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Ein Musizieren von edelster Art: Beth Levin spielt Mozart, Tiessen und Schubert in Wien

Am 22. März 2024 beendete Beth Levin mit einem Konzert im Bank Austria Salon des Alten Rathauses zu Wien ihre Mitteleuropa-Tournee, die sie am 12. des Monats nach Berlin und am 19. nach München geführt hatte (zum Berliner Konzert siehe den Bericht von Sara Blatt). Das Programm war in Wien dasselbe wie bei den Auftritten in Deutschland. Es begann mit Wolfgang Amadé Mozarts Sonate a-Moll KV 310 und endete mit Franz Schuberts Sonate G-Dur D 894. Ähnlich wie auf den Alben, die die Pianistin für Aldilà Records (Inward Voice, Hammerklavier live) und Navona Records (Personae, Bright Circle) eingespielt hat, kombinierte sie eine Repertoire-Erweiterung mit den beiden Klassikern. Allerdings handelte es sich dieses Mal – anders als bei den auf den genannten CDs zu hörenden Werken von Anders Eliasson und David Del Tredici – nicht um zeitgenössische Musik, sondern um ein lange verschollenes, erst vor kurzer Zeit wiederentdecktes Werk: Die Fünf Klavierstücke op. 21 von Heinz Tiessen entstanden 1915 und wurden im folgenden Jahr durch Tiessens Schüler Eduard Erdmann erstmals öffentlich gespielt. Was dann mit ihnen geschah, ist unklar. Wahrscheinlich verschwand das Manuskript durch unglückliche Umstände aus dem Gesichtskreis des Komponisten, sodass er annehmen musste, es sei verloren. Er vergab die Opuszahl 21 neu und wies sie dem Rondo G-Dur, der Orchesterfassung des Finales seines Amsel-Septetts op. 20, zu. Nur Die Amsel, das vierte Stück des ursprünglichen op. 21, tauchte noch einmal auf: 1923 erschien als Nr. 2 der Drei Klavierstücke op. 31 eine Neufassung, die sich so deutlich von der ursprünglichen Gestalt unterscheidet, dass man geneigt ist, eine Rekonstruktion aus dem Gedächtnis anzunehmen. Letztlich kamen die Klavierstücke op. 21 im Jahr 2019 wieder zum Vorschein. Der Sammler und Verleger Tobias Bröker hatte das Manuskript aus einem Nachlass erworben, es mit einem Notenschreibprogramm transkribiert und auf seiner Internet-Seite zum kostenlosen Herunterladen bereitgestellt.

Aufbauend auf der Harmonik des mittleren Richard Strauss und des frühen Arnold Schönberg fand Heinz Tiessen in den 1910er Jahren zu einem expressiven Kompositionsstil, der sich weitgehend abseits herkömmlicher Kadenzformeln bewegt, jedoch an der Tonalität als Zusammenhang stiftendem Grundgestaltungsmittel konsequent festhält. Die Klavierstücke op. 21 gehören zu den ersten Werken des Komponisten, in denen diese Ausdrucksweise zu voller Reife entwickelt erscheint. Hinter dem neutralen Titel verbirgt sich eine Satzfolge, deren einzelne Nummern durchaus als zusammengehörige Teile eines Ganzen erscheinen. Der erste Satz ist entsprechend als „Vorspiel“, der letzte als „Finale“ bezeichnet. Mit seinen wuchtigen Eingangs- und Schlussakkorden und den registerartigen Klangabstufungen wirkt das Vorspiel wie ein Orgelpräludium. Die an zweiter Stelle stehend Elegie und das ihr folgende Intermezzo sind bei langsamem Grundtempo von wellenartigen Bewegungen durchzogen. Die Harmonien flackern unruhig wie Mondlicht auf nächtlichem Meere. Anzunehmen, dass der gebürtige Königsberger Tiessen bei der Komposition dieser Stücke an die Ostsee dachte, erscheint nicht abwegig, da er in seiner kurz zuvor entstandenen Natur-Trilogie op. 18, einer dreisätzigen Tondichtung für Klavier, ganz ähnliche Stimmungen in Töne gefasst hat. Im vierten Stück, der bereits erwähnten Amsel, verarbeitet der Komponist originale Amselrufe zu einer schalkhaften, kapriziösen Musik, die sich deutlich von der Schwerblütigkeit der ersten drei Stücke abhebt. Das Finale ist der ausgedehnteste Satz des Werkes. Die Vortragsanweisung „Leidenschaftlich bewegt“ bedeutet nicht zwangsläufig „schnell“. Es ist kein agiles Finale nach Art klassischer Sonaten, sondern gleicht in seinem Duktus, wie auch im zweimaligen Wechsel emphatisch aufbrausender mit bedächtiger, ruhigerer Musik einer Rede in Tönen. Bekenntnishaft schließt sie im dreifachen Forte.

Eduard Erdmann hat einst das Klavier eine „unmögliche Maschine“ genannt, „zusammengesetzt aus Elfenbein, Holz, Filz, Draht und Stahl“, auf der „kein echtes Legato, kein Gesang“ möglich sei. Es gehört zu jenen Instrumenten, deren Klangerzeugung derjenigen der menschlichen Stimme am wenigsten verwandt ist. Mithin fordert es den Spieler durch seine Beschaffenheit dazu heraus, den Klang durch sein Spiel zu transzendieren, im wahrsten Sinne des Wortes „übersteigend“ zu musizieren. Die deklamatorische Melodik der Stücke Tiessens verlangt nach einen langem Atem, ihr orchestral anmutender Tonsatz nach einer feinen Abstufung der Tongebung. Um die Harmonik mit ihren alterierten Akkorden und abrupten Gegenüberstellungen entfernt verwandter Klänge adäquat darzustellen, braucht es einen wachen Sinn für tonale Beziehungen im Großen wie im Kleinen. Die Musik verlangt mithin nach Kantabilität, Farbigkeit und Spannung. Beth Levin ist definitiv die richtige Musikerin, den Stücken dazu zu verhelfen und ihnen neues Leben einzuhauchen.

Levins Spiel besitzt generell einen Zug ins Große, nicht nur hinsichtlich der tendenziell eher breiten Tempi, sondern auch im Bezug auf den Klangfarbenreichtum, den sie hervorzubringen in der Lage ist. Die „unmögliche Maschine“ verwandelt sich unter ihren Händen tatsächlich dergestalt, dass man von einem imaginären Orchester oder Chor sprechen möchte – und, mit Robert Schumann, von den Klavierstücken als „verschleierten Symphonien“. Es ist, als würde der mechanische Aspekt des Klavierspiels – das Ingangsetzen einer Hebel- und Hammerschlagapparatur durch das Drücken von Tasten – gänzlich aus dem Sinn geraten, als entstünde der Klang ganz direkt, wie aus einer menschlichen Kehle. Die Töne, die Beth Levin dem Klavier entlockt, haben die Präsenz scharf profilierter Charaktere, denen gegenüber man gar nicht anders kann als aufmerksam zu lauschen, gebannt von ihrer Persönlichkeit. So spielen heißt wahrlich auf dem Klavier singen!

Davon profitiert nicht nur das seit mehreren Generationen ungehörte Werk Tiessens. Auch Mozart und Schubert erklingen hier in einer Intensität, wie man sie selten zu hören bekommt. Mozarts a-Moll-Sonate entwickelt eine dämonische Energie sondergleichen, die alle Überlegungen, ob ein solches Spiel auch „historisch korrekt“ sei, gegenstandslos macht. Levin wirft die Frage, ob man sich in solch hemmende Gedanken begeben sollte oder nicht, gar nicht erst auf, sondern widmet sich hingebungsvoll der Darstellung der scharfen Kontraste, die das Stück durchziehen. Nicht weniger imponiert die tiefe Ruhe, aus der heraus sie Schuberts große G-Dur-Sonate sich entfalten lässt, um dann in der Durchführung des ersten Satzes ein zerklüftetes Hochgebirge aus Klängen zu errichten. Die abgründigen, tieftraurigen Seiten dieser Musik, verdeutlicht in abrupten Wechseln der harmonischen Richtung oder des Tongeschlechts, bringt sie trefflich zur Geltung, aber auch Schuberts musikantisches Element kommt nicht zu kurz. Im Finale der Sonate hört man gelegentlich die Gitarre durch, andere Abschnitte dieses Satzes klingen durch fein gegeneinander abgesetzte Außen- und Mittelstimmen wie Kammermusik.

Levins Tempi mögen verhältnismäßig langsam sein, aber es handelt sich nicht um Langsamkeit um der Langsamkeit willen, sondern um kluge Disposition: Die Pianistin will nach Möglichkeit alle klingenden Phänomene zur Geltung bringen und lässt sich folglich etwas mehr Zeit. Man merkt: Jeder einzelne Moment im Verlauf einer Komposition ist ihr wichtig, nichts soll unterbelichtet bleiben, alles genau so dargestellt werden, wie es seiner Funktion im Zusammenhang des Ganzen entspricht. Die Versenkung in die Feinheiten der Musik führt mitunter zu deutlich spürbaren Temposchwankungen. Aber auch diese wirken nicht willkürlich, sondern entstehen durch intensives Erleben der Harmonik während des Spiels. Levin musiziert mit einem Wagemut, der an Wilhelm Furtwängler erinnert – auch er ein Musiker, der sich vom Moment mitreißen lassen konnte und doch stets die Übersicht behielt. Wie im Falle des großen Dirigenten haben Beth Levins Beschleunigungen und Verlangsamungen immer ihre Grundlage in der musikalischen Struktur. Stets weiß die Pianistin, wohin sie will, welche Richtung die Musik nimmt. Alles folgt aufeinander in bezwingender Logik. Darum sind ihre breiten Tempi auch viel spannungsvoller als die rascheren mancher ihrer Kollegen. Zu ihrer Dynamik ist noch hinzuzufügen, dass sie laute Stellen wirklich liebt, denn diese klingen bei ihr nie grobschlächtig lärmend. Im Gegenteil wendet sie auf dieselben die gleiche Sorgfalt an wie auf die leisen, vernachlässigt auch bei höchster physischer Kraftentfaltung die Phrasierung nicht und lässt es selbst im härtesten Marcato nicht am Sinn für vokale Linearität fehlen. Gerade an solchen Stellen wird deutlich, dass wir es mit einem Musizieren von edelster Art zu tun haben.

Angesichts dieses Konzerts kann man nur hoffen, diese außergewöhnliche US-amerikanische Pianistin, eine der ganz großen Musikerinnen unserer Zeit, bald wieder einmal im deutschsprachigen Raum willkommen heißen zu können.

[Norbert Florian Schuck, März 2024]

Anmerkung (1. April 2024): Im Falle der Klavierstücke Tiessens spricht nichts dafür, dass der Komponist – wie der Herausgeber Tobias Bröker für möglich hält – das Opus zurückgezogen hätte. Tiessen hat selbst den unveröffentlichten Werken aus seiner Jugendzeit ihre Opuszahl belassen. Man kann also davon ausgehen, dass die Neubesetzung der Opuszahl 21 nicht aus freien Stücken, sondern aus einer Not heraus erfolgte: Nämlich, dass die Klavierstücke op. 21 für Tiessen unauffindbar waren und er nicht mehr damit rechnete, die im Werkverzeichnis klaffende Lücke durch den Fund des Manuskripts zu schließen. (N.F. Schuck)

Musik entfaltet endlich wieder ihren Sinn: Beth Levin mit der Erstaufführung von Heinz Tiessens Opus 21 nach über 100 Jahren

Am 12. März 2024 spielte Beth Levin in der Schwartz’schen Villa in Berlin Wolfgang Amadeus Mozarts Klaviersonate a-moll KV 310, die lange verschollenen Klavierstücke op. 21 von Heinz Tiessen und Franz Schuberts Klaviersonate G-Dur D 894 (op. 78).

Große (=bedeutende) Dinge können im kleinen Rahmen geschehen, ganz so, wie fortwährend kleine (=unbedeutende) Dinge im großen Rahmen ausgerichtet werden. Und das, wie alles andere auch, sagen wir nicht, wie der smarte Gesinnungsdemagoge Hebestreit, „unter uns“, sondern ganz grundsätzlich für alle. Es braucht den Mut zur unabhängigen Entscheidung, und nur, wer hier riskiert, kann das Unerwartete entfesseln.

So geschehen am Abend des 12. März im Salon der Schwartz’schen Villa in Berlin-Steglitz. Die längst legendäre US-amerikanische Pianistin Beth Levin, die freilich unter dem Radar der etablierten Konzerthäuser segelt, da sie eine allzu singuläre Individualität verkörpert, begann ihre kleine Tournee durch die deutschsprachigen Lande mit einem so eigentümlichen wie – rein musikalisch, nicht feuilletonistisch plakativ – schlüssigen Programm, das so viele Menschen anlockte, dass der wahrscheinlich selbst überraschte Veranstalter – das Kulturamt Steglitz-Zehlendorf – „full house“ vermelden durfte. Beth Levin spielte drei gewichtige Werke, zwei davon absolutes Kernrepertoire der Szene, eines absolut unbekannt: Wolfgang Amadeus Mozarts Klaviersonate in a-moll KV 310 (seine dramatischste, dunkelste Sonate) von 1778 zu Beginn, Franz Schuberts viertletzte Klaviersonate in G-Dur D 894 (op. 78 von 1826) mit ihren drei Pianissimo-Schlüssen zum Schluss. Dazwischen: die fünf Klavierstücke op. 21, komponiert spätestens 1915, von Heinz Tiessen (1887–1971). Zu letzterem Werk gab es einleitend eine aufschlussreiche Einführung, aus welcher hervorging, welch seltsames Schicksal dieses Werk erfuhr. Die fünf Stücke wurden 1915 von Eduard Erdmann (1896–1958), dem ersten ganz großen Schüler Tiessens und herausragenden deutsch-baltischen Pianisten und Komponisten des 20. Jahrhunderts, uraufgeführt und in der Folge noch mehrfach gespielt. Dann jedoch sind diese fünf Stücke entweder verloren gegangen oder Tiessen hat sie – als Gesamtheit höchst gelungener Einzelstücke maximal unwahrscheinlich – zurückgezogen; und Tiessen hat die so entstandene Lücke in seinem Werkverzeichnis später geschlossen, indem er die Opuszahl 21 an die Orchestration eines Rondos vergab. Mehr als ein Jahrhundert war es still geworden um das Werk, das auch in der einschlägigen Literatur keinerlei Erwähnung mehr fand, bis vor vielleicht drei Jahren der Privatgelehrte, Musikforscher und Herausgeber Tobias Bröker aus dem idyllisch entlegenen Botnang bei Stuttgart ein Tiessen-Konvolut aus dem Nachlass der einst berühmten Sopranistin Maria Schulz-Birch ersteigerte und völlig überrascht das Autograph des verschollenen Werkes in Händen hielt. Wie dies sein so gänzlich unkonventioneller wie altruistischer Brauch seit Beginn seiner verlegerischen Tätigkeit ist, setzte Bröker die Noten im MuseScore-Programm und stellte sie auf seiner im Sinne des Wortes wundervollen Website zum kostenlosen Download ins Netz. So also gelangte Beth Levin, die es stets liebte, avanciert Unbekanntes und bewährt Bekanntes in lebendigem Kontrast miteinander zu präsentieren, an diese Noten und machte sie – wie nun in Berlin zu hören – sich ganz zu eigen. Sie spielte am 12. März die erste Aufführung seit mehr als hundert Jahren, also die Premiere der neuen Epoche, von der noch kaum einer ahnt, wohin sie die Menschheit führen wird.

Die für den Leser wichtigste Nachricht ist, dass Beth Levins Berliner Mozart-Tiessen-Schubert-Programm im kommenden Jahr auch auf CD erscheinen soll (bei Aldilà Records). Und daher darf ich mich ganz legitim bei der Beschreibung der so komplexen wie erlebnismäßig unmittelbar zugänglichen, unbedingt eigenartigen Musik auf’s Minimum beschränken. Tiessens Musik der 1910er Jahre steht – ähnlich wie die des befreundeten, so früh im Krieg gefallenen Rudi Stephan – zwischen nachromantischer Tradition und expressionistischer Moderne, spiegelt einerseits die düsterer Imagination anheimgestellte Aufbruchsstimmung ins unbekannte Land der dissonanzfreudigen freien Tonalität mit ihrer linear-kontrapunktischen Kraft (bei Tiessen auf der faszinierenden Basis einer unglaublich virtuosen Beherrschung des harmonischen Raums, wo selbst in entferntesten Bereichen nie der bewusste Zusammenhang verloren geht), andererseits die subtile Formbalance der großen Meister seit Beginn der abendländischen Polyphonie – ein großer Komponist, den nur die nicht verstanden bzw. verstehen, die sehr eingeschränkten Überzeugungen dessen auf den Leim gegangen sind, was die zwanghaft verknüpfende Idee von einseitig wahrgenommenem Fortschritt (sogenannte Atonalität) und damit verbundener, scheinbarerer Signifikanz betrifft. Das wird, je weiter die Zeit voranschreitet und Verschollenes, Verdrängtes ans Licht kommt, immer peinlicher und enttarnt sich zusehends als der eigentliche Anachronismus einer momentan in rasantem Untergang befindlichen Epoche vermeintlicher ästhetischer Gewissheiten, die in Wirklichkeit nur das prätentiöse Nachgeplapper von nassforschen Autoritäten mit entlarvend geringer Halbwertszeit sind (Leser ratet, wen ich meine!).

Beth Levins hat Tiessens Musik zwischen zeitgleichem Schönberg und etwas früherem Strauss, zwischen Skriabin/Busoni und Berg/Bartók in zugleich atemberaubend expressiver, lyrisch verinnerlichter, orchestral gewaltiger, gesanglich hypnotischer Weise dargeboten und das Publikum in einen geradezu verzauberten Zustand transformiert. Auch ist sie eine erstaunliche Meisterin architektonisch schlüssiger Gestaltung, was man bei der explosiven Spontaneität ihrer Gestaltung vielleicht gar nicht erwarten würde. In der Schwartz’schen Villa wurde an diesem Abend wahrhaft Musikgeschichte geschrieben, indem endlich in vollendeter Darbietung zu seinem Recht kommt, was man aus Unkenntnis und Bequemlichkeit so lange marginalisiert hatte. Und dies in des längst verschiedenen Komponisten unmittelbarer Nachbarschaft, hatte der in Königsberg geborene doch im benachbarten Zehlendorf gewirkt, wo der überragende Dirigent Sergiu Celibidache im II. großen Krieg zu seinen Kompositionsschülern zählte (von Tiessens Lehre sollte auch die von Celibidache begründete, disziplinübergreifend bahnbrechende phänomenologische Methode der Musik ihren Ausgang nehmen).

Vor Tiessen Mozart, ein individuell hinreißender symphonischer Kraftstrom herrlich entschiedener Ausdifferenziertheit, den Tagesmoden so fernstehend wie den ‚alten Zöpfen‘. Großartig, als wäre es zum ersten Mal. Und ebenso Schubert, der sich so logisch und suggestiv zündend entfalten durfte, so unvergleichlich frisch und zeitlos, dass man sich möglicherweise hinterher fragen mochte, was denn dieser ganze Blödsinn mit den etablierten Aufführungstraditionen überhaupt soll. Beth Levin hat sie alle über den Haufen gestoßen, außer Kraft gesetzt, indem sie mit singulärer Natürlichkeit, Intensität, Bewusstheit und Kunst unmittelbar zum schöpferischen Kern einer Musik vorgedrungen ist, die heute oft gewaltsam entstellt wird, nachdem man sie lange viel zu wenig gewürdigt hatte. Und sie hat alle Anwesenden auf eine Reise mitgenommen, die treffend als unvergesslich bezeichnet werden kann. So beginnt Musik wieder, ihren Sinn zu erfüllen, und nicht für Ideologien missbraucht zu werden, wie dies in Deutschland vor allem seit dem Dritten Reich der Fall war.

[Sara Blatt, 14. März 2024]

Anmerkung der Redaktion: Tobias Brökers Edition der Klavierstücke op. 21 von Heinz Tiessen findet sich auf dieser Seite.

Der Komponist Wilhelm Furtwängler und seine Gegner (1)

Am 30. November 2021 jährt sich Wilhelm Furtwänglers Todestag zum 67. Mal – kein runder Jahrestag zwar, nichtsdestoweniger ein guter Anlass, mit seinen Kritikern ins Gericht zu gehen, nämlich: kritisch zu betrachten, was sich an Vor- und Fehlurteilen über Furtwänglers Kompositionen in jahrzehntelanger Wiederholung verkrustet hat. Der erste Teil widmet sich einer ausführlichen Darstellung und Widerlegung der drei großen Vorurteile über den Komponisten Wilhelm Furtwängler.

Über wenige große Komponisten ist so viel Unsinn geschrieben worden wie über Wilhelm Furtwängler. Vorurteile gegen seine Musik lassen sich noch in Literatur finden, die Jahrzehnte nach seinem Tod erschienen ist. Ja, man kann sagen, es hat sich seit seinen Lebzeiten eine Tradition der Schmähung des Komponisten Furtwängler gebildet. Ihr Vokabular ist arm und darum repetitiv. Immer wieder liest man die gleichen wenig bis nichts sagenden Floskeln, die sich letztlich gegen ihre Urheber richten. Sie sind teils ideologischer Art, teils schlicht auf die Unfähigkeit der Autoren zurückzuführen, den Verlauf der Werke nachzuvollziehen, und natürlich verquickt sich beides häufig.

Es lassen sich innerhalb der entsprechenden Literatur drei Haupttendenzen feststellen. Handeln wir sie ab!

Vorurteil Nr. 1: Der nicht in seine Zeit Gehörige

Der vielleicht beliebteste Vorwurf, der gegen Furtwänglers Musik erhoben wird, ist der, sie sei (um es in abgegriffenen Floskeln auszudrücken) nicht „auf der Höhe der Zeit“ oder würde „den Forderungen der Zeit“ nicht gerecht. Das liest sich dann etwa so:

So vermag er nicht zu spüren, dass die Epoche der romantischen Aussage heute der Vergangenheit angehört, nachdem ihr Kreis völlig abgeschritten war. Dies aber will der Komponist Furtwängler nicht wahrhaben. […] Was einst die Unschuld in der Musik zu manifestieren vermochte, was von der Natürlichkeit der Aussage gezeichnet war, was einst aus dem tonalen Kadenzprinzip einen lebendigen Organismus schuf, das ist heute steril und erschöpft. Furtwänglers Zweite Symphonie in e-Moll ist dafür ein Beweis.“ (Süddeutsche Zeitung, 10. Januar 1950)

Da forscht ein unermüdlicher Sinnsucher und hofft wie Parsifal auf Erlösung im Reich der Klänge, verweigert sie sich aber immer wieder selbst, indem er, diesmal eher ein Don Quijote, anrennt gegen die Windmühlen seiner Zeit.“ (Rondo, 5. September 2002)

Bei ihrer Uraufführung [gemeint ist die Symphonie Nr. 2] rührte sie die Frage des Spätgeborenen an, dessen Tragik es ist, die Sprache einer Zeit zu sprechen, die er existenziell längst verlassen hat.“ (Kurier, 21. September 1954)

In seiner zweiten Symphonie unternimmt Furtwängler den Versuch – wir wiederholen uns, Verzeihung – [Ja, ihr wiederholt euch, Verzeihung!] – fünfzig Jahre Musikentwicklung zu negieren und wieder in der Tonsprache der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts zu sprechen.“ (Münchner Merkur, 15. Dezember 1954)

Äußerungen dieser Art gehen von dem Gedanken aus, dass sozusagen von „der Geschichte“ selbst (also von wem?) regelmäßig Parolen ausgegeben werden, was gerade als zeitgemäß und darum als bedeutend zu gelten habe, und jeder, der sich nicht an diese Vorgaben hält, mit Nichtbeachtung oder gar Verachtung abzustrafen sei. Hierbei wird mit der Schere im Kopf gedacht, denn es läuft darauf hinaus, die Existenz aller Phänomene zu leugnen, die nicht ins geistige Prokrustesbett der jeweiligen Autoren passen. Das Geleugnete ist aber nichtsdestoweniger da! Ein solches Denken verhindert von vornherein ein ganzheitliches Erfassen historischer Epochen, in welchen ja stets Traditionen und Neuerungen nebeneinander existiert haben und existieren. Zu welchen Ergebnissen dieses Scherendenken führt, zeigt folgender Passus aus Diether de la Mottes Harmonielehre (Kassel 1976, S. 261):

10 bis 30 Jahre nach entschiedener Abkehr der meisten Komponisten von der Dur-Moll-Tonalität und dem Prinzip des Klangaufbaus durch Terzenschichtung entwickelten Schönberg und Hauer unabhängig voneinander unterschiedliche Zwölftontechniken, formulierte Hindemith in seiner ‚Unterweisung‘ die Gesetze seiner neuen Harmonik, stellte Messiaen eine neue modale Ordnung auf.“

Es lohnt sich, intensiv über diesen Satz nachzudenken, namentlich über die „Terzenschichtung“! Im jetzigen Zusammenhang soll lediglich die „Abkehr der meisten Komponisten von der Dur-Moll-Tonalität“ interessieren, die der Autor, rechnet man nach, auf um 1910 ansetzt. Noch einmal: Die Abkehr der meisten Komponisten von der Dur-Moll-Tonalität um 1910! Ich will de la Motte gar nicht vorwerfen, dass er mit Absicht unwahre Behauptungen in die Welt gesetzt hätte. Nein, er sprach einfach direkt aus, was für ihn und viele seiner Zeitgenossen Wahrheit war. So weit konnte es nur kommen, weil die Scheren in den Köpfen so sauber schnitten, dass die Menschen gar nicht mehr bemerkten, dass geschnitten wurde. Wer also nach 1910 in Dur und Moll komponierte, den gab es im Bewusstsein gewisser Autoren und ihrer Leser gar nicht mehr, und wenn doch noch jemandem der Name eines solchen Komponisten geläufig war, so konnte dieser für seine Werke jedenfalls nicht die hohe Ehre in Anspruch nehmen, zur Musik des 20. Jahrhunderts dazuzugehören! (Es fragt sich natürlich auch, ob nicht in Hindemith mehr Dur und Moll steckt, als de la Motte wahrhaben will. Und was ist mit Prokofjew, Schostakowitsch, Chatschaturjan, Walton, Britten, Barber, Poulenc, Milhaud, Honegger, um nur einige der populärsten zu nennen, die #- und b-Vorzeichnungen, ja gar C-Dur nicht gescheut haben?) Dass gegen Ende des 20. Jahrhunderts plötzlich ganze Serien von CDs mit in unzweideutigem Dur und Moll komponierter Musik ebendieses 20. Jahrhunderts auf dem Markt erschienen, ist die logische Folge dieser Verdrängung. Man merkte schließlich allgemein, dass mehrere Generationen von Musikgeschichtsschreibern und Journalisten bei sich und anderen die Schere angesetzt hatten, und fragte völlig zurecht, was da weggeschnitten wurde. Der Schluss, der aus dieser Geschichte folgt, lautet: Musik des 20. Jahrhunderts ist Musik, die zwischen 1901 und 2000 entstanden ist. Jede andere Definition ist ideologisch motiviert.

Erst wenn man erkannt hat, dass Wilhelm Furtwängler eine genauso charakteristische Erscheinung seiner Epoche ist wie beispielsweise Arnold Schönberg, Igor Strawinsky, Paul Hindemith (drei Komponisten, deren Werke er dirigierte, obwohl er sie nicht sonderlich mochte), wird man ein lebendiges Bild dieser Epoche gewinnen können, wird man eine Vorstellung davon bekommen, welche Spannungen in ihr wirksam waren. Dann erweist sich die Behauptung, Furtwänglers Werke hätten fünfzig, ja siebzig Jahre zuvor komponiert werden können als das, was sie ist: ein Trick, den gewisse Autoren anwenden, um ihr auf Verdrängung gegründetes Musikgeschichtsbild aufrecht erhalten zu können. Fakt ist dagegen, dass auch Komponisten, die nicht versuchen, sich vom Dur-Moll-System zu lösen, um 1950 anders komponieren als ihre Kollegen um 1880. Will denn jemand wirklich im Ernst behaupten, ein Stück wie der Finalsatz der Dritten Symphonie Furtwänglers hätte im 19. Jahrhundert, etwa von einem Generationsgenossen Brahms‘ und Bruckners, geschrieben werden können? Sehen wir uns unter den Komponisten des deutschsprachigen Raumes in Furtwänglers Generation um, so finden wir etwa Ernst von Dohnanyi, Fritz Brun, Karl Weigl, Joseph Marx, Walter Braunfels, Egon Wellesz, Ernst Toch, Heinz Tiessen, Max Trapp, Gustav Geierhaas, Wilhelm Petersen, Philipp Jarnach, Erich Wolfgang Korngold. Auch sie schrieben Symphonien in klarem Dur und Moll, und auch diese Werke klingen anders als Symphonien der Zeit vor 1900. Hier eine historische Entwicklung zu leugnen, ist sinnlos.

Vorurteil Nr. 2: Der komponierende Dirigent

Das zweite große Vorurteil besagt, dass Furtwänglers Dirigententätigkeit seiner Entfaltung als Komponist hinderlich gewesen sei. Seine Kompositionen seien lediglich Aufgüsse der großen Meisterwerke, die er regelmäßig dirigierte. Es ist dies der Vorwurf der stilistischen Uneigenständigkeit und Unpersönlichkeit. Zur Beantwortung der Frage, ob ein großer Dirigent auch gut komponieren könne, genügt es, ein paar Namen zu nennen: Mahler, Strauss, Pfitzner und Reger, auch Mendelssohn, Schumann, Liszt, Wagner und Weber, Haydn und Bach, nicht zu vergessen Schütz und Praetorius, Lasso und Palestrina, sind dauerhaft oder zumindest zeitweise hauptberufliche Kapellmeister gewesen. Furtwängler war völlig im Recht, als er einmal bemerkte, dass es der natürliche Zustand sei, wenn ein Komponist sich auch als ausführender Musiker betätigt. Er selbst war ja nicht nur Komponist und Dirigent, sondern auch ein ausdrucksstarker Pianist, wie seine Aufnahmen Wolfscher Lieder und des Fünften Brandenburgischen Konzerts belegen – ein wahrhaft universaler Musiker! Seine Dirigentenlaufbahn begann er mit 20 Jahren, nachdem er bereits ungefähr 100 kleinere Stücke und eine Symphonie komponiert hatte. In seinem ersten öffentlichen Konzert 1906 erklang, wie in seinem letzten 1954, eine eigene Komposition. Als der jugendliche Furtwängler bei Josef Rheinberger und Max Schillings studierte – auch sie zugleich Komponisten und Dirigenten –, deutete noch gar nichts darauf hin, dass er einmal der berühmteste deutsche Kapellmeister werden würde, wohl aber alles auf eine Laufbahn als Komponist. Er war also kein Dirigent, der irgendwann begann sich einzureden, dass er auch komponieren müsse. Der Dirigent Furtwängler ist jünger als der Komponist.

Der Versuch, den Dirigenten Furtwängler gegen den Komponisten in Stellung zu bringen, konnte nur deshalb mit solcher Hartnäckigkeit durchgeführt werden, weil Furtwängler zu den ersten Dirigenten gehört, die ihr Repertoire umfassend auf Tonträgern festhalten konnten. Die Leistung des Dirigenten wurde so der Nachwelt überliefert und verschwand nicht in der Legende. Um sich die Bedeutung dieses Umstands zu verdeutlichen, denke man an Arthur Nikisch, Furtwänglers Vorgänger in Leipzig und Berlin. Wie wenig ist von ihm dokumentiert! Beethovens Fünfte, kürzere Stücke von Berlioz, Liszt und Mozart. Gewiss handelt es sich um Teile seines Kernrepertoires, aber was fehlt nicht alles: Die übrigen Beethoven-Symphonien, die Bruckner-Symphonien, von denen er die Siebte uraufgeführt hat, Brahms, Tschaikowskij, Felix Draeseke, für den er sich ähnlich stark gemacht hat wie später Furtwängler für Max Trapp und Heinz Schubert. Dem steht bei Furtwängler eine große Anzahl Aufnahmen gegenüber, deren Repertoire sich von Bach und Händel bis Ernst Pepping, Wolfgang Fortner und Karl Höller erstreckt. Freilich handelt es sich bei diesem Fundus letztlich um ein monumentales Fragment, gibt es doch nur vergleichsweise wenige Operngesamtaufnahmen (etwa von Wagner nur den Ring und Tristan) und Aufnahmen zeitgenössischer Musik (schmerzlich bedauert man etwa den Verlust der Konzertmitschnitte von Symphonien Frommels, Hessenbergs und Waltons), aber es genügt, ein umfassendes Bild vom Wirken des Dirigenten zu erhalten. Der Dirigent Furtwängler ist kein toter Musiker, den man nur aus der verbalen Überlieferung kennt. Anders als Dirigentenlegenden wie Felix Mendelssohn Bartholdy, Carl Maria von Weber, Hans von Bülow, Fritz Steinbach, Ernst von Schuch blieb Furtwängler lebendig. Er dirigiert mittels Tonträgern mittlerweile für ein Publikum, das ihn nie gesehen hat.

Dagegen sieht es bei den etwas älteren Kapellmeister-Komponisten wie Strauss, Pfitzner, Schillings, Zemlinsky, Hausegger, Weingartner nicht wesentlich anders aus als bei Nikisch. Als einziger von ihnen hat Weingartner mit den Beethoven- und Brahms-Symphonien komplette Werkzyklen festgehalten. Von Schillings, Strauss und Pfitzner gibt es einige Aufnahmen eigener Werke, aber wenig Historisches und abgesehen von ihnen selbst nichts Zeitgenössisches, obwohl auch sie Uraufführungen anderer Komponisten geleitet haben. Gar keine Aufnahmen hinterlassen haben beispielsweise Jean-Louis Nicodé, Wilhelm Berger, Richard Wetz, Felix Woyrsch, Paul Büttner, Hermann Suter, Fritz Volbach. Diese Musiker haben nicht anders als Furtwängler einen Großteil ihres Lebens als Dirigenten zugebracht. Sie sind uns heute aber nur noch als Komponisten greifbar. Ihre Werke können wir spielen, ihre Aufführungen sind für immer verloren. So verhält es sich (abgesehen von wenigen Klavierrollen eigener Stücke) auch mit Gustav Mahler, dem seinerzeit berühmtesten Operndirigenten der Welt, dessen Symphonien und Lieder heute berechtigten Weltruhm genießen, wohingegen sie zu seinen Lebzeiten regelmäßig den Vorwurf über sich ergehen lassen mussten, nachempfundene „Kapellmeistermusik“ zu sein. War es für den Komponisten Mahler vielleicht letzten Endes ein Vorteil, dass die Kunst des Dirigenten Mahler mit seiner sterblichen Hülle verfrüht ins Grab sank? Wäre ein über seine Lebenszeit hinausreichender Dirigentenruhm vielleicht ebenso gegen seine Musik in Stellung gebracht worden, wie in Furtwänglers Fall?

Über Mahler sagt man, er war „Komponist und Dirigent“. Niemandem würde es heute mehr einfallen, ihn als „komponierenden Dirigenten“ zu bezeichnen. Dies würde als eine Minderung seines künstlerischen Ranges, ja als eine Schmähung gedeutet werden. Derjenige, der sich so äußerte, würde Gelächter auf sich ziehen. Furtwängler dagegen findet sich in der Literatur verschiedentlich als „komponierender Dirigent“ abgehandelt (so im Artikel „Symphonie“ in der zweiten Auflage der MGG). Wie definiert man aber, wer „komponierender Dirigent“ und wer „Komponist und Dirigent“ ist? Wenn Mahler kein „komponierender Dirigent“ ist und wenn, wie ich meine, diese Bezeichnung auch auf Furtwängler zu Unrecht angewendet wird, so lässt sich darunter wohl nur ein hauptberuflicher Kapellmeister verstehen, der das Komponieren nicht als sein wesentliches Betätigungsfeld erachtet, aber eben „auch“, „nebenbei“ „ein bisschen“ komponiert und ein Schaffen vorlegt, in dem es keine „Hauptwerke“ gibt. „Komponierende Dirigenten“ wären dann etwa Hermann Abendroth, Clemens Krauss, Rolf Agop, Günter Wand, Herbert Kegel. Sie alle beschränkten sich auf kleine Formen (Lieder) oder komponierten nur zu bestimmten Gelegenheiten (Bühnenmusiken). Dann gibt es Fälle, in denen ein Musiker zu Anfang seiner Laufbahn komponiert und dirigiert, jedoch zu einem frühen Zeitpunkt das Komponieren ganz aufgibt, um nur noch als Nachschaffender zu wirken. Dazu zählen beispielsweise Hans von Bülow, Bruno Walter, Carl Schuricht, Hans Rosbaud, George Szell, Igor Markevitch, auch Walter Rabl, der letzte Protegé von Johannes Brahms. Von ihnen gibt es zum Teil sehr ambitionierte Kammermusik- und/oder Orchesterwerke, zu welchen die Komponisten nach Ende ihrer schöpferischen Laufbahn sehr verschiedene Standpunkte einnahmen: Während etwa Szell im späteren Leben Aufführungen seiner Kompositionen zu verhindern suchte, war sich Markevitch gewiss, dass die Nachwelt die seinen zu schätzen wissen würde. Furtwängler fällt auch nicht in diese Kategorie schaffender Nachschaffender. Er gab das Komponieren eben nicht auf, fing viel mehr als beinahe Fünfzigjähriger erst richtig damit an.

Hier sind wir bei einem Sachverhalt angelangt, der viele Kommentatoren irritiert hat, nämlich der Tatsache, dass Furtwängler zwischen dem Te Deum (1909) und dem Klavierquintett (1935) – also während mehr als zweieinhalb Jahrzehnten – keine Komposition vollendete. Es mag in der Tat bizarr erscheinen, dass von diesem Komponisten nur Jugendwerke und relativ späte Arbeiten existieren – ungefähr, als hätte Beethoven sich nach den Joseph- und Leopold-Kantaten vorerst als Komponist zurückgezogen, um dann mit op. 106 wieder aufzutreten. Dies bietet böswilligen Betrachtern natürlich einen Angriffspunkt: Furtwängler habe es nicht verschmerzen können, in seiner Jugend als Komponist gescheitert zu sein und habe wieder zu komponieren begonnen, nachdem er als Dirigent eine herausgehobene Stellung erreicht hatte, die es ihm erlaubt habe, seine Musik gleichsam mit Gewalt dem Publikum aufzuoktroyieren. Dass die scheinbare Ruhephase tatsächlich eine Zeit der Reifung gewesen ist, die der Komponist brauchte, um seiner Ideen Herr zu werden und zu einem souveränen Künstler heranzuwachsen, geht diesen Betrachtern nicht auf. Hört man sich die Jugendarbeiten Furtwänglers an, so stößt man auf viel Halbgares, Unausgegorenes. In den beiden Jugendsymphonien in D-Dur (von der nur der erste Satz eingespielt wurde) und h-Moll (die über den ersten Satz nicht hinaus gekommen ist) begegnen großartige Themen, aber auch nicht zu leugnende Ungeschicklichkeiten in der Verlaufsgestaltung. Der junge Komponist kann die Spannung nicht aufrecht erhalten und verliert sich in einer Aneinanderreihung von einzelnen Momenten. Als gelungen kann man dagegen die Drei Klavierstücke von 1903 bezeichnen, bei denen es sich jedoch im Wesentlichen um Stilstudien nach Beethovens späten Bagatellen handelt. Mit Furtwänglers reifem Stil haben sie nichts zu tun. Furtwängler war tatsächlich um 1910 daran, „als Komponist zugrunde zu gehen“, wie er gegen Ende seines Lebens schrieb, denn er fühlte deutlich den Zwiespalt zwischen seinen Einfällen und seinen damals noch zu beschränkten Möglichkeiten, sie adäquat realisieren zu können. Er widmete sich verstärkt dem Dirigieren, weil ihm diese Art der musikalischen Betätigung leicht fiel, weil sie ihm das Überleben sicherte, natürlich auch, weil sie ihm rasch zu großen Erfolgen verhalf, aber er gab zwischen 1909 und 1935 das Komponieren nicht auf. Immer wenn ihm sein Dirigentenberuf Zeit ließ, arbeitete er an eigenen Werken, und damit an sich selbst. „Wer hohe Türme bauen will, muss lange am Fundament verweilen“, soll Anton Bruckner – wahrlich auch ein Spätentwickler – gesagt haben; Furtwängler wollte hohe Türme bauen, und er verweilte sehr lange am Fundament – mit Erfolg.

Als besonders schön habe ich an Furtwänglers reifen Werken stets empfunden, dass sie in einem so scharf profilierten Personalstil geschrieben sind, dass man ihren Autor bereits nach wenigen Takten erkennt. Furtwängler schreibt nicht kompliziert. Seine Harmonien sind immer funktional gedacht, und jede steht in einem Zusammenhang zur Vorangehenden und zur Folgenden. Selbst sehr scharfe Dissonanzen (etwa gegen Ende der Durchführung im Finale der Dritten Symphonie) stechen nicht als aufgesetzte „Modernismen“ heraus, sondern dienen dazu eine dramatische Wirkung zu erzeugen, die ihren notwendigen Platz innerhalb der Gesamthandlung hat. Dem Streben nach Einfachheit im Harmonischen entspricht seine Bevorzugung diatonischer Melodik. Seine Themen klingen vokal erfunden und sind stets sangbar (ein Potpourri der „schönsten Melodien“ Furtwänglers könnte ich jederzeit zum Besten geben). Allerdings sind es nicht eigentlich liedhafte Melodien. Zumindest wüsste ich keine, die ich mir als Volkslied denken könnte. Märsche gibt es bei ihm nicht, und Tanzcharaktere bestenfalls in äußerst sublimierter Gestalt. Es ist insgesamt eine nicht sehr „weltliche“ Musik. In seiner ausschließlichen Ausrichtung auf das Erhabene gleicht Furtwängler Bruckner – gewaltige Steigerungen und bedeutungsvolle Generalpausen („die Fenster in der Kathedrale“ nannte das Robert Simpson) gehören denn auch zu den liebsten Stilmitteln beider. Gerade Bruckner aber ist hinsichtlich der Melodik seiner Themen und ihrer metrischen Gestaltung nahezu Furtwänglers vollkommener Gegensatz: Bruckner liebt signalhafte Motive, häufig dreiklangsbasiert; die Hauptakzente liegen immer auf dem Anfang, er denkt entschieden abtaktig; Synkopen und Synkopenfolgen müssen immer auf metrisch schweren Zählzeiten beginnen; Abweichungen vom „quadratischen“ Bau der Perioden mit seinem regelmäßigen Wechsel „schwerer“ und „leichter“ Takte kommen sehr selten vor. Furtwängler entwickelt seine Themen weniger aus dem Dreiklang als aus der Tonleiter heraus und bevorzugt den Beginn auf leichter Taktzeit, sodass leise Anfänge wirken, als würden sich die Themen beim ersten Erscheinen unauffällig einschleichen. Mit dieser Neigung korrespondiert eine Vorliebe für Melodien, die nicht auf dem Grundton beginnen und nicht zu ihm hinführen, sondern ihn nur vorübergehend streifen. Dies erinnert ein wenig an das Streben mittelalterlicher Kirchengesänge von der Finalis weg, hin zur Repercussa. Überhaupt ähneln Furtwänglers Melodien am ehesten gotischen Chorälen, einer Art Musik also, mit der er sich kaum näher beschäftigt haben dürfte. Hier wie dort finden sich einfache Rhythmen und eine freie Metrik, die der Regelmäßigkeit Bruckners ganz entgegengesetzt ist. Eine Melodie in wechselnden Taktarten wie das Hauptthema des langsamen Satzes der Zweiten Symphonie, oder ein unregelmäßiger Takt wie zu Beginn des Finales desselben Werkes, wären bei Bruckner nicht zu denken. Das Erhabene stellt sich Furtwängler offenbar leichtfüßiger, schwebender, eleganter vor als Bruckner.

Ebenso wie Bruckner könnte man jeden von Furtwängler besonders geschätzten Komponisten zur Gegenüberstellung heranziehen (etwa Beethoven, Wagner, Brahms, Pfitzner) und müsste letztlich immer die Eigenständigkeit Furtwänglers gegenüber dem früheren Meister feststellen. Furtwängler hatte es wahrlich nicht nötig zu versuchen, den Stil irgend eines Anderen zu imitieren. Von seiner künstlerischen Unabhängigkeit zeugen nicht zuletzt die kritischen Betrachtungen in seinen Schriften und Aufzeichnungen. Der letzte Komponist, den er uneingeschränkt bewundert, ist Brahms. Wagner und Bruckner steht er bei aller Verehrung nicht unkritisch gegenüber. Über diejenigen Komponisten, die zu seiner Jugendzeit im Zenit ihres Ruhmes standen, äußert er sich, bei allem Respekt, kritisch (Strauss, Mahler) bis äußerst skeptisch (Reger). Am nächsten steht ihm unter ihnen Pfitzner, aber auch zu ihm bekennt er sich nicht ohne Einwände. In diesem Kontext betrachtet, wirkt das Furtwänglersche Komponieren – und die bereits deutliche stilistische Nähe des Te Deums und der Jugendsymphonien zu den Werken der Reifezeit bestätigt diesen Eindruck – wie eine schöpferische Kritik an seinen älteren Zeitgenossen. Er gefiel sich nicht in harmonischen Kompliziertheiten wie Reger, hatte keine Ambitionen auf dem Gebiet effektvoller Programmmusik wie Strauss, wollte nicht in Form gezielter stilistischer Buntscheckigkeit mit seinen Symphonien die Welt umfassen wie Mahler, und von Pfitzner trennte ihn der Umstand, dass dieser im Kern seines Wesens Lyriker war, Furtwängler dagegen Architekt.

Vorurteil Nr. 3: Die zu langen Werke

Das dritte große Vorurteil betrifft diesen Architekten. Es besagt, Furtwängler habe als Komponist zu viel gewollt und es nicht vermocht, mit seinen Gedanken Maß zu halten, was letztlich dazu geführt habe, dass ihm seine Werke in der Länge ausgeufert seien. Diese Behauptungen gehen von der Annahme aus, es müssten sich doch in den sieben Hauptwerken Furtwänglers, deren Spieldauern zwischen einer Dreiviertelstunde (Violinsonate Nr. 2) und anderthalb Stunden (Symphonie Nr. 1 in Fawzi Haimors Aufnahme) betragen, irgendwelche überflüssigen oder übermäßig weit ausgesponnenen Passagen finden. Dass Furtwängler dem Vorwurf übergroßer Länge von Anfang an besonders stark ausgesetzt war, hat auch historische Gründe, trat er doch mit seinen Werken gerade zu einer Zeit in Erscheinung als Kürze Trumpf war. In den 1930er Jahren herrschte die Mode der „Sachlichkeit“, worunter man u. a. ein Komponieren in knappen, angeblich klassischen Formen verstand. Später, nach dem Krieg, konnte auch der allem Neoklassizismus abholde, sich aber ausschließlich miniaturistisch ausdrückende Webern als Sachlichkeitsideal gedeutet werden. Furtwängler stand, ich wiederhole es, nicht „außerhalb seiner Zeit“, wohl aber stand er quer zum damals herrschenden Drang zur Kürze, der ja letztlich eine Umkehrung der um 1900 im Gefolge Wagners aufgekommenen Mode war, sich möglichst lang und breit auszudrücken.

Weder saß Furtwängler den Moden seiner Jugendzeit auf, noch denen, die später aufkamen. Kürze um der Kürze willen war ihm, der Chopin genauso sehr, wenn nicht noch mehr verehrte als Bruckner, und der, wie die frühen Klavierstücke zeigen, durchaus Talent zum Miniaturisten hatte, genauso wenig erstrebenswert wie Länge um der Länge willen. Was er anstrebte, war nichts anderes als seinen Gedanken die ihnen angemessene Entfaltung zukommen zu lassen. Hört man den Kompositionen aufmerksam zu, so wird man feststellen, dass sie gar nicht so immens lang wirken, wie ihre objektive Spieldauer vermuten lässt. Bei Furtwängler haben wir im Grunde das gleiche Phänomen vor uns wie bei Bruckner: Die Sätze dauern zum Teil über 20 Minuten und sind doch knapp geformt. Hören wir beispielsweise den ersten Satz der Neunten Symphonie Bruckners, so können wir bemerken, dass er im Grunde nur aus zwei großen Teilen besteht, denen sich eine kurze Coda anschließt. Robert Simpson nannte dies in seinem Standardwerk The Essence of Bruckner „Statement, Counterstatement, and Coda“ (Darstellung, Gegendarstellung und Coda). Sowohl „Statement“ als auch „Counterstatement“ gliedern sich in wenige Unterabschnitte, von denen jeder nach dem Prinzip der Entwicklung durch Kontrast eine bestimmte Funktion innerhalb des Gesamtverlaufs des Satzes einnimmt. Das „Counterstatement“ beginnt als Durchführung und nimmt später Reprisencharakter an, wobei der Übergang zwischen „Durchführung“ und „Reprise“ erst rückwirkend als solcher wahrgenommen wird. Obwohl mit rund 25 Minuten Spieldauer objektiv der längste Kopfsatz einer Bruckner-Symphonie, ist er doch durch die Verschmelzung von Durchführung und Reprise formal der kürzeste. „Lang“ wird er durch sein verhältnismäßig breites Tempo und die Weite der einzelnen Phrasen und Perioden, also durch die Größe der Bauteile, aus denen er errichtet ist. Nicht anders verhält es sich bei Furtwängler: Seine Sätze bestehen aus Abfolgen weniger, aber ausgedehnter Verläufe.

Haben dann vielleicht die einzelnen Glieder seiner Sätze Längen? Ein wiederholt gegen Furtwängler ins Spiel geführter Einwand betrifft seine häufige Verwendung von Sequenzen. So lautet auch der Hauptkritikpunkt in Gerhard Frommels Beurteilung der Zweiten Symphonie. Frommel (1906–1984) ist einer der wenigen Kritiker Furtwänglers, deren Einwänden sich nachzugehen lohnt, denn er war nicht irgendjemand, sondern einer der besten deutschen Komponisten seiner Generation und Furtwängler keineswegs übel gesonnen. Furtwängler schätzte ihn und brachte seine Erste Symphonie mit den Berliner Philharmonikern 1942 zur Uraufführung. Frommel nimmt in seinen 1975 verfassten Lebenserinnerungen seinen Bericht über den persönlichen Umgang mit Furtwängler zum Anlass, sich auch zu dessen Zweiter Symphonie zu äußern:

Für die Aufführungschancen und darüber hinaus für eine gerechte Würdigung von Furtwänglers Leistung als Komponist sind die überdimensionalen Ausmaße dieser Symphonie äußerst nachteilig. Das lautere Gold vieler schöner Einfälle, z. B. der Anfang des langsamen Satzes, wird überschwemmt von manchmal fast unerträglich langen, sequenzierenden Entwicklungen, die bestechende Plastik und Einfachheit steht in mangelndem Gleichgewicht zu der überladenen Instrumentation dominierender anderer Formen.“

(Gerhard Frommel: Entwurf einer Autobiographie, Tutzing 2013, S. 81. Frommels konsequente Kleinschreibung wurde der konventionellen Rechtschreibung angeglichen.)

Dass Frommel an Furtwänglers wenig koloristischer Instrumentation Anstoß nahm, wird niemanden überraschen, der weiß, dass Frommel, im Gegensatz zu Furtwängler, ein Verehrer Strawinskys war und eine starke Affinität zu südländischer Musik besaß. Von diesem Standpunkt aus mag man tatsächlich manches als überladen empfinden. Schwerer wiegt die Kritik an der Sequenzentechnik. Aber sind diese sequenzierenden Entwicklungen tatsächlich „unerträglich lang“? Mir scheint, in Frommels Kritik schwingt die um 1900 als eine Art Abwehrreaktion gegen die Musik der Wagner-Nachfolge aufgekommene Scheu vor der Sequenz nach, die mit der Scheu vor der wörtlichen Wiederholung (die Mahler einmal als „Lüge“ bezeichnet hat) und der Hinwendung zum Aphoristischen (Debussy, Schönberg, Webern) in ein gemeinschaftliches musikgeschichtliches Kapitel gehört. Nun ist die Sequenz an sich weder gut noch schlecht, sondern ein gewöhnliches Mittel musikalischer Formung. Durch exzessiven und schematischen Gebrauch kann es sich freilich abnutzen und so der Wirkung einer Musik abträglich sein. Ob dieser Fall eintritt, liegt im Geschick bzw. Ungeschick des Komponisten begründet. Gerade aufgrund der Gefahren, die mit ihrer Verwendung verbunden sind, zwingt die Sequenz zum verantwortungsbewussten Umgang. Eine alte Faustregel besagt, dass man eine Sequenz nie auf mehr als drei Glieder ausdehnen sollte.

Betrachten wir nun kurz eine Furtwänglersche Sequenz. Sie findet sich gegen Ende des „Statements“ im Finalsatz der Zweiten Symphonie (in Furtwänglers Aufnahme mit den Wiener Philharmonikern etwa ab 8’30“; in der Partitur, die sich auf IMSLP findet, ab S. 227). Ausgangspunkt der Entwicklung ist eine fünftaktige Periode (man beachte auch die metrische Freiheit mittels Taktwechsel), die von der Dominante von G zur Dominante von E führt. Sie enthält bereits in sich eine (variierte) Sequenz, in welcher ihr Kopfmotiv dreimal erklingt, bevor es in einen motivisch verschiedenen Anhang ausläuft. Diese fünf Takte werden nun auf anderer Stufe wiederholt, von der Dominante von C zur Dominante von A führend. Es folgt eine (fürs lesende Auge) scheinbar viergliedrige (und damit der „Faustregel“ scheinbar zuwiderlaufende) Sequenz des zweitaktigen Kopfmotivs: Beim ersten Mal hebt es auf der Dominante von F an, dann auf der Dominante von As, dann auf der Dominante von C, dann auf der Dominante von Es. Die Harmonien lassen indessen keinen Zweifel daran, dass es sich tatsächlich um zwei im Quintabstand aufeinander folgende zweigliedrige Sequenzen von jeweils vier Takten über dasselbe Material handelt. Die zweite dieser Sequenzen läuft dann in einen zweitaktigen Anhang aus, der selbst eine Sequenz aus zwei Gliedern ist. Der ganze hier besprochene Komplex ist als Steigerung zu dem „sehr gehaltenen“, hymnischen Thema gedacht, das an ihn anschließt. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Furtwängler in diesem Abschnitt des Satzverlaufs die Sequenztechnik zwar sehr ausgereizt hat, aber nirgends der besagten „Faustregel“, die Bach, Mozart, Beethoven oder Brahms stets wach anwandten, zuwidergehandelt hat. Zudem muss man feststellen, dass hier eine lange Steigerung mit äußerst wenig motivischem Material bestritten wurde, also ein Fall bemerkenswerter kompositorischer Ökonomie vorliegt. Das ist kein Sequenzieren aus Unvermögen, auch kein Missbrauch der Sequenz. Es ist eine hohe Schule der Sequenz, die uns Furtwängler hier bietet! Deshalb erlaube ich mir, bei allem Respekt, Gerhard Frommels Ansicht, es gebe bei Furtwängler „unerträgliche“ Sequenzen, nicht zuzustimmen.

Aber verweilen wir ein wenig bei Frommel und hören, was er sonst noch über die Zweite Symphonie schreibt. Eine Seite weiter liest man in seinem autobiographischen Entwurf folgendes:

Im Gegensatz zu der gängigen Meinung möchte ich der Symphonie […] genialische Züge keineswegs absprechen, und, was die extrem traditionelle Musiksprache betrifft, so sind die mich beeindruckenden Partien in meiner Sicht geradezu ein Beweis, dass auch in unserem Jahrhundert persönliche, eigenständige Aussage im traditionellen Idiom möglich ist. Nebenbei bemerkt finden sich in der Symphonie auch strukturell höchst interessante Einzelheiten, so der fünfstimmige Kanon in der langsamen Introduktion des Finales. […] Zusammengefasst: Über den Fall ‚Furtwängler als Komponist‘ sind die Akten wohl noch nicht geschlossen, vielleicht noch nicht einmal eröffnet.“

Ob man mittlerweile sagen kann, die Akten seien geöffnet worden? Immerhin liegen Furtwänglers sämtliche Hauptwerke in mehreren Einspielungen vor. Gerade in den Jahren seit der Jahrtausendwende hat sich diskographisch einiges für ihn getan. Historische Aufnahmen wurden veröffentlicht, und Neueinspielungen durchgeführt. Die wissenschaftliche Literatur hält sich allerdings in Grenzen. Eine knappe, aber gute Einführung zu Furtwänglers kompositorischem Werk bietet der Aufsatz „Wilhelm Furtwängler als Komponist – das Ethos eines Künstlers“ von Bruno d’Heudières in den 1998 bei Ries & Erler erschienenen Furtwängler-Studien I (Hrsg. Sebastian Krahnert), denen leider kein zweiter Band gefolgt ist. Das einzige mir bekannte Buch, das sich dem Komponisten Furtwängler widmet, ist Oliver Blümels analytisch leider ziemlich missglückte Studie Die zweite und die dritte Symphonie Wilhelm Furtwänglers (Berlin: Tenea 2004). Die Akten sind also geöffnet, aber zu schreiben gibt es noch viel.

Furtwängler meinte gegen Ende seines Lebens in einem Anfall von Resignation, dass seine Kompositionen mit ihm verschwinden würden. Dieser Fall ist nicht eingetreten. Seine Werke wurden nach seinem Tode zwar nicht häufig gespielt, gelangten aber doch mit einer gewissen Regelmäßigkeit zur Aufführung. Dabei widmete man sich schließlich auch den zu seinen Lebzeiten nicht erklungenen Werken: der Ersten und der Dritten Symphonie sowie dem Klavierquintett. Da oft ein Jubiläum den Anlass gab, eines der Stücke aufs Programm zu setzen, kann man natürlich einwenden, es habe sich in diesen Fällen um bloße Akte der Pietät zum Gedächtnis des großen Dirigenten gehandelt. Sicherlich waren sie auch das, aber man hätte Furtwängler auch mit seinen Lieblingsstücken der klassischen Meister, mit Beethoven und Brahms etwa, feiern, oder aus Pietät nur einen einzigen Satz, etwa das Andante der Zweiten Symphonie aufs Programm setzen können. Man führte aber in der Regel die Werke vollständig auf. Hätten sich namhafte Dirigenten und Solisten dazu bereit gefunden, diese Werke zu Gehör zu bringen, wenn diese das gewesen wären, was die Schmäher Furtwänglers in ihnen sehen wollten: überlange, epigonale Zeugnisse der Selbstüberschätzung eines komponierenden Dirigenten?

Ja, warum haben Musiker wie Edwin Fischer (Klavierkonzert, Uraufführung), Hugo Kolberg (Violinsonate Nr.1, Uraufführung), Georg Kulenkampff (Violinsonate Nr. 2, Uraufführung), Eugen Jochum (Symphonie Nr. 2), Joseph Keilberth (Symphonie Nr. 3, Uraufführung der ersten drei Sätze), Yehudi Menuhin (Uraufführung der vollständigen Symphonie Nr. 3, Te Deum), Wolfgang Sawallisch (Symphonie Nr. 3, Uraufführung des Klavierquintetts), Lorin Maazel (Symphonie Nr. 3), Daniel Barenboim (Symphonie Nr. 2, Klavierkonzert), Zubin Mehta (Klavierkonzert), Rafael Kubelík (Klavierkonzert), Erik Then-Bergh (Klavierkonzert), Paul Badura-Skoda (Klavierkonzert), Lothar Zagrosek (Klavierkonzert), Hans Chemin-Petit (Te Deum), die doch allesamt keine Niemande gewesen sind, sich bereit gefunden, diese Werke aufzuführen?

(Hier geht es zu Teil 2.)

[Nobert Florian Schuck, November 2021]

Tolle Repertoire-Entdeckungen des Expressionismus

Oehms Classics, OC 491; EAN: 4 260034 864917

Judith Igolfson (Violine) und Vladimir Stoupel (Klavier) widmen sich in ihrem bei Oehms Classics erschienenen Album expressionistischen Violinsonaten von Karol Rathaus, Heinz Tiessen und Paul Arma aus den Jahren 1925 und 1949. Die beiden letzteren Werke werden hiermit zum ersten Mal auf CD vorgelegt.

Diese CD ist eine große Überraschung, eine tolle Sache. Ich muss gestehen, mich immer noch darüber zu wundern, dass sie ausgerechnet bei einem so spießigen Label wie Oehms Classics erschienen ist, wo man praktisch gar keinen Wert auf Repertoireentdeckungen legt und eigentlich immer nur im kommerziell sicheren Fahrwasser von gängigen Symphoniezyklen und gehypten Opernproduktionen unterwegs ist, die von mittelprächtig bekannten Orchestern und Dirigenten aufgeführt werden, meist nur zur Selbstprofilierung der betreffenden Häuser und ohne Relevanz für den nationalen wie internationalen Tonträgermarkt. Naja, auch ein blindes Huhn wie Oehms kann gelegentlich ein goldenes Ei vorzeigen, wenn’s ihm andere (also hier die eigenwilligen Künstler und die finanzierende Koproduktionsanstalt Deutschlandfunk Kultur) ins Nest legen – obwohl: bei EDA, Genuin, Audite, Neos, um nur mal ein paar deutsche Labels mit ernsthafterem Anspruch zu nennen, wäre diese CD besser aufgehoben gewesen als beim zwar gut vernetzten, doch total unglaubwürdigen Oehms. Aber gut, kommen wir zum Inhalt:

Das Programm ist ausgesprochen spannend und in der expressionistischen Grundhaltung dramaturgisch so schlüssig wie überraschend abgestimmt. Der hochbegabte Schreker-Schüler Karol Rathaus (1895–1954) aus Tarnopol lebte in Berlin, als er 1925 seine dreisätzige, ausgesprochen individuelle Sonate für Geige und Klavier op. 14 schrieb – in dissonanzfreudiger freier Tonalität – ein durchweg fesselndes Werk. Mit Beginn des Dritten Reichs emigrierte Rathaus nach Paris, dann London, und schließlich 1938 nach New York. Er sollte wieder häufiger gespielt werden, gerade seine gehaltvoll expressive Orchestermusik würde die monotonen Spielpläne unserer Konzertsäle bereichern.

Der Ostpreuße Heinz Tiessen (1887–1971) wirkte schon recht früh in Berlin, wo er bis zu seinem Tode ein hochgeachteter Lehrer war, dessen Schule so bedeutende Musiker wie Eduard Erdmann, Wladimir Vogel oder Sergiu Celibidache durchliefen. In den ruhelosen 1920er Jahren gehörte er als Mitglied der fortschrittlich-linken Novembergruppe zu den großartigsten Komponisten des deutschen Expressionismus, und nun legen Ingolfsson und Stoupel hier die Ersteinspielung seiner einzigen, im gleichen Jahr 1925 komponierten Duo-Sonate op. 35 für Geige und Klavier vor. Vor allem der langsame Satz und große Teile des Finales gehören zum besten und originellsten, was für diese Kombination in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts geschrieben wurde, und es ist wirklich seltsam, dass niemand vorher auf den Gedanken kam, diese Musik, die einst von Georg Kulenkampff aufgeführt wurde, auszugraben. Eine ganz große Entdeckung!

Die vielleicht größte Überraschung freilich ist die 1949 komponierte Sonate von Paul Arma (1905–1987), geboren als Imre Weisshaus in Budapest, Schüler Bartóks, ab 1931 Assistent von Hanns Eisler in Berlin, 1933 vor den Nationalsozialisten nach Paris geflohen, dort Mitglied der Résistance, ab 1958 französischer Staatsbürger und ein äußerst fruchtbarer Komponist, den man vor allem seiner Flötenwerke wegen kennt. Er hat aber auch viel erstklassige Musik für andere Instrumente verfasst, zu welcher auch vorliegende Sonate gehört, die aus dem Manuskript ersteingespielt wurde. Diese Sonate ist den Instrumenten weniger „auf den Leib geschneidert“ als die Sonaten von Tiessen und vor allem Rathaus, sie ist eher strukturell konzipiert, mit viel dunklen Beleuchtungswechseln, scharfen Kontrasten, Erkundung sparsamer und langsamer Regionen. Aber immer ausdrucksvoll und sehr spannend. Der Kopfsatz dauert geschlagene 16 Minuten (so lang wie die gesamte, sehr dicht gebaute Tiessen-Sonate).

Die CD ist sehr solide musiziert, in jeder Hinsicht untadelig in der Geige, von offenkundigem Gestaltungswillen auch im Klavier, wo lediglich ein paar sehr aufgeraute Forte-Akkorde und vor allem das recht unorganische Rubato (vorschriftsgemäß zwar, doch zu eckig, nicht aus der Musik gewachsen) noch von geistiger Nachbesserung profitieren würden. Der Aufnahmeklang ist ebenfalls solide, die Kommentare der Künstler im Beiheft sind knapp aber korrekt. Am geringen Umfang von Letzterem zeigt sich, wie Oehms Classics diese eigentlich sensationelle Produktion behandelt.

[Sara Blatt, Oktober 2021]

Substanzielle Begegnungen mit einem Jahrhundertgenie

Agora Darmstadt, ISBN: 3-87008-026-4

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Heute ist er nur noch wenigen als Pianist ein Begriff, noch mehr als Komponist zu Unrecht beinahe vollständig vergessen und so gut wie nie aufgeführt: Die Rede ist von Eduard Erdmann. Legendär sind seine uns hinterlassenen Aufnahmen, unter anderem von Schubert, Schumann, Mozart, Beethoven und Mussorgsky, die in einer unerreichten Phrasierung und Natürlichkeit erglänzen, in denen jede Stimme ein eigenständiges Leben führt und sein Spiel in orchestral anmutende Sphären vordringen lässt. Seine eigenen Werke, die zweifelsohne zum Substanziellsten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gehören, begeistern durch ihre schlüssige Formgestaltung, die einen unterbrechungslosen Spannungsbogen bilden, und durch energetisch ausgefeilte Melodielinien, welche in freier Tonalität an die Grenzen des Erfassbaren und Spielbaren gehen, doch von feinen Musikern zu ungeheuerlicher Wirkung geführt werden können. Aufnahmen gibt es leider wenige, erhältlich sind hauptsächlich einige in mangelhafter Qualität von Israel Yinon eingespielte Orchesterwerke (an die älteren, vermutlich weitaus besseren Aufnahmen der 50er- und 60er-Jahre konnte ich nicht gelangen)  – eine Renaissance in völlig neuem, probenintensivem und musikalisch reflektiertem Herangehen ist dringend notwendig!

Zum 10. Todestag Eduard Erdmanns widmeten Freunde, Schüler und Verehrer dem Künstler und seiner Frau Irene 1968 das Buch „Erinnerungen an Eduard Erdmann“, gesammelt und herausgegeben von Manfred Schlösser und Christoph Bitter bei Agora Darmstadt. Es enthält verschiedenartigste Beiträge über Erdmanns Persönlichkeit, sein Schaffen als Komponist und Wirken als Pianist sowie als Lehrer, zudem finden sich eigene Texte und Briefe von dem und an den Künstler, der Text „Die Mama stirbt“ von Irene Erdmann sowie ausführliche Anhänge inklusive Werk- und Aufnahmeverzeichnis. Die Beitragenden sind: Manfred Schlösser, Christoph Bernoulli, Heinz Tiessen, Ernst Krenek, Hans Ornstein, Albert Schulze-Vellinghausen, Viktor Achter, Ernst Lehmann-Leander, Sava Savoff, Marianne Savoff, Philipp Jarnach, Gert Kroeger, Max Rychner, Volker Scherliess, Rudolf Bauer, Frank Wohlfahrt, Paul Baumgartner, Karl Grebe, Arthur Willner, Oscar Bie, Walter J. R. Turner, Robert Oboussier, Josef Müller-Marein, Christof Bitter, Carl Seemann, H. Schmidt-Isserstedt, Helmuth Wirth, Karl Lenzen, Hilde Langer-Rühl, Astrid Schmidt-Neuhaus, Alfons Kontarsky, Aloys Kontarsky, Hans Eckart Besch, Karl H. Girgensohn und Jürgen Klodt. Briefkonversationen wurden geführt mit Hans Jürgen von der Wense, Artur Schnabel, Ernst Krenek, Alban Berg, Walter Gropius, Wassily Kandinsky, Yrjö Kilpinen, Hans Pfitzner sowie Max Rychner.

Die Spanne reicht von guten bis hin zu das Gros bildenden außergewöhnlich fantastischen Beiträgen, und mit jedem Artikel ergänzt sich das Bild dieses einzigartigen Menschen, Komponisten und Musikers mehr. Am Ende wird man beinahe glauben, selbst ein Bekannter von Eduard Erdmann gewesen zu sein. Kaum ein Geheimnis bleibt unangetastet, der Leser erfährt von Erdmanns eigenwilliger Mutter, von seinen ersten Erfahrungen auf dem Podium, von seiner Leidenschaft als Büchersammler und seiner allumfassenden Gebildetheit, von gemeinsamen Reisen; Ebenfalls nicht vorenthalten werden dem Leser zeitgenössische Konzertkritiken, Gedenkworte und ähnliches.

Gerne würde ich auf jeden Artikel gesondert eingehen, denn beinahe jeder wäre es wert, doch würde dies den Rahmen der Besprechung sprengen. Besonders hervorheben möchte ich allerdings den großen Beitrag „Eduard Erdmann in seiner Zeit“ von dessen Lehrer, dem fantastischen Komponisten und ebenso überragenden Musiktheoretiker Heinz Tiessen, der Erdmann um dreizehn Jahre überlebte und somit am Anfang (Erdmann kam mit neunzehn zu ihm) wie am Ende von dessen Karriere Zeuge war – und alles dazwischen liegende auf eloquenteste Weise niederschrieb. Bemerkenswert sind auch die Texte von Erdmanns Komponistenkollegen Ernst Krenek und Philipp Jarnach, die besondere Einblicke gewähren. Neben den eigenen Texten auch eine wahre Pflichtlektüre ist der in gehobener Prosa geschriebene Text „Die Mama stirbt“ von Irene Erdmann, hier wird noch das letzte Geheimnis aus der Familiengeschichte Erdmanns angesprochen. Nicht zuletzt natürlich entscheidend sind die Texte von Erdmanns Schülern, wie er im Unterricht gearbeitet hat, auf was er wert legte und wie seine Vorstellung von lebendigem Klavierspielen war, wie überhaupt er sich die Musik erarbeitet hat.

Kurzum, das Bild ist allumfassend, das der Leser dieser Lektüre von Eduard Erdmann erhält, und es ist auf vielerlei Ebenen äußerst lehrreich. Es sollte Pflichtlektüre sein für alle Pianisten und Musiker, denen es nicht nur um rein technische Bewältigung der Musik geht, denn gerade hier wird ein unweigerlicher Unterschied bemerkbar. Auch allgemein ist dieses Buch wärmstens zu empfehlen, hier lernt man einen außergewöhnlichen, einzigartigen Menschen kennen, der sich allen Konventionen entzieht und eines verkörperte, was nur die wenigsten von sich tatsächlich behaupten können: einen wahren Künstler und großen Menschen.

[Oliver Fraenzke, November 2016]

Anmerkung: „Begegnungen mit Eduard Erdmann“ ist beinahe ausverkauft, im freien Handel ist die Literatur nur selten zu finden. Restexemplare der 3. Auflage gibt es für  20.-€ {keine BpB}, nur direkt vom Agora Verlag, Nollendorfstr. 28, 10777 Berlin, E-mail: agora-verlag@gmx.de.

[Rezensionen im Vergleich] Eine Stunde ein Wimpernschlag – Schubert in Vollendung

Das Trio Ars et Labor im Münchner Freien Musikzentrum

In einer Zeit der Fragmentierung und selbstdarstellerischen Veräußerung, in welcher die Mainstream-Medien in ihrem aussichtslosen Überlebenskampf zu den Knechten einflussreicher Geldgeber mutiert sind und notgedrungen weit überwiegend Hofberichterstattung betreiben, erfüllt ein unabhängiges Medium wie The New Listener eine unentbehrliche Funktion im Bereich der Musik, die außer durch das Abfeiern von Stars, Events und Skandälchen sowohl in den völlig dekadenten Öffentlih-Rechtlichen Anstalten als auch in den Feuilletons und der sogenannten Fachpresse fast durchweg ignoriert wird. Ein Konzert wie das den Trio Ars et Labor aus Perugia, das eben nicht aus Stars, sondern schlicht aus höchstkarätigen, traumwandlerisch aufeinander eingespielten Musikern besteht, wird eben nicht nur nicht von den etablierten Kritikern der ‚Weltstadt mit Herz’ ignoriert, sondern findet quasi außerhalb des Betriebs statt. Diese Musiker müssten im Herkulessaal in einer der großen Reihen spielen, doch sie treten im Abschlusskonzert eines Symposiums im Freien Musikzentrum statt, einer wunderbaren Institution, die Münchner Konzertgängern – sofern sie auf klassische Konzerte spezialisiert sind – so gut wie kein Begriff ist. Und dort war nun am Samstag, den 8. Oktober das letzte Klaviertrio von Franz Schubert in einer Vollendung zu hören, wie dies alle Anwesenden in ihrem Leben noch nicht erlebt hatten – jenes Franz Schubert, der seinerzeit von den hochnäsigen Wienern ebenso ignoriert wurde wie dies heute Musikern widerfahren kann, die sich nicht vom Starsystem auspressen und hypen lassen. Oliver Fraenzke als Chefredakteur von The New Listener gebührt entsprechender Dank für seine Neugier und Courage, das klassische Musikleben quasi von unten aufzurollen, und er hat den einmütigen Eindruck, den die Zuhörer dieses singulären Konzerts mitnahmen, treffend wiedergegeben, soweit dies möglich ist. Ja, die Zeit stand still für mehr als eine Stunde, und wer dabei war, konnte sich glücklich schätzen, einen Schubert gehört zu haben, wie er zumindest seit Celibidaches Wirken mit dieser Kraft der Verinnerlichung als erlebter Gesamtzusammenhang in München nicht zu hören war – also für mehr als zwei Jahrzehnte.

Die Schweizer Pianistin Christa Bützberger, Mentorin und Seele des Ars et Labor-Projekts in einem Land, dessen kultureller Verfall noch weit offenkundiger als hierzulande ist, hat zehn Jahre lang bei Celibidache studiert. Sie gehört zu den wenigen, die offensichtlich verstanden haben, was Celibidache lehrte und vorlebte. Zu Beginn erklang die knappe, dreisätzige Duo-Sonate von Heinz Tiessen (1887-1971), eines der großen expressionistischen Meisterwerke dissonanter Freitonalität der Berliner Szene in der Weimarer Republik, und bis heute nicht auf Tonträger eingespielt. Wie lange wird es wohl noch dauern, bis Tiessen und seinem Schüler Eduard Erdmann der Rang als zwei der bedeutendsten deutschen Komponisten des 20. Jahrhunderts eingeräumt wird? Im Dritten Reich massiv unterdrückt, hatten sie nie eine Lobby, die sich um die Verbreitung ihrer Werke kümmerte, wie dies jüdischen Komponisten und einigen prominenten Vertretern zuteil wurde. Aber dafür ist es nie zu spät, wenn auch der posthume Ruhm dem Komponisten selbst nicht mehr in den Schoß fällt – doch das gilt ja auch für Schubert. Sara Gianfriddo und Christa Bützberger vermittelten uns mit ihrer so innig musikalischen wie herausfordernd wagemutigen Wiedergabe weit mehr als nur einen nachhaltigen Eindruck, welch großartiges Kaliber musikalischer Erfindung und Gestaltung hier der Vergessenheit entrissen wird. Tiessen gehörte keiner Schule an. Einflüsse des avancierten Richard Strauss und Arnold Schönbergs sind hier zu etwas vollkommen Eigenem, in seiner Authentizität Mitreißendem und zutiefst Berührendem transformiert, und die teils extremen technischen Schwierigkeiten sollten kein Duo von Rang abschrecken, sich mit dieser Musik zu beschäftigen, die mit einer Bewusstheit ohnegleichen durch den freitonalen Raum moduliert und keinen Wunsch offenlässt außer dem, sie so oft wie möglich auf einem solchen Niveau hören zu können.

Danach – ohne Pause – das Klaviertrio in Es-Dur op. 100 von Franz Schubert in der Originalfassung, also ohne die Kürzungen im Finale, die Schubert in seiner Verzweiflung, nicht einmal von seinen besten Freunden verstanden zu werden, für die Drucklegung – die er gerade nicht mehr erleben sollte, und die den Beginn seines Durchbruchs im großen Format markieren sollte – vornahm. So erst kann dieser Satz – und damit das ganze Werk – in seiner ganzen Fülle und nur wieder von Bruckner erreichten großen Dimension wirken. Man muss erlebt haben, wie die Geigerin Sara Gianfriddo und die Cellistin Héloïse Piolat wie zu einem Wesen verschmolzen in der Tongebung, Phrasierung und subtilsten Elastizität des Tempos, und wie Christa Bützberger – auf dem nun wahrlich nicht optimalen Yamaha-Flügel des FMZ – das Ganze trug, jede Schattierung hörbar machend, ohne dass auch nur ein Moment Selbstzweck würde. Alles dient der Formentwicklung als Ganzes. Die ergreifende Innigkeit hat überhaupt nichts zu tun mit schmachtender Sentimentalität, und ebenso nichts mit abstrakter Nüchternheit. Die Hörer wurden mit dem Dreiklangsmotiv des Beginns in Empfang genommen und mit der Coda des Finalsatzes entlassen. Was dazwischen war, entzieht sich in der Essenz jeder Beschreibung. Als hätte man ein ganzes Leben, in vier Stationen gegliedert, in einer guten Stunde durchschritten, durchlitten, durchlebt. Die frappierende Makellosigkeit der Aufführung zu bestaunen ergab sich sozusagen keine Gelegenheit, da der Spannungsbogen so unwiderstehlich und bruchlos errichtet wurde, dass jeder Gedanke, der einen Aspekt herausgegriffen und gesondert bewundert hätte, sich zerstörerisch auf das Erleben ausgewirkt hätte.  Jedoch sei erwähnt, dass die Modulationen mit einer Feinsinnigkeit und visionären Gestaltungskraft einmaliger Qualität ausgehört uns ausmusiziert wurden, dass die das Metrum transzendierende Artikulation keinen Anflug von Schwere zuließ, dass die Tongebung auch im fernsten Pianissimo noch substanziell und im machtvollsten Fortissimo nie grob war, dass in all der Manifestation unerschöpflicher Mannigfaltigkeit nie ein Effekt um des Effekts willen produziert wurde, der Rhythmus aufs Natürlichste ausschwang, die Musik ihren ganz eigenen Sog frei entfalten konnte, bei aller Disziplin des gemeinsamen Erfassens eine ideale Freiheit der Gestaltung erreicht wurde. Die Zeit verging wie im Fluge, sozusagen eine Stunde ein Wimpernschlag.

[Christoph Schlüren, Oktober 2016]

[Rezensionen im Vergleich] Und die Zeit steht still

Den musikalischen Abschluss des dreitätigen interdisziplinären Symposiums „Vergleichzeitigung. Resonanzen durch Musik“ vom 06. bis 08. Oktober 2016 im Münchner Freien Musikzentrum bildet ein Konzert des Trios Ars et Labor aus Perugia mit Christa Bützberger am Klavier, Sara Gianfriddo an der Violine und Hélioïse Piolat als Cellistin. Auf dem Programm steht das große letzte Klaviertrio Franz Schuberts, Es-Dur D. 929, sowie zuvor die Duo-Sonate op. 35 für Violine und Klavier von Heinz Tiessen.

Welch ein musikalischer Höhepunkt ist dieses Konzert nach dem Symposium über Vergleichzeitigung, an welches es so nahtlos anschließt. Nicht nur, dass die Pianistin des Trios Ars et Labor, Christa Bützberger, selbst am Vortag noch einen Vortrag über die Aktualisierung und Vergleichzeitigung in Schuberts Es-Dur-Klaviertrio D. 929 hielt, nein, auch wurde die lang theoretisch besprochene musikalische Phänomenologie hier in der Praxis erlebbar.

Das Symposium schloss die Phänomenologie von mehreren Seiten aus ein, am ersten Tag gab es interdisziplinäre Vorträge aus den Bereichen der Religionswissenschaft, der Psychologie und der Philosophie, vor allem wurden hierbei die transzendierenden Zustände des menschlichen Bewusstseins beim Hören von Musik thematisiert sowie der Vorgang im menschlichen Gehirn. Der zweite Tag widmete sich hauptsächlich der Musik, nach einer eröffnenden Performance von Gunter Pretzel auf der Bratsche folgte der phantastische Vortrag von Christa Bützberger, die einem das harmonische Geschehen in der Musik Schuberts (und auch allgemein) so greifbar nahe bringen und auch die Liebe zu dieser Musik vermitteln konnte. Prof. Dr. Wolfgang-Andreas Schultz weckte die Erinnerungen an die elementare Formlehre, gerade die kadenzierenden Schlüsse in ihrer Mannigfaltigkeit zeigte er anhand einer Sonate von Mozart. Christoph Schlüren sprach über „Korrelation und Transzendenz in der Musik“, stieß dabei gewagt etliche Thesen über die Entwicklung der abendländischen Musik wie die „Gewöhnungs-Theorie“ (Konsonanzen und Quinten-Zirkel seien bloße Konditionierung und nicht naturgegeben) um und konnte auf voller Linie überzeugen. Einen nie so erlebten Zugang zur Musik legte Juan José Chuquisengo dar, der peruanische Meister rekonstruierte Stück für Stück ein berühmtes Klavierwerk, angefangen bei der Rhythmik, welche er das Publikum in Takte und Schläge einteilen ließ (womit er auf absolute Überforderung stieß, welche Überraschung bei solch hoch gebildeten, musikalisch professionellen und teils prominenten Zuhörern!). Später folgten absichtlich verfälschte Tonhöhen, dann ein Harmoniegerüst und erst nach über einer halben Stunde kam das Publikum langsam erstaunt auf die simple wie überraschende Lösung: Es handelte sich um Clair de Lune von Chaude Debussy – das grundlegende Verständnis von Musik wurde hier innerhalb einer Stunde revolutioniert! Ein religionswissenschaftlicher Vortrag über Rituale rundete den Tag ab. Der dritte Tag brachte einen grandiosen medizinisch-psychologischen Vortrag von Prof. Ernst Pöppel über die Beeinflussung des musikalischen Zeitmaßes durch das Gehirn, eine Podiumsdiskussion mit dem nun 80 Jahre alt gewordenen Hans Zender, bei welchem sogar Zuschauer vor Empörung über das Unverständnis dieses eigentlich angesehenen Komponisten (dem am Vortag ein ganzes Konzert der Musica Viva gewidmet war) den Saal verließen, ein Gespräch zwischen Prof. Dr. h.c. Peter Michael Hamel und Christoph Schlüren sowie eine von Hamel geleitete kollektive Stimmimprovisation mit dem Publikum.

Das Konzert des Trios Ars et Labor am Abend des 08. Oktober beginnt mit der Duo-Sonate von Heinz Tiessen, dem wichtigsten Lehrer von Sergiu Celibidache („ich habe alles von Tiessen gelernt“) sowie von Eduard Erdmann, dem unangefochten größten deutschen Pianisten, von welchem Aufnahmen erhalten sind. Das 1925 entstandene dreisätzige Werk Tiessens ist ein absolutes Meisterstück des Expressionismus und geht in freier Tonalität an die Grenzen des Korrelierbaren (oder sogar darüber hinaus?). Dieses selten gespielte Werk höre ich heute das erste Mal und kann offen gestehen, es bei einmaligem Hören noch nicht vollständig durchdrungen zu haben – so komplex und vertrackt, in solch einem gewaltigen allumfassenden Bogen, dessen zentrifugale Kräfte an die Grenzen des Wahrnehmbaren reichen. Doch glaube ich, dennoch relativ viel von der Musik zu verstanden zu haben, und dies ist nicht mein Verdienst, sondern das der Musiker. Die verzweigten Melodien sind von fein gefühlter Phrasierung, die stark erweiterte Harmonik absolut nachvollziehbar. Plötzlich ziehen dichte Wolken auf und es donnert musikalisch, doch auch das heftigste Aufbegehren bleibt geschmeidig und ohne grobe Härte.

Im direkten Anschluss gibt es Schuberts letztes Klaviertrio Es-Dur D. 929, welchem er die Opuszahl 100 verliehen hat. Dieses Stück sollte Schuberts Durchbruch sein, wenngleich er diesen nicht mehr erlebte, einen Monat vor der finalen Drucklegung verstarb der Meister viel zu früh. Doch hatte er es selbst noch einige Male hören dürfen, die Kritik war begeistert, doch einige Freunde nannten den Finalsatz zu lang. So nahm Schubert zwei große Kürzungen in der Durchführung vor, über einhundert Takte fielen – scheinbar für alle Zeit – aus dem Text heraus und wurden nicht mitgedruckt. Erst in den 1970er-Jahren wurde in einer neuen Ausgabe das wiederentdeckte Manuskript berücksichtigt und die eigentliche Fassung wiederhergestellt, diese ist heute zu hören. Und die Welt hat was verpasst: Welche Magie steckt in den gestrichenen Passagen, welch unfassbare harmonische Genialität und welch ein finalkonvergenter Höhepunkt, der an einer Stelle die Themen aller Sätze zusammenlaufen und damit verblüffen lässt!

Das Trio verzaubert! Ich übertreibe nicht, zu sagen, dass dies mit Abstand der beste Schubert ist, den ich je gehört habe. Die Musiker fühlen alle Nuancierungen der harmonischen Spannung und setzen diese auf einmalige Weise um, dass es einem direkt den Boden unter den Füßen wegzuziehen scheint. Jedes Spannungsverhältnis ist von innen heraus gefühlt, die Übergänge geschmeidig fließend und zu keiner Zeit gibt es nur den geringsten Abfall an Energie. Und wenn nicht schon beim ersten Satz, so bleibt spätestens im Andante con moto die Zeit stehen – die während der Vorträge so viel besprochene Zeitlosigkeit ist hier am eigenen Leib zu erfahren. Sogar den weiträumigen vierten Satz spielen die Musiker in einem Zug ohne Ecken und Kanten in unwiderstehlich organischer Formung. Vom Klavier aus hält Christa Bützberger das Trio musikalisch zusammen und leitet mit größter Geschmeidigkeit. Ihr Spiel ist farbenreich in unzähligen dynamischen wie artikulatorischen Abstufungen, dabei von ungezwungener Leichtigkeit und mit einer atemberaubenden Zuneigung zur Musik, die in jedem Ton spürbar wird. Einen lockeren Ton hat Sara Gianfriddo an der Violine, sie schwingt sich spielerisch in die Höhen und besticht mit einem erhabenen und doch so nahen Ton voll von innerem Gefühl und unverfälschtem Ausdruck. Am Violoncello begeistert Hélioïse Piolat, selten ist eine so unprätentiöse Cellistin zu hören, sie stellt sich nicht mit übermäßigem Vibrato und überzogenen Dynamiken zur Schau, wie es so oft zu hören ist, sondern vertraut der Feingliedrigkeit und dem zentrierten Bewusstsein über die Musik, womit sie ausnahmslos überzeugt. Die Musiker beherrschen auch den Raum und vermögen, ihn komplett auszufüllen: Einmal will ich mich fast umdrehen, da ich mir sicher bin, das Klavier in seiner hohen Lage hinter mir gehört zu haben. So sind die drei Musikerinnen bei aller Synchronizität und ihrem unzertrennlich verbundenen Zusammenwirken doch auch noch Individuen, die ihren Teil zur Musik beitragen und wie von unterschiedlichen Ecken des Raums auf das Publikum eindringen.

Nach dem Konzert ist es lange still, so in den Bann genommen sind die Zuhörer noch, und auch nach dem tosenden Applaus bleibt das Publikum wie gefesselt – nur langsam wird gewahr, dass dieser unvergleichliche Abend bereits vorüber ist.

[Oliver Fraenzke, Oktober 2016]

Eduard Erdmann in Berlin

 

Der Berliner Kreis um Eduard Erdmann war Fokus des Symposiums „Im Zeiten-Getriebe“ der Eduard-Erdmann-Gesellschaft e. V. in Kooperation mit der Akademie der Künste in Berlin am 26. und 27. August 2016. In der Akademie am Hanseatenweg Berlin fanden an zwei Tagen Vorträge über Erdmann und einige seiner wichtigsten Berliner Zeitgenossen statt, an beiden Abenden gab es zudem Konzerte mit seiner Musik.

Der 1896 in Riga geborene Eduard Erdmann ist heute weitgehend in Vergessenheit geraten, weder werden seine großartigen Kompositionen gelegentlich gespielt, noch spricht man weiter von ihm als einem der größten Pianisten und Musiker des vergangenen Jahrhunderts. Bereits zu Lebzeiten galt er als einer der überragenden Pianisten aller Zeiten, er musizierte regelmäßig unter anderem vierhändig mit Walter Gieseking oder im Duo mit der Ausnahmegeigerin Alma Moodie, von deren laut Ohrenzeugen unvergleichlichem Spiel bedauerlicherweise kein Ton in Aufnahmen erhalten ist. Heinz Tiessen hatte in Erdmann seinen ersten bedeutenden und kreativsten Kompositionsschüler vor Sergiu Celibidache. Unmittelbares Erleben, intensivstes Erhören und ein unübertroffenes Gespür für die kadenzierenden Kräfte über lange Strecken prägten Erdmanns Spiel, was zumal in den späten Schubert-Sonaten zu vollendetem Ausdruck kommt. Die begnadet feinfühlige Pianisten Lucy Jarnach, Enkelin des Komponisten Philipp Jarnach (des Schülers von Busoni, engen Freundes von Erdmann und Lehrers von Kurt Weill), nannte Eduard Erdmann neben Arturo Benedetti Michelangeli und Dinu Lipatti als bedeutendsten Pianisten, von dem heute noch Aufnahmen erhalten sind – eine Trias, der zugestimmt werden kann. Doch auch als Komponist schuf Erdmann bedeutsame Werke. Gerade von der Dritten wird oft als einer der ganz großen Symphonien des 20. Jahrhunderts gesprochen – leider ist sie derzeit nur in einer schäbigen Aufnahme unter Israel Yinon erhältlich, der wohl nicht eine einzige Probe vor der Aufnahme ansetzte, und dem auch das Wissen um Phrasierung und Spannungsentwicklung vollständig fehlte. Neben Erdmanns vier Symphonien sind unter anderem noch die Monogramme, die Capricci, das Klavierkonzert sowie das Klavier-Konzertstück, das Ständchen für kleines Orchester (mit dem Titel war Erdmann später unglücklich, da er zu „harmlos“ klang für diese Musik), ein Streichquartett und die symphonisch angelegte Sonate für Violine Solo zu nennen.

Im Berliner Symposium „Im Zeiten-Getriebe“ der Eduard-Erdmann-Gesellschaft e. V. in Kooperation mit der Akademie der Künste ging es nicht um ausführliche biographische Details oder intensive Werkanalyse, hier wurde hauptsächlich gesprochen von dem großen Kreis, den Erdmann in Deutschlands Hauptstadt um sich hatte, über ihn und seine Lehrer, Freunde und Kammermusikpartner. So konnte ein umfassendes Bild der vielseitigen Persönlichkeit Erdmanns entstehen und der Hörer erfuhr Hintergründe und Aspekte des Lebens eines außerordentlichen Künstlers, die in dieser Ausführlichkeit der Zeitzeugenschaft selten sind. Seine unschätzbare Bibliothek, sein umfassendes Wissen quer durch alle Bereiche bis hin zu seinen familiären Umständen wurden thematisiert. Persönliche Begegnungen mit direkten Nachkommen Erdmanns und sogar noch mit ehemaligen Schülern und Freunden des 1958 Verstorbenen ergänzten dies in authentischer Weise.

Den Startschuss machten kurze Begrüßungen des Leiters der Akademie der Künste Werner Grünzweig, welcher eine konzentriert-informierende allgemeine Einführung in das Symposium gab, und dem Vorsitzenden der Eduard-Erdmann-Gesellschaft Horst Jordt, der die wundersame Welt der Irene Erdmann, der Gattin des Meisters, beleuchtete. Sie war ebenfalls eine Künstlerin von Rang – wenngleich sie ihre Gemälde nicht ausstellen ließ – und ermöglichte es überhaupt, dass ihr Mann sich so intensiv mit der Musik und seinen Büchern beschäftigen konnte, während sie die Aufgaben der Kindererziehung wie der Briefkorrespondenz übernahm – allgemein gesprochen, den konstanten Kontakt zur Außenwelt hielt. Eine allgemeine Einführung in das Symposium gab der zweite Vorsitzende Gerhard Gensch.

Den ersten großen Vortrag hielt Christoph Schlüren über „Symphonische Formung in freitonaler Linearität“, womit er das subtil-künstlerische Verhältnis zwischen Erdmann und seinem Lehrer Heinz Tiessen auf musikalisch-ästhetischer Ebene offenlegte. Schlüren sprengte sein Thema, erklärte als zentralen Punkt seines Beitrags auf bislang unerhörte Weise die Phänomene der sogenannten Dodekaphonie, welche er als rein theoretisch funktionierendes Konstrukt beschrieb, im Gegensatz zu der freitonalen Musik Erdmanns, Tiessens und anderer. Auch der Begriff „Atonalität“ wurde angesprochen und verworfen, da auch in der seriell komplexesten Tonorganisation Quintbeziehungen entstehen, die für kurze Zeit tonale Zentren schaffen, welche nur – ebenso wie auch bei Regers kaum durchdringbar mäanderndem Dauer-Modulieren auf engstem Raum – stets schnell wieder entgleiten. Anhand von sechs Tönen Erdmann-Musik ließ er Spannungsverhältnisse verstehen und miterleben. Der Vortrag Schlürens war zweifelsohne für Fachpublikum mit Vorkenntnissen ausgelegt und einige anwesende Nichtmusiker dürften von dem geballten Inhalt eher verschreckt worden sein. Doch wer über allgemeines Wissen über essenzielle musikalische Grundlagen verfügt und sich auch der eigenwilligen, dem „Mainstream“ diametral entgegengesetzten Ansicht ohne Insistieren auf konventionellen Akademismus öffnen konnte, durfte hier eine faszinierende Welt entdecken und einen heute kaum begangenen Weg mit-erkunden, Musik zu verstehen und aus den subtilen Spannungsverhältnissen heraus zu hören und zu erleben. Hier wird ein neuer, wenngleich absolut natürlicher Zugang zur Musik gebahnt, der ununterbrochen aktive Wahrnehmung erfordert, den Hörer dadurch aber unweigerlich belohnt. Es entsteht ein Verständnis von der Musik, die sich von Mechanisierungen löst, jede Tonkombination und somit jede Phrasierung wird einzigartig und muss für sich individuell erspürt werden. Und dies wurde hier erklärt anhand von Beispielen von Tiessen und Erdmann – und wer aktiv mitging, wird die Beziehung der Komponisten intensiver begriffen haben als es ein rein biographisch arbeitender Vortrag je auch nur ansatzweise es hätte vermitteln können.

Volker Scherliess hätte über die Beziehung zwischen Eduard Erdmann und Artur Schnabel sprechen sollen, doch erkrankte er und musste Werner Grünzweig seinen Text „Hüten Sie sich vor Geschicklichkeit!“ anvertrauen, der sich auf eine Warnung Schnabels an seinen Schüler Erdmann bezieht. Auf umfassender Quellenlage beruhend beschrieb Scherliess – durch Grünzweig eindringlich vorgetragen – auch private Aspekte des freundschaftlichen Lehrer-Schüler-Verhältnisses und lieferte ein detailreiches Bild vom Zusammenwirken zweier großartiger Pianisten bis hin zu Erdmanns teilweiser Aufführung von Schnabels als Jugendsünde abgestempeltem und nicht zur Aufführung gedachtem Klavierkonzert unter Pseudonym eines unbekannten Komponisten.

Der zweite Symposiumstag wurde eingeläutet von einer kurzen Einführung durch Manfred Schlösser, welcher trotz vollständiger Ertaubung auf unwahrscheinlich eloquente Art in das von ihm gemeinsam mit dem bereits verstorbenen Christof Bitter herausgegebene Buch „Begegnungen mit Eduard Erdmann“ einging und einige besondere Passagen herausfischte. Es war zutiefst beeindruckend, wie Schlösser trotz des Handicaps nicht nur stringent und charmant vortrug, sondern durchgehend präsent war, die Beiträge der anderen mitlesend und via Diktier-App kommunizierend. Hier stand eine Legende der Erdmann-Forschung vor uns, dessen Buch mit substanziellen Beiträgen aus Erdmanns Umfeld weit mehr als ein Must Have für jeden ist, der sich mit der Person oder dem Künstler Erdmann beschäftigen will. Dies ist wirklich eines der schönsten, vielseitigsten und umfassendsten Bücher der gesamten Musikliteratur (sowie Leitquelle für die meisten gehaltenen Vorträge), eine Besprechung wird in Bälde auf The New Listener erscheinen.

Dem folgte ein Vortrag über den „eigenwilligen Trabanten“ Hans Jürgen von der Wense, der nach seinem Umzug nach Berlin 1920 gerade mit Erdmann und Krenek eine intensive Freundschaft pflegte. Von der Wense darf schlichtweg als Universalgelehrter gelten, er war neben seinen schriftstellerischen Fähigkeiten ein ambitionierter Komponist und Übersetzer aus allen möglichen Sprachen, von welchen er Dutzende beherrschte, zudem war er leidenschaftlicher Pilot und Wetterkundler. Reiner Niehoff (ausnahmsweise ohne Mitwirkung seiner Frau Valeska Bertoncini) brachte den Hörern das ungewöhnliche Leben von der Wenses, seine unverwechselbaren Eigenheiten und seine Verbindung zu Erdmann auf humorvolle und sympathische Weise näher – das Publikum war gebannt von seinen humoristisch-legeren und zugleich sachlich-informativen Ausführungen.

Zugegebenerweise verstehe ich nicht, warum es in diesem Rahmen einen Vortrag über den expressionistischen Maler George Grosz gab, stand er doch vermutlich – obgleich sie Zeitgenossen waren und in der selben Stadt lebten – nie in Kontakt mit Eduard Erdmann, doch hat auch Birgit Möckels Beitrag über ihn das facettenreiche Bild über Erdmann um einen weiteren wichtigen Zeitgenossen bereichert, dessen Kunst das Zeitgeschehen der Weimarer Republik auf einmalige Weise portraitierte.

Anhand des Briefwechsels zwischen Artur und Therese Schnabels eröffnete Julia Glänzel den Zuhörern persönliche Beobachtungen über Eduard Erdmann als Mensch und als Künstler, gab private und nicht für die Öffentlichkeit bestimmte Aussagen preis über einzelne Konzerte oder allgemein über die nachlässige äußerliche Erscheinung Erdmanns, dem beispielsweise sein Kleidungsstil vollkommen egal war, was wohl immer wieder für Befremdlichkeiten sorgte. Ergänzend zu den Berichten von und über Artur Schnabel spielte die ausgezeichnete Geigerin Judith Ingolfsson Ausschnitte aus der riesenhaften Soloviolinsonate Artur Schnabels.

Der letzte Beitrag beschäftigte sich mit Eduard Erdmanns Geigenpartnerin Alma Moodie, die als Wunderkind schon in frühestem Alter Max Reger begegnete und Carl Flesch vorspielte, dessen Schülerin sie später werden sollte. Ihr Spiel, von dem keine Aufnahmen erhalten sind, wurde anhand von Pressestimmen beschrieben, und die Referentin Birgit Saak betrachtete auch das Repertoire von ihr und Erdmann, welches sie in ihren beiden Phasen kammermusikalischer Kooperation (unterbrochen durch Erdmanns Umzug nach Köln und die Schwangerschaft der früh verstorbenen Violinistin) einstudierten.

Beide Symposiumstage wurden abgerundet von Konzerten, die zum großen Teil dem Komponisten Eduard Erdmann gewidmet waren. Am Freitag spielte Vladimir Stoupel am Klavier mit den Sängern Anna Gütter, Dirk Mestmacher und Jiří Rajniš Auszüge aus der Fragment gebliebenen Operette „Die entsprungene Insel“ op. 14. Trotz abstrusem Handlungsplot und einem eher weniger gelungenen Libretto schuf Erdmann hier Musik von großer Güteklasse, die Klavierstimme lässt eine geistreiche Instrumentation erahnen, und die Sänger fliegen in feingliedrigen Melodien von einzigartigem Charme. Stoupel ist ein Meister darin, kleine Ungenauigkeiten unauffällig zu kaschieren. Die Sänger leitete er verständlich an, und so gelang es, die fragmentarische Aufführung zu einem lohnenden Erlebnis werden zu lassen. Beeindruckend war die sängerische Leistung, die ungeachtet der Begleitung durchgehend ansprechend war. Am Samstag spielte Stoupel mit seiner Frau Judith Ingolfsson die Violinsonate von Heinz Tiessen und die Kreuzersonate Beethovens, die Geigerin spielte alleine die hochkomplexe und fast nie gespielte Soloviolinsonate Erdmanns, deren Intervallverhältnisse so schwierig auszuhören sind, dass bereits einige renommierte Solisten nichts mit ihr anzufangen wussten und sie aus oberflächlichem Unverständnis ablehnten.

Zweifelsohne lernte das Publikum sehr viel über den Pianisten, Komponisten und Menschen Eduard Erdmann, und wohl jeder ging bereichert aus diesem Symposium heraus. Ein weitreichendes Bild Erdmanns und seines Berliner Kreises wurde vermittelt aufgrund liebevoll detaillierter Beschreibungen. Sehr darf man sich auf den Symposiumsbericht mit allen Beiträgen freuen, um sie sich noch einmal genauer zu Gemüte führen zu können. Nächstes Jahr tagt die Erdmann-Gesellschaft in der lettischen Hauptstadt Riga, der Geburtsstadt des Komponisten und Pianisten – sicherlich ein guter Grund, dieser Stadt einen Besuch abzustatten!

[Oliver Fraenzke, August 2016]