horrors which he chose to ignore. The symphony was supposed to be his ticket to posterity and he must have realised, during rehearsal, that it would not buy him a ride anywhere beyond the suburbs.“

→ Zunächst fällt wieder ein sachlicher Fehler auf: Die Erste Symphonie wurde weitgehend in den späten 30er und frühen 40er Jahren komponiert. Will man ihre Entstehungsgeschichte mit dem Largo-Satz beginnen lassen, der mit dem Kopfsatz der Ersten Symphonie das Anfangsthema (und nur dieses) gemeinsam hat, und von Furtwängler 1906 in seinem ersten Konzert uraufgeführt wurde, so muss man die Anfänge der Komposition ins Jahr 1905 verlegen, nicht 1908.

→ Lebrecht beginnt effektvoll mit dem Zweiten Weltkrieg. Furtwängler soll hier als moralisch fragwürdiger, egoistischer Mensch erscheinen, der es sich mitten im Krieg gut gehen lässt („Germany’s wealthiest conductor“) und sich nur um seine Kompositionen sorgt. Schwerer wiegt die Behauptung, Furtwängler hätte sich entschieden, die Nazi-Greuel zu ignorieren. Erneut muss man sich fragen: Wie kann man einem Manne, der sich persönlich für Verfolgte eingesetzt hat, der aus Protest gegen die Beeinflussung des Kulturlebens durch die Politik bereits 1934 alle öffentlichen Ämter niederlegte, der sich weigerte in von der Wehrmacht besetzten Ländern zu dirigieren, der sich dem Missbrauch seiner Person durch die NS-Propaganda so weitgehend entzog, wie es ihm möglich war, vorwerfen, er habe die Augen vor der nationalsozialistischen Terrorherrschaft verschlossen? Man lese zu diesem Thema seriöse Bücher wie Klaus Langs Wilhelm Furtwängler und seine Entnazifizierung (Aachen: Shaker Media 2012) und Fred K. Priebergs Kraftprobe. Wilhelm Furtwängler im Dritten Reich (Wiesbaden: F. A. Brockhaus 1986).

→ Lebrecht meint, Furtwänglers Niedergeschlagenheit nach der Probe wäre Wasser auf seine Mühlen. Nun hat Furtwängler tatsächlich nie wieder einen Takt aus der Ersten Symphonie dirigiert. Dies bedeutet aber nicht, er hätte das Werk als misslungen betrachtet und beiseite gelegt. Nein, er überarbeitete es ein weiteres Mal, sodass er 1946 Eugen Jochum schreiben konnte: „Von meinen Symphonien wird eine in diesem Jahr, die andere ein Jahr später herauskommen.“ (Klaus Lang: Wilhelm Furtwängler und die Tragik seines Komponierens, Aachen: Shaker Media 2013, S. 55) Dies hätte er (damals noch unter Auftrittsverbot) nicht geschrieben, wenn ihm die Erste zu dieser Zeit nicht aufführungsreif erschienen wäre. Während er die Zweite (die er 1948 uraufführte) als „fix und fertig“ ansah, war die Erste für ihn aber nur „fertig“ (ebenfalls an Jochum 1946, siehe Lang: Tragik, S. 49), und noch 1954 feilte er an einzelnen Stellen der Partitur. Dass er bis in sein Todesjahr um die endgültige Gestalt dieses Werkes rang, zeigt deutlich genug, wie wichtig ihm dieses Stück war. Ein Künstler macht sich nicht eine solche Arbeit mit einem Werk, das er für misslungen hält! Es kam lediglich durch den Tod des Komponisten zu keiner „Fassung letzter Hand“. Furtwängler hat die Erste Symphonie „’fertig‘, aber mit einigen Fragezeichen für die Nachwelt hinterlassen“, wie Sebastian Krahnert über den vergleichbaren Fall des Klavierquintetts schreibt.

Furtwängler died in 1954 and, though his cult as a legendary conductor continued to grow, his first symphony did not get performed until 1991. Two recordings were issued soon after, neither of them convincing. I was hoping for more from the Württemberg Philharmonie of Reutlingen, conducted by Fawzi Hamor [sic], on a label that performs noble service to German music, great and small. It soon confirmed my long impresion [sic] that Furtwängler’s composing talent was too small to be measured on any musical scale.“

→ Natürlich lässt sich Lebrecht nicht entgehen, die lange Zeitspanne zwischen Furtwänglers Tod und der Uraufführung hervorzuheben. Der Grund für die verspätete Uraufführung (die Ersteinspielung geschah bereits 1989) lag, ähnlich wie im Falle des Klavierquintetts, in dem philologisch problematischen Zustand der Partitur begründet. Die Furtwängler-Pflege konzentrierte sich zunächst auf die Werke, zu denen ein Notentext letzter Hand vorlag.

→ Kann man Lebrecht angesichts seiner Sätze von 1992 tatsächlich glauben, wenn er schreibt: „I was hoping for more“, oder ist dies nur reine Rhetorik?

If Bruckner married Mahler and hired Wagner and Brahms to tutor their backward child, the infant might have doodled something like Furtwängler’s B-minor symphony. This work is not so much composed as collaged. Trademarked themes of other composers are pasted onto a vast canvas of almost ninety minutes, each movement opening with a tune you know you’ve heard before. [/] The wholesale theft of classical treasures becomes so blatant that, six minutes into the Adagio, Furtwängler starts churning out chunks of Beethoven’s ninth symphony, as if we’d never know. Vanity aside, he repeats himself (or others) over and over again until you wonder how it was possible that so insightful and atmospheric a conductor could be so deaf and senseless to his own emanations. The fine musicians of Reutlingen do their level best to get us through; the fawning sleeve-notes are the most muddled I have read in years.“

→ Hier wird Lebrecht nicht nur gegen Furtwängler ehrenrührig, sondern auch gegen Eckhardt van den Hoogen, den Autor des Begleittextes. Als Übersetzung des Wortes „fawning“ wird mir von den konsultierten Nachschlagewerken nicht nur „liebedienernd“, sondern auch „kriecherisch“, „hündisch“, „schwanzwedelnd“ angeboten. Mit diesem Wort wird ein Autor bedacht, der sich sorgfältig mit Leben und Werk des von ihm dargestellten Komponisten vertraut gemacht hat und auf Grundlage dieses umfassenden Wissens in seinem Text ein möglichst getreues Charakterbild des Künstlers zu vermitteln strebt. Van den Hoogens Art, sich gleichsam in die Psyche der Komponisten, über die er schreibt, hineinzudenken, mag nicht Jedermanns Sache sein und birgt gewiss Risiken. Gerade aber, weil van den Hoogen diese Risiken auf sich nimmt, verdient er Respekt. Er ist ein Autor, der wagt, was sich viele andere nicht trauen. Und das Ergebnis gibt ihm meistens Recht. Der Furtwängler-Text macht darin keine Ausnahme.

→ Zum Schluss seines Artikels lässt Lebrecht die Katze aus dem Sack und zeigt uns, dass er offensichtlich rettungslos in Reminiszenzenjägerei befangen ist. Nach Anklängen an andere Werke Ausschau zu halten, mag ein hübscher Zeitvertreib sein und mitunter auch tatsächlich Interessantes zu Tage fördern, aber was ist davon zu halten, wenn diese Tätigkeit mit solch fanatischem Ernst betrieben wird, wie Lebrecht es hier tut? Lebrechts Worte sind ein Dokument uneingestandener Hilflosigkeit. Man hat einen routinierten Kritiker vor sich (oder besser: einen in Routine erstarrten Kritiker), welcher 1. offensichtlich weder willens noch fähig ist, sich mit dem Werk ernsthaft auseinanderzusetzen, und 2. die Vorurteile, die er gegenüber dem Komponisten hegt und selbstgefällig pflegt, auf Biegen und Brechen sich und anderen bestätigen will. Für Lebrecht ist Furtwängler also ein Dieb (bereits 1992 klingt dies in seiner Einschätzung des Klavierkonzerts an), und der Kritiker hält sich für besonders schlau, weil er meint, diesen „Dieb“ überführt zu haben. Wenn man weiß, dass Lebrecht ein leidenschaftlicher Verehrer Gustav Mahlers ist, und bedenkt, dass er bereits 1992 in seinem Handbuchartikel Furtwängler und Mahler einander gegenübergestellt hat, so möchte man glauben, er versuche hier die Vorwürfe, die man früher Mahler gemacht hat, auf einen anderen Komponisten (der zugleich, wie Mahler, ein großer Dirigent war) zu übertragen und damit gleichsam ein Negativbeispiel zu Mahler zu schaffen: Seht her – scheint er uns zwischen den Zeilen sagen zu wollen –, die Diebstähle, die man Mahler zu Unrecht vorwarf, Furtwängler hat sie begangen! Da stellt sich die Frage, was eigentlich so schlimm daran sein soll, wenn ein Komponist aus einem fremden Einfall einen eigenen macht. Dass bei Mahler die Anfangsthemen der Dritten und Sechsten Symphonie und das Rondo-Thema der Siebten auffallend an Melodien von Brahms, Bruckner und Wagner anklingen, ist doch keine Schande! Wenn Mahler hier den Reminiszenzenjägern Köder ausgelegt hat, so tat er das – Humorist, der er war –, um sie zu foppen. Bereits bei der Komposition dürfte er innerlich darüber gelacht haben, dass das „jeder Esel hören wird“, um es mit Brahms zu sagen. Außerdem hat er allen Themen etwas Neues, Eigenes hinzugefügt. In der Form, in der er sie präsentiert, sind sie nicht mehr die Themen anderer Komponisten.

Mahler ist kein Melodiendieb. Noch unsinniger wirkt der Versuch, Furtwängler dergleichen anzuhängen, denn dessen melodische Erfindung war so eigen, dass jedes Zitieren fremder Musik im Kontext seines Stiles wie ein Fremdkörper hätte wirken müssen. Dabei gibt es allerdings Reminiszenzen in Furtwänglers Werken. Ich erinnere an ein Thema im Kopfsatz der Ersten Symphonie, dessen Anfang im zweiten Satz der Dritten wieder auftaucht. Auch fängt das Symphonische Konzert mit beinahe dem gleichen Motiv an wie die Zweite Symphonie. Themen, die auf Tonleiterausschnitten basieren, oder solche mit sinusartigen Melodieverläufen gibt es in jedem Werk Furtwänglers, sodass schon dadurch Anklänge der Werke untereinander gewährleistet sind. Dies liegt schlicht daran, dass Furtwängler der Archetyp eines „Igels“ ist. So nennt Isaiah Berlin in seinem Buch Der Igel und der Fuchs, anknüpfend an das antike Sprichwort „Der Fuchs weiß verschiedene Sachen, der Igel aber nur eine große“ diejenigen Künstler und Denker, die von einer großen Idee besessen sind, auf welche sie alles beziehen. Auch Furtwängler hat sein Leben lang eigentlich immer das gleiche Ziel verfolgt. Die einzelnen Werke sind individuelle Lösungen einer stets gleich bleibenden Aufgabenstellung – wie bei Bruckner, der ja auch als „Igel“ in Reinform gelten kann (als spätere Vertreter dieses Typus lassen sich etwa Allan Pettersson, Robert Simpson, Peter Mennin nennen). Und so wie Bruckner mit gewisser Regelmäßigkeit sich selbst zitiert, vielleicht sogar unbeabsichtigt, so tut dies Furtwängler ebenfalls.

Ich gebe gern zu, dass mir die Anklänge an Beethovens Neunte, die Lebrecht im Adagio der Ersten Symphonie Furtwänglers zu hören meint, nie aufgefallen sind. Warum nicht? Weil dieses Adagio mich durch das, was es ist, so gefesselt hat, dass ich mich nicht darum kümmerte, ob Reminiszenzen an ein anderes Meisterwerk darin sind oder nicht. Gedanken darüber, was es zur individuellen Beschaffenheit dieses Satzes zu sagen geben könnte, kommen Lebrecht gar nicht. Meint er ernsthaft, dass es das Wesentliche an diesem Stück sei, dass Furtwängler hier „gestohlen“ habe? Lebrecht hat mit seinen Lesern etwas Bestimmtes vor: Sie sollen gedanklich gelenkt werden, und zwar nicht hin zu einem besseren Verständnis des Werkes, sondern sie sollen ebenso eine Mauer zwischen sich und dem Werk hochziehen, wie sie Lebrecht für seine Person errichtet hat. Wenn in der Kritik steht, jeder Satz der Symphonie beginne mit einem Thema, von dem man wisse, dass man es schon einmal gehört habe, so ist das eine Aufforderung an die Leser, sich, wenn sie denn dazu kommen das Stück zu hören, auf die Frage zu konzentrieren, wo man dieses oder jenes Thema bereits gehört haben könnte. Sie sollen davon abgelenkt werden, den musikalischen Ereignissen zu folgen, so wie Lebrecht ihnen nicht mehr folgen kann, da seine alten Vorurteile gegen Furtwängler ihm den Weg versperrt haben. Man erlebt in seinem Text, wie ein Kritiker, um seine einmal gefestigten Ansichten über einen Komponisten zu bestätigen, alle seine Kräfte zur Reminiszenzenjagd aufbietet, um wenigstens irgendetwas zu finden, das gegen den Komponisten verwendet werden kann. Dass Lebrecht dann keine Kraft mehr hat, sich auf das Werk selbst zu konzentrieren, ist die natürliche Folge.

Sowenig man Furtwängler einen derivativen Komponisten nennen kann, so sehr sind Lebrechts Ausführungen zu seinem Schaffen von Anfang bis Ende ein Derivat, zusammengeleimt aus dem Billigsten, was an Klischees und Vorurteilen über Furtwänglers Kompositionen im Laufe der Zeit von Unwissenden und Übelwollenden in Umlauf gebracht worden ist. Unter seinen Händen ist dieses Gedankengut geradezu eine Karikatur seiner selbst geworden. Man kann beinahe von einer unfreiwilligen Satire sprechen. Kann man angesichts dieser Bankrotterklärung eines der hartnäckigsten Verleumder Furtwänglers vermuten, dass die Gegner des Komponisten ihr Pulver verschossen haben? Gewiss wird man sie noch zu der einen oder anderen Schlammschlacht ausrücken sehen, aber ihre hohlen Phrasen, die sie mangels tatsächlicher Argumente gezwungen sind fortwährend zu wiederholen, werden sich immer weiter abnutzen. An Furtwänglers Werken werden ihre Attacken zerschellen wie eh und je. Dem Konzertleben, den Tonträgerproduktionen und der Musikwissenschaft dagegen steht ein zahlenmäßig nicht großes, aber dafür umso gehaltvolleres Schaffen zur Verfügung, das diejenigen reich belohnen wird, die sich mit Ernst und Zuneigung seiner Ergründung widmen. Es verdiente eine bessere Pflege als sie ihm im 20. Jahrhundert zu Teil wurde. Tun wir es nicht Lebrecht und seinesgleichen gleich, sondern:

Hören wir dem Komponisten Wilhelm Furtwängler gut zu!

Programmzettel zur ersten Aufführung von Furtwänglers Zweiter Symphonie, die nicht vom Komponisten selbst geleitet wurde. Es dirigierte Rolf Agop (1908-1998).

[Norbert Florian Schuck, Januar 2022]

Tägliche Liebe zur Musik

Ein Interview mit dem Pianisten Andrea Vivanet

Der Sarde Andrea Vivanet ist ein herausragender Pianist, ausgestattet mit einer Makellosigkeit der Technik, die atemberaubend ist, und dies gepaart mit künstlerischen Werten, die man fast schon als verloren glaubte. Sein Spiel ist geprägt von einem eigenen, spezifischen Tonfall, den man unter Hunderten Pianisten wiederzuerkennen meint, der Vivanet aber nicht daran hindert, sich den von ihm ausgewählten Werken mit vorbildlicher Vorbereitung und akribischer Partiturarbeit zu nähern.

Russische Musik hat in seiner bisherigen Laufbahn eine große Rolle gespielt und war Bestandteil von drei seiner bislang insgesamt vier Albumaufnahmen. Daher ist es nur konsequent, dass sich der Künstler nun mit einem Album zurückmeldet, das ausschließlich russische Musik zum Inhalt hat. Als Russian Album ist es nun beim Münchner Label Aldilà Records erschienen (siehe auch diese Rezension).

Anlässlich der Veröffentlichung hatte René Brinkmann die Gelegenheit, mit Andrea Vivanet zu seinem neuen Album, aber auch zu vielfältigen Themen in den Bereichen Musik, Karriereaufbau und Gesellschaft zu sprechen.

The New Listener (TNL): Herr Vivanet, mit Ihrem Russian Album veröffentlichen Sie nun bereits Ihr viertes Album beim vierten Label. Wie ist es dazu gekommen?

Andrea Vivanet (AV): Ich würde sagen, dass meine diskografische Erfahrung als ein schrittweiser Prozess unter zwei verschiedenen Aspekten betrachtet werden kann. Einerseits habe ich sicherlich gelernt, wie man sich nach und nach auf eine Aufnahme vorbereitet. Das ist etwas ganz anderes, als die Vorbereitung auf ein Konzert. Ich kann mich zum Beispiel an meine erste Aufnahme nicht als etwas erinnern, auf dass ich vollkommen vorbereitet gewesen wäre, aber ich hatte das Gefühl, dass ich mit der Zeit immer mehr Selbstvertrauen gewann. Andererseits hat mir bisher jede Aufnahme geholfen, neue Leute kennenzulernen und als Nebeneffekt auch mit neuen Labels in Kontakt zu kommen.

TNL: Auf dem neuen Album kombinieren Sie bekannte mit weniger bekannten Werken, verbinden Schostakowitsch mit Tscherepnin und Tanejew. Wie kam das Programm zustande? Die Liner Notes im Booklet lassen vermuten, dass dieser Zusammenstellung ein langwieriger Auswahlprozess vorausgegangen ist?

AV: Wie Sie genau richtig sagen, wurde das Programm Stück für Stück mit dem Produzenten und Dirigenten Christoph Schlüren, abgesprochen. Wir hatten die Idee, gemeinsam ein Album zu konzipieren. Mein erster Vorschlag, die 24 Schostakowitsch-Préludes op. 34, wurde von Herrn Schlüren freudig angenommen, der daraufhin anregte, ein durchweg russisches Programm rund um die Schostakowitsch-Préludes aufzubauen.

Ich nahm seinen Vorschlag, das Tanejew-Präludium und die Fuge zu lernen, ziemlich schnell an, da Tanejew einer jener russischen Komponisten ist, die sich vor allem für die Polyphonie interessierten, und daher dachte ich, dass dies eine interessante Verbindung zu Schostakowitsch sein könnte, auch wenn es stilistisch ziemlich weit von Schostakowitsch entfernt ist (vergessen wir aber dabei nicht, dass die Préludes op. 34 viele polyphone Elemente im gesamten Zyklus enthalten, darunter eine kurze dreistimmige Fuge – das Prélude Nr. 4). Am Ende entschieden wir uns dazu, Tscherepnin zwischen Tanejew und Schostakowitsch aufzunehmen, und zwar aus zwei Gründen: Wir wollten einige Werke präsentieren, die bisher noch nicht aufgenommen wurden, und wir dachten, dass die Tatsache, dass Tscherepnin mehr stilistische Zeiträume durchschritt, eine schöne Brücke zwischen Tanejew und Schostakowitsch sein würde, da seine frühen Préludes mit der spätromantischen Tradition verbunden sind und seine Primitifs eine Öffnung zu einer neuen, modernen Sprache darstellen.

TNL: Besonders die Préludes, Morceaux und Primitifs von Nikolai Tscherepnin sind eine große Entdeckung. Musik von großer Schönheit, aber auch großer kompositorischer Kunstfertigkeit. Wie sind Sie auf diese selten gespielten und nie zuvor aufgenommenen Stücke aufmerksam geworden?

AV: Ich kannte die Musik von Tscherepnin nicht und wurde neugierig auf seine Kompositionen, als mir der Produzent vorschlug, die Préludes op. 17 zu lesen. Daraufhin beschloss ich, weitere Werke zu erforschen, und setzte mich mit der Tscherepnin-Gesellschaft in Verbindung. Der Vizepräsident David Witten, Pianist und Professor an der J. Cali School of Music, Montclair State University, der sehr wichtige Werke von Nikolai Tscherepnin aufgenommen hat, war eine wirklich wertvolle Unterstützung: Dank Herrn Witten hatte ich die Möglichkeit, an die Noten einiger Werke wie die der Primitifs zu kommen, die wirklich nicht leicht zu finden sind. David Witten war auch eine Quelle der Inspiration, da er mich über interessante Fakten zu Tscherepnins Leben informierte. Ich möchte auch die Gelegenheit nutzen, um der Tscherepnin-Gesellschaft zu danken, die als Sponsor zu dieser Veröffentlichung beigetragen hat.

TNL: Während sich Ihre ersten beiden Alben mit einem weithin bekannten Repertoire befassten, sind Sie mit Ihrem letzten Album bei Naxos (Szymanowski) und dem jetzt bei Aldilà Records erschienenen Russian Album einen anderen Weg gegangen und haben sich vor allem weniger bekannten Werken gewidmet. Ist das der Weg, den Sie jetzt weitergehen wollen?

AV: Ich würde nicht sagen, dass ich das Ziel habe, ein Spezialist für weniger bekanntes Repertoire zu werden – es sei denn, ich stoße auf meinem Weg auf Meisterwerke, die aus irgendwelchen Gründen von den Musikern vernachlässigt wurden –, aber ich erhebe keinen Anspruch auf eine besondere Rolle, etwa als Pionier des weniger gespielten Repertoires oder ähnliches.

TNL: Das Album wurde im großen Saal des georgischen Staatskonservatoriums in Tiflis aufgenommen. Haben Sie diesen Aufnahmeort bewusst gewählt, weil Tscherepnin mehrere Jahre in Tiflis gelebt und gearbeitet hat?

AV: Das war eher ein Zufall, da ich selbst seit November 2020 in Georgien lebe, aber ich würde sagen, dass es eine glückliche Wahl war: Der Konzertsaal ist sehr inspirierend und der Steinway dort ist einfach fantastisch. Der Tontechniker der Aufnahme, Paul Kavtchadze, ist ein wunderbarer Musiker und Mensch, dem ich für seine großartige Arbeit und Unterstützung sehr danken möchte.

TNL: Gibt es in Tiflis heute noch ein allgemeines Gedenken an Nikolai Tscherepnin?

AV: Im Museum des Konservatoriums (wo es übrigens auch ein Klavier gibt, das Sergej Rachmaninow gehörte) gibt es einen Teil, der Tscherepnin gewidmet ist, dennoch habe ich seine Musik bisher nicht in Konzertprogrammen gesehen (vielleicht habe ich sie auch nur übersehen). Es gibt jedoch einen jungen, brillanten Musikwissenschaftler, den ich grüßen möchte – ich entschuldige mich für die vielen Grüße (lacht) – Lasha Gasviani, der Artikel und ganze Dissertationen über die Musik von Tcherepnin im Zusammenhang mit der georgischen Musikkultur/dem georgischen Erbe veröffentlicht.

TNL: Auch Tschaikowsky und andere russische Komponisten besuchten Tiflis, und einige von ihnen gaben auch Konzerte oder hielten sich längere Zeit dort auf. Und dann sind da noch die großen georgischen Komponisten, die man nicht vergessen sollte, wie Kantscheli oder Chatschaturjan. Wie muss man sich Tiflis also vorstellen? Gibt es eine kulturelle Szene, die dieses Erbe der Vergangenheit pflegt und fördert?

AV: Absolut ja, ich habe mehrmals gesehen, wie georgische Musiker georgische Komponisten aufgeführt haben. Ich selbst habe einige interessante Werke von Otar Taktakischwili gelesen (ich habe gerade entdeckt, dass er eine Zeit lang bei Schostakowitsch studiert hat). Wer weiß, vielleicht nehme ich in Zukunft einige Werke von Taktakischwili in mein Repertoire auf, obwohl es im Moment noch zu früh ist, um das zu sagen – ich arbeite ohnehin schon an zu vielen neuen Stücken.

TNL: Sie haben Ihr gesamtes Klavierstudium mit Auszeichnung abgeschlossen, Sie haben einige der renommiertesten Klavierwettbewerbe gewonnen, doch trotzdem sind Sie – zumindest in Deutschland – selten im Konzert zu hören. Ist der deutsche Markt einfach besonders schwer zu „knacken“ oder treten Sie lieber woanders auf?

AV: Ich würde gerne in Deutschland auftreten, aber ich kann nicht wirklich sagen, warum es noch nicht passiert – vielleicht hat es die letzte Zeit mit den vielen Einschränkungen nicht einfach gemacht, also ziehe ich lieber keine voreiligen Schlüsse und warte ab, welche Möglichkeiten sich in der nächsten Zeit ergeben.

TNL: Was ist Ihre Meinung: Ist der Gewinn eines prestigeträchtigen Wettbewerbs heute keine Garantie mehr für eine Karriere? Wie waren Ihre bisherigen Erfahrungen bei der Suche nach einem Management- oder Labelvertrag?

AV: Zu Wettbewerben kann ich mich nicht wirklich äußern, da ich selbst nicht an vielen teilgenommen habe. Vielleicht ist es immer noch eine gute Möglichkeit, eine Karriere aufzubauen. Die Frage ist, ob es sich lohnt, eine Karriere durch Wettbewerbe zu erreichen oder nicht, und meine Antwort ist: Es kommt darauf an, es ist individuell. Ich möchte niemanden in die eine oder andere Richtung drängen. Sicherlich könnte ich mich wie ein Moralist aufführen und sagen, dass Wettbewerbe zwangsläufig negativ sind, dass sie dazu führen, dass Musiker mechanisch spielen, da sie zu oft einem übermäßigen Druck ausgesetzt sind (was vielleicht sogar stimmt), aber: trifft das auf alle zu? Hatten wir nicht auch erstaunliche Künstler, die an Wettbewerben teilgenommen haben? Sicherlich haben wir das.

Ich kann also nur sagen: Jeder muss alles tun, was im Rahmen seiner Fähigkeiten, Grenzen und Möglichkeiten seine künstlerische Integrität nicht gefährdet. Wenn ihr das Gefühl habt, dass ihr die Kraft habt, an Wettbewerben teilzunehmen, ohne in Routine zu verfallen, dann macht sie! Warum nicht? Es wird eine Gelegenheit sein, eure Musikalität mit eurem Publikum zu teilen, dank der Engagements, die ihr bekommen könnt. Wenn Ihr das Gefühl habt, dass sie Eure innere Musikalität verarmen lassen, dann lasst die Finger davon! Es ist besser, um einige Möglichkeiten zu kämpfen, als zu verderben, was spirituell ist. Das ist immer das Wichtigste.

Wissen Sie, wir Musiker (aber auch die Menschen im Allgemeinen) haben ein Ego, das uns immer dazu bringt, etwas zu kritisieren, um uns rechtschaffen zu fühlen. Ich glaube, dass Wettbewerbe kein guter Weg für mich gewesen wären, aber noch einmal: das gilt nur für mich (oder Musiker mit ähnlichen Eigenheiten), in Bezug auf meine eigenen Charakteristika.

Zum Thema Management, nur zwei Worte: sehr schwierig! Ich suche derzeit nach einem in diesem Bereich, Osteuropa/Naher Osten, aber möglicherweise auch in Westeuropa. Was Aufnahmen angeht, so hatte ich einige Gelegenheiten und ich denke, dass sich in der nächsten Zeit weitere Gelegenheiten ergeben werden.

TNL: Man kann auch ein wenig boshaft fragen: Gibt es vielleicht einfach zu viele Pianisten auf dem „Markt“? Sollte man bei der Auswahl von Pianisten an der Universität vielleicht weniger auf die technische Komponente achten (denn technisch haben selbst sehr junge Musiker heute oft ein ganz erstaunliches Niveau), sondern vielleicht mehr auf die Persönlichkeit eines Künstlers, bis hin zu dem Punkt, dass sie zum entscheidenden Aspekt wird, ob ein Künstler an der Universität zugelassen wird oder nicht?

AV: Auch wenn ich bei dieser Frage nicht wertend sein möchte, werde ich kurz (und vielleicht scharf, pardon) darauf antworten und sagen, dass die Auswahl wahrscheinlich eher unter den Lehrern als unter den Studenten getroffen werden müsste. In jungen Jahren sind eigentlich alle Richtungen offen, aber wenn die Lehrer ihren Schülern nur die Werte Erfolg, übermäßiger Ehrgeiz, Wettbewerb usw. vermitteln, werden sie genau das aufnehmen und glauben, dass es in der Musik nur darum geht. Vielleicht werden einige der Schüler eine natürliche „Erleuchtung“ haben, aber viele andere werden in die Irre geführt, obwohl sie wahrscheinlich die wichtigsten Aspekte der Musik erkennen könnten, wenn sie richtig unterrichtet würden, und vor allem von jemandem, der die Musik über alles andere stellt.

TNL: Sie geben selbst Meisterkurse und bilden junge Pianisten aus. Welche Ratschläge geben Sie diesen jungen Menschen für ihre zukünftige Karriere? Was sollte man tun, was sollte man vermeiden?

AV: Das ist schwer zu sagen. Das Beste, was ich tun kann, ist, meine Ratschläge mit mir selbst zu teilen. Ich sage mir: Es ist wichtig, ein Gleichgewicht zwischen Zielen und zukünftigen Erfolgen und dem, was in der Gegenwart oder in der jüngsten Vergangenheit liegt, zu finden. Wenn ich nur für das Erreichte lebe, dann ist es mit dem Glück vorbei: Ich verbringe einige leere Monate meines Lebens für das kurze Vergnügen dieses zukünftigen Tages eines Erfolges – was auch immer es sein mag, eine stehende Ovation, ein Artikel in der New York Times usw. Dann muss ich die Voraussetzungen für den nächsten Erfolg schaffen, weil ich plötzlich nichts mehr habe, was mich in der Gegenwart ausfüllt.

Im Grunde ist es das, was z. B. die neuen Plutokraten des Internets mit ihren Milliarden machen: totale Leere und Frustration, bis sie die nächste Milliarde verdienen. Diese Dimension nun auf etwas so höchst Spirituelles wie die Musik anzuwenden, ist ziemlich traurig. Nur ein krankes Wirtschaftssystem könnte es schaffen, sogar die Künste in diese leere Dimension zu verwickeln. Das hat Auswirkungen auf das alltägliche Leben, und das ist furchtbar traurig bei etwas wie Musik, die ein Grund zur Freude sein sollte, wann immer wir uns ihr widmen.

Aber wir sind natürlich keine Hedonisten, und wir brauchen Ziele, auch, um unserem Studium eine Struktur zu geben. Das ist nicht einfach; und da wir Menschen sind, sind schöne Erfolge und Rückmeldungen auch sehr willkommen. Das ist es also, was ich mit dem Gleichgewicht zwischen der Gegenwart/Vergangenheit und den zukünftigen Errungenschaften meine: zukünftige Ziele, um eine Richtung zu haben und gute Ergebnisse zu erzielen, aber nur nach täglicher Liebe zu jeder Seite der Musik, die wir berühren, das ist das Wichtigste (unsere Gegenwart und Vergangenheit). Das Leben wird entscheiden, welche Möglichkeiten wir bekommen und welche nicht, aber in der Zwischenzeit werden wir das wichtigste Geschenk in uns tragen: die Musik.

TNL: Im Booklet gibt es ein Zitat von Ihnen, das ich persönlich sehr treffend und im Zusammenspiel mit der Musik von Tscherepnin auch sehr berührend finde: Sie schreiben, die Musik von Tscherepnin sei für Sie wie ein Abschied von einer Epoche: als ob er wüsste, dass er sich von einer Zeit verabschiedet, die nicht wiederkommen wird. Passt diese Musik deshalb auch so gut in unsere Zeit, weil wir uns auch heute im Rekordtempo von Werten und Errungenschaften verabschieden, die immer weniger geachtet werden und denen immer weniger Wert beigemessen wird?

AV: Ich glaube, sie passt – auch wenn bei Tscherepnin diese nostalgische Dimension voller Hoffnung und Neugier auf neue Entdeckungen ist. Ich fürchte, dass bestimmte große Seiten von Schostakowitsch – im innersten kalt und ohne Hoffnung – viel besser in unsere Zeit passen.

TNL: Tscherepnin und seine Zeitgenossen reagierten auf die Veränderungen und Herausforderungen ihrer Zeit mit Ohnmacht und Melancholie. Das war ja aber auch immerhin eine Art Gemeinsamkeit. Ich habe das Gefühl, dass die Künstler heute angesichts der immensen Herausforderungen, vor denen wir stehen, noch nicht zu einer gemeinsamen Antwort gefunden haben. Wie gehen Sie persönlich mit den Veränderungen in Kultur und Gesellschaft um?

AV: Ich stimme Ihnen vollkommen zu. Es gibt ein Gefühl der Verlorenheit, keine gemeinsame Richtung und viele verschiedene Erscheinungsformen der Kreativität, die sich nicht mehr gegenseitig inspirieren, wie es zu Beginn des 19. Jahrhunderts der Fall war. Strawinsky inspirierte zum Beispiel andere Komponisten, die seine Ästhetik aufgriffen und sie in eine klassische symphonische Dimension brachten, und wir könnten noch viele andere Beispiele anführen. Wenn dies heute nicht mehr der Fall ist, liegt das wahrscheinlich daran, dass Erfolg und Sensationslust ein größeres Ziel geworden sind als der Versuch, Musik für Komponisten und Interpreten zu machen – wieder einmal wegen der Konsumgesellschaft. An die Stelle von Ohnmacht und Melancholie sind Aggressivität und Konkurrenzdenken getreten.

Generell glaube ich, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der es darauf ankommt, was wir erreicht haben und nicht, wie wir es erreicht haben, und diese Perspektive betrifft auch den Bereich der Kunst (natürlich nicht immer, zum Glück).

Ich persönlich gehe mit jedem aktuellen gesellschaftlichen Phänomen nur auf eine Weise um: mit Begeisterung für das, was ich Tag für Tag tue.

TNL: Zum Schluss noch eine Frage zu Ihren Plänen für die Zukunft: Was planen Sie in den kommenden Wochen und Monaten? Gibt es irgendwelche besonderen Konzerte oder sogar schon Pläne für eine weitere Albumaufnahme?

AV: Was das tägliche Leben betrifft, so bin ich froh, hier in Tiflis einige Privatschüler zu haben, und ich hoffe, dass ich bald weitere haben werde.

Ich arbeite an einem neuen Repertoire, das mehrere Werke von Sweelinck, Chopin, Mozart, die Grieg-Ballade und Holberg-Suite sowie die zweite Sonate von Schostakowitsch umfasst. Derzeit gibt es keine konkreten Pläne für eine neue Aufnahme.

Was Konzerte angeht, so ist für das Frühjahr 2022 ein Rezital im Großen Saal des Konservatoriums von Tiflis geplant, und ich warte auf einen Termin für ein Konzert in Jerewan im Rahmen der Solistensaison des Armenischen Symphonieorchesters.

Ich freue mich auch, dass man mich kontaktiert hat, um zwei Konzerte in Frankreich, in Lille, für zwei Klavierfestivals 2022 zu geben. Und natürlich warte ich noch auf einige andere Antworten für die kommenden Monate. Bis dahin freue ich mich auf die kommenden Konzerte!

[Das Interview führte René Brinkmann]

Langer Atem und Polyphonie im Kornspeicher

Der Kornspeicher der Dorfmühle in Lehrberg

Am 28. August 2021 spielte das Streichorchester Symphonia Momentum unter Leitung von Christoph Schlüren im Kornspeicher des Hotels Dorfmühle in Lehrberg die Streichersymphonie Nr. 13 c-Moll von Felix Mendelssohn Bartholdy, Bitten, den von Lucian Beschiu für Streicher gesetzten Schlussteil der Motette Über die Schwelle von Reinhard Schwarz-Schilling, und das Streichquintett F-Dur von Anton Bruckner als Streichersymphonie.

Mit dem Kornspeicher der ehemaligen Dorfmühle, deren Gebäude nunmehr das Hotel Dorfmühle beherbergen, verfügt Lehrberg, ein Markt in Mittelfranken nahe Ansbach, über eine Spielstätte besonderer Art. Der mit einer Orgel ausgerüstete Konzertsaal dient seit seiner Einweihung im Jahr 2017 als Veranstaltungsort der Lehrberger Mühlenkonzerte, in deren Rahmen es bereits zu einer stattlichen Anzahl an Aufführungen von Chor-, Orgel-, Kammer- und auch Orchestermusik gekommen ist. Die Ereignisse des Jahres 2020 hatten zu einer vorübergehenden Unterbrechung der erfolgreichen Reihe geführt, sodass im Kornspeicher insgesamt 20 Monate lang keine Konzerte stattfinden konnten. Nicht nur aus diesem Grund konnte man höchst gespannt sein auf das Konzert, das die erzwungene Stille am 28. August 2021 beendete und damit hoffentlich den Auftakt zu einem neuen Kontinuum musikalischer Veranstaltungen in Lehrberg gegeben hat.

Das 19-köpfige Streichorchester Symphonia Momentum (fünf erste und vier zweite Violinen, je drei erste und zweite Bratschen, drei Violoncelli und eine Kontrabassistin, die die ihr zugeteilten Stellen profund stützte) brachte unter der Leitung seines Gründers Christoph Schlüren drei Kompositionen zur Aufführung, die nicht nur verschiedenen Epochen angehören, sondern auch ursprünglich verschiedenen Besetzungen zugedacht waren: Die 1823 begonnene und nach dem ersten Satz nicht weiterführte Streichersymphonie Nr. 13 c-Moll des 14-jährigen Felix Mendelssohn Bartholdy, die den Abend eröffnete, wurde als einziges Werk des Programms original für Streichorchester komponiert. Mit Reinhard Schwarz-Schillings Bitten folgte ein Stück instrumental ausgeführter Vokalmusik: Es handelt sich um den Schlussteil der A-cappella-Motette Über die Schwelle op. 76 aus dem Jahr 1975, den der Komponist Lucian Beschiu der Streicherliteratur hinzugewonnenen hat. Das weitaus umfangreichste Stück bildete den Abschluss: Anton Bruckners Streichquintett F-Dur von 1879 war in chorischer Aufführung zu hören, und damit als zweite Streichsymphonie in diesem Konzert. Diese Werke mögen zeitlich weit auseinanderliegen – Mendelssohns Symphoniesatz entstand im Jahr vor Bruckners Geburt, Bruckners Quintett ein knappes Jahrhundert vor Schwarz-Schillings Motette –, und in ganz verschiedenen Schaffensphasen der jeweiligen Komponisten entstanden sein – ein Jugendwerk steht den Kompositionen eines 55- und eines 71-Jährigen gegenüber –, dennoch kam in dieser Vortragsfolge das ihnen Gemeinsame, sie miteinander Verbindende außerordentlich deutlich zum Ausdruck, während das, was sie historisch-stilistisch voneinander trennen mag, in den Hintergrund trat. Neben der formalen Abrundung, der Natürlichkeit, mit welcher sich die Verläufe der Stücke entfalten, als könnte es nicht anders sein, haben sie vor allem den fünfstimmigen Satz als Grundlage gemeinsam. Alle drei Werke entfalten die in ihnen niedergelegten musikalischen Gedanken in meisterhafter Polyphonie.

Dieses Zusammenwirken voneinander unabhängiger Stimmen hörbar zu machen, ist Christoph Schlüren der rechte Mann. Die Konzerte, die er in den letzten Jahren gegeben hat, sind sämtlich Feste der Polyphonie gewesen. Wie sehr er sich in die Struktur der Werke vertieft hat, zeigte sich in Lehrberg nicht nur an den Aufführungen selbst, sondern auch bei dem Einführungsvortrag, den er vor dem Konzert hielt. Mit knappen, auf den Punkt gebrachten Sätzen umriss er die Thematik des polyphonen Hörens im Allgemeinen und ging dann auf die besonderen Merkmale der Kompositionen ein, wobei ihm zur Verdeutlichung des Gesagten die Stimmführer der Orchestergruppen zur Seite standen.

Polyphonie ist melodische Musik, entwickelt sich aus der Linie heraus. Im Konzert zeigte sich, wie intensiv sie erlebbar wird, wenn die Melodielinien nach den ihnen innewohnenden tonalen Verhältnissen entwickelt und gut artikuliert vorgetragen werden. Die Einleitung des Mendelssohnsschen Symphoniesatzes bereitete angemessen darauf vor: Da hörte man nicht ein bloßes Hintereinander punktierter Motive, sondern einen großen melodischen Verlauf, der kontinuierlich Spannung aufstaute, welche sich dann blitzartig im ersten Thema des Allegros in Bewegungsenergie verwandelte. In der damit beginnenden Doppelfuge, deren Ereignisfolge wesentliche Eigenschaften eines Sonatensatzes aufweist – eine völlig organische Verschmelzung klassischer und barocker Formungsprinzipien gelingt dem jugendlichen Komponisten hier! –, hörte man jeden Einsatz der Themen genau. Alle Stimmen verstanden sich darauf, deutlich das Wort zu ergreifen, wenn es verlangt wurde, und vereinten sich zu einem veritablen kontrapunktischen Sturmwind. Die Themenkombinationen wurden in ihrer Eigenschaft als Momente gesteigerter Aktivität trefflich erfasst, was gerade dem Schlussteil des Satzes zugutekam. Der Energie, mit der das Orchester zu Werke ging, entsprach seine Fertigkeit im Spiel. Die Brillanz, mit der die Musiker Mendelssohns rasantes Allegro meisterten, ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass man es hier mit einem höchsten technischen Ansprüchen genügenden Klangkörper zu tun hatte.

Schwarz-Schillings Motettensatz evoziert mit seinen subdominantischen Harmoniefolgen eine Stimmung der Introspektion und Rückschau. Aus dieser entsteht gleichsam ein vorbarocker Stil auf Grundlage einer dem frühen 20. Jahrhundert entstammenden Harmonik. Die Musiker lösten in dieser sehr ruhig und verhalten vorzutragenden Musik die Aufgabe, auf ihren Instrumenten zu „singen“ und einen vollen Chorklang zu erzeugen, aus welchem keine Stimme über Gebühr heraussticht, durchweg überzeugend.

Bruckners Streichquintett teilt mit den Symphonien seines Komponisten die expansive Anlage und weitgehend auch den formalen Grundriss. Der wesentliche Unterschied besteht darin, dass alle Themen des Quintetts aus dem Geiste der Streichinstrumente erfunden sind. Besonders fällt dies im Kopfsatz auf, dem lyrischsten und zartesten, den Bruckner geschrieben hat, und seinem einzigen, der im Dreiertakt steht. Nichtsdestoweniger verzichtet der Komponist auch in diesem Werk nicht auf großangelegte Steigerungen, lautstarke Höhepunkte und abrupte Wechsel zwischen forte und piano, sprich: auf prägende Stilmittel seiner symphonischen Tonsprache. Eine Darbietung des Quintetts als Symphonie für Streichorchester liegt nicht zuletzt deshalb nahe. Mit rund einer Stunde war Schlürens Aufführung die längste, die ich je von dem Werke hörte, aber sie war auch die spannungsreichste. Der Dirigent nahm sich die Zeit, die zahlreichen Schönheiten des Werkes präzise herauszuarbeiten. Das kontrapunktische Miteinander, namentlich Bruckners bevorzugtes Tonsatzmodell mit einer tragenden Stimme als Hintergrund, um die sich die anderen Stimmen ranken, wurde in all seinen Varianten erlebbar gemacht. Dabei behielt Schlüren immer den Überblick über den Verlauf der Musik, war sich an jeder Stelle sicher, wie er diesen Moment als Teil des Gesamtgeschehens darzustellen habe – eine Sicherheit, die sich hörbar auf die Musiker übertrug und ihnen ermöglichte, stimmige Rubati auszuführen, in denen der Grundpuls der Musik bei aller Freiheit im Tempo noch vernehmbar nachklang. So entfalteten die Violinen und Bratschen wunderbar ihre breit gezogenen, durch den Raum schwebenden Achtelfolgen zu Beginn der Durchführung im ersten Satz und führten in der ähnlich gestalteten Rückleitung zur Reprise ebenso sicher wieder ins Hauptzeitmaß zurück. Schlürens umsichtige Tempogestaltung kam besonders dem Finale zu gute, dessen Anfang und Schluss eine selten zu hörende melodische Geschlossenheit ausstrahlten und nicht, wie leider in zu vielen Aufführungen, übereilt wirkten – lebhaft bewegt muss nicht gehetzt heißen. Die ungewöhnliche Bogenform des Satzes erfasste Schlüren als ein allmähliches Vordringen zum Kern, nämlich dem wuchtigen Fugato in der Mitte, nach dessen beruhigtem Abklingen die Musik in umgekehrter Reihenfolge zum Ausgangspunkt zurückkehrt. Der gleiche Prozess einer Intensivierung mit anschließender Entspannung wurde im Scherzo deutlich gemacht, das sich ebenfalls in seiner Mitte verlangsamt. Zum Höhepunkt des ganzen Konzerts geriet das Adagio des Quintetts, das sich voll innerer Ruhe in großen Bögen entfaltete. Der Beschaffenheit dieser Bögen konnten die Zuhörer bis in die kleinsten Phrasen nachspüren: Man hörte genau, wie die Melodien die metrischen Schwerpunkte berührten, sich von ihnen lösten und sich sammelten, um auf die jeweils nächsten zuzusteuern. Der wahre Takt dieser Musik wurde vernehmlich: nicht das metronomische Klopfen, wohl aber das musikalische Atmen.

[Norbert Florian Schuck, August 2021]

Die Spannung genießend

Aldilà Records, ARCD 009 (Gramola CD 98009); EAN: 9 003643 980099

Auf der vorliegenden Doppel-CD widmen sich Christoph Schlüren und die Salzburg Chamber Soloists der Kunst der Fuge von Johann Sebastian Bach. Auf der ersten CD erklingen die Contrapuncti eins bis elf in der durch den Erstdruck definierten Abfolge sowie der unvollendet gebliebene Contrapunctus Nr. 14, der an der Stelle abbricht, wo Carl Philipp Emanuel Bach schrieb: „Über dieser Fuge, wo der Name BACH im Contrasubject angebracht worden, ist der Verfasser gestorben“. An Stelle einer Vollendung tritt das letzte Werk aus der Feder Bachs: der Choral „Vor deinen Thron tret‘ ich hiermit“. Die zweite CD birgt zunächst die beiden vierstimmigen Spiegelfugen, die als Contrapunctus zwölf zusammengefasst wurden, und dann drei Vollendungen der unvollendeten Quadrupelfuge (Contrapunctus 14), nämlich je eine von Karl Hermann Pillney, Donald Francis Tovey und Kalevi Aho. Dazwischen erklingen als kontrastierende Überleitungen die Orgelfuge g-Moll op. 60/3 von Schumann (arr. Dan Turcanu) und die „Studie über B-A-C-H“, das letzte Werk Reinhard Schwarz-Schillings.

Um kaum ein Werk der Musikgeschichte kreisen so viele Mythen wie um die Kunst der Fuge von Johann Sebastian Bach. Nicht nur, dass es das früheste Werk war, das unvollendet und ohne den Versuch einer Schlussfindung abgedruckt wurde, auch die mystifizierenden, nicht zutreffenden Zeilen seines Sohns Carl Philipp Emanuel trugen dazu bei, der Musik transzendentale Bedeutung zu verleihen: „Über dieser Fuge, wo der Name BACH im Contrasubject angebracht worden, ist der Verfasser gestorben“. Die fehlende Instrumentierungsbezeichnung gibt ebenso Rätsel auf: Handelt es sich um ein Werk für ein Tasteninstrument (wie die ebenfalls nicht bezeichneten „Fiori Musicali“ von Frescobaldi, die Bach intensiv studiert hat) oder doch für Streicher oder ein anderes homogen zusammenklingendes Ensemble? Fakt ist, dass diese Musik den Menschen zeitlos bewegt, berührt oder gar aufrüttelt. So schrieb beispielsweise Glenn Gould, „dass sich darin Momente finden, die für mich alles andere übertreffen, was Bach geschrieben hat. Mir fällt wirklich keine andere Musik ein, die mich tiefer bewegt hätte als diese letzte Fuge.“ So verwundert all das Überhöhen, Vergeistigen nicht, ebenso nicht die bis heute ungebrochene Tradition der wüstesten Theorien und Gedankengänge – dafür auch nicht die mittlerweile dutzendfachen Versuche einer Vollendung der letzten Fuge. Begonnen hat dies bereits kurz nach der Wiederentdeckung der Kunst der Fuge durch Wolfgang Graeser, dem es vor seinem frühen Suizid mit nur 22 Jahren gelang, eine umfassende Renaissance des Werks in die Wege zu leiten. Die ersten Ergänzungen als Quadrupelfuge (zuvor wurde sie, schon seit Johann Mattheson, mehrfach als Tripelfuge behandelt und zu einem Ende geführt) schrieben Hugo Riemann, der durch die Ungelenkheit seiner Arbeit stark in die Kritik rückte, Ferruccio Busoni, der sie in eine chromatische Fantasie wandelte, und schließlich 1931 Donald Francis Tovey, der die erste brauchbare und zugleich nahe am Stil Bachs orientierte Vollendung schuf, die bis heute gelten darf – sie wurde auf dieser CD eingespielt, durch Dan Turcanu eingerichtet mit subtiler Hinzunahme des Kontrabasses. 1937 folgte Karl Hermann Pillney, ein Schüler Regers und wahres Stil-Chamäleon, der mit tiefer Sympathie – bei Bedarf aber auch mit subtilem Witz – nicht nur in die Welt Bachs eintauchte, sondern gar ganze Variationswerke mit unterschiedlichen Stilimitaten füllte. Manche seiner Bearbeitungen können von einem Original nicht unterschieden werden, in der Vollendung dieser Quadrupelfuge allerdings greift er mehr als Tovey auf zeitgenössische Techniken der Reger-Schule und der Liszt-Tradition zurück. Doch stellt er sie anders als Busoni vollkommen in den Dienst der Fuge und unterstreicht damit bloß die enorme Dichte des Werks, die er noch weiter zu steigern vermag hin zu einem expansiven Höhepunkt. Nun macht Christoph Schlüren einen Sprung in die Gegenwart und fügt noch die Vollendung des finnischen Meisters Kalevi Aho hinzu, die Schlürens Aussage nach alle vorherigen seit Pillney überbiete. Zunächst mag die Streicherfassung verwundern, da die Stimmen stellenweise zunächst in den ersten Geigen, beim Finale im ganzen Orchester oktavweise gedoppelt werden (durch divisi der einzelnen Stimmen). Beim genaueren Hinhören erkennt man schnell die Intention: Aho schrieb seine Vollendung für eine Wiedergabe auf der Orgel, wo Oktavierungen durch Registermixturen üblich sind. Und indem es Christoph Schlüren gelingt, sein Streichorchester klanglich in eine gewaltige mehrstimmige Orgel zu verwandeln, geht der Kern und die Sinnhaftigkeit der Komplettierung auch in diese Fassung über.

Zwischen den Vollendungen erklingen Schumanns Orgelfuge über B-A-C-H, für Streichorchester gesetzt vom bereits erwähnten Rumänen Dan Turcanu, selbst übrigens ein vielseitig talentierter, tief erspürender Komponist. (Bislang schenkte er vor allem der Violine und dem Klavier substanzgeladene Werke, schrieb nun aber erste Orchesterwerke, die noch auf eine Aufführung warten. Einen Namen machte sich Turcanu besonders als Arrangeur, so bearbeitet er beispielsweise das gesamte Wohltemperierte Klavier für Geige solo.) Das zweite Interludium bildet Reinhard Schwarz-Schillings „Studie über B-A-C-H“, die bei Aldilà Records bereits in der Klavierversion erschien, eingespielt von Hugo Schuler: Die Studie ist Schwarz-Schillings letztes Werk, das in knapper Form diese berühmte Namensformel in die Gegenwart katapultiert und in einem modernen Stil kontrapunktisch durchführt: ein wahres Kleinod eines zu entdeckenden Großmeisters.

Auf dieser CD treffen zwei Künstler aufeinander, die ich zutiefst schätze und verehre: Der Dirigent Christoph Schlüren, einer der wenigen Schüler Celibidaches, der seine Lehren verstanden hat und sie klanglich umzusetzen weiß – als Lehrer und Mentor trieb er seine Schüler zu unerreichten Höchstleitungen, die Referenz bilden: so bei unter anderem Ottavia Maria Maceratini, Rebekka Hartmann, Hugo Schuler und Lucas Brunnert; nun hören wir ihn selbst am Pult. Und Lavard Skou Larsen, der brasilianische Nonchalance mit europäischer Präzision eint und als Violinvirtuose wie als Dirigent (ausgebildet u.a. bei Sándor Végh) tiefgreifende, erlebte wie auch reflektierte Darbietungen schafft – oftmals gemeinsam mit den hier zu hörenden Salzburg Chamber Soloists, eine kleine Formation erstklassiger Musiker, die jeder für sich als Orchestersolisten in Erscheinung treten können.

Beim klanglichen Resultat dieses Zusammentreffens bleiben keine Wünsche offen. Wer natürlich eine opulent überwältigende und romantisierend aufwühlende Darbietung erwartet, wird freilich enttäuscht, doch geht es bei Bach nicht um das. Asketisch stellen sich Christoph Schlüren und die Salzburg Chamber Soloists in den Dienst von Bach und setzen diese Musik auf die innigst nur vorstellbare Weise um. Mit klarem, offenem Klang begegnen die Musiker der Kunst der Fuge, formen aus dem stets gleichen Kern jeweils vollkommen andere Existenzen. Dies geschieht vollständig ohne Effekt oder aufbegehrende Geste. Christoph Schlüren ist ein Meister der innermusikalischen Spannungsverhältnisse: wie kein anderer kann er die spannungsträchtige Dichte in Bachs Musik aufrechterhalten, sofern die Musik es verlangt, und modelliert so eine klare Kontur des Verlaufs dieser Musik, die harmonisch wie melodisch nachvollziehbar wird. Die Stimmen entstehen in ihrer Eigenständigkeit plastisch vor uns und setzen sich so stimmig wie lückenlos zusammen. Stellenweise wirken lediglich die hohen Streicher etwas dissoziiert vom restlichen Geschehen, wobei dies auch einfach an der Aufnahme liegen könnte. Die Musik selbst wird der Impetus für das gesamte Spiel, sie läuft scheinbar von selbst, ohne äußeren Anstoß zu benötigen oder irgendwo zu stocken. Hier wird der Ausspruch des schwedischen Komponisten Anders Eliasson fühlbar, Bachs Musik sei im ständigen und unaufhaltsamen Fluss, wie H2O: Harmonie, Melodie und Rhythmus.

[Oliver Fraenzke, Juni 2020]

Die Kunst der Fuge in Salzburg

Orchesterkonzert: Salzburg, 25. Oktober 2019, Salzburg Chamber Soloists, Christoph Schlüren

Wer sich am 25. Oktober 2019 im Odeion des Salzburger Waldorfcampus eingefunden hatte, hatte das Glück, einer außergewöhnlichen Demonstration kammerorchestralen Musizierens beiwohnen zu können. Die Salzburg Chamber Soloists, jeweils fünf erste und zweite Violinen (darunter der Konzertmeister Lavard Skou Larsen), vier Bratschen, drei Violoncelli und ein Kontrabaß, spielten unter der Leitung von Christoph Schlüren Die Kunst der Fuge von Johann Sebastian Bach. Man verzichtete auf ein Arrangement der Kanons und präsentierte Contrapunctus XIV zweimal: am Ende der ersten Konzerthälfte, nach den Contrapuncti I–XI, in der von Bach unvollendet hinterlassenen Gestalt, der sich jener Choral anschloss, mit welchem die Herausgeber des Erstdrucks ihr Publikum „schadlos halten“ wollten; zum zweiten Male, am Ende des Konzerts, mit der sehr geglückten Ergänzung des finnischen Symphonikers Kalevi Aho, die damit ihre österreichische Erstaufführung erlebte. Zuvor erklangen in der zweiten Konzerthälfte nach den Spiegelfugen zwei im wahrsten Sinne des Wortes auf Bach bezogene Stücke aus späterer Zeit: Robert Schumanns Fuge über BACH op. 60/3, für Streichorchester transkribiert von Dan Țurcanu, und Reinhard Schwarz-Schillings Studie über BACH für drei Stimmen, das letzte Werk dieses Komponisten polyphoner Meisterstücke, dessen gesamtes Schaffen im Grunde eine große Hommage an Bach darstellt.

Ein ganzes Konzert mit Stücken, in denen jeder Musiker in regelmäßigen Abständen das Hauptthema zu spielen hat und auch die Übersicht behalten muss, wenn gerade „nur“ ein Kontrapunkt in der Stimme steht, ist für ein Orchester eine besondere Herausforderung. Die  Salzburg Chamber Soloists haben es bei der Bewältigung dieser Aufgabe nicht an Einsatzbereitschaft und Begeisterung fehlen lassen und folgten hochkonzentriert den Vorgaben ihres Dirigenten.

Schlürens Präsentation der Werke lebte vor allem von der sorgfältigen Artikulation jeder Stimme. Kein Themeneinsatz ging im Gesamtklang unter, die kontrapunktischen Verflechtungen wurden fein abgestuft nach dem Gewicht dargeboten, das den beteiligten Stimmen im jeweiligen Moment zukam, sodass die Interaktion der Instrumentengruppen trefflich zur Wirkung gelangte. Mit seinem feinen Gespür für Bachs Formung der musikalischen Verläufe aus dem Gegeneinander der melodischen Linien legte der Dirigent vorbildlich bloß, wie einfalls- und abwechslungsreich diese Sammlung aus Stücken in d-Moll ist, die alle über das gleiche Thema geschrieben sind. So wurde der Abend zu einem Triumph der Bachschen Kompositionskunst.

Das Konzert wurde mitgeschnitten und man kann nur wünschen, dass die geplante Veröffentlichung auf CD bald folgen möge.

[Norbert Florian Schuck, November 2019]

Die Kunst der „Kunst der Fuge“

Freitag, 25. Oktober 2019 in Salzburg, Campus der Rudolf Steiner-Schule, Dorothea Porsche Saal – Konzert „Kunst der Fuge“ ; Christoph Schlüren, Dirigent; Salzburg Chamber Soloists (Leitung: Lavard Skou-Larsen); Werke von Bach, Schwarz-Schilling, Schumann und Aho

Johann Sebastian Bach: Die Kunst der Fuge – Contrapunctus I – XI; Finale, Quadrupelfuge, unvollendet; Choral, Vor Deinen Thron trete ich hiermit; Spiegelungen I und II a 4; Robert Schumann (1810-1856) Orgelfuge g-Moll über BACH Op.60/3 a 4 2019 transkribiert von Dan Turcanu; Reinhard Schwarz-Schilling (1904-1985) Studie über BACH a 3; Finale Quadrupelfuge, 2012 vollendet von Kalevi Aho (geb.1949)

Er ist und bleibt das A&O der Musik, Johann Sebastian Bach. Das ist die ganz einfache (?) Feststellung nach dem gestrigen Konzert im Dorothea Porsche Saal im Salzburger Odeion.

Nach einer Einführung mit dem Dirigenten des Abends, Christoph Schlüren, begann um 19 Uhr mit dem Contrapunctus 1 ein Abend der überwältigenden Musik. Die Salzburger Chamber Soloists mit ihrem Konzertmeister Lavard Skou-Larsen musizierten unter der Leitung des Münchener Dirigenten Christoph Schlüren ein intensives Programm mit ausgewählten Stücken aus dem letzten Meisterwerk Bachs, der „Kunst der Fuge“. Und was für eine Kunst sich da entfaltetete! Immer neue und unvermutete Aspekte des Eingangs-Themas wurden aufgeblättert und im Entstehen aus der Taufe gehoben. Geleitet vom gelassenen und dennoch energischen Dirigieren wurde dieser Riesen-Kosmos aus Klängen, Rhythmen, Harmonien und Stimmführungen von den mit intensivstem geistig-seelisch-musikalisch spielenden Musikerinnen und Musikern zum hörgewaltigen Erleben. Was waren in den vertracktesten Kombinationen, den ausgefeiltesten Zusammenklängen, den kraftvollsten Durchdringungen der einzelnen Stimmen für Offenbarungen vor unsere Ohren, Augen und Herzen gestellt.

Alle 11 Contapuncti – jeder einzelne eine eigene Welt – offenbarten nicht nur die unglaubliche und immer wieder aufs Neue faszinierende Meisterschaft des „Alten Bach“, sie gaben im zweiten Teil auch den Nährboden für zwei Kompositionen von  Robert Schumann und Reinhard Schwarz-Schilling und regten eben auch den finnischen Komponisten Kalevi Aho 2012  zu der Vollendung der letzten Fuge an. Welche Steigerung auch oder gerade heute möglich ist, zeigte dieser Komponist und mit ihm die auf allerhöchstem Niveau Spielenden. Die schier bis zu einer unmöglich scheinenden Ausbreitung der Kontrapunktik und der musikalischen Energie ließ einen denkwürdigen Abend ausklingen, der sicher zum allertiefsten gehört, was ich bisher in meinem Leben erleben durfte.

Dank an alle Beteiligten für diesen Abend!

[Ulrich Hermann, Oktober 2019]

Verborgenes in ungeahntem Glanz

Am 5. März 2017 dirigiert Christoph Schlüren im Zeughaus Neuss die Deutschen Kammerakademie Neuss am Rhein mit den Aquarelles op. 43 von John Foulds, eine von ihm und Lucian Beschiu erstellte Streicherfassung von Anders Eliassons Klavierstück Carosello (Disegno no. 3) und Paul Büttners Streichersymphonie nach dem Streichquartett g-Moll. Zudem ist Beethovens drittes Klavierkonzert mit der Pianistin Beth Levin, die ihr Deutschland-Debut als Orchestersolistin gibt.

Es sind Namen, die nicht alltäglich auf den Programmen zu finden sind: John Foulds, Anders Eliasson und Paul Büttner. Gleich drei vergessene oder nie wirklich etablierte Komponisten aus unterschiedlichsten Traditionen und Epochen eint das heutige Programm im Zeughaus Neuss, zusammen mit dem deutschen Orchester-Debut der amerikanischen Pianistin Beth Levin, deren CDs allesamt selten erreichte Qualität repräsentieren, gleich vier Gründe für diese weite Reise von München aus. Es haben sich die richtigen Musiker gefunden für diesen Abend mit der Deutschen Kammerakademie Neuss am Rhein, welche unter ihrem Chefdirigenten Lavard Skou Larsen bereits unzählige missachtete Komponisten auf die große Bühne gebracht haben (diese Saison unter anderem Bernard Stevens, Szymon Laks, Florent Schmitt, Nicolas Flagello und Peter Seabourne), und Christoph Schlüren, dessen zielgerichteter Einsatz für Randrepertoire eine beachtliche Zahl substanzieller Komponisten dem endgültigen Vergessen entreißt.

Nicht nur, dass diese Gegenströmung zu unserer heutigen Verengung des Konzertrepertoires auf immer weniger Standardwerke zu würdigen und zu unterstützen ist, nein auch die dahinter steckende musikalische Erschließung und die Qualität des Konzertvortrags sind überragend.

Die wahrscheinlich größte und erfolgreichste der bisherigen Entdeckungen Christoph Schlürens ist John Herbert Foulds, der um die Wende zum 20. Jahrhundert als Individualist wirkte und verschiedenste Einflüsse mit englischer Volksmusik und indischem Raga kombinierte. Eine Vielzahl an Aufführungen und Einspielungen von Foulds’ Musik sind Schlüren zu verdanken, ebenso die von Lucian Beschiu übernommene Urtextedition in einer bei der Musikproduktion Höflich München erschienene Edition von Foulds’ Werken. Das Programm beginnt mit seinen Aquarelles (Music-Pictures Group II) op. 32, die eigentlich für Streichquartett gesetzt sind. Sunny & Amiable (not frivolous) ist das erste der Stücke, „In Provence. Refrain Rococo“ überschrieben, ein aufgeweckt-heiterer Satz mit herrlicher Melodieführung und ausgewogenem Verhältnis an Gegenstimmen. „The Waters of Babylon“ von 1905 ist das Herzstück der Aquarelles, ein getragener Satz von unvorstellbarer Schönheit, gerade wenn die Wasserspiegelungen durch reflektierende Außenstimmen so bildhaft dargestellt werden, zwischen welchen die Mittelstimmen „not too clearly articulated“ rhythmisch entgegenwirken. In diesem Satz erscheinen auch Vierteltöne von unfehlbarer Wirkung, als würde der Boden wegfallen. Das Finale „Arden Glade. English Tune with Burden“ existiert auch in Klavierfassung, ein heiter springendes Stück, welches Schlüren später noch einmal als Zugabe dirigierte. Klare Tempovorstellungen und Bewusstsein über jede einzelne Stimme und deren Zusammenwirken prägen Dirigat und Spiel. Die Musiker haben Freude an der Musik und das ist unverkennbar, sie können selbst mit dieser nicht bekannten Musik sogleich mitreißen und überzeugen.

Mit leidenschaftlicher Inbrunst begegnet Beth Levin dem dritten Klavierkonzert Ludwig van Beethovens. Sie legt alles in ihren Part, körperlich, intellektuell und emotional ist sie voll beteiligt. Das klangliche Resultat ist überwältigend, selten wirkte Beethoven so unmittelbar, energiegeladen und leidenschaftlich wie am heutigen Tag. Im ersten Satz ist endlich auch einmal die linke Hand ein lebendiger und vollwertiger Widerpart, der zweite Satz ist von unerhörter Getragenheit und klanglicher Auskostung, und das Finale sprudelt so siegreich und enthusiastisch, dass es gar nicht unberührt lassen kann. Das Orchester hat die schwierige Aufgabe hierbei, in der kleinen Streicherbesetzung (die Streicherfassung ist von Vinzenz Lachner) dem großen Steinway standzuhalten und zudem die schwierige Raumakustik auszugleichen – was mit Bravour und einigen dynamischen (für den Hörer Gewinn bringenden) Tricks gelingt.

Als ein Musiker, der sich allen Schubladen und Einordnungen entzog, kann Anders Eliasson bezeichnet werden. Er schuf ein eigenes tonales System, wirkte nach einzigartigen Regeln und hörte auf die Töne selbst, denen er beim Komponieren folgte, sich als Persönlichkeit nach Möglichkeit heraushielt. So entstanden freie und doch stringente Formen im ständigen Fluss – wie er sagte: Musik sei wie H2O, fließend, das habe er „bei Bach“ gelernt. Ein ständiges Voranschreiten und Weiterentwickeln ist auch das Grundprinzip des Disegno no. 3 mit dem Titel Carosello, von Christoph Schlüren und Lucian Beschiu aus der Klavierfassung für Streicher gesetzt. Das Publikum ist für solch eigenwillige Musik erstaunlich aufmerksam und gespannt, nur wenige werden unruhig und eine Person verlässt für die letzten drei Minuten des Werks gar den Raum, eine unnötig störende Geste der Missachtung. Diesen Wenigen sei nachdrücklich geraten, wirklich aktiv zuzuhören und die weichgezeichneten Hörgewohnheiten zu überdenken, denn nur so lässt sich Neues, Ungewöhnliches entdecken. Eben solches wie Eliasson, dessen Harmoniefolgen von so überirdischer Durchschlagskraft sind, dessen Melodien eine ewige Metamorphose durchleben – dessen Musik einen Moment der Unaufmerksamkeit nicht verträgt, und die so tief- und abgründig ist, dass sie ihre Wirkung bei gutem Zuhören eigentlich überhaupt nicht verfehlen kann. Die Streicherfassung des komplexen Carosello wird kongenial aus der Taufe gehoben, die Einzelstimmen sind total aufeinander abgestimmt und der Fluss ist so natürlich und organisch, als wäre es eine Improvisation.

Zurück ins frühe 20. Jahrhundert führt Paul Büttner, der wichtigste Schüler von Felix Draeseke, noch mehr als sein Lehrer aus den Konzertprogrammen verschwunden. Die zu hörende Streicher-Symphonie (nach dem Streichquartett g-Moll) entstammt der Hochzeit des Komponisten, wenige Jahre zuvor entdeckte Arthur Nikisch – damals einer der angesehensten Dirigenten überhaupt – seine dritte Symphonie und Büttner „boomte“. Es entstand neben anderem die vierte Symphonie, die erste Violinsonate und eben besagtes Streichquartett von 1916, allesamt substanzielle Werke in profiliertestem Stil. Der Ruhm hielt nur kurz, spätestens durch die aufsteigenden Nationalsozialisten wurde er aufgrund seiner jüdischen Ehefrau Eva aus den Sälen verbannt. Das Streichquartett zeugt von einem ganz eigenen und unverkennbaren Stil, der sich in die Tradition von Beethoven, Schubert, Bruckner, Brahms, Draeseke, aber auch Strauss und vielleicht etwas Wagner und Mahler eingliedert. Spannend ist seine formale Anlage aus drei Hauptstücken, die durch zwei Zwischenspiele (im übrigen nicht weniger gekonnt oder inspiriert) getrennt werden. Ein ähnliches Prinzip nutzte Büttner später für die in seinen letzten Jahren im Versteck komponierte zweiten Violinsonate, zwischen deren vier Hauptsätzen sich zwei „Auseinandersetzungen“ einfügen. Nun darf das Orchester mehr noch als bei bei Beethoven unter Beweis stellen, auch symphonische Ausmaße formal zu überblicken und als Einheit darzustellen, was unter Christoph Schlüren mühelos gelingt. Die Korrelation der Phrasierung und der Dynamik ist einheitlich und schweißt zusammen, was zusammen gehört. Die Energie wird nicht frühzeitig überstrapaziert und bleibt auch nicht zu lange unten, sie folgt dem musikalischen Strom und passt sich diesem an. Von Willkür ist keine Spur und ebenso wenig von Verstaubtheit oder Trockenheit, die Musik wird aktualisiert und geschieht unmittelbar vor unseren Augen, als würde sie erst gerade entstehen. Unter den fließend weichen Bewegungen Christoph Schlürens, die aus der Körpermitte entspringen und sich in die Arme wie in Antennen fortsetzen, formt sich ein Klang von inniger Ruhe, Bewusstsein und Lebendigkeit – eine Liebeserklärung an die Musik.

[Oliver Fraenzke, März 2017]

Eduard Erdmann in Berlin

 

Der Berliner Kreis um Eduard Erdmann war Fokus des Symposiums „Im Zeiten-Getriebe“ der Eduard-Erdmann-Gesellschaft e. V. in Kooperation mit der Akademie der Künste in Berlin am 26. und 27. August 2016. In der Akademie am Hanseatenweg Berlin fanden an zwei Tagen Vorträge über Erdmann und einige seiner wichtigsten Berliner Zeitgenossen statt, an beiden Abenden gab es zudem Konzerte mit seiner Musik.

Der 1896 in Riga geborene Eduard Erdmann ist heute weitgehend in Vergessenheit geraten, weder werden seine großartigen Kompositionen gelegentlich gespielt, noch spricht man weiter von ihm als einem der größten Pianisten und Musiker des vergangenen Jahrhunderts. Bereits zu Lebzeiten galt er als einer der überragenden Pianisten aller Zeiten, er musizierte regelmäßig unter anderem vierhändig mit Walter Gieseking oder im Duo mit der Ausnahmegeigerin Alma Moodie, von deren laut Ohrenzeugen unvergleichlichem Spiel bedauerlicherweise kein Ton in Aufnahmen erhalten ist. Heinz Tiessen hatte in Erdmann seinen ersten bedeutenden und kreativsten Kompositionsschüler vor Sergiu Celibidache. Unmittelbares Erleben, intensivstes Erhören und ein unübertroffenes Gespür für die kadenzierenden Kräfte über lange Strecken prägten Erdmanns Spiel, was zumal in den späten Schubert-Sonaten zu vollendetem Ausdruck kommt. Die begnadet feinfühlige Pianisten Lucy Jarnach, Enkelin des Komponisten Philipp Jarnach (des Schülers von Busoni, engen Freundes von Erdmann und Lehrers von Kurt Weill), nannte Eduard Erdmann neben Arturo Benedetti Michelangeli und Dinu Lipatti als bedeutendsten Pianisten, von dem heute noch Aufnahmen erhalten sind – eine Trias, der zugestimmt werden kann. Doch auch als Komponist schuf Erdmann bedeutsame Werke. Gerade von der Dritten wird oft als einer der ganz großen Symphonien des 20. Jahrhunderts gesprochen – leider ist sie derzeit nur in einer schäbigen Aufnahme unter Israel Yinon erhältlich, der wohl nicht eine einzige Probe vor der Aufnahme ansetzte, und dem auch das Wissen um Phrasierung und Spannungsentwicklung vollständig fehlte. Neben Erdmanns vier Symphonien sind unter anderem noch die Monogramme, die Capricci, das Klavierkonzert sowie das Klavier-Konzertstück, das Ständchen für kleines Orchester (mit dem Titel war Erdmann später unglücklich, da er zu „harmlos“ klang für diese Musik), ein Streichquartett und die symphonisch angelegte Sonate für Violine Solo zu nennen.

Im Berliner Symposium „Im Zeiten-Getriebe“ der Eduard-Erdmann-Gesellschaft e. V. in Kooperation mit der Akademie der Künste ging es nicht um ausführliche biographische Details oder intensive Werkanalyse, hier wurde hauptsächlich gesprochen von dem großen Kreis, den Erdmann in Deutschlands Hauptstadt um sich hatte, über ihn und seine Lehrer, Freunde und Kammermusikpartner. So konnte ein umfassendes Bild der vielseitigen Persönlichkeit Erdmanns entstehen und der Hörer erfuhr Hintergründe und Aspekte des Lebens eines außerordentlichen Künstlers, die in dieser Ausführlichkeit der Zeitzeugenschaft selten sind. Seine unschätzbare Bibliothek, sein umfassendes Wissen quer durch alle Bereiche bis hin zu seinen familiären Umständen wurden thematisiert. Persönliche Begegnungen mit direkten Nachkommen Erdmanns und sogar noch mit ehemaligen Schülern und Freunden des 1958 Verstorbenen ergänzten dies in authentischer Weise.

Den Startschuss machten kurze Begrüßungen des Leiters der Akademie der Künste Werner Grünzweig, welcher eine konzentriert-informierende allgemeine Einführung in das Symposium gab, und dem Vorsitzenden der Eduard-Erdmann-Gesellschaft Horst Jordt, der die wundersame Welt der Irene Erdmann, der Gattin des Meisters, beleuchtete. Sie war ebenfalls eine Künstlerin von Rang – wenngleich sie ihre Gemälde nicht ausstellen ließ – und ermöglichte es überhaupt, dass ihr Mann sich so intensiv mit der Musik und seinen Büchern beschäftigen konnte, während sie die Aufgaben der Kindererziehung wie der Briefkorrespondenz übernahm – allgemein gesprochen, den konstanten Kontakt zur Außenwelt hielt. Eine allgemeine Einführung in das Symposium gab der zweite Vorsitzende Gerhard Gensch.

Den ersten großen Vortrag hielt Christoph Schlüren über „Symphonische Formung in freitonaler Linearität“, womit er das subtil-künstlerische Verhältnis zwischen Erdmann und seinem Lehrer Heinz Tiessen auf musikalisch-ästhetischer Ebene offenlegte. Schlüren sprengte sein Thema, erklärte als zentralen Punkt seines Beitrags auf bislang unerhörte Weise die Phänomene der sogenannten Dodekaphonie, welche er als rein theoretisch funktionierendes Konstrukt beschrieb, im Gegensatz zu der freitonalen Musik Erdmanns, Tiessens und anderer. Auch der Begriff „Atonalität“ wurde angesprochen und verworfen, da auch in der seriell komplexesten Tonorganisation Quintbeziehungen entstehen, die für kurze Zeit tonale Zentren schaffen, welche nur – ebenso wie auch bei Regers kaum durchdringbar mäanderndem Dauer-Modulieren auf engstem Raum – stets schnell wieder entgleiten. Anhand von sechs Tönen Erdmann-Musik ließ er Spannungsverhältnisse verstehen und miterleben. Der Vortrag Schlürens war zweifelsohne für Fachpublikum mit Vorkenntnissen ausgelegt und einige anwesende Nichtmusiker dürften von dem geballten Inhalt eher verschreckt worden sein. Doch wer über allgemeines Wissen über essenzielle musikalische Grundlagen verfügt und sich auch der eigenwilligen, dem „Mainstream“ diametral entgegengesetzten Ansicht ohne Insistieren auf konventionellen Akademismus öffnen konnte, durfte hier eine faszinierende Welt entdecken und einen heute kaum begangenen Weg mit-erkunden, Musik zu verstehen und aus den subtilen Spannungsverhältnissen heraus zu hören und zu erleben. Hier wird ein neuer, wenngleich absolut natürlicher Zugang zur Musik gebahnt, der ununterbrochen aktive Wahrnehmung erfordert, den Hörer dadurch aber unweigerlich belohnt. Es entsteht ein Verständnis von der Musik, die sich von Mechanisierungen löst, jede Tonkombination und somit jede Phrasierung wird einzigartig und muss für sich individuell erspürt werden. Und dies wurde hier erklärt anhand von Beispielen von Tiessen und Erdmann – und wer aktiv mitging, wird die Beziehung der Komponisten intensiver begriffen haben als es ein rein biographisch arbeitender Vortrag je auch nur ansatzweise es hätte vermitteln können.

Volker Scherliess hätte über die Beziehung zwischen Eduard Erdmann und Artur Schnabel sprechen sollen, doch erkrankte er und musste Werner Grünzweig seinen Text „Hüten Sie sich vor Geschicklichkeit!“ anvertrauen, der sich auf eine Warnung Schnabels an seinen Schüler Erdmann bezieht. Auf umfassender Quellenlage beruhend beschrieb Scherliess – durch Grünzweig eindringlich vorgetragen – auch private Aspekte des freundschaftlichen Lehrer-Schüler-Verhältnisses und lieferte ein detailreiches Bild vom Zusammenwirken zweier großartiger Pianisten bis hin zu Erdmanns teilweiser Aufführung von Schnabels als Jugendsünde abgestempeltem und nicht zur Aufführung gedachtem Klavierkonzert unter Pseudonym eines unbekannten Komponisten.

Der zweite Symposiumstag wurde eingeläutet von einer kurzen Einführung durch Manfred Schlösser, welcher trotz vollständiger Ertaubung auf unwahrscheinlich eloquente Art in das von ihm gemeinsam mit dem bereits verstorbenen Christof Bitter herausgegebene Buch „Begegnungen mit Eduard Erdmann“ einging und einige besondere Passagen herausfischte. Es war zutiefst beeindruckend, wie Schlösser trotz des Handicaps nicht nur stringent und charmant vortrug, sondern durchgehend präsent war, die Beiträge der anderen mitlesend und via Diktier-App kommunizierend. Hier stand eine Legende der Erdmann-Forschung vor uns, dessen Buch mit substanziellen Beiträgen aus Erdmanns Umfeld weit mehr als ein Must Have für jeden ist, der sich mit der Person oder dem Künstler Erdmann beschäftigen will. Dies ist wirklich eines der schönsten, vielseitigsten und umfassendsten Bücher der gesamten Musikliteratur (sowie Leitquelle für die meisten gehaltenen Vorträge), eine Besprechung wird in Bälde auf The New Listener erscheinen.

Dem folgte ein Vortrag über den „eigenwilligen Trabanten“ Hans Jürgen von der Wense, der nach seinem Umzug nach Berlin 1920 gerade mit Erdmann und Krenek eine intensive Freundschaft pflegte. Von der Wense darf schlichtweg als Universalgelehrter gelten, er war neben seinen schriftstellerischen Fähigkeiten ein ambitionierter Komponist und Übersetzer aus allen möglichen Sprachen, von welchen er Dutzende beherrschte, zudem war er leidenschaftlicher Pilot und Wetterkundler. Reiner Niehoff (ausnahmsweise ohne Mitwirkung seiner Frau Valeska Bertoncini) brachte den Hörern das ungewöhnliche Leben von der Wenses, seine unverwechselbaren Eigenheiten und seine Verbindung zu Erdmann auf humorvolle und sympathische Weise näher – das Publikum war gebannt von seinen humoristisch-legeren und zugleich sachlich-informativen Ausführungen.

Zugegebenerweise verstehe ich nicht, warum es in diesem Rahmen einen Vortrag über den expressionistischen Maler George Grosz gab, stand er doch vermutlich – obgleich sie Zeitgenossen waren und in der selben Stadt lebten – nie in Kontakt mit Eduard Erdmann, doch hat auch Birgit Möckels Beitrag über ihn das facettenreiche Bild über Erdmann um einen weiteren wichtigen Zeitgenossen bereichert, dessen Kunst das Zeitgeschehen der Weimarer Republik auf einmalige Weise portraitierte.

Anhand des Briefwechsels zwischen Artur und Therese Schnabels eröffnete Julia Glänzel den Zuhörern persönliche Beobachtungen über Eduard Erdmann als Mensch und als Künstler, gab private und nicht für die Öffentlichkeit bestimmte Aussagen preis über einzelne Konzerte oder allgemein über die nachlässige äußerliche Erscheinung Erdmanns, dem beispielsweise sein Kleidungsstil vollkommen egal war, was wohl immer wieder für Befremdlichkeiten sorgte. Ergänzend zu den Berichten von und über Artur Schnabel spielte die ausgezeichnete Geigerin Judith Ingolfsson Ausschnitte aus der riesenhaften Soloviolinsonate Artur Schnabels.

Der letzte Beitrag beschäftigte sich mit Eduard Erdmanns Geigenpartnerin Alma Moodie, die als Wunderkind schon in frühestem Alter Max Reger begegnete und Carl Flesch vorspielte, dessen Schülerin sie später werden sollte. Ihr Spiel, von dem keine Aufnahmen erhalten sind, wurde anhand von Pressestimmen beschrieben, und die Referentin Birgit Saak betrachtete auch das Repertoire von ihr und Erdmann, welches sie in ihren beiden Phasen kammermusikalischer Kooperation (unterbrochen durch Erdmanns Umzug nach Köln und die Schwangerschaft der früh verstorbenen Violinistin) einstudierten.

Beide Symposiumstage wurden abgerundet von Konzerten, die zum großen Teil dem Komponisten Eduard Erdmann gewidmet waren. Am Freitag spielte Vladimir Stoupel am Klavier mit den Sängern Anna Gütter, Dirk Mestmacher und Jiří Rajniš Auszüge aus der Fragment gebliebenen Operette „Die entsprungene Insel“ op. 14. Trotz abstrusem Handlungsplot und einem eher weniger gelungenen Libretto schuf Erdmann hier Musik von großer Güteklasse, die Klavierstimme lässt eine geistreiche Instrumentation erahnen, und die Sänger fliegen in feingliedrigen Melodien von einzigartigem Charme. Stoupel ist ein Meister darin, kleine Ungenauigkeiten unauffällig zu kaschieren. Die Sänger leitete er verständlich an, und so gelang es, die fragmentarische Aufführung zu einem lohnenden Erlebnis werden zu lassen. Beeindruckend war die sängerische Leistung, die ungeachtet der Begleitung durchgehend ansprechend war. Am Samstag spielte Stoupel mit seiner Frau Judith Ingolfsson die Violinsonate von Heinz Tiessen und die Kreuzersonate Beethovens, die Geigerin spielte alleine die hochkomplexe und fast nie gespielte Soloviolinsonate Erdmanns, deren Intervallverhältnisse so schwierig auszuhören sind, dass bereits einige renommierte Solisten nichts mit ihr anzufangen wussten und sie aus oberflächlichem Unverständnis ablehnten.

Zweifelsohne lernte das Publikum sehr viel über den Pianisten, Komponisten und Menschen Eduard Erdmann, und wohl jeder ging bereichert aus diesem Symposium heraus. Ein weitreichendes Bild Erdmanns und seines Berliner Kreises wurde vermittelt aufgrund liebevoll detaillierter Beschreibungen. Sehr darf man sich auf den Symposiumsbericht mit allen Beiträgen freuen, um sie sich noch einmal genauer zu Gemüte führen zu können. Nächstes Jahr tagt die Erdmann-Gesellschaft in der lettischen Hauptstadt Riga, der Geburtsstadt des Komponisten und Pianisten – sicherlich ein guter Grund, dieser Stadt einen Besuch abzustatten!

[Oliver Fraenzke, August 2016]