Das Glière-Quartett hat für Dux das Streichquartett a-Moll op. 32 von Józef Wieniawski (1837–1912) gemeinsam mit dem Streichquartett c-Moll WAB 111 von Anton Bruckner (1824–1896) eingespielt.
Es bedarf meist nur der ersten Töne einer Aufführung oder Aufnahme, um gleich zu wissen, mit wem man es zu tun hat. So ist es auch bei dem in Wien beheimateten Glière-Quartett und seiner neu herausgekommenen CD mit den Streichquartetten in a-moll op. 32 von Józef Wieniawski und dem in c-moll WAB 111 von Anton Bruckner.
Nach den ersten Tönen hören wir also bereits, dass wir es mit wirklichen Tonkünstlern zu tun haben, also mit Musikerinnen und Musikern, die die Werke vollkommen durchgehört und ihren Part individuell in Bezug auf das Ganze der Partitur nicht nur instrumental-musikantisch, sondern auch im symphonischen Sinne geistig durchdrungen haben und beherrschen. Und so hält der Rest der Einspielung, was schon die ersten Takte versprechen: Keine Note steht für sich allein, kein Tempo ist willkürlich, und kein noch so schöner Moment wird isoliert und damit an eine vordergründige Darstellung oder zweckfreie Virtuosität verschenkt.
Mit dieser freien, und im höchsten Maße einfachen wie komplexen Musizierhaltung des Glière-Quartetts ist es wohl möglich, aber kaum nötig, die eingespielten Quartette zu kontextualisieren, um sie aus einer vermeintlich zweiten Reihe des Streichquartett-Kanons hervorzuholen. Wir mögen den tonschönen, aber nie versüßten Wieniawski wohlklingend als Cousin ersten oder zweiten Grades von Brahms hören, und beim oft nicht ganz ernstgenommenen und als Studienwerk abgetanen Bruckner bestätigt finden, was in seinen Symphonien durch eine meist einseitige Klangorientierung zum Wagnerischen gerne mit falscher Verve überdeckt wird: dass er als Nachfolger von Haydn und Schubert deren Sinn für Klarheit und Form und für harmonisch subtile Farbgebung vereint.
Um so zu hören, bedarf es jedoch mit Wladislaw Winokurow (1. Geige), Dominika Falger (2. Geige), Martin Edelmann (Viola) und Endre F. Stankowsky (Cello) vier Musikerinnen und Musikern entsprechender Könnerschaft und Metierbeherrschung, und so geht die vorliegende Aufnahme noch einen Schritt weiter: beide Werke erklingen originär in ihrer Schönheit als das, was sie sind. Es wird, und das ist höchstes zu vergebendes Lob, nicht interpretiert und nicht dargestellt, sondern verwirklicht.
Das Glière-Quartett hat damit eine Referenzaufnahme der Werke, darüber hinaus aber ein Beispiel für das adjektivlose Wesen der Kammermusik, das so-wie-es-ist-wenn-man-aufeinander-hört, geliefert. Man kann es somit nur in den höchsten Tönen loben, ihm dankend auf weitere Zeugnisse ihrer Arbeit hoffen, und ihnen vor allem das Publikum wünschen, das die Ohren hat, so zu hören wie es selbst dazu in der Lage ist.
Am 19. 11. 2023 brillierte der britische Pianist Jonathan Powell mit einem Klavierabend zu Ehren des in Bad Tölz begrabenen Komponisten Hans Winterberg im dortigen Kurhaus. Nach einer hochrangig besetzten, vom BR-Redakteur Bernhard Neuhoff klug geleiteten Podiumsdiskussion über den verschlungenen Lebensweg Winterbergs und die vielschichtigen Wurzeln seiner Musik spielte Powell Stücke von Komponisten, die – bis auf Arnold Schönberg – alle in der späteren Tschechoslowakei geboren wurden, und deren Bedeutung ebenfalls erst nach und nach adäquat gewürdigt wird: Alois Hába, Josef Suk, Vítězslava Kaprálová, Egon Kornauth, Viktor Ullmann und Leoš Janáček, bevor der Abend dann mit Winterbergs beeindruckender 3. Klaviersonate schloss.
Das durch unglückliche – wenn nicht befremdliche – Umstände in Vergessenheit geratene Werk des deutschsprachigen Prager Juden Hans Winterberg (1901–1991), der Theresienstadt überlebte, nichtsdestotrotz 1947 nach Bayern zog, wird erst seit wenigen Jahren durch das Exilarte Zentrum an der Universität für Musik und darstellende Kunst, Wien in Zusammenarbeit u.a. mit Boosey & Hawkes – die nun erstmals Musik des Komponisten verlegen – erforscht und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Gleichzeitig gab es in letzter Zeit einige neue Aufnahmen, u.a. mit Liedern sowie Klavier- und Kammermusik. Die erste CD mit – neu produzierten – Orchesterwerken wurde hier kürzlich ausführlich besprochen. Wer mehr zu Person und Werk sucht, findet die grundlegenden Infos auf der Seite von Dr. Michael Haas, der dem interessierten Publikum als Produzent der legendären Decca-Serie Entartete Musik bekannt sein dürfte.
Am Sonntag, 19. November 2023 fand zu Ehren Winterbergs, der ab den 1970ern einige Jahre in Bad Tölz lebte und auch dort begraben liegt, im Kurhaus der Stadt ein denkwürdiger Klavierabend statt, der mit einer prominent besetzten Podiumsdiskussion begann: Nach sehr engagierten Grußworten des 3. Bürgermeisters, Dr. Christof Botzenhardt, sowie des Enkels Winterbergs, Peter Kreitmeier, beschäftigten sich – unter der umsichtigen und hervorragend getimten Moderation Bernhard Neuhoffs von BR Klassik – Michael Haas (nun Senior Researcher bei Exilarte), Frank Harders-Wuthenow (Boosey & Hawkes), Lubomir Spurny (Masaryk-Universität Brno) sowie der Prager Journalist Petr Brod mit dem verschlungenen Lebensweg und der nicht ganz unkomplizierten Verwurzelung des Komponisten im vielschichtigen Prager Musikleben nach Gründung der Tschechoslowakei. Winterberg gilt nicht nur dem britischen Pianisten Jonathan Powell als „missing link“ zwischen Mahler, Janáček und der Neuen Wiener Schule. Ab den 1960ern hat der Komponist sogar seine ganz persönliche Antwort auf den Nachkriegs-Serialismus gefunden.
Im eigentlichen Klavierproramm hatte Powell mit Bedacht Musik gewählt, die die zuvor beleuchteten unterschiedlichen Wurzeln – bis zurück in die „k.u.k.“ Ära – hörbar machen. Der Pianist startete mit dem für 1918 überraschend tonalen Intermezzo op. 2, Nr. 2 (f-Moll) des späteren Viertelton-Revolutionärs Alois Habá (1893–1973), das klanglich – obwohl weit weniger dicht – an die Sonate Alban Bergs erinnert. Es folgten vier kurze Genrestücke von Josef Suk (1874–1935) – aus den Zyklen Vom Mütterlein op. 28, Wiegenlieder op. 33, Erlebtes und Erträumtes op. 30 und Episoden (1923). Suk, Schüler – und späterer Schwiegersohn – Dvořáks, machte vor allem durch große, in ihrer Orchestrierungskunst Richard Strauss in nichts nachstehende Orchesterwerke Furore, besonders mit der Uraufführung von Zraní nur zwei Tage nach Gründung der Tschechoslowakischen Republik. Schon an diesen Kleinoden spürten die Zuhörer – man hätte sich da durchaus ein paar mehr gewünscht – Powells klangliche Delikatesse, sein tiefes Verständnis für Harmonik und die empathische Charakterisierungskunst bis ins kleinste motivische Detail. Aus dem interessanten Diskant des Bechstein-Flügels im Kurhaus kitzelte er wunderbare Farben heraus.
Die April-Präludien der viel zu jung verstorbenen kompositorischen Frühbegabung Vítězslava Kaprálová (1915–1940) entstanden noch 1937 in ihrer Heimat, kurz bevor sie nach Paris zu Martinů ging. Pianistisch schon elaboriert – etwa die Ostinati des ersten Stücks oder die Prokofieff-Nähe des vierten –, überzeugte die ergreifende Schlichtheit des dritten Préludes jedoch am meisten. Powell zeigte hier schon mal seine Krallen und stellte mit seiner Darbietung sämtliche mir bekannten Tonträgeraufnahmen in den Schatten.
Mit der 13-minütigen Fantasie op. 10 des in Olmütz gebürtigen, österreichischen Komponisten Egon Kornauth (1891–1959) erlebte das Publikum dann ein Klavierfest ganz anderen Kalibers. Was der Schüler des berühmten, ganz in der Brahms-Nachfolge stehenden Robert Fuchs hier 1913 an pianistischer Kraftmeierei einerseits, klanglichem Feinsinn und dramaturgischem Überblick andererseits verlangt, kann nur ein echter Virtuose so unter einen Hut bringen, dass der musikalische Gehalt – quasi Richard Strauss zum Quadrat – den äußerlichen Aufwand vergessen macht. Dazu muss man wissen, dass Jonathan Powell 2020 den Preis der deutschen Schallplattenkritik für ein musikalisches Monstrum, die gut 8-stündige Sequentia Cyclica des britischen Exzentrikers Kaikhosru Sorabji erhalten hat: hier mein Bericht über die Aufführung beim Heidelberger Frühling 2022 – eine fast übermenschliche Leistung. Am Sonntag gelang Kornauths Stück jedoch selbst Powell nochmals stärker als auf seiner eigenen CD-Einspielung – emotional hinreißend.
Viktor Ullmann (1898–1944) überlebte Theresienstadt nicht, wurde im Oktober 1944 nach Auschwitz gebracht und sofort ermordet. Von seinen sieben bedeutenden Klaviersonaten ist die letzte zu Recht die berühmteste. Wie weit Ullmanns klare Stilistik und kompositorische Könnerschaft schon bei der 1. Sonate (1936) war, bewies Powell nachdrücklich. Ullmanns immer enormer Tiefgang wurde nicht nur im langsamen II. Satz (In memoriam Gustav Mahler) deutlich, sondern gleichermaßen in den vertrackten Ecksätzen. Leoš Janáčeks (1854–1928) ganz später, leicht kryptischer Erinnerung schloss der Pianist unmittelbar Arnold Schönbergs (1874–1951) berühmte aphoristische, atonale, aber eben noch nicht zwölftönige Sechs kleinen Klavierstücke op. 19 von 1911 an; wahrscheinlich die einzigen Werke, die Teilen des Publikums schon vor dem Konzert bekannt gewesen sein dürften. Hier konzentrierte sich Powell völlig darauf, Spannung und Emotion rein durch Klang zu erzeugen, wobei das Martellato am Ende des vierten Stücks nicht hart genug erschien. Beim letzten – ebenfalls eingedenk Mahlers Tod – hätte man eine Stecknadel fallen hören können.
Als krönenden Abschluss dann eine der ersten Darbietungen von Hans Winterbergs dritter Klaviersonate von 1947, kurz vor seiner Immigration nach Bayern entstanden. Powell ediert für Boosey auch die vier Sonaten wie die ebenfalls vier Klavierkonzerte des Komponisten. Kein Wunder, dass er diese Musik anscheinend ohne jede Mühe bewältigt. Die bewegte, auf mechanistischer, ein wenig monochrom wirkender quasi Ostinato-Grundierung aufgebaute Entwicklung im knappen 1. Satz erinnerte den Rezensenten merkwürdigerweise sofort an ein viel neueres Stück: Detlev Glanerts Marmormeer (aus den Vier Fantasien op. 15 von 1987) – wie fremdes Leben auf nicht-organischer Grundlage. Viel leichter fasslich danach das konturierte, farbige Molto adagio, dabei expressiv düster wie Bergs Wozzeck – gebändigte Trauer; vielleicht über den Verlust von Heimat? Faszinierend am Ende das rasante, tonaler wirkende, glockige Finale, beschwingt aber stellenweise wie mit schweren Fesseln beladen. Trotz der Konkurrenz einiger großer Namen zuvor konnte sich Winterbergs Stück in diesem höchst anspruchsvollen Programm gut behaupten. Man darf sich schon auf die baldigen Uraufführungen des 4. Klavierkonzerts und weiterer Werke Hans Winterbergs durch Jonathan Powell freuen. Wie Dr. Botzenhardt meinte: „Am besten werden wir ihm gerecht, wenn wir uns mit seiner Musik beschäftigen“. Das Publikum zeigte sich jetzt schon begeistert.
Drei tschechische Cembalokonzerte des 20. Jahrhunderts präsentiert der aus Teheran stammende Meistercembalist Mahan Esfahani mit dem Prager Radiosinfonieorchester unter Leitung von Alexander Liebreich auf dem Hyperion-Label: Bohuslav Martinůs „Konzert für Cembalo und kleines Orchester“ H 246, Hans Krásas „Kammermusik für Cembalo und 7 Instrumente“ sowie Viktor Kalabis‘ „Konzert für Cembalo & Streichorchester“.
Die drei Werke für Cembalo und Ensemble bzw. kleines Orchester, die Hyperion hier mit Mahan Esfahani und dem Prager Radiosinfonieorchester unter Leitung von Alexander Liebreich vorgelegt hat, spiegeln in gewisser Weise die Vielfalt tschechischer Musik des 20. Jahrhunderts wider. Der aus Teheran stammende, in den USA aufgewachsene und zunächst dort ausgebildete Esfahani war der letzte Schüler der legendären Cembalistin Zuzana Růžičková (1927–2017) und lebt nun sogar in Prag. Neben seinen gefeierten Bach-Aufführungen und Einspielungen hat er sich schon immer gleichermaßen für zeitgenössische Literatur eingesetzt.
Abgesehen von der Musik des Barock, die – folgt man historischer Aufführungspraxis – selbstverständlich das Cembalo benötigt, war das Instrument durch die Fortschritte im Klavierbau als Soloinstrument mit Orchester lange obsolet geworden. Erst mit eben dem zunehmenden Interesse an historisch „korrekten“ Interpretationen Alter Musik sowie dem aufkommenden Neoklassizismus ab den 1920er Jahren, schrieben einige Komponisten dann auch wieder Cembalokonzerte. Die hier präsentierten Gattungsbeiträge waren schon Paradenummern von Růžičková und wurden von ihr ebenfalls eingespielt.
Bohuslav Martinůs (1890–1959) Konzert für Cembalo und kleines Orchester H 246 entstand 1935 für die französische Cembalistin Marcelle de Lacour, eine Schülerin der berühmten Wanda Landowska. Der Komponist traut allerdings insbesondere dem gegenüber tiefen Streichern mit Stahlsaiten eher schwachbrüstigen Bass nicht: So gibt es neben dem Cembalo noch ein obligates Klavier im kleinen Ensemble, das nicht nur den Bass unterstützt oder ganz übernimmt, sondern durchaus auch mal solistisch in den Vordergrund tritt und dem Cembalo zeitweise die Schau stiehlt. Andererseits ergeben sich dadurch feine, sehr interessante Klangkombinationen – das Zusammenspiel beider Instrumente haben später andere Komponisten, z. B. Elliott Carter oder Frank Martin, erneut aufgegriffen. Der Cembalosatz ist gegenüber dem nur oberflächlich an das Concerto Grosso erinnernden, recht brav agierenden Ensemble mit vielen Dissonanzen angereichert, ohne das Ganze zu dekonstruieren. Esfahani spielt mit Leidenschaft; Liebreich begleitet präzise, setzt aber kaum eigene Akzente. Zwar reicht Martinůs Stück nicht an die beiden folgenden Werke heran, man langweilt sich freilich keine Sekunde.
Hans Krása (1899–1944) wird heute gern zu den Theresienstädter Komponisten gezählt, obwohl natürlich die meisten seiner Werke vor der Internierung entstanden sind, darunter die wunderbare, zweisätzige Kammermusik für Cembalo und 7 Instrumente (1936). Krása entstammte einer deutschsprachigen, jüdischen Prager Familie, und in seiner Musik spielen ebenso deutsche Traditionen eine viel größere Rolle als etwa beim gleichaltrigen Pavel Haas – beide wurden am selben Tag in Auschwitz ermordet –, der mehr der Janáček-Nachfolge zuzurechnen ist. Esfahani steigt mutig in die hier vorherrschende, oft dichte Kontrapunktik ein – über Strecken nur die solistischen Bläser begleitend, in den eigenen Soli recht zerbrechlich wirkend, aber immer mit Charme. Das Stück ist mit seinen Anklängen sowohl an zeitgenössische Popularmusik (eigenes Liedzitat im 2. Satz, fast wie Kurt Weill) wie auch durch seinen klar kammermusikalischen Charakter vielschichtiger als Martinůs Konzert – wirklich großartige Musik.
Zuzana Růžičková dürfte Krása in Theresienstadt begegnet sein – später überlebte sie Auschwitz und Bergen-Belsen. Seit 1952 war sie mit dem Komponisten Viktor Kalabis (1923–2006) verheiratet, der ihr mehrere Werke gewidmet hat. Kalabis‘ Musik – u. a. fünf Symphonien – führt gerade in Deutschland noch immer ein Schattendasein: Dabei verbindet sie auf sehr persönliche Weise neoklassizistische Elemente mit avantgardistischeren Techniken bis hin zum Serialismus und ist quasi ein Musterbeispiel für die unterschiedlichen Tendenzen in der ehemaligen Tschechoslowakei nach dem 2. Weltkrieg. Trotz der Besetzung nur mit Streichern überzeugt sein Cembalokonzert von 1975 durch eine ungemeine Farbigkeit und Differenziertheit, die Liebreich wunderbar herüberbringt. Esfahani beherrscht die außerordentliche Virtuosität des Cembalosatzes souverän, kommt an seine Lehrerin durchaus heran. Dieses fast halbstündige Konzert ist ein Gipfelwerk der Gattung. Sowohl die Lyrik des Andantes als auch die atemberaubende Beweglichkeit des abschließenden Allegro vivos – hier alles sehr bewusst vorgetragen – versetzen den Zuhörer in Staunen. Jeder Cembalist sollte dieses Stück kennen!
Die Neuaufnahmen machen Růžičkovás Interpretationen keinesfalls überflüssig. Zumindest aufnahmetechnisch sind sie deren Einspielungen aus den 1980ern und 1990ern deutlich überlegen. Das Klangbild ist hier geradezu optimal – durchsichtig und hochdynamisch. Zudem sind die drei wertvollen Stücke so bislang nie auf einer CD zu hören gewesen, die schon deshalb eine klare Empfehlung verdient.
Das zweite Saisonkonzert der musica viva mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks fand am Freitag, 10. November 2023, wieder im üblichen Herkulessaal statt. Johannes Kalitzke dirigierte neben einer eigenen Uraufführung („Zeitkapsel“) noch Lisa Streichs„Jubelhemd“ und Luc Ferraris „Histoire du Plaisir et de la Désolation“. Die Solisten in Streichs Komposition waren Marco Blaauw (Trompete), Dirk Rothbrust (Schlagzeug), Maria Stange (Harfe) und Axel Porath (Viola).
Als Dirigent seit vielen Jahren regelmäßiger Gast bei der musica viva, leitete Johannes Kalitzke (*1959) im Konzert am 10. 11. 2023 das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks zunächst bei der Uraufführung einer eigenen Komposition mit dem Titel Zeitkapsel. Das 25-minütige Stück hat äußerlich die Form eines Totentanzes, besteht aus mehreren, recht klar getrennten „Sätzen“, die durch eine Art Concertino – hier sechs Fagotte und zwei Saxophone mit herrlich dunklem Klang – wie im Concerto Grosso zusammengehalten werden. Stilisierte, dysfunktionalisierte Tanzrhythmen im Orchester wurden durch elektronisch zugespielte Samples ergänzt – entsprechend den persönlichen Fundstücken (Zeitkapseln), die Erbauer in alten Gemäuern oder eigene Vorfahren etwa auf Dachböden hinterlassen haben; darunter so divergente Klänge wie Flammenwerfer oder am Schluss die älteste Tonaufnahme auf Wachspapier von 1860: das Kinderlied Au Claire de la Lune. Dass diese durchgängigen elektronischen Einsprengsel – die erkennen lassen, dass Kalitzke u. a. Schüler von York Höller war – nicht wie Fremdkörper, sondern als echte Erweiterungen des Orchesterklangs wirkten, war nicht zuletzt der exzellenten, unaufdringlichen Klangregie von Sebastian Schottke zu verdanken. Kalitzke dirigierte wie gewohnt stets präzise, glasklar, engagiert, suggestiv und ohne Mätzchen, hörte den Musikern genau zu und griff zuvorkommend ein, wenn nötig. Seine wirkungsvolle, sehr virtuose Musik – am Ende spooky – kam auch beim Publikum gut an.
Die schwedischstämmige, aber vor allem im deutschsprachigen Raum ausgebildete Lisa Streich (Jahrgang 1985) wurde bereits mit Preisen überhäuft – u. a. dem Ernst von Siemens Förderpreis (2017) – und nennt ihr Stück Jubelhemd (2021) ausdrücklich Concerto Grosso. Die ungewöhnliche Instrumentenkombination des Concertinos – Trompete, Schlagzeug, Harfe und Viola – sollte wohl als Projektion des recht großen, enorm farbig gesetzten Orchesters auf kammermusikalische Ebene fungieren. Dabei wird die für die Komponistin leicht zwanghafte Vorgabe einer jubilierenden Musik – ein Auftrag schwedischer Orchester inmitten der Pandemie – derart konterkariert, dass sich die Solisten trotz höchster virtuoser Anforderungen – besonders hervorzuheben der Trompeter Marco Blaauw – nicht wirklich entfalten können. Jubelgesten, von Anklängen an Bach-Trompete bis zu U-Musik – „Mutantenstadl“ mit Zitaten von Offenbach oder Johann Strauss – werden im Keim erstickt. Streichs regelmäßig genutzte, detonierte, aus der tonalen (Chor-)musik stammenden Akkorde, wirkten hingegen erstaunlich fein und schön – und regten die Zuhörer offensichtlich ähnlich an wie die berühmte Madeleine in Prousts Recherche. Die vielen tollen Ansätze in dieser sensiblen Musik wurden leider dadurch zunichte gemacht, dass der monorhythmische Beginn nie wirklich verlassen wird, bis auf einen hilflosen Ausbruchsversuch mit merkwürdiger Kirmesmusik kurz vor Schluss. Insgesamt erhielt die doch über Strecken ziemlich fade Komposition dann auch lediglich freundlichen Beifall.
Den Pariser Luc Ferrari (1929–2005) dürfte man vor allem mit musique concrète in Form von Tonbandkompositionen in Verbindung bringen. Abgesehen von seinem rein instrumentalen Frühwerk – als Pianist war er z. B. noch Schüler des berühmten Alfred Cortot – sind Stücke ohne Tonbänder oder Elektronik eine Seltenheit, Histoire du Plaisir et de la Désolation (1982 uraufgeführt) somit ein echtes Unikum. Die 35-minütige, gewaltig besetzte Komposition besteht aus drei attacca aufeinanderfolgenden Sätzen mit klar unterscheidbarem Material. Grundidee dabei ist laut Kalitzke die sogenannte Bandschleife. Obwohl hier also ständig Repetitionsmuster werkelten und der kurze erste Satz über gleichmäßigen Fundamentalbässen des Schlagzeugs – fast wie ein Auftritt Godzillas – höllische Klänge entwickelte, wurde das Stück nie langweilig. Ferraris Musik, opulent und voller Lebensenergie, beschäftigte sich allerdings, offenkundig geprägt vom französischen Existenzialismus, sehr ernsthaft mit dem Gegensatz von Lust und Verzweiflung – letztlich wie Kalitzkes Totentanz mit Vergänglichkeit. Im zweiten Abschnitt dominierten hellere Farben, teils mit Becken-Grundierung und man wurde eingeschobener, bestimmten Frauen gewidmeter Zitate gewahr. Die Désolation des langen dritten Satzes manifestierte sich u. a. mit dem x-maligen Ansetzen einer a-Moll Kadenz, auf deren Auflösung man jedoch vergeblich wartete. Ein eindrucksvolles Stück, bei dem Kalitzke auch effektiv die Langstrecken-Dynamik des einmal mehr großartig aufgelegten BRSO führte und den Herkulessaal in einen wahren Klangrausch versetzte, der dann mit langanhaltendem Applaus bedacht wurde.
Herausgegeben von Anja Ganschow und Hartmut Wecker ist im Verlag Königshausen & Neumann der fünfte Band der Friedrich-Kiel-Forschungen erschienen. Neun Autoren kommen zu verschiedenen Themen rund um Friedrich Kiel (1821–1885) und sein Schaffen zu Wort.
In Sachen Friedrich Kiel gibt es noch einige Desiderate, namentlich was CD-Einspielungen betrifft. So sucht man beispielsweise vergeblich nach seinem wichtigsten Klavierwerk, den einst von Hans von Bülow emphatisch rezensierten und oft gespielten f-Moll-Variationen op. 17, angesichts derer Johannes Brahms 1861 angemerkt hatte – etwas grollend, da Kiel ihm knapp zuvorgekommen war: „Was sind nun meine Händel-Variationen anderes als dieses Stück?!“ (Eine sehr gute alte Rundfunkaufnahme von Friedrich Wilhelm Schnurr findet sich auf Youtube.) Auch mehrere Kammermusikwerke warten immer noch auf ihre erste Aufnahme, so seine sämtlichen vier Violinsonaten und drei seiner sieben Klaviertrios, unter denen Wilhelm Altmann, der ein großer Verehrer Kiels war, in seinem Handbuch für Klaviertriospieler das Vierte in cis-Moll (op. 33) besonders hervorhebt. Aber die schmerzlichsten Lücken klaffen doch in der Diskographie der geistlichen Werke, denn auf diesem Gebiet hat Kiel, der große Kontrapunktiker, sein Bestes geleistet. Von der Missa solemnis c-Moll op. 40, die ich, gäbe es die Brucknerschen Messen nicht, als das hervorragendste Werk seiner Art aus dem mittleren 19. Jahrhundert bezeichnen würde, haben wir immerhin eine Aufnahme – aber in übertrefflicher Qualität. Das ist auch der Fall beim Christus op. 60, einem der meistaufgeführten Oratorien seiner Zeit, das seinem Autor den Ruf einbrachte, ein „moderner Bach“ zu sein. Kiel hat den Text des Requiems zweimal vertont. Von seiner zweiten Vertonung (As-Dur op. 80) wurde bislang von den Plattenproduktionen keine Notiz genommen. Von der ersten (f-Moll op. 20), die einst seinen Ruhm begründete, liegt eine Einspielung des Klavierauszugs [!] vor, die eine Aufnahme des symphonisch angelegten Stückes natürlich nicht ersetzen kann. Also: Hier können sich tüchtige Musiker, die mit Zuneigung und Einsicht zu Werke gehen, noch viel Ehre erwerben. Wer traut sich?
Gerechterweise muss man anmerken, dass es in den letzten vier Jahrzehnten eine kleine Kiel-Renaissance gab, die sich in einer doch recht stattlichen Anzahl an Einspielungen niedergeschlagen hat. Auch die Musikwissenschaft hat sich seitdem mit Kiel intensiver beschäftigt. So lässt sich heute sagen, dass er unter denjenigen Komponisten des 19. Jahrhunderts, die lange „vergessen“ waren und seit Ende des 20. Jahrhunderts wieder ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gelangten, mittlerweile zu den gut erforschten gehört. Dies ist nicht zuletzt der 1979 gegründeten Friedrich-Kiel-Gesellschaft zu verdanken, die zwischen 1993 und 2006 fünf Bände Friedrich-Kiel-Studien und von 2008 bis 2013 vier Bände Friedrich-Kiel-Forschungen herausgebracht hat. Eine große Gesamtmonographie, die den heutigen Wissensstand über Leben und Werk des 1821 im westfälischen Puderbach geborenen, seit 1842 in Berlin wirkenden Komponisten zusammenfasst, steht zwar noch aus, doch wer sich über Kiel informieren möchte, wird aus besagten Bänden mit Informationen gut versorgt: Sie enthalten zeitgenössische Dokumente (v. a. Briefe), Forschungen zur Biographie, Werkbetrachtungen und Essays zur Stellung Kiels in der Musikgeschichte.
Das runde Jubiläum des Komponisten im Jahr 2021 wurde von der Friedrich Kiel-Gesellschaft zum Anlass genommen, einen weiteren, den fünften Band Friedrich-Kiel-Forschungen herauszubringen. Dieser, ausdrücklich als Jubiläumsband zum 200. Geburtstag gekennzeichnet, erschien 2022 im Studiopunkt Verlag, der bereits die früheren Bände der Reihe veröffentlicht hat, mittlerweile allerdings zum Verlag Königshausen & Neumann gehört. Als Herausgeber zeichnen die Sopranistin Anja Ganschow, Vorsitzende der Gesellschaft, und der Musikwissenschaftler Hartmut Wecker verantwortlich, die ebenso Beiträge zum Buch beigesteuert haben wie der Mitherausgeber der ersten vier Bände, Dietmar Schenk, Leiter des Archivs der Universität der Künste Berlin. Anja Ganschows Text ist ein Gedenkartikel zu Ehren ihres Vorgängers Peter Pfeil (1838–2018), der als Gründungsvorsitzender die Kiel-Gesellschaft bis 2012 geleitet und gemeinsam mit Dietmar Schenk die bisher vorgelegten Bände der Kiel-Forschungen herausgegeben hat. Über 50 Jahre lang hat Pfeil sich der Erforschung von Kiels Leben und der Verbreitung seiner Kompositionen gewidmet und die moderne Kiel-Bewegung dadurch erst richtig in Gang gebracht. Ein umfangreicher Dokumentenbestand über Kiel und seine Schüler, den Pfeil im Laufe mehrerer Jahrzehnte zusammengetragen hatte, wurde 2005 dem Archiv der Universität der Künste Berlin als Depositum übergeben. Über die fruchtbare Zusammenarbeit, die die Kiel-Gesellschaft seitdem mit dem Archiv verbindet, berichtet Dietmar Schenk in seinem Buchbeitrag.
Kiels Bedeutung als wichtigster Kompositionslehrer Preußens an der Königlichen Musikhochschule in Berlin hat dazu geführt, dass seine Anfänge im Wittgensteiner Land in der biographischen Forschung eher unterrepräsentiert sind. Umso willkommener muss man deshalb Hildegard Schultes Aufsatz über „Musik im Fürstenhaus Sayn-Wittgenstein-Berleburg“ heißen, der ein Bild von jener Welt vermittelt, in der Kiel als Jugendlicher entscheidende Prägungen erfuhr. Der ungewöhnliche Umstand, dass der erste Musiklehrer des späteren Komponisten niemand anders gewesen ist als Prinz Carl zu Sayn-Wittgenstein-Berleburg höchstselbst, der Bruder des damaligen Fürsten, erscheint keineswegs mehr verwunderlich, hat man erfahren, wie intensiv die Musikpflege an diesem kleinen Fürstenhof, der 1806 seine Territorialherrschaft eingebüßt hatte, über Generationen hinweg betrieben wurde. In Berleburg begnügten sich die Fürsten nicht damit, eine Hofkapelle zu unterhalten, sondern betrieben aktiv Musik. Die Mitglieder der fürstlichen Familie spielten selbst im Orchester mit, einige brachten es als Instrumentalisten zu virtuosem Können oder verfassten eigene Kompositionen – der Druck eines Liedes von Friedrich zu Sayn-Wittgenstein-Berleburg (1837–1915) ist im Band vollständig wiedergegeben. Bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein war Berleburg somit ein wichtiges Musikzentrum des westfälischen Raumes, dessen Geschichte durchaus verdient, genauer erforscht zu werden. Die Anmerkung der Autorin, dass die Musikbibliothek im Schloss dringender wissenschaftlicher Aufarbeitung bedarf, sollte man ernst nehmen!
Auch in Haino Rindlers Text „Friedrich Kiel – zwischen Tradition und Moderne“ wird ausführlich von Kiels Zeit am Berleburger Hof berichtet, ebenso von seinen Lehrjahren in Berlin bei Siegfried Dehn. Anschließend stellt der Autor Kiel als „modernen Pädagogen“ vor, der seinen Unterricht traditionsbewusst auf Bach und Händel, Mozart und Beethoven gründete, aber weder der antiquierten Auffassung einiger seiner Berliner Akademie-Kollegen anhing, die Instrumentalmusik sei eine Verfallserscheinung, noch offen gegen Wagner und Liszt opponierte. Auch der „außergewöhnliche Komponist“ Kiel wird gewürdigt, wobei ein Chorsatz aus seinem Oratorium Christus näher besprochen wird. Leider sind die Noten dem Aufsatz nicht beigegeben, obwohl auf S. 30 ausdrücklich von einem „angehefteten Klavierauszug“ die Rede ist. An dieser Stelle merkt man, dass es sich bei dem Text um eine offenbar nicht ganz gründliche Überarbeitung einer älteren Seminararbeit handelt. Leider sind auch im Text mehrere Ungenauigkeiten zu beanstanden. So wird Kiel in der Kapitelüberschrift auf S. 31 zum „Hofkapellmeister zu Berleburg“, obwohl man aus dem folgenden Text erfährt, dass er dort nur Konzertmeister war. Sein Schüler Ignacy Jan Paderewski wird als „polnischer Staatspräsident im Exil“ (S. 39) bezeichnet – tatsächlich war er 1919 im neugegründeten polnischen Staat Ministerpräsident, 1940 im Exil Vorsitzender des Nationalen Rates der Republik Polen. Ganz misslungen ist Rindler die Charakterisierung Felix Draesekes auf S. 41, den er als Beispiel für einen „ins Maßlose“ greifenden, auf „Aktion und Sensation“ setzenden Komponisten anführt, als „populären“ Vertreter einer Mode, von der sich Kiel als ein „Komponist der leisen Töne“ abhebe. Dazu ist zu sagen: Draeseke war, bei aller ihm entgegengebrachten Achtung und Wertschätzung, nie ein populärer Komponist, der es seinerzeit in der Publikumsgunst etwa mit Bruch, Raff, Rubinstein, geschweige denn mit Wagner oder Brahms aufnehmen konnte. Der frühe Germania-Marsch, den Rindler ganz richtig als Skandalstück erwähnt, mag in der Wahl der Mittel tatsächlich maßlos sein, aber gerade deswegen fiel er durch und wurde nicht populär. Von dieser Art Musik kam Draeseke bald ab und ließ es, namentlich in seiner Kammermusik, an leisen Tönen nicht fehlen. Sein Christus-Mysterium als weiteres Beispiel musikalischer Maßlosigkeit anzuführen ist absurd! Das Werk ist, anders als Rindler meint, nie dazu gedacht gewesen, als fünfstündiger „Marathon“ an einem Abend aufgeführt zu werden, und auch nie dergestalt erklungen! Es handelt sich um einen vierteiligen Oratorienzyklus, der auf drei Abende verteilt wird, was dann jeweils Konzerte von anderthalb bis zwei Stunden Dauer ergibt. Rindlers Arbeit stammt ursprünglich aus dem Jahr 1998. Man kann verstehen, dass der Autor damals als Student zu solch falschen Annahmen kam, nicht aber, dass er sie nach all diesen Jahren unkorrigiert stehen ließ.
Wer sich näher mit Kiels Christus, seinem umfangreichstem Werk, beschäftigt, für den werden Jonas Pfohls Anmerkungen zum Textbuch dieses Oratoriums sehr nützlich sein. Vor einigen Jahren hat Daniel Ortuño-Stühring in seinem Buch Musik als Bekenntnis. Christus-Oratorien im 19. Jahrhundert das Werk ausführlich betrachtet und dabei namentlich seine dramatische Konzeption untersucht. Pfohls Aufsatz vertieft diese Thematik und geht dem von Kiel nach Worten der Heiligen Schrift selbst zusammengestellten Text erstmals Vers für Vers auf den Grund. Das Oratorium beginnt mit dem Einzug Christi in Jerusalem und schließt mit der Auferstehung, ist also über weite Strecken ein Passionsoratorium, ohne freilich ganz in diese Kategorie zu passen. Im Gegensatz zu Vertonungen früherer Epochen verzichtet Kiel auf die Rolle des Evangelisten und gestaltet den Text in dialogisch-szenischer Form. Da die Evangelien dazu unterschiedlich viel Material hergeben, kombiniert Kiel verschiedene Texte, formuliert indirekte Rede zu direkter Rede um und fügt gelegentlich passende Verse aus dem Alten Testament ein. Wie Pfohl darlegt, stieß dieses Vorgehen in der Kreuzigungsszene an seine Grenzen, sodass Kiel zum Abschluss dieses Abschnitts ein einziges Mal zu nicht-biblischen Versen griff und ein (von ihm selbst?) leicht umformuliertes Gedicht Johann Samuel Dieterichs als Choralbearbeitung auf die Melodie von „Wer nur den lieben Gott lässt walten“ vertonte. Das gesamte Libretto findet sich dem Aufsatz als Anhang beigegeben, wobei jeder einzelne Vers mit einer Quellenangabe versehen ist. Ein Versehen auf S. 81 muss korrigiert werden: Nur der erste Vers auf dieser Seite (Mt 27,5) wird vom „Volk“ gesungen, ab dem zweiten Vers (Jes 53,7) singt bis zum Ende der Szene „eine Stimme“.
Isabell Tentler führt uns nach Leipzig, dem Wirkungsort des Chordirigenten Carl Riedel (1827–1888). Riedel leitete seit 1855 den Riedel-Verein, der unter den damals drei großen Leipziger Chören der bedeutendste war, was die Pflege zeitgenössischer Musik betraf. Für Friedrich Kiel waren Riedel und sein Chor die wichtigsten Interpreten seiner Werke in der traditionsreichen Musikstadt, denn im Gewandhaus, das unter Ferdinand David, Julius Rietz und Carl Reinecke ein sehr konservatives Repertoire pflegte, kamen Kompositionen Kiels kaum zur Aufführung. Die große Ausnahme ist die Leipziger Erstaufführung des Requiems op. 20 als Gedenkkonzert zum Todestag Felix Mendelssohn Bartholdys 1862, der sich später nur noch Darbietungen zweier Kammermusikwerke im Rahmen von Tonkünstlerversammlungen des Allgemeinen Deutschen Musikvereins anschlossen. Durch den Riedel-Verein wurde dagegen zwischen 1867 und 1886 im Durchschnitt etwa alle zwei Jahre Musik von Kiel in Leipzig zur Aufführung gebracht, darunter zweimal die Missa solemnis und dreimal der Christus, stets in der Thomaskirche. Riedel beschränkte sich dabei nicht auf Chorwerke, sondern spielte auch als Zwischenspiel in einem Chorkonzert eine Kielsche Orgelfantasie. Zum Gedächtnis des Komponisten brachte er 1886 neben Teilen beider Requiem-Vertonungen die Cellosonate und das Erste Klavierquartett Kiels zu Gehör. Aus Tentlers Darstellung lernt man Riedel als einen Musiker kennen, der sein bestes tut, um einem von ihm geschätzten zeitgenössischen Komponisten zu möglichst guten Aufführungen zu verhelfen: 1873 organisiert er für den Christus die neuesten Maschinenpauken der Firma Hoffmann, zehn Jahre später, im Vorfeld einer weiteren Aufführung des Oratoriums, schreibt er Thomaskantor Wilhelm Rust mehrere (im Anhang vollständig wiedergegebene) Briefe und erreicht, dass dieser ihm zur Verstärkung der Sopran- und Altstimmen mehrere Thomaner zur Verfügung stellt. Es verwundert angesichts dieses Einsatzes nicht, dass Riedel für Kiel auch privat zum Freund wurde. Leider haben seine Nachfolger in der Leitung des bis 1950 existierenden Vereins seine Kiel-Pflege nicht fortgesetzt.
Der Beitrag Susanne Büchners über „Die Musikalien Friedrich Kiels in der Library of Congress (Washington, DC)“ gibt nicht nur ein vollständiges Verzeichnis des ziemlich umfangreichen Bestandes an Kiel-Noten in der größten Nationalbibliothek der USA (mehr als die Hälfte seiner gedruckten und zwei ungedruckte Werke), sondern informiert auch darüber, wie diese Sammlung im Laufe der Zeit durch Schenkungen und Ankäufe zusammengetragen wurde. Im Anhang finden sich Kurzbiographien der einzelnen Personen, aus deren Besitz die Musikalien nach Washington gelangten – interessante, anregende Skizzen zum europäisch-amerikanischen Kulturtransfer.
Die Friedrich-Kiel-Gesellschaft widmet sich nicht nur ihrem Namensgeber. Auch seine zahlreichen Schüler finden bei ihr Beachtung und werden erforscht. So ist in dem Band auch ein Portrait eines Kiel-Schülers zu finden. Der Organist Peter Brusius, der die Veröffentlichung seines Textes leider nicht mehr erlebte, stellt den 1847 im schweizerischen Schliers geborenen Komponisten Theophil Forchhammer vor. Forchhammer wirkte als Organist zunächst in der Schweiz, dann in Wismar, Quedlinburg und zuletzt, von 1885 bis 1918, am Magdeburger Dom. Er starb 1923. Heute sind von ihm noch 287 Kompositionen bekannt, doch war der Umfang seines Schaffens bedeutend größer: Der Musikwissenschaftler Peter Schmidt, der 1937 eine Dissertation über Forchhammer schrieb, hatte noch Einsicht in eine mehrbändige Sammlung, die rund 1800 Choralvorspiele umfasste – die reiche Ernte eines schöpferisch erfüllten Organistenlebens. Im Zweiten Weltkrieg wurden diese Bände nach Staßfurt ausgelagert, konnten aber bislang nicht wiedergefunden werden. Forchhammer arbeitete wiederholt mit dem von ihm sehr geschätzten Orgelbauer Ernst Röver zusammen, dessen Wirken Brusius gleichfalls würdigt. Leider haben auch mehrere Instrumente Rövers den Krieg nicht überstanden, darunter Forchhammers eigene Dienstorgel in Magdeburg, die 1945 bei einem Fliegerangriff zerstört wurde. Forchhammer war offenbar ein sehr bescheidener Mensch, der sich um die Verbreitung seiner Werke wenig gekümmert zu haben scheint. So ist nur ein kleiner Bruchteil davon veröffentlicht worden, darunter zwei Orgelsonaten. Ein Oratorium Königin Luise und eine chorsymphonische Vertonung des 130. Psalms blieben Manuskript. Ausgehend von den wenigen Eindrücken, die mir bislang von Forchhammers Kompositionsstil zuteil geworden sind, kann ich jedenfalls sagen, dass er seinem Lehrer Kiel alle Ehre gemacht hat und es verdiente, mehr beachtet zu werden. Seine Choräle und Chorsätze stecken voller feiner Wendungen in der Stimmführung, die die diatonisch fest gegründete Harmonik stets abwechslungsreich halten.
Bevor Anja Ganschow mit der bereits erwähnten Würdigung Peter Pfeils das letzte Wort hat, versucht sich Hartmut Wecker zum 200. Geburtstag Friedrich Kiels an einer Standortbestimmung. Er beschreibt das Ansehen, das Kiel zu Lebzeiten genoss, und belegt es mit einschlägigen Zitaten. Die Antwort auf die Frage, warum Kiels Musik bald nach seinem Tode vernachlässigt wurde, findet er teilweise im Charakter der Werke, denen Exaltiertheit fremd ist, was sie in der Nachbarschaft eines Liszt oder Wagner manchem Zeitgenossen spröde erscheinen ließ, teilweise aber auch in der zurückhaltenden Persönlichkeit des Komponisten selbst, der es, obwohl sein einziger öffentlicher Auftritt als Pianist erfolgreich verlief, ablehnte als Interpret in eigener Sache tätig zu sein, und auch außerhalb seines beruflichen Umfelds kaum Kontakte zu Kollegen pflegte. „Von einer umfassenden Rückkehr Kiels in das zeitgenössische Musikleben kann noch nicht die Rede sein, aber es gibt hoffnungsvolle Ansätze“, schließt Wecker. Der vorliegende Band, der aus Weckers Feder auch ein kurzes Curriculum Vitae Friedrich Kiels enthält, sodass sich Leser, die mit der Biographie des Komponisten weniger vertraut sind, einen schnellen Überblick verschaffen können, ist ein weiterer Schritt in diese Richtung. Möge er dazu beitragen, das Interesse an Kiel zu steigern, auf dass man sich bald über weitere Aufführungen und Aufnahmen seiner meisterhaften Musik freuen kann!
Evgeny Kissin spielte am 2. und 3. November 2023 erstmals in der Isarphilharmonie zusammen mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks ein Klavierkonzert: Rachmaninows Konzert Nr. 3 d-Moll op. 30. Krzysztof Urbański debütierte damit beim BRSO und dirigierte nach der Pause Schostakowitschs 10. Symphonie e-Moll op. 93. Unser Rezensent besuchte das zweite Konzert am Freitag, 3. 11. 2023.
Auf den Tag genau vor einem Jahr hatte das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks an gleichem Ort Rachmaninows berühmtes drittes Klavierkonzert mit dem Sieger des Warschauer Chopin-Wettbewerbs 2015, Seong-Jin Cho, unter Leitung von James Gaffigan aufgeführt, der kurzfristig für Zubin Mehta eingesprungen war. Der Rezensent zeigte sich von dieser Darbietung wenig begeistert und kritisierte insbesondere ein völlig unausgegorenes, überhetztes Finale und eine generell schwache Leistung des Dirigenten. Beim Konzert am Freitag war dies zum Glück ganz anders: Evgeny Kissin hat den ganzen Saal inspiriert, und insbesondere das BRSO lief unter dem Debütanten Krzysztof Urbański zu absoluter Höchstform auf – verglichen mit letztem November nicht wiederzuerkennen.
Das Thema des Kopfsatzes wird von Kissin vom Tempo her bewusst zurückgenommen, sofort äußerst gesanglich und elegisch, im Gegensatz zum quasi neutralen Beginn der meisten Interpreten – einschließlich des Komponisten selbst; direkt beim zweiten Auftreten zieht der Apparat dann mächtig an, genau der Partitur folgend. Gleichermaßen verfährt Kissin mit den Parallelstellen, wo das Hauptthema schlicht im Oktavabstand erscheint, also zu Beginn der Durchführung und in der Coda – gewöhnungsbedürftig, jedoch konsequent. Was dann über fast 50 Minuten geschieht, ist eine echte Offenbarung: Der Pianist gibt noch der kleinsten Begleitfigur motivische Bedeutung, alles erhält Linie und Tiefe. Rachmaninows maßlose Virtuosität steht keinen Augenblick im Vordergrund, nicht einmal in der gewaltigen Kadenz, die nur zwischen zwei Aggregatzuständen zu vermitteln scheint: der Dramatik zuvor und den folgenden, fast schwebenden Dialogen mit den fantastischen Holzbläsern inklusive Horn. Kissins Anschlag bleibt immer schön, differenziert und ausdrucksstark, auch wenn er mal beherzt mit fundamentalen Bässen zupacken muss. Von seiner legendären, traumwandlerischen Sicherheit hat er nichts verloren, kontrolliert und gestaltet den Klavierklang dieses Gipfelwerks der Konzertliteratur subtil wie kaum jemand sonst.
Urbański ist schon technisch eine Augenweide: Die linke Hand formt unentwegt die Feindynamik, zeigt jeden Akzent, jedes Pizzicato – alles atmet ganz natürlich. Sehr konzentriert geht er auf Kissins ausgefeilte, flexible und oft schwierig zu verfolgende Agogik ein; nur kurz vor Schluss des Finales klappert es für einen Moment. Dafür deckt das Orchester an diesem Abend den Pianisten wirklich niemals zu und geht doch emotional total mit – die Höhepunkte kommen auf den Punkt. Den Bläsern gelingen traumhaft schöne Passagen, rhythmisch ist alles hochpräzise, ohne jede Unruhe. Die Streicher spielen ungemein samtig, mit der für Rachmaninow angemessenen, fast dekadenten Zartheit und Wärme. Wie im Vorjahr überzeugt gerade der zweite Satz, aber selbst die kompositorisch weniger starken Einfälle im Finale – diesmal im genau richtigen Tempo – werden nun sinnvoll in einen größeren Zusammenhang eingebettet, ebenso der flirrende, jedoch keinesfalls überdrehte Scherzando-Abschnitt oder die wehmütige Reminiszenz des Hauptthemas. So zerfällt keiner der Sätze ins Episodische. Kissin beseelt und überhöht diese romantische Welt, ohne in Kitsch zu verfallen – reine Poesie. Der Applaus nach dieser musikalischen Großtat ist riesig und wird durch vier vermeintlich leichte, unwiderstehlich gespielte Zugaben – Chopin und Brahms – vom Pianisten auf bald 25 Minuten ausgedehnt.
Wenn man schon beim BRSO debütiert, dann richtig: Der mit seinen 41 Jahren immer noch jugendlich, fast spitzbübisch wirkende Krzysztof Urbański wagt sich gleich an Schostakowitschs 10. Symphonie und dirigiert das lange Stück souverän auswendig. Die Symphonie gehört seit 40 Jahren zum Standardrepertoire des BRSO, stand noch in einem der letzten Konzerte Mariss Jansons‘ auf dem Programm. Für dieses Stück – das unmittelbar nach Stalins Tod 1953 entstand und sowohl eine Auseinandersetzung mit dessen Barbarei als auch der Symphonik Tschaikowskys darstellt – bedarf es also großer Überzeugungskraft. Den hohen Erwartungen wird Urbański in jeder Hinsicht gerecht. Wie oben bemerkt, verfügt der polnische Dirigent, der bereits die bedeutendsten Klangkörper geleitet hat und kürzlich zum Chef des Berner Sinfonieorchesters berufen wurde, über erstaunliches Handwerk. Dies bringt er hier auf erfrischend lockere Art zur Geltung. Selten klar modelliert er sämtliche Details und behält dabei die großen Zusammenhänge im Auge, besonders im sehr langen Kopfsatz. Der blutige Rausch des kurzen Allegros („Stalin-Scherzo“) wird vom Orchester furios in sagenhaftem Tempo vermittelt: präzise, nicht übertrieben. Dmitri Schostakowitschs eigenes „Ich“, durch die Tonfolge D-S (Es)-C-H repräsentiert, im teils wieder an Mahler erinnernden Allegretto zunächst noch deformiert, übersteht die Wiederkehr des Stalin-Motivs im Finale und gewinnt schließlich eindrucksvoll die Oberhand. Die Dramaturgie dieser Entwicklung kann Urbański mit Überblick perfekt auf Orchester wie Publikum übertragen. Dieses spürt, dass hier ein Dirigent mit Leidenschaft und Können musiziert, honoriert auch diese Glanzleistung mit Bravos und langanhaltendem Beifall. Ein durch und durch beglückender Abend – und Herrn Urbański darf man bitte noch öfter einladen!
Zwei einander widersprechende Aussagen bringen mich dazu, der Frage nachzugehen, wie der erste Satz des Klavierkonzerts op. 39 von Ferruccio Busoni eigentlich aufgebaut ist.
Federico Celestini:„Von einem symphonischen Konzert im Sinne Brahms[´] unterscheidet sich Busonis Werk durch das Fehlen der Sonatenform und die Verwendung zahlreicher Themen.“
(Federico Celestini: „Zu Ferruccio Busonis Poetik: Das ‚Klavierkonzert mit Männerchor‘ op. 39“, in: Das Klavierkonzert in Österreich und Deutschland von 1900–1945 (= Studien zu Franz Schmidt XVI), hrsg. von Carmen Ottner, Wien 2009, S. 204.)
Robert Simpson:„The large classical concerto scheme with ritornello was never attempted by Nielsen: very few composers have felt inclined to risk it since Brahms and Dvořák. Elgar’s violin concerto […] attacks the problem, and the first movement of Busoni’s enormous piano concerto, together with Reger’s hugely comprehensive works for pianoforte and violin, are perhaps the most important examples of this difficult form since Brahms.“
(Robert Simpson: Carl Nielsen Symphonist, London 2009, S. 137.)
Wer es mit dem Wortlaut genau nimmt – und warum sollte man das nicht tun! – wird feststellen, dass in beiden Zitaten unterschiedliche Begriffe verwendet werden. Der Widerspruch wird erst deutlich, wenn wir dem Begriff des „large classical concerto scheme with ritornello“, von dem Simpson schreibt, auf den Grund gehen. Dies führt uns zu den erhellendsten Texten über die Formen konzertanter Musik des 18. Jahrhunderts. Sie stammen von Donald Francis Tovey, dessen Terminologie Simpson übernimmt. Zum einen handelt es sich um den Artikel „Concerto“ in Toveys Buch The Forms of Music, zum andern um den Aufsatz „The Classical Concerto“, der als Einleitung zum dritten Band seiner Essays in Musical Analysis dient, in welchem eine Anzahl Konzerte vorgestellt wird. Der letztere dieser beiden Texte befasst sich, wie es unmissverständlich durch eine Zwischenüberschrift deutlich gemacht wird, vorrangig mit „The Sonata-Form Concerto“, was nichts anderes ist als das, was Simpson meint. Man beachte freilich, dass Tovey den Begriff „sonata form“ in diesem Kontext sehr vorsichtig gebraucht. Im Artikel aus The Forms of Music scheint er mit Absicht vermieden zu sein, und auch in der Einleitung zu den Essays III wird er, kaum aufgekommen, sofort zu „sonata forms“ und „sonata style“ erweitert, nämlich so: „The best way to avoid a tiresome abstract of ordinary sonata form will be for us to base our analysis on the difference between the sonata forms and those of Bach. The cardinal difference between sonata-style movements and those of the time of Bach is that the sonata movement changes on dramatic principles as it unfolds itself, whereas the older forms grow from one central idea and change only in becoming more effective as they procede. You cannot, indeed, displace a bar without upsetting the whole; but the most experienced critic could not tell from looking at a portion out of its context whether it came from the beginning, middle, or end of the work. Yet almost any sufficient long extract from the first movement of a sonata by Mozart or Beethoven would give a competent musician abundant indications of its place in the scheme.“ Sonatenform ist also kein starres, abstraktes Modell, sondern das klingende Resultat einer bestimmten Kompositionsweise, des Sonatenstils. Diesen beschreibt Tovey stets als ein „dramatisches“ Prinzip in dem Sinne, dass der Wechsel von einer Tonart in die andere wie ein dramatisches Ereignis herausgestellt wird, sodass der Weg zurück zur Ausgangstonart nicht anders als durch weitere dramatische Ereignisse erreicht werden kann: „Johann Christian, the ‚London‘ Bach, initiated the all-important method of emphasizing a change of key so that it became a dramatic event irreversible except by other dramatic developments“, heißt es in The Forms of Music. Das klassische Konzert, wie wir es in vollkommenster Ausprägung bei Mozart finden, ist mithin das Ergebnis der Einwirkung des neuartigen Sonatenstils auf die ältere Konzertsatzpraxis, Orchesterritornelle und solistisch dominierte Passagen einander abwechseln zu lassen. Das „large classical concerto scheme with ritornello“ übernimmt vom barocken Konzertsatz die orchestrale Einleitung, welche in der Haupttonart verbleibt. Der Sonatenstil kommt in dem Abschnitt zum Tragen, der mit dem Einsatz des Soloinstruments anhebt. Hier entwickelt sich ein tonales Geschehen wie in der Exposition eines Sonatensatzes, welches zum Wechsel in die Kontrasttonart führt. Die anschließenden Abschnitte des musikalischen Verlaufs entsprechen dem zweiten Teil eines Sonatensatzes mit Durchführung und Reprise. Die Anfangsabschnitte eines solchen Konzertsatzes werden zuweilen als „doppelte Exposition“ bezeichnet. Dies mag dadurch gerechtfertigt erscheinen, dass das thematische Material des Tutti-Ritornells mit dem des Solos weitgehend übereinstimmt, ist letztlich aber doch irreführend, denn für den harmonischen Verlauf des Satzes erfüllen beide Abschnitte verschiedene Funktionen. Die Ähnlichkeit zu Expositionswiederholungen, wie sie in den Kopfsätzen klassischer Symphonien vorkommen, ist zufällig. Möchte man eine Bezeichnung für die Eröffnung des Kopfsatzes eines klassischen Konzerts vergeben, die mit der gängigen Terminologie für den Sonatensatz übereinstimmt, so schlage ich zwei Möglichkeiten vor:
1. Man bezeichnet das Orchesterritornell und den Abschnitt vom Einsatz des Soloinstruments bis zum Beginn der Durchführung gemeinsam als „Exposition“.
2. Man bezeichnet das Orchesterritornell als „Einleitung“, den Abschnitt vom Einsatz des Soloinstruments bis zum Beginn der Durchführung als „Exposition“.
(Ich werde im Folgenden beide Definitionen benutzen, je nachdem es zur Erfassung der Sache günstiger erscheint. Der Leser wird bemerken, was in welchem Fall wie gemeint ist.)
Wie verhält es sich nun mit Busoni? Liegt im Kopfsatz seines Klavierkonzerts eine Sonatenform vor? Oder fehlt sie, wie Celestini meint?
(Die nachfolgende Analyse basiert auf der bei Breitkopf & Härtel erschienenen Erstdruckpartitur des Werkes, die im Netz auf IMSLP zu finden ist.)
Zunächst fällt auf, dass Busoni sein Werk mit einer langen Einleitung eröffnet, in der das Soloinstrument schweigt. Es handelt sich, ganz wie Simpson schreibt, um ein Ritornell nach Art der Wiener Klassiker, denn Busoni achtet, so abwechslungsreich er die Harmonik auch gestaltet, sorgfältig darauf, die Haupttonart C-Dur nicht in Frage zu stellen. Sie ist über die ganzen viereinhalb Minuten, die die Einleitung dauert, nie weit entfernt. Nirgends wird eine Kontrasttonart etabliert. Alle Ausweichungen dienen nur dazu, die Rückkehr nach C-Dur umso interessanter zu gestalten. In diesem Orchesterritornell lassen sich drei verschiedene Themen unterscheiden: das Anfangsthema, eine Fanfare, die zuerst leise auf S. 4 in Klarinetten und Hörnern erklingt, und ein weiteres Thema, das aus einer Variante des Anfangsthemas abgeleitet wurde und das zuerst bei Ziffer 4 auf S. 11 auftaucht. Es sei aufgrund seines Anfangs auf starker Taktzeit das „abtaktige Thema“ genannt.
Das Klavier setzt bei Ziffer 5 auf S. 14 mit Akkordbrechungen ein, die es von den Streichern übernommen hat, welche zuvor die Fanfare untermalten. Im Bass erklingen Motive ähnlich der Fanfare, die sich allmählich als weit ausladender Gesang entpuppen, wie es auch oft bei Liszt vorkommt. Zweimal spielen Blasinstrumente dazu ein signalartiges Thema aus den Tönen eines subdominantischen Akkords (S. 17 und 18). Während das Klavier noch seine auf und ab wogenden Akkordbrechungen spielt, erklingen in den Bläsern punktierte Rhythmen und Sechzehntelfolgen, die das Klavier schließlich übernimmt (S. 19). In den Bläsern erklingt der Kopf des Anfangsthemas (S. 20), dann in den Streichern derjenige des abtaktigen Themas (S. 21, Ziffer 8). Wenn dieser vom Klavier in Triolen aufgelöst wird (S. 22), ereignet sich die Überleitung nach E-Dur, denn in der Zwischenzeit ist das passiert, was in klassischen Konzerten nach Einsatz des Soloinstruments zu passieren pflegt: Die Musik hat moduliert, die Haupttonart wurde verlassen, nun mündet sie in die Kontrasttonart ein. Busoni entscheidet sich für das vier Quinten über der Haupttonart liegende, mit ihr in mediantischer Beziehung stehende E-Dur und befindet sich damit in der guten Gesellschaft zahlreicher Komponisten seit Franz Schubert, die sich nicht mehr mit Dominant- oder Paralleltonarten für die Seitensätze ihrer Sonatenformen begnügen, sondern der Haupttonart entferntere Tonarten gegenüberstellen wollen.
Auf S. 23 beginnt Busoni nun den Seitensatz seiner Exposition, in E-Dur und mit einem Thema, das rhythmisch viel mit den bisher erklungenen Themen gemeinsam hat, nichtsdestoweniger aber neu ist. Es wird überwiegend von den hohen Holzbläsern, teilweise auch von den Hörnern vorgetragen. Der akkordische Satz geht auf S. 27 in ein Oboensolo über. Die Musik bleibt nicht in E-Dur, sondern moduliert weiter bis nach Fis-Dur, das auf S. 35 bei Ziffer 10 über eine Kadenz erreicht wird. Hier setzen die punktierten Rhythmen und Sechzehntelfiguren wieder ein: kurzatmige Floskeln, wie sie für Schlussgruppen von Expositionen bezeichnend sind. Einen deutlichen formalen Einschnitt möchte Busoni aber nicht, sondern moduliert weiter und lässt die Musik nach wenigen Takten durchführungsartigen Charakter annehmen. Es entfaltet sich auch nun ein Abschnitt, der nicht anders denn als Durchführung angesprochen werden kann.
Schauen wir zurück, so überblicken wir rund 9 Minuten Musik, deren Verlauf auffallend viel mit den Anfangsabschnitten Mozartscher Konzerte gemeinsam hat: Das Verweilen der Orchestereinleitung in der Haupttonart, das Modulieren nach Einsatz des Soloinstruments, die Vorstellung neuer Themen und Motive nach Einsatz des Soloinstruments bis hin zu einem Seitensatz, dessen Thema sich in der Einleitung nicht findet. Natürlich hat Busoni im Einzelnen Manches anders gemacht als Mozart, aber das Grundprinzip der musikalischen Formung ist das gleiche! Wir haben also in Busonis Konzert eine Konzertsatzexposition ganz nach klassischer Art gehört.
Die Durchführung genauer zu betrachten, ist hier nicht nötig. Es genügt für die Klärung unserer Frage festzustellen, dass sie vorhanden ist. Gibt es aber bei Busoni eine Reprise? Mozart pflegt in den Kopfsätzen seiner großen Klavierkonzerte alle Stränge in den Reprisen zusammenzuführen. Themen aus der Orchestereinleitung erklingen wieder, die seit Einsatz des Soloinstruments nicht mehr verwendet wurden, aber auch die vom Klavier eingeführten Themen sind präsent. Thematische Ungleichgewichte zwischen Einleitung und Exposition werden ausgeglichen. Im Kopfsatz des Busoni-Konzerts findet sich nichts dergleichen. Stattdessen führt Busoni den Hörer mit nahezu Haydnschem Humor aufs Glatteis, ohne dabei die ernste Miene zu verziehen: Über einem Dominantorgelpunkt kündigt er in mächtiger Steigerung mittels der Fanfare die Rückkehr nach C-Dur an (S. 57–61). Man kann es niemandem verübeln, der nun erwartet, das Anfangsthema setze in voller Pracht ein und eröffne eine möglicherweise in aller Ausführlichkeit gestaltete Reprise. Doch auf S. 61 wechselt die Dynamik plötzlich vom forte ins piano, dadurch die Erwartungen an einen machtvollen Repriseneintritt sofort zunichte machend. Statt des Anfangsthemas erklingt das abtaktige Thema, wenn auch „korrekt“ in der ausführlich vorbereiteten Haupttonart C-Dur. Das ist die ganze Reprise! Ihr folgen als Coda nur noch ein paar Fragmente des Anfangsthemas und der Fanfare, dann ist der Satz zu Ende. Zwischen dem Wiedereintritt der Haupttonart und dem Schlussakkord sind lediglich eineinhalb Minuten vergangen – ein extremes Ungleichgewicht zur neunminütigen Exposition des Satzes, die dadurch rund drei Fünftel seiner Spieldauer einnimmt!
Harmonisch ist der Satz komplett: Er ist von C-Dur ausgegangen, hat als Kontrasttonart E-Dur erreicht, nach einer Kadenz in Fis-Dur ausgiebig moduliert und ist am Ende, nach ausgiebiger Vorbereitung, wieder in C-Dur angekommen. In thematischer Hinsicht hat er extreme Schlagseite, denn es werden in der Exposition Themen vorgestellt, die im ganzen Satz nicht wieder zu hören sind. Wo bleibt das Thema des E-Dur-Seitensatzes, wo die Klavierkaskaden, wo das darüber gelegte Bläsersignal? Busoni hat in diesem Satz ein musikalisches Paradoxon auskomponiert: Er ist gleichzeitig vollständig und unvollständig. Die Antwort auf die Frage, warum das so ist, findet sich im letzten Satz, der Männerchorhymne aus Aladdins Wunderhöhle. Alles, was in der Reprise des Kopfsatzes fehlte, tritt hier erneut auf und erscheint durch den Gesang auf eine höhere Stufe gehoben. Es wurde nicht vergessen, sondern nur aufgespart, um in neuer Gestalt umso stärker zu wirken. Bezeichnenderweise beginnt der Chor mit dem Seitensatzthema in dessen originaler Tonart E-Dur und findet am Ende zum C-Dur des Anfangs zurück. Alle Widersprüche lösen sich harmonisch auf.
Um ein letztes Mal zur Ausgangsfrage zurückzukehren: Ist der Kopfsatz von Ferruccio Busonis Klavierkonzert op. 39 in Sonatenform geschrieben? Diese Frage ist unbedingt zu bejahen! Die Tatsache dass seine Reprise extrem verkürzt ist – ein Umstand, der sich aus dem Zusammenhang des ganzen Werkes heraus erklärt –, mag freilich manchen Betrachter in die Irre führen. Die wesentlichen Merkmale eines „large classical concerto scheme with ritornello“ sind aber nichtsdestoweniger vorhanden, womit der Satz getrost als Sonatensatz angesprochen werden kann.
Chor und Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks starteten die neue musica viva Saison am Freitag, 13. Oktober 2023, erstmals in der Münchner Isarphilharmonie und unter der Leitung ihres neuen Chefdirigenten Sir Simon Rattle. Auf dem Programm standen die Uraufführung von Automatones des slowenischen Komponisten Vito Žuraj sowie Luciano Berios großangelegtes Meisterwerk „Coro“.
Nachdem sich der vor knapp vier Jahren verstorbene Mariss Jansons von den Symphoniekonzerten der musica viva erstaunlich zurückgehalten hatte, ließ es sich Sir Simon Rattle nicht nehmen, auch hierbei die Saison höchstpersönlich zu eröffnen. Damit bekundete er zudem seinen Willen, eine alte Tradition der Chefdirigenten beim Bayerischen Rundfunk weiterzuführen und sich für diese in der Neue-Musik-Szene nach wie vor einmalige Veranstaltungsreihe weiterhin ganz besonders zu engagieren. Dafür hatte man letzten Freitag – wohl nicht nur wegen der offenkundigen Unmöglichkeit, im gewohnten Herkulessaal die von Berios „Coro“ geforderte, besondere Sitzordnung zu realisieren – gewagt, erstmals die Isarphilharmonie zu bespielen. Was die Besucherzahlen betrifft, ging dies voll auf: Der HP8 war zwar nicht ausverkauft, jedoch kam schätzungsweise mehr Publikum als der Herkulessaal überhaupt hätte fassen können.
Vor dem eigentlichen Konzert, um 19:20 Uhr, durften im Foyer 24 Zwölftklässlerinnen des Münchner Max-Josef-Stifts unter der Leitung von Dietmar Wiesner ihre kollaborative Komposition Coro 2.0 zu Gehör bringen, Ergebnis eines u. a. von Cathy Milliken und Lucie Wohlgenannt aufwändig vorbereiteten musica viva-Education-Projektes. Hierbei entstand ein knapp 12-minütiges Stück, das sich zwar an Methoden und Prozesse von Berios Coro anlehnt, etwa ebenso Volksliedmaterialien einbezieht, aber als Musik- und Textcollage ganz eigenständig erarbeitet wurde. Schade, dass diese ansprechende Darbietung von Teilen des gerade hereinströmenden Publikums quasi ignoriert wurde und im Umgebungslärm beinahe unterging. Zeitpunkt und Ort waren somit leider ziemlich unvorteilhaft gewählt.
Die Anregung zu Vito Žurajs (*1979) großbesetzter, 25-minütiger Auftragskomposition Automatones findet sich in der aus der griechischen Mythologie weniger bekannten Geschichte über von Hephaistos und Dädalus erschaffene, belebte Metallstatuen von Tieren, Menschen und Monstern, die angeblich sogar fühlen und denken konnten. Unabhängig davon, wie diese antiken Illusionen im Detail gedacht gewesen sein mögen, bedient sich der Slowene Žuraj geschickt ausgeklügeltster Klangillusionen, sowohl aus harmonischer wie rhythmischer Sicht: Melodisch-harmonisch werkelt da etwa die berühmte Shepard-Skala, die dem Hörer eine unendlich auf- oder absteigende Linie vorgaukelt, und gleichermaßen trifft man auf rhythmische Strukturen, die nur scheinbar immer weiter beschleunigen bzw. ritardieren. Ein passender Vergleich aus der bildenden Kunst wären da Maurits C. Eschers bekannte Grafiken von „unmöglichen“ Geometrien. Dazu kommt eine enorm abwechslungsreiche, zugleich divergente Orchestrierung, selbstbewusst irgendwie zusammengehalten von Klavier, Akkordeon, Horn und Harfe – letztere durch Skordatur schon verfremdet.
Žuraj, der auch Musikinformatik studiert hat, nutzt bei der detaillierten Ausarbeitung seiner komplexen Klangwelten durchaus die Unterstützung eigener Computeralgorithmen, gibt aber nie das Heft menschlicher Entscheidung aus der Hand. Schmunzeln durfte man über witzige Seitenhiebe in Richtung der derzeit allgegenwärtigen Diskussion um künstliche Intelligenz, so in zwei Passagen, wo die Blechbläser nur ihre Mundstücke benutzten. Rattle und das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks spielten diese instrumental höchst virtuose Musik mit Präzision und sichtlichem Vergnügen. Freilich wurde hier keine Geschichte wie z. B. in Paul Dukas‘ Vertonung von Goethes Zauberlehrling erzählt, und die genannten wiedererkennbaren Effekte ermüdeten auf Dauer, wo substanzielle musikalische Aussagen fehlten. Das Publikum nahm diese Uraufführung dann auch eher erheitert zur Kenntnis.
Von ganz anderem Kaliber erwies sich naturgemäß Luciano Berios (1925–2003) Coro von 1975–77, neben der berühmteren Sinfonia eines der Hauptwerke des großen Italieners. Das Stück für 40 Sänger und 44 Instrumentalisten verlangt eine exakt festgelegte, gemischte Sitzordnung, so dass jedem Sänger des Chorsdes Bayerischen Rundfunks (Einstudierung: Peter Dijkstra und Max Hanft) ein bestimmtes Instrument zugeordnet ist, und sich diese bereits lokal sehr kommunikativen Paarungen als echte Duos bald bis ins Tutti erweitern. Dies geht also von solistisch tätigen Einzelstimmen – das Riesenwerk beginnt relativ harmlos wie ein schlichtes Kunstlied mit reiner Klavierbegleitung (sensibel und ausdrucksstark: Lukas Maria Kuen) – über Ensemblegruppen bis hin zur oft in gewaltigen, tatsächlich 40-stimmigen Clustern ausbrechenden Klangtotalen, insbesondere bei den immer wieder eingestreuten Zeilen Venid a ver… („Kommt zu sehen das Blut auf den Straßen“) des chilenischen Dichters Pablo Neruda.
Kontrastierend zur gewaltigen Anklage Nerudas stammen die übrigen Texte („documenti populari“, Berio) aus über den gesamten Globus verteilten Volksdichtungen, allerdings – abgesehen vom Hebräischen – jeweils in die fünf wichtigsten westeuropäischen Sprachen übersetzt. Diese handeln ganz elementar und mit fast ritueller Kraft von Liebe, Arbeit und Bedrohung. Den rituellen Bezug schöpfte Berio nicht zuletzt aus besonderen Techniken musikalischen Zusammenspiels („Klangmaschine“) der zentralafrikanischen Banda Linda – und gerade diese bildeten in der Interpretation Simon Rattles den Kitt, der verhinderte, dass das Ganze auch nur für einen Moment ins Episodische zu zerfallen drohte.
Bei der letzten Münchner Aufführung von „Coro“ – 2017 mit dem MusicÆterna Choir und dem Mahler Chamber Orchestra – hatte Teodor Currentzis ganz auf die Schockwirkung großer Gegensätze vertraut, wohingegen Rattles Sichtweise erfolgreich versuchte, die unterschiedlichen Ebenen zu verbinden – für Berio alles Aspekte menschlicher Existenz. Chor – mit meist hervorragender Textverständlichkeit – und Orchester formten dabei berührende, stimmungsvolle Mischklänge, die sich kontinuierlich transformierten. Ebenso agierten die Chorsolisten klangschön, temperamentvoll, aber emotional nie überhitzt, und die Tutti-Ausbrüche gingen umso mehr unter die Haut. Bei Rattle – der das nun 52-minütige Stück deutlich schneller dirigierte als noch 2010 in Berlin – hatte dann selbst der Schluss (Neruda!) wenig Desolates, eher betroffene Erhabenheit, bei allem Ernst immer noch mit einem Funken Hoffnung. Für die fabelhafte Leistung aller Beteiligten gab es verdient langanhaltenden Beifall. Rattles Fähigkeit, wirklich schwieriges Repertoire dem Publikum ohne Überforderung zu vermitteln, bleibt bewundernswert.
Auf seiner neuen Solo-CD erforscht Julius Berger die Anfänge der Sololiteratur für Violoncello zu Beginn des 20. Jahrhunderts, fast zwei Jahrhunderte nach Bachs epochalen Suiten. Neben Max Regers Suite d-moll op. 131c Nr. 2 hat Berger hierfür die Passacaglia aus der Solosonate von Donald Francis Tovey sowie – als Weltersteinspielungen – zwei Solowerke von Adolf Busch sowie die Suite Nr. 2 h-moll von Walter Courvoisier ausgewählt.
Dass Johann Sebastian Bachs Suiten für Solocello Anfang des 20. Jahrhunderts durch Pablo Casals aus einem veritablen Dornröschenschlaf erweckt werden mussten, dürfte vielen Musikliebhabern geläufig sein. In der Tat spielte man sie im 19. Jahrhundert wenn überhaupt, dann höchstens mit zusätzlicher Klavierbegleitung, wovon übrigens eine historische Aufnahme der Sarabande aus der Suite Nr. 6 durch Julius Klengel ein ebenso spätes wie in mancher Hinsicht skurriles Zeugnis ablegt. Diese Skepsis gegenüber Musik für solistisches Violoncello (und überhaupt solistische Melodieinstrumente) und ebenso ihre allmählich einsetzende Renaissance zu Beginn des 20. Jahrhunderts lässt sich dabei ebenso deutlich anhand der Literatur für Solocello nachvollziehen. In der Tat gibt es nach einer Reihe von Werken aus der Zeit des Barock eine lange Pause in etwa zwischen 1750 und 1900, in der nahezu überhaupt keine Solowerke entstanden, abgesehen von einigen Beiträgen komponierender Cellisten, besonders bekannt etwa die Capricen von Alfredo Piatti.
Um 1915 ändert sich das Bild allmählich, und gemeinhin werden Kodálys großartige Solosonate sowie Max Regers Drei Suiten op. 131c als die Werke genannt, mit denen die moderne Literatur für solistisches Violoncello beginnt, die also am Beginn einer Renaissance stehen, die bis zum heutigen Tag eine enorme Vielfalt an neuer Literatur hervorgebracht hat. Dieser Scheidepunkt ist es, der Julius Berger auf seinem neuen Album interessiert, und der ihn gleichzeitig dazu animiert hat, die Situation genauer unter die Lupe zu nehmen – und so weitere Solostücke aus jenen Jahren zum Vorschein gebracht hat abseits der bekannten Namen, unter anderem in Form von drei Ersteinspielungen. Es gab also nicht nur Kodály und Reger, sondern auch Donald Francis Tovey, Adolf Busch und Walter Courvoisier, die seinerzeit Musik für Solocello schrieben. Für dieses Wiederaufkeimen einer über Jahrhunderte vernachlässigten Gattung hat Berger das schöne Bild der ersten Blumen auf den Bergen seiner Allgäuer Heimat zu Beginn des Frühlings gefunden, der Soldanellen (oder Alpenglöckchen); daher der Titel des Albums.
Am Beginn steht mit Regers Suite Nr. 2 d-moll, wie alle drei Suiten um die Jahreswende 1914/15 entstanden, ein Klassiker. Berger präsentiert in seinem ausführlichen und von großem Enthusiasmus getragenen Begleittext eine Reihe von Gedanken und Thesen rund um dieses Werk. Man muss gar nicht notwendigerweise allen davon vollumfänglich zustimmen, um seine Ausführungen als eine ungemein anregende Lektüre zu empfinden und Einblicke in seine intensive Beschäftigung mit dieser Musik zu erhalten, die zu einer sehr persönlichen und charaktervollen Lesart der Suite geführt haben. Berger begreift sie als die „schmerzensreiche“ in Regers Triptychon, unter anderem mit Bezügen zu Bachs Choral Wenn ich einmal soll scheiden, und dieser Ansatz ist bereits im Präludium exzellent nachvollziehbar. Berger nimmt den Satz relativ rasch, übrigens durchaus in Einklang mit Regers Metronomangabe (Viertel=54, was bei einem Largo mit Notenwerten bis hin zu Zweiunddreißigsteln nicht eben langsam ist), und das Resultat ist weniger ein breit strömender langsamer Satz als vielmehr ein konfliktreicher, ausgesprochen expressiver, ja teils agitiert deklamierender (vgl. die bereits erwähnten Zweiunddreißigstel im Mittelteil) Monolog. Man beachte in diesem Kontext unter anderem Bergers relativ kurze, teil fast staccatohafte Artikulation in Takten 6 bis 8, die exemplarisch für das Momentum, den dramatisch-passionierten Vorwärtsdrang seiner Interpretation stehen mag.
In Regers viersätziger Suite findet sich an dritter Stelle ein zweites Largo, und es ist interessant zu beobachten, wie Berger in seinem bewegteren Mittelteil den expressiven Duktus des Präludiums wieder aufgreift, andererseits aber den Kontrast zu den breit ausgesungenen, weiten Bögen der Eckteile vorzüglich herausarbeitet. Hier weiß Berger die innige, tief empfundene Gesangslinie exzellent zu realisieren, die großen Zusammenhänge dabei stets im Blick. Bei der Wiederkehr des Anfangsteils spielt Berger offenbar weite Teile auf der D-Saite, was der Musik einen entrückten, sanft gedämpften Charakter verleiht. Bergers grundsätzliches Verständnis der Suite zeigt sich aber auch in den beiden schnellen Sätzen: so ist die Gavotte an zweiter Stelle bei ihm ein sehr wohl helleres, aber nicht leichtfüßiges Intermezzo, stets von einer gewissen Schwerblütigkeit geprägt, die natürlich im etwas verlangsamten, von Berger dezidiert auch verhalten, zögernd begriffenen Mittelteil besonders zum Tragen kommt. Ähnliches gilt für die finale Gigue: Berger lässt sich hier eher Zeit, eilt nicht, sondern nimmt sich sogar im Gegenteil immer wieder Momente des Innehaltens heraus, baut ein gewisses Maß an Rubato auch in diesem Vivace-Finale ein, arbeitet die Harmonik und die dramatischen Höhepunkte klar heraus. Etwas überrascht war ich zunächst darüber, dass er den Schluss etwas verhaltener nimmt als möglich wäre (immerhin Fortissimo al fine), aber tatsächlich kommt die „schmerzensreiche“ Note dieser Musik so ausgezeichnet zur Geltung.
Donald Francis Tovey (1875–1940), der große britische Musikgelehrte, war – wie in den letzten Dekaden durch eine Reihe von CD-Einspielungen allmählich wieder ins Bewusstsein gerufen wird – auch ein exzellenter Komponist, der ein verhältnismäßig schmales, aber sehr dezidiert die Auseinandersetzung mit der großen Form und der Tradition suchendes Œuvre hinterlassen hat. Anfang der 1910er Jahre beschäftigte er sich intensiv mit Musik für solistische Streichinstrumente und publizierte 1913 jeweils eine Sonate für Solovioline und Solocello. Aus der letzteren, der Sonate für Violoncello solo D-Dur op. 30, hat Berger den Schlusssatz, eine großartige, monumentale, an Bach (und natürlich speziell der Chaconne aus der Partita d-moll BWV 1004) geschulte Passacaglia ausgewählt, die bei Berger allein bereits 20 Minuten in Anspruch nimmt. Die Ausdrucksspanne dieser Musik ist enorm, unter anderem mit einem teils geradezu dramatischen Mittelteil in Moll, einer veritablen Apotheose und schließlich einem wie befreit wirkenden finalen Allegro. Faszinierend dabei ganz besonders die klug disponierten Höhepunkte, die sorgfältig über lange Zeiträume aufgebauten Steigerungen – man beachte etwa die stetig zunehmende Bewegung über die ersten Minuten hinweg.
Es gibt mindestens zwei Einspielungen der gesamten Sonate. Interessiert man sich für Toveys Schaffen insgesamt, ist die recht solide, aber im Vergleich doch etwas blasse Einspielung von Alice Neary bei Toccata von natürlichem Interesse. Die (mutmaßliche) Ersteinspielung der Sonate hat indes um die Jahrtausendwende herum die amerikanische Cellistin Nancy Green vorgenommen. Green nimmt die Passacaglia ein gutes Stück zügiger als Berger und kommt auf eine Spieldauer von 14 Minuten (bei neun gekürzten Takten direkt vor dem Moll-Mittelteil). Sie betont dabei eher den Vorwärtsdrang, die Dynamik der Musik, während Bergers Lesart über weite Strecken meditativer, vielleicht sogar ein wenig archaisch wirkt und die große, weiträumige Architektur des Stücks in den Vordergrund stellt. Dass beide Varianten sich als ausgesprochen valide Ansätze erweisen, spricht für die Qualitäten und den Facettenreichtum von Toveys Musik.
Mit den Solowerken von Adolf Busch (1891–1952) betritt Julius Berger gänzlich neues Terrain, denn bislang lagen von diesen Kompositionen keine Einspielungen vor. Busch war natürlich vor allem einer der berühmtesten Geiger der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, hat aber auch sein Leben lang komponiert. Völlig vergessen war sein Schaffen zwar nie, aber eine besonders große Rolle haben seine Werke auf Tonträger lange Zeit nicht gespielt. In jüngerer Zeit ist speziell seine Kammermusik, die sicherlich einen der Schwerpunkte seines Schaffens darstellt, ein wenig stärker in den Fokus gerückt. Busch war mit Max Reger befreundet, und so ganz möchte ich Bergers Aussage, diese Freundschaft habe zu keiner Verwandtschaft der Kompositionsstile geführt, nicht folgen – es gibt schon eine ganze Reihe von Werken Buschs, die recht deutlich an Reger gemahnen. Was allerdings sehr wohl zutrifft, ist, dass Buschs kompakt gehaltene Suite op. 8a, um 1914 und damit zeitgleich oder sogar vor Regers Suiten entstanden, sich überraschend deutlich von diesen unterscheidet, unter anderem deshalb, weil die Bezugnahme auf das Vorbild Bachs in Buschs Suite zwar auch vorhanden ist, aber weniger deutlich erscheint als in den übrigen Werken auf dieser CD.
Schon das Präludium lässt aufhorchen, eine sich chromatisch windende, dunkel-vergrübelt gehaltene Fantasie, die eigentlich erst mit den letzten Takten g-moll als Grundtonart bestätigt (nicht umsonst trägt die Suite, obwohl um G zentriert, keine Tonartenbezeichnung). Sehr originell, widerborstig und bocksprüngig das kurze Scherzo an zweiter Stelle. Mit den beiden letzten Sätzen, Romanze und Tarantelle, hellt sich der Charakter des Werks auf, wird freundlicher, obwohl selbst die abschließende Tarantelle, nun in G-Dur, nicht unbedingt von Leichtigkeit geprägt ist: vielmehr dominiert auch hier eine gewisse Erdenschwere, sind es die Kanten, die dieser Musik ihr ganz eigenes Profil geben, von Julius Berger mit Nachdruck und viel Sinn für diese spezifische Atmosphärik in Szene gesetzt. Einige Jahre später, 1922 nämlich, ließ Busch seiner Suite noch ein Präludium und Fuge d-moll op. 8b folgen, ein Diptychon, das sich nun wesentlich expliziter auf die Tradition Bachs bezieht. Im eher ruhig gehaltenen Präludium erweist sich Berger einmal mehr als souveräner Gestalter mit sorgfältig durchdachter Artikulation; in der Fuge überrascht erst einmal seine erstaunlich gemäßigte Tempowahl angesichts eines Allegro energico, doch wo das Fugenthema m. E. zu einem rascheren Puls einladen würde, wird dies durch einige Sechzehntelpassagen wenig später wieder relativiert.
Der vermutlich am wenigsten bekannte Komponist, der auf dieser CD vertreten ist, ist der gebürtige Schweizer Walter Courvoisier (1875–1931), der zunächst Medizin studierte und als Arzt praktizierte, bevor er sich doch für die Musik entschied und in München u. a. Schüler von Ludwig Thuille wurde. Nur wenig später wurde er selbst ein gefragter Kompositionslehrer an der Münchener Akademie der Tonkunst. Courvoisiers Œuvre ist eher überschaubar und konzentriert sich insbesondere auf Vokalmusik (Lieder, Chorwerke sowie drei Opern); im Bereich der Instrumentalmusik beschäftigte er sich vor allem mit Variationswerken für Klavier und Solosuiten für Streicher. Seine sechs Suiten für Violine solo op. 31 hat der Geiger Hansheinz Schneeberger auf CD eingespielt. Zeitgleich mit diesen Suiten komponierte Courvoisier 1921 auch zwei Suiten für Violoncello solo, die jedoch unveröffentlicht blieben; vermutlich war auch hier ein Zyklus von sechs Suiten geplant, der jedoch nicht realisiert wurde. Die zunächst vorgesehene Opuszahl 32 hat Courvoisier später seiner Oper Der Sünde Zauberei zugeteilt. Erst 2021 hat Florian Schuck die beiden Suiten herausgegeben.
Julius Berger hat sich auf diesem Album für die Suite Nr. 2 in h-moll entschieden. Courvoisier bezieht sich hier bereits in der Satzfolge deutlich auf Bachs Vorbild: zwar steht am Beginn kein Präludium, sondern eine Introduction, aber die Abfolge der übrigen Sätze folgt genau der Struktur der Bach’schen Suiten, mit dem einzigen Unterschied, dass es gewissermaßen zwei „fünfte Sätze“ (im Sinne Bachs) gibt, nämlich sowohl Bourrée als auch Menuett. Dabei ist die Introduction eher eine Art dramatisch akzentuiertes Vorspiel als ein Präludium à la Bach (mit attacca-Übergang zur nachfolgenden Allemande), in der Bourée gibt es (anders als bei Bach) kein Trio bzw. eine Bourrée II, und während ansonsten alle Sätze (analog zu Bach) in h-moll gehalten sind, steht das Menuett (I) in D-Dur – insofern fallen diese Sätze also auch sonst ganz leicht aus dem Rahmen.
Stilistisch kombiniert Courvoisier deutlich erkennbar Elemente, Formeln und Referenzen an die Musik Bachs mit Mitteln der (nachromantischen) Tonsprache des frühen 20. Jahrhunderts, etwa in Sachen Rhythmik, Harmonik und Modulationen oder gelegentlicher Verwendung von Pizzicato; die spieltechnischen Anforderungen liegen eher im Rahmen der späteren Bach-Suiten. Anders als Bach gibt Courvoisier umfassende Anweisungen zur Dynamik, ganz wie bei Bach sind die Angaben zur Artikulation dagegen sehr sparsam, sodass sich für den Interpret hier zahlreiche Freiräume ergeben, so zum Beispiel in der Allemande mit ihren weitgehend kontinuierlichen Sechzehntelbewegungen. Ein eigenes Profil haben alle sieben Sätze, kleine Charakterstücke etwa die Courante (eine Art Scherzo im 9/8-Takt) oder die abschließende, regelrecht trotzig daherkommende Gigue. Besonders melodiös gehalten sind Bourrée und Menuett, Herzstück der Suite die tief empfundene Sarabande, die meditative Versenkung, ja ein gewisses Maß an Zeitlosigkeit ausstrahlt. All dies erfährt durch Berger eine sprechende, klangvolle, durchdachte Darbietung; in Bourrée und Menuett etwa könnte man teils eine etwas breitere Artikulation wählen, aber dies fällt letztlich unter die besagten Freiräume, die Courvoisier dem Cellisten mit auf den Weg gibt.
Erwähnt sei auch, dass Julius Berger sich für dieses Album für Darmseiten und eine Frequenz von 432 Hz entschieden hat, was den Einspielungen ein warmes, rundes, volles Timbre verleiht. Eine zusätzliche Erwähnung verdient auch noch einmal sein exzellenter, persönlich gefärbter und inspirierender Begleittext (übrigens stammt auch das Foto auf dem Cover der CD von Berger, wie auch ein kleines Gedicht als Geleit). Ob Toveys Sonate wirklich das erste Solowerk nach Bach war, scheint mir ein wenig in einer Grauzone zu liegen, selbst wenn man Solowerke komponierender Cellisten (wie Klengels Opus 43, vielleicht auch noch die 1901 erschienenen Präludien und Fugen des Monegassen Louis Abbiate) ausklammert. Weitgehend zeitgleich mit Toveys Sonate ist z. B. offenbar die Solosuite des (wie übrigens auch Tovey) von Casals hochgeschätzten Emánuel Moór entstanden – dies also ebenfalls eine „Soldanelle“. Ein weiterer Name, den man in diesem Zusammenhang wohl a priori überhaupt nicht vermuten würde, ist Jean Sibelius, der bereits um 1887 einen gut zehnminütigen Zyklus von Variationen über ein eigenes Thema für Solocello komponiert hat, faktisch noch zu seinen Juvenilia zählend.
In den vergangenen Jahren sind aus naheliegenden Gründen zahlreiche (und oft genug hochklassige) Alben für Soloinstrumente und speziell auch Solocello erschienen. Aus dieser Vielzahl sticht Berger „Soldanella“ nichtsdestotrotz noch einmal heraus. Ein Grund hierfür ist die gestalterische Souveränität dieser Einspielungen, vor allem aber ist es der Mut, den Berger hier aufbringt, der Pioniergeist, mit dem er sich für hoch interessante Musik einsetzt, die eben nicht auf Effekt setzt, die nicht populär sein will, sondern sich durch ihre große Ernsthaftigkeit auszeichnet. Es sind expressive, durchdachte, vielleicht nicht immer bequeme, aber in ihrem Bekenntnis zu künstlerischer Größe umso fesselndere Kompositionen, die auf diesen fast 80 Minuten Musik versammelt sind. Hierin liegt der ganz besondere Reiz dieses großartigen Albums.
Am 8. September 2023 kam Joachim Raffs Oper Samson, die ein Jahr zuvor mit großer Verspätung im Deutschen Nationaltheater Weimar uraufgeführt worden war, zum ersten Mal in der Schweiz zur Aufführung. Das Werk erklang konzertant unter der Leitung von Philippe Bach im Stadttheater Bern, die Berner Symphoniker begleiteten ein hochkarätiges internationales Gesangsensemble (zur Besprechung siehe hier). Die Aufführung bildete den Endpunkt eines neuntägigen Aufnahmeprojekts für das Label Schweizer Fonogramm, produziert von Graziella Contratto. Im Anschluss an die Aufführung führte The New Listener mit Graziella Contratto und Philippe Bach das folgende Gespräch.
Wie sind Sie beide auf Joachim Raff gekommen?
Graziella Contratto: Ich stamme aus der gleichen Gegend wie Joachim Raff. Ich bin im Kanton Schwyz aufgewachsen und kenne den Ehrenpräsidenten der Joachim Gesellschaft, Res Marty, schon seit vielen Jahren. Meine erste Begegnung mit Raff hatte ich, als ich erfuhr, dass in Lachen in dem Haus, das heute am Ort seines Geburtshauses steht, ein Museum für ihn eingerichtet wurde. Ich habe später auch zwei, drei Werke von ihm dirigiert. Aber erst vor zwei oder drei Jahren ist mir zu Ohren gekommen, dass es die Oper Samson gibt – eine tragische Oper unter Raffs starkem Eindruck von Wagners Lohengrin und dessen Zürcher Schriften, die seit ihrer Entstehung über 170 Jahre in einer Schublade warten musste, bis sie letztes Jahr in Weimar in der Regie von Calixto Bieito uraufgeführt worden war. Und da dachte ich: Das müssen wir als Weltersteinspielung machen! 2017 hatte ich gemeinsam mit meinem Mann Frédéric Angleraux ein Label gegründet, Schweizer Fonogramm, das schon in den ersten Jahren vergessen gegangene Schweizer Kompositionen mit hochkarätigen Studioaufnahmen releasen durfte. Als unbekannte Schweizer romantische Oper war der Samson für uns daher ideal. Dazu brauchten wir natürlich auch ein Orchester, einen Chor, gute Solisten und Solistinnen, einen hervorragenden Kapellmeister und vor allem einen Ort, wo das Ganze als Schweizer Erstaufführung aufgeführt und als Studioproduktion aufgenommen werden konnte. Von den Finanzen spreche ich dann weiter unten….
Philippe Bach: Es ist eigentlich traurig, aber ich als Schweizer habe Raff erst in Thüringen kennengelernt, als GMD in Meiningen. In einem Gespräch mit Professor Wolfram Huschke von der Musikhochschule Weimar kamen wir darauf, dass man für Raff etwas machen müsste: Er sei doch Schweizer und wirkte in Thüringen. So habe ich ihn kennengelernt. Ja, es ist traurig, dass Raff bei uns so unbekannt ist, aber mit dem Jubiläumsjahr 2022 gab es für ihn zum Glück einen wichtigen „Push“, der ihn in der Schweiz auf die musikalische Landkarte gebracht hat.
Das heißt, die Schweizer wurden durch das Jubiläum erst richtig wachgerüttelt, was die Bedeutung von Raff betrifft?
Philippe Bach: Ein bisschen…
Graziella Contratto: …nicht genug! Wir haben in der Schweiz ein wenig das Problem mit dem eigenen musikalischen Kulturerbe, weil es eben nicht so wahnsinnig viel gibt vor dem 20. Jahrhundert. Man darf nicht vergessen, dass die Schweiz damals kulturell betrachtet eigentlich ein unterentwickeltes Land war, abgesehen von gewissen Industriezentren wie Zürich und Genf oder Basel. Die Schweizer galten während vielen Jahrhunderten als ein Bauernvolk, naturaffin, aber eben nicht als Ausgeburt der Raffinesse….. Viele ausländische Komponisten waren hier im Exil ( wie z. B. Richard Wagner), machten Bergtouren (wie Mendelssohn) oder befanden sich auf der Durchreise mit einem Besuch eines reichen Bekannten, und haben dann hier etwas komponiert, wie Brahms, der am Thunersee sein Doppelkonzert geschrieben hat. Wir hatten einfach weniger eigene Komponisten. In Genf, in der französischen Schweiz gab es schon einige, aber sie sind nicht sehr bekannt geworden, Josef Lauber etwa, geboren 1864. Er hat dasselbe Problem, obwohl er eine wichtige Persönlichkeit war, z. B. bei der Gründung des Schweizerischen Tonkünstler-Vereins. Ich glaube, deswegen sind die Schweizer nicht gewohnt, dass aus dem 19 Jahrhundert tatsächlich Trouvaillen da sind: Musik von Schweizern komponiert, zwei, drei Komponistinnen sind auch darunter.
Philippe Bach: Ich glaube, bei Raff kommt auch noch die Sache hinzu, dass er sehr jung ausgewandert ist: die ersten rund 20 Jahre in der Schweiz – danach in Deutschland. Er musste ja fast fliehen, hatte finanzielle Probleme. Und dann war er weg. Das ist vielleicht auch ein Grund, warum viele gar nicht wissen, dass Raff ein Schweizer Komponist ist.
Graziella Contratto: Dann war er ja auch Direktor des Frankfurter Hochschen Konservatoriums, seine Hauptwirkungsorte liegen in Deutschland.
Sie hatten schon das tragische Sujet erwähnt. Was, meinen Sie, gab für Raff den Ausschlag, sich für den Samson-Stoff zu entscheiden?
Graziella Contratto: Das habe ich mir auch überlegt. Er hat ja den Lohengrin als Assistent in Weimar bei der Uraufführung miterlebt, und ich habe ein bisschen den Eindruck – das ist natürlich eine küchenpsychologische Analyse –, Raff war auf der einen Seite fasziniert von Wagner, auf der anderen Seite wollte er sagen: „Ich kann das auch!“ Er hat gesehen, wie Wagner sich gerade jetzt auf diese mittelalterliche oder später deutsch-nordische Sagenwelt eingeschossen hat, und daher kann ich nachvollziehen, dass er – als Urschwyzer – auf einen alttestamentarischen Text zurückgriff. Er ist nicht nach Norden gegangen, sondern in die Vergangenheit zurück, ins alttestamentarische Kriegsgeschehen, mitten hinein in die Kämpfe zwischen Israeliten und Philistern. Er hat sich dieses Thema vorgenommen, hat sich in vielen Studien damit befasst, wollte darüber sogar doktorieren. Man sieht das auch in der Partitur: Die Regieanweisungen sind extrem detailliert. Auch der gesungene Text des von ihm selbst verfassten Librettos versucht, Biblisches mit Individuellem und Politischem zu vermengen, das ist alles sehr akribisch ausgearbeitet, z. B. in den Namenswörtern oder in den geographischen Angaben. Er hat viel recherchiert. Das war kein oberflächliches Zusammenbasteln. Es ist eine Mischung zwischen Drama, alttestamentarischen Sagen, Geschichte.
Philippe Bach: Ich glaube schon, dass das ein Glück für ihn war, dass er dabei sein konnte, als Liszt den Lohengrin uraufgeführt hat. Er hat Wagner nicht kopiert – dazu ist Raff in seiner Tonsprache zu eigen – aber er wurde ganz klar von Wagner inspiriert. Sehen Sie sich das Orchester an: Es hat genau die gleiche Größe wie beim Lohengrin, die Instrumente sind identisch. Was mir auch auffällt, ist der sehr solistische Einsatz der Blechbläser, gerade in der Begleitung von Rezitativen – Wagner war im Lohengrin der Erste, der das gemacht hat, das gab es vorher in der Opernliteratur kaum. Und das hat Raff beim Samson dann auch gemacht. Beethoven wurde auch inspiriert durch Mozart, Schubert durch Beethoven und so weiter. Junge Künstler suchen sich immer Vorbilder und wollen dem nachstreben. Raff hat das wirklich großartig gemacht, in seiner eigenen Sprache und seinen eigenen Ideen, aber er wurde zu dieser Oper ganz klar von Wagner inspiriert. Auch übernimmt er von Wagner die Motivtechnik…
Graziella Contratto: …wenn auch weniger konsequent.
Philippe Bach: Aber es leuchtet doch immer auf, etwa in dem Dialog zwischen Vater und Tochter. Da gibt es ein kurzes Motiv, nur einen Takt lang, aber es kommt immer wieder. Und dabei ändert sich so schnell die Farbe der Musik!
Bemerkenswert ist ja auch, wie Raff seine Szenen aufbaut, im ersten Akt etwa die Anrufungen der Göttin durch den Chor mit den sich steigernden Solo-Partien dazwischen, bis dann die Kriegsszenerie hereinbricht!
Graziella Contratto: Darin hat er sich von der Grand Opéra Meyerbeers anregen lassen. Diese Dramaturgie ist offenbar französisch inspiriert.
Philippe Bach: Ich glaube, das war wirklich eine goldene Zeit, als er in Weimar war! Er hat sehr viel miterlebt – Liszt war ja so offen – und es war sicher phänomenal für ihn, als junger Mensch dort zu sein.
Graziella Contratto: Aber es war schon hart, dass dann Samson et Dalila von Saint-Saëns ausgerechnet in Weimar zur Uraufführung kam, nachdem sein eigener Samson aufgrund von Theaterintrigen gegen Liszt, später wegen des überraschenden Todes des eigentlich von Samson begeisterten Ludwig Schnorr von Carolsfeld definitiv nicht zur Uraufführung kommen konnte.
In welchem Verhältnis sehen Sie die beiden Samson-Opern von Raff und Saint-Saëns?
Graziella Contratto: Saint-Saëns hat das Orientalische gekannt: Er war mit dem musikalischen Flair, dem Eros und dem damals florierenden Exotismus vertraut, konnte dies aus eigener Reiseerfahrung einbringen. Deswegen ist sein Werk insgesamt etwas parfümierter als bei Raff. Abgesehen von ein paar modalen Ansätzen ist Raffs Musik relativ europäisch. Bei Raff steht ein politisches, psychologisches Thema im Vordergrund, was sich auch in der Musik niederschlägt. In Samson et Dalila spürt man viel pariserisches Idiom, aber auch ein bisschen kulturellen Tourismus. Auch bei Saint-Saëns gibt es unglaublich tolle Musik, großartige Arien, aber diese Musik ist in einem anderen Fluss, bewegt sich in einem anderen kulturellen Setting.
Wie sehen sie den Samson im Gesamtkontext des Raffschen Schaffens?
Philippe Bach: Ich glaube, das ist ein unglaublich zentrales Werk. Wir wissen nicht – er hat ja nicht sehr viele Opern danach komponiert –, was passiert wäre, wäre die Uraufführung in Weimar damals zustande gekommen und ein riesiger Erfolg geworden, und er darauf vielleicht noch sehr viele Opernaufträge erhalten hätte… In der Karriere eines Musikers gibt es unglaublich viele Zufälle, und die entscheiden dann, ob es in diese Richtung oder in eine andere Richtung geht. Was wäre mit Wagner passiert, wenn nicht König Ludwig gewesen wäre? Das weiß man nicht. Vielleicht hätten wir keinen Ring! Und bei Raff ist es eigentlich eine Tragödie, dass diese Oper nicht viel früher schon gespielt wurde. Vielleicht hätte sie ihm viele Türen geöffnet. Es kam dann anders, und er hat dann später mehr im symphonischen Bereich gearbeitet. Ich muss sagen: Für mich war das Werk auch ein Türöffner, mich noch viel mehr mit ihm zu beschäftigen.
Könnten Sie sich vorstellen, ein weiteres Opernprojekt zu realisieren? Es ist ja noch genau eine Oper von Raff nicht aufgeführt: Die Parole. Wäre das eine Option für Sie, mit diesem Stück weiter zu machen, das offenbar einen ganz anderen Raff zeigen soll?
Graziella Contratto: Was man einfach wissen muss: Das ganze Samson-Projekt, also Aufnahme und Erstaufführung, steht am Ende eines zweijährigen Vorbereitungsprozesses. Es brauchte dazu sehr viel Ressourcen, Zeit und Geld. Es war nicht Teil eines normalen Saisonprogramms – dann wäre es viel einfacher gewesen. Weimar konnte letztes Jahr seine Aufführung als Eröffnungsprogramm der Saison ansetzen. Wir haben das hier außerhalb der Saison mit dem Berner Symphonieorchester zusammen gestemmt. So etwas ist sehr aufwendig, in jeder Hinsicht. Es musste eine Förderstruktur gefunden werden, die das Ganze finanziell unterstützt. Wir fanden zum Glück Unterstützung und Partnerschaften: von der Raff-Gesellschaft Lachen, von verschiedenen öffentlichen Instanzen, zum Beispiel dem Kanton Schwyz, der Herkunftsgegend. Hinzu kamen private Förderstiftungen, ein Crowdfunding und Mäzene und Mäzeninnen, die sich anstecken ließen vom Samson-Fieber. Uns ist aber auch aufgefallen, dass es in der Schweiz auf Bundesebene selber ein gewisses Umdenken braucht, um Tonträgeraufnahmen unter Studiobedingungen als eigene Kulturleistung anzuerkennen. Das ist nämlich noch nicht so sehr der Fall, mindestens nicht, was die historische Schweizer Musik betrifft. Die zeitgenössische Musik wird schon sehr unterstützt. Das ist auch richtig und wichtig! Aber die historische Musik, die eigentlich fast noch sensationeller ist, weil man sie noch gar nicht kennt und gar nicht weiß, was es alles gibt… Das steckt noch ein bisschen in den Kinderschuhen, glaube ich.
Philippe Bach: Man muss einfach auch sagen: Solche Studio-Aufnahmen von Opern gibt es eigentlich heute gar nicht mehr, das kann niemand mehr bezahlen. Aber das ist sehr schade, denn es sind doch wichtige Zeitdokumente, auf die man eben auch noch in 100 Jahren, so hoffe ich, zurückgreift. Es gibt doch Referenzaufnahmen, sagen wir: den Rosenkavalier unter Carlos Kleiber. Solche Sachen gibt es leider heute kaum mehr, da man heute immer Live-Mitschnitte auf CD oder DVD bringt. Aber ich finde es unglaublich wichtig für die Geschichte, dass man solche Studioaufnahmen mit der wirklich besten Qualität eben für die Ewigkeit aufnimmt. Aber wie Graziella gesagt hat: Es ist ein Kraftakt, so etwas zu stemmen! Wir hatten auch das Glück, dass uns das Stadttheater von Bühnen Bern neun Tage zur Verfügung stand. Welcher Opernintendant würde ein Opernhaus für neun Tage schließen! Sie konnten in der Zeit keine Aufführungen spielen. Dass wir an diesem Ort die Aufnahmen machen konnten, ist ein Glücksfall. Das muss man wirklich sagen!
Welche Möglichkeiten bietet ein solches Vorgehen verglichen mit einer szenischen Aufführung, die mitgeschnitten wird?
Philippe Bach: Man hat natürlich eine viel höhere musikalische Qualität. Jeder Musiker bringt Spitzenleistungen und gibt sein Bestes. Jeder weiss: Das ist für die Ewigkeit. Das Niveau ist unglaublich, das erreicht man selten, fast nie in einer Opernaufführung! Und eine konzertante Aufführung für mich etwas unglaublich Schönes. Alle konnten sich wirklich auf die Musik konzentrieren und hatten das Stück im Blut, da wir zehn Tage so intensiv gearbeitet haben. Das hat man selten. Natürlich gehört dieses Stück auf die Bühne, das ist klar: Es braucht Inszenierungen, verschiedene Inszenierungen! Ich glaube, das Stück lässt auch viel zu, man kann viel damit machen. Es wäre schön, wenn das Stück jetzt gespielt würde in verschiedenen Inszenierungen. Aber rein für die musikalische Qualität ist eine Unternehmung, wie wir sie hier durchführen konnten, etwas vom Besten was es gibt.
Das heißt, die Bühnen Bern haben durch die vorübergehende Schließung des Theaters einen ganz wichtigen Beitrag dazu geleistet, dass man überhaupt diese Aufnahme ins Werk sitzen konnte?
Graziella Contratto: Natürlich! Und wir haben noch ein sogenanntes Konzertzimmer einbauen lassen. Sie haben diese Konzertmuschel auf der Bühne gesehen. Sie musste extra eingerichtet werden, was einen Tag lang gedauert hat. 20 Arbeiter sind mit drei Sattelschleppern hergekommen und haben sie aufgestellt: oben die Segel, auf der Seite Stellwände und so weiter. Es war ein unglaubliches Abenteuer, aber auch toll, denn jetzt haben wir wirklich etwas Wichtiges zusammen geleistet, damit Raff auch als Opernkomponist wahrgenommen werden kann, und zwar weltweit. Man sagt immer, Live-Aufnahmen haben einen „Spirit“ aus dem Moment, es ist so emotional. Aber Emotion bedeutet auch manchmal Ungenauigkeit, Spontaneität statt Reflexion. Es können natürlich auch ungewollt Dinge passieren. Mich persönlich ärgert es dann, wenn so etwas für immer und ewig einfach aufgenommen ist und dann immer wieder gehört werden kann, und jeder merkt: Da gab es ein Problem, dort eine Unschärfe, intonatorisch gibt es etwas zu bekritteln usw. Dann verzichte ich lieber auf den Live-Moment und setze lieber auf eine ausgeklügelte, gut geführte Studioaufnahme.
Ein Herr aus dem Publikum hat zu mir gestern den Satz gesagt, Raff sei eigentlich das bedeutendste „Missing-Link“ des 19. Jahrhunderts, weil er gewissermaßen wie in einem Kreis zwischen seinen ganzen berühmter gewordenen Kollegen steht und jedem von ihnen die Hand reicht. Sehen Sie das ähnlich?
Graziella Contratto: Das ist sehr schön gesagt!
Philippe Bach: Ja, Raff war gewissermaßen bei beiden, bei den Neudeutschen um Liszt wie bei der anderen Linie von Mendelssohn, und hat versucht, auf seine Weise zu verbinden. Er hat eben nicht gesagt: „Nur das ist gut, und das ist schlecht!“
Herzlichen Dank für dieses Gespräch!
[Das Interview führte Norbert Florian Schuck, 9. September 2023]
Zur weiteren Information:
Die Weltersteinspielung der Oper Samson von Joachim Raff erscheint voraussichtlich im kommenden Dezember als 3-CD-Box bei www.schweizerfonogramm.com
Philippe Bach leitet das Berner Symphonieorchester und den Chor der Bühnen Bern, als Solisten wirken mit:
SAMSON – Magnus Vigilius
DELILAH – Olena Tokar
ABIMELECH – Robin Adams
OBERPRIESTER – Christian Immler
MICHA – Michael Weinius
Die künstlerische Aufnahmeleitung wurde ebenso wie das Editing und das Mastering übernommen von Frédéric Angleraux, Studio www.adcsound.ch
Nach seinem offiziellen Einstand als neuer Chefdirigent des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks mit Haydns Schöpfung hatten sich die Musiker unter Sir Simon Rattle für die zweite Konzertreihe (28., 29. & 30. September 2023) in der Isarphilharmonie Gustav Mahlers Symphonie Nr. 6 a-Moll vorgenommen. Dazu gab es noch – als gemeinsames Auftragswerk vom BRSO, dem Orchestre de Paris und dem San Francisco Symphony Orchestra – das Orchesterstück »Latest« der inzwischen 97-jährigen französischen Komponistin Betsy Jolas. Der Rezensent besuchte die zweite Aufführung am Freitag, 29. 9. 2023.
Was für ein Statement: Gleich zu Beginn einer „normalen“ Abo-Reihe – und nicht etwa in der musica viva – die deutsche Erstaufführung eines 2021 entstandenen Auftragswerks einer Komponistin (!) zu bringen, macht deutlich, dass Sir Simon Rattle die Zeichen der Zeit erkannt hat und sie programmatisch umzusetzen gedenkt. Die Französin Betsy Jolas (*1926) wurde nach ersten Studien in den USA während der Flucht vor den Nazis dann – wieder in Paris – Schülerin u. a. von Darius Milhaud und Olivier Messiaen, später quasi dessen Nachfolgerin am Conservatoire. Längst hochdekoriert, bereits 1953 auch als junge Dirigentin, ist die Komponistin in Deutschland trotzdem allenfalls einem kleinen Kreis engagierter Pianisten bekannt gewesen, insbesondere wegen ihrer höchst individuellen Auseinandersetzung mit dem Serialismus – eindrucksvoll im Klavierwerk „B for Sonata“ (1973). Ihr knapp 14-minütiges Orchesterstück Latest zeigt erneut, dass Komponieren für die nach wie vor temperamentvolle Pariserin immer gleichzeitig eine Einbeziehung der Musikgeschichte zumindest des gesamten 20. Jahrhunderts bedeutet. Anfangs evozieren feine Schlagzeugeffekte zauberhafte, an Anton Webern gemahnende Melodiefragmente in den Streichern – klanglich zersplitterter Serialismus. Und obwohl strukturell erkennbar an Schönberg angeknüpft wird, erleben die Zuhörer ein atmosphärisch dichtes Spiel auch mit Räumlichkeit und wirklich faszinierende Instrumentationskunst, in der ein Geist der Freiheit anstatt formaler Strenge regiert. Den abschließenden Ausruf «Ô» aller Orchestermusiker nimmt das Publikum vergnüglich wohl als „Was? Schon zu Ende?“ wahr – mehr als nur freundlicher Beifall.
Mahlers Sechste Symphonie trägt nicht umsonst den Beinamen Tragische: Simon Rattle versteht es jedoch gleichermaßen, positive und hoffnungsvolle Elemente überzeugend ins rechte Licht zu rücken. Er dirigiert das Riesenwerk auswendig, ist all seinen Musikern stets völlig zugewandt. Bereits an der Tatsache, dass er dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks ungewöhnlich deutlich vorausdirigiert, erkennt man, welch enormes Vertrauensverhältnis hier schon jetzt herrscht. Und Rattle zeigt bei diesem Werk einfach alles, geht emotional sichtbar mit. Wer dabei freilich totalen Exhibitionismus à la Leonard Bernstein erwartet, liegt völlig daneben. Der Dirigent betont die gerade bei der Sechsten vorhandene Kontinuität klassischer symphonischer Traditionen, die bei der Viersätzigkeit anfängt und bei Strukturelementen der einzelnen Sätze längst nicht aufhört. Rattle hatte kürzlich in einem Interview bemerkt, dass er gerne innerhalb einer Aufführungsreihe mal unterschiedliche Tempi ausprobiert und Spontaneität durchaus Raum geben mag.
Das spürt man bereits bei der Wiederholung der Exposition des Kopfsatzes, die keineswegs ein Abziehbild des ersten Durchgangs ist, stellenweise eine Spur ruhiger genommen wird. Der dominierende Marsch – insgesamt weicher als bei anderen Interpreten – wirkt streng, energisch, aber noch nicht wirklich bedrohlich. Nicht nur beim Seitenthema gelingt Rattle eine schlüssige Agogik, im Piano reichen minimale Gesten aus. Die traumwandlerische Naturepisode mit den fernen Kuhglocken mündet schließlich in einen berückenden Erlösungsmoment der Solo-Violine. In der architektonisch klar modellierten Durchführung integriert Rattle spezielle „mahlerische“ Klangfarben, ohne sie hervorzuheben; die Steigerung vor der Reprise bleibt eher unaufdringlich. Hingegen lassen die später vorhandenen, fast bitonalen Reibungen – das harmonische Verständnis aller Musiker ist herausragend – sofort aufhorchen, die Tragik wird dennoch lediglich angedeutet.
Das von Rattle an zweite Stelle gesetzte Andante – hierbei folgt er Mahlers eigenen Aufführungen, nicht dem Erstdruck – demonstriert selbstbewusste Schönheit, mehr vorstädtische Nachtszenerie denn Hinterweltler-Idylle. Schon das Englischhorn-Solo ist innig, ohne jede Trägheit; Rattles Tempi bleiben über den ganzen Satz äußerst flüssig. Das bewusste Vermeiden jeglicher Schwelgerei erweist sich dann im Verlauf doch als etwas glattpoliert, der Streicher-Zusammenbruch gerät so künstlich. Wenn Mahlers Melodielinien große Intervalle beinhalten, fehlt die typische Stimmung des fin de siècle, was manche Zuhörer verärgern dürfte, dem Rezensenten allerdings so ausdrücklich gefällt. Mit der rhythmischen Unerbittlichkeit des ersten Satzes kippt dann im Scherzo – Rattle schließt danach das gewaltige, gut halbstündige Finale zudem quasi attacca an – die Stimmung an der richtigen Stelle. Das Tempo ist wiederum flott, die Situation ernst von Beginn, und die zwischendurch aufblitzenden, zärtlicheren Momente können sich nicht mehr durchsetzen. Alles wird schließlich zu einer Fratze im Zerrspiegel, wobei völlig offenbleibt, wohin das führen soll.
Schon das Anfangsmotiv des Finales wirkt wie ein schneidender Schmerz aus einem nebulösen Albtraum heraus. Der in der Symphonie auffällig genutzte Wechsel zwischen Dur und Moll wird nun zum zentralen Element. Schon der erste Bläserchoral erklingt stumpf; es bleibt ungemütlich. Rattles Übersicht zeigt sich besonders in einem erstaunlich geschickten Tempoaufbau: Die selbst während dieses – nicht nur verbatim durch die beiden berühmten Holzhammerschläge demonstrierten – niederschmetternden Überlebenskampfs weiterhin vorhandenen „Positiv“-Abschnitte kommen herüber wie im Flow. Umso erschreckender dann die immer gewalttätigeren Abbrüche. Man muss sich klarmachen, dass der zweite Hammerschlag (von ursprünglich dreien) gerade mal ungefähr in der Satzmitte erscheint. Dahinter liegt also noch eine gewaltige Strecke, deren Aufbau zwingend zu gestalten eine echte Herausforderung ist. Trotz des mehrfachen, fast unerträglichen Aufbäumens schafft Rattle dazu mit seinem Orchester ein immer durchsichtiges Klangbild: Gegen die akustischen Unzulänglichkeiten der Isarphilharmonie helfen kleinere Retuschen wie die Verwendung von bis zu vier Beckenpaaren. Die Empathie, mit der hier musiziert wird, bleibt absolut mitreißend. Die trügerische Beruhigung vor dem Schluss führt zu einem letzten Fortissimo-Ausbruch – wie eine mitleidlose Exekution. Nach einer zu Recht hochgelobten Darbietung der Neunten vor knapp zwei Jahren demonstriert Simon Rattle ein weiteres Mal, dass Gustav Mahler mit dem BRSO momentan kaum zu übertreffen ist: nicht enden wollende Begeisterung mit standing ovations im Publikum.
Die 37. Jahrestagung der Internationalen Draeseke Gesellschaft e. V. Coburg findet vom 06. bis 08. Oktober 2023 in Coburg statt. Zu ihrer 37. Mitgliederversammlung treffen sich die aus ganz Deutschland anreisenden Mitglieder der Gesellschaft am Freitag, 06. Oktober 2023 im Landhaus Kaiser in Dörfles-Esbach. Im Rahmen dieser Versammlung wird auch das 10jährige Jubiläum der Alan Krueck Foundation gefeiert, eine Stiftung der IDG zur überregionalen Förderung von Draesekes Musik in öffentlichen Konzerten.
Am Samstag, 07.Oktober 2023, Draesekes Geburtstag, werden um 17.00 Uhr im Landhaus Kaiser zwei bisher ungedruckte Werke des Coburger Meisters in einer audio-visuellen Vorstellung gleichsam „uraufgeführt“. IDG-Mitglied Manfred Eibl aus Coburg hat für die Akademische Festouvertüre Op.63 (1890) wie auch für das Konzert-Stück für Harfe und Orchester Feenzauber WoO 36 die Partituren mit dem kompletten Aufführungsmaterial hergestellt und wird seine wertvolle Arbeit der Versammlung klanglich vorstellen. Manfred Eibls Material steht für künftige Aufführungen in Konzerten zur Verfügung.
In Zusammenarbeit mit dem Kunstverein Coburg e. V. wird die 37. Jahresversammlung der IDG am Sonntag, den 08. Oktober 2023 um 11.00 Uhr mit einer Klavier-Matinee beschlossen. Für diese musikalische Morgenfeier, die gleichzeitig als glanzvoller Schluss-Akkord der laufenden Ausstellung im Kunstverein gedacht ist, konnte die Pianistin Haruka Izawa aus Berlin verpflichtet werden. Die Künstlerin ist Preisträgerin beim III. Internationalen Hans-von-Bülow-Wettbewerb 2018 in Meiningen gewesen und wird von der IDG e.V. gefördert. Die junge Meisterpianistin eröffnet ihr Programm mit der Petite Histoire, einem Frühwerk von Felix Draeseke, und wird nach den Kinderszenen von Robert Schumann die große Sonate in B-Dur op. 106 von Ludwig van Beethoven, die berühmte und technisch höchst anspruchsvolle „Hammerklavier-Sonate“ interpretieren. Zu dieser musikalischen Morgenfeier mit Haruka Izawa und Spitzenwerken der Klaviermusik laden beide Vereine sehr herzlich ein.
Haruka Izawa begann das Klavierspiel im Alter von vier Jahren. Sie gewann zahlreiche Preise bei den japanischen Musikwettbewerben und war 2018 Preisträgerin beim III. Internationalen Klavierwettbewerb Hans von Bülow. Sie trat als Solistin mit dem Nagoya Philharmonic Orchester, dem Geidai Philharmonia Orchester und der Meininger Hofkapelle auf. Ihr Studium an der Universität der Künste in Tokyo schloss sie mit Auszeichnung ab und setzt derzeit weiterführende Studien an der Universität der Künste Berlin fort. Daneben erhält sie durch die Zusammenarbeit mit Alfred Brendel in den letzten Jahren unschätzbare Anregungen für ihre musikalische und gesamtkünstlerische Entwicklung.
Internationale Draeseke-Gesellschaft e. V. Der Vorstand i.A. Udo-R. Follert, LKMD i.R.
Der venezolanische Pianist Alfredo Ovalles hat in Granada die ersten drei Werke eines – schon jetzt bereits deutlich umfänglicheren – Sonatenzyklus des puerto-ricanischen Komponisten und Ligeti-Schülers Roberto Sierra (*1953) eingespielt. Dazu erklingen noch die – ebenfalls neuen – Piezas íntimas sowie die Aphorisms.
Auf den Namen Roberto Sierra stößt unweigerlich, wer sich mit der Musik György Ligetis beschäftigt. Dieser erwähnte seinen puerto-ricanischen Schüler (von 1979 bis 1982) immer als Überbringer einer Langspielplatten-Rarität aus den 1970ern mit der erstaunlich komplexen Vokalpolyphonie der zentralafrikanischen Aka-Stämme: zusammen mit der mittelalterlichen ars subtilior und fraktaler Geometrie die Initialzündung für Ligetis weitere Entwicklung (Etüden, Klavierkonzert usw.). Ab Mitte der 1980er Jahre hat sich Sierra aber als Komponist selbst einen Namen gemacht und ist seit 1992 Professor an der angesehenen Cornell University in den USA. Obwohl durchaus Anknüpfungspunkte an charakteristische Techniken Ligetis nachweisbar sind – etwa die elaborierten Überlagerungen quasi selbstähnlicher rhythmischer Patterns –, ging Sierra immer eigene Wege, die insbesondere auf lateinamerikanische oder iberische Wurzeln – nicht zuletzt des Barock – zurückgehen. Die oft traditionell anmutenden Titel wie Symphonie (davon gibt es bislang sechs), Sonate etc. haben Kritiker ihm unüberlegt und teils pejorativ das Etikett postmodern oder gar „neoromantisch“ anheften lassen. Dabei wird unterschlagen, dass Sierra die scheinbar alten Formen durchaus neuartig mit Leben zu füllen vermag.
In den ganz neuen Klaviersonaten – die Folge wurde erst 2020 begonnen und umfasst mittlerweile bereits 15 Werke; laut Sierra ohne eine bestimmte Zielvorgabe – versucht der Komponist den „hegemonialen Charakter“ der Vorbilder aus der Wiener Klassik gezielt zu durchbrechen. Hierbei ist allerdings weniger Dekonstruktion im Spiel als vielmehr Nutzung neuer Beziehungen zwischen Struktur und klanglichem „Inhalt“. Da Sierra nicht Tonalität als Basis der Sonatenform nutzt, dienen oft vielfältige rhythmische Elemente, gerade auch aus volkstümlicher Popularmusik (Salsa, Tango, Joropo, Fandango …), symmetrische Skalen und musikalische Gesten als konstituierend. Die erste Sonate – wie die zweite viersätzig – sprüht nur so von südamerikanischen Rhythmen. Die knappere zweite Sonate kombiniert im Finale einen Militärmarsch mit einem Pasodoble, während die dreisätzige dritte Sonate sich vor allem an Modellen andalusischer Musik orientiert, etwa dem Fandango im Kopfsatz oder typischen Melodiefloskeln im Finale. Trotzdem überführt der Komponist mit alldem geschickt die erwartete Erzählstruktur von echten Sonaten in „heutige Alltagsrealität“.
Dass Sierra ebenso gewandt im Umgang mit kleinen – sprich: kurzen – Formen ist, deren Material ja unmittelbar ins Schwarze treffen muss, beweisen die beiden Zyklen der Piezas íntimas von 2017 – 8 Stücke mit einer Durchschnittsdauer von 1–2 Minuten und, bis aufs Extrem konzentriert, die Aphorisms von 2020: Diese 28 Fragmente benötigen gerade mal 12 Minuten.
Das spanische Label IBS bleibt im Booklet – mit persönlichen Einführungen des Komponisten und des Pianisten – der Tradition treu, kein Wort über seine Interpreten zu verlieren. Auf der Seite der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien erfährt man, dass der Venezolaner Alfredo Ovalles (Jahrgang 1986) nach Studien in Caracas und den Vereinigten Staaten schließlich den Weg nach Wien, seiner neuen Wahlheimat, gefunden hat. Er gilt als leidenschaftlicher Spezialist für zeitgenössische Musik und steht seit Jahren mit Roberto Sierra in persönlichem Kontakt. Mit rhythmischer Präzision und immer spürbarer, lateinamerikanischer Verve agiert der Pianist sowohl bei dessen Sonaten als auch Miniaturen souverän, bringt die doch recht komplizierten Strukturen zum Leuchten. Seine manuelle Virtuosität und die Fähigkeit, den Gestus kleinster Partikel musikalisch sofort auf den Punkt zu bringen, können ebenfalls überzeugen. Die dieser Musik innewohnenden, häufig schroffen Gegensätze übertreibt er jedoch, verwechselt bisweilen wilde Akzentuierungen mit klanglicher Barbarei. Im Dynamikbereich von forte aufwärts erscheint sein Spiel zu undifferenziert.
Das wird durch eine in den Ohren des Rezensenten katastrophale Mikrofonierung sogar noch überzeichnet: Selten habe ich bei einer klassischen Soloklavier-Produktion ein in den Bässen derartig wummeriges Klangbild gehört; so als ob ständig die „Loudness“-Taste gedrückt bliebe. Insgesamt ist alles zu hoch ausgesteuert, stellenweise an der Grenze zum Clipping, was nach wenigen Minuten mehr als nervt. Jeder Akzent wird so zum Nadelstich – und dass dies keineswegs nur dem zugegebenermaßen etwas harten Anschlag von Herrn Ovalles geschuldet ist, zeigen z. B. die zahlreichen Glissandi im vierten der Piezas íntimas [Track 08]. So scharf kann ein Steinway dabei gar nicht klingen. Trotzdem darf man sich fragen, ob das vom Interpreten nicht ausdrücklich so gewollt ist. Bei Jazz sind solch direkte Mikrofonierungen nicht unüblich – man denke an manche Soloalben von Keith Jarrett oder Chick Corea. Außerdem hat sich Ovalles intensiv mit der Musik u. a. George Crumbs beschäftigt, der beim Klavier gerne bereits live vorzugsweise präparierte Saiten elektronisch verstärken ließ.
Dass dies freilich ganz anders ginge, zeigt die nur ein halbes Jahr ältere Produktion von Sierras Klavieretüden mit dem Pianisten Matthew Bengtson: Gleiches Label, gleicher Aufnahmeort mit demselben Team (!), lediglich ein anderer Flügel (Shigeru Kawai): akustisch tadellos (s. u.). So versaut bei den Sonaten eine fragwürdige Tontechnik sehr respektable Erstaufnahmen des weiterhin hochinteressant zu werdenden Klavierzyklus eines großartigen Komponisten, der immer wieder mit zeitgemäßen Ideen im Kleid bekannter Formen zu begeistern weiß.
Erwähnte Aufnahme: Sierra: Estudios rítmicos y sonoros, Piezas líricas, Album for the Young – Matthew Bengtson (IBS 72022, 2021)
Mit dem diesjährigen räsonanz Stifterkonzert feierte die Ernst von Siemens Musikstiftung am 17. September 2023 zugleich ihr 50-jähriges Bestehen. Zur Veranstaltung im Rahmen der musica viva des BR in der Münchner Isarphilharmonie hatte man keine Geringeren als die Berliner Philharmoniker unter ihrem Chefdirigenten Kirill Petrenko eingeladen. Zu erleben gab es vier großbesetzte Werke: Iannis Xenakis‘ „Jonchaies“, Márton Illés‘ „Lég-szín-tér“, Karl Amadeus Hartmanns „Gesangsszene“ (mit dem Bariton Christian Gerhaher) und György Kurtágs „Stele“.
Seit dem ersten räsonanz Stifterkonzert 2016 hat man es stets geschafft, in München sonst selten zu hörende, hochrangige Klangkörper einzuladen. Zur Feier ihres 50-jährigen Bestehens ließ sich die Ernst von Siemens Musikstiftung nun erst recht nicht lumpen. Da durften dann die kürzlich erneut zum weltbesten Orchester gekürten Berliner Philharmoniker unter Kirill Petrenko erstmals in der ausverkauften Isarphilharmonie spielen. Erwartbar, aber angesichts des immens anspruchsvollen Programmes durchaus eine Herausforderung auch an die Zuhörer.
Angesetzt waren – man hatte dies die drei Tage zuvor bereits so in Berlin gespielt – neben einer Uraufführungskomposition wieder aufwändig zu realisierende und daher selten zu hörende Werke – ausdrückliches Anliegen der Stifterkonzerte. Die Berliner Philharmoniker beginnen mit Iannis Xenakis (1922–2001): Jonchaies (1977) ist mit in der Partitur explizit geforderten 109 Spielern das größtbesetzte seiner reinen Orchesterwerke – und vielleicht sein bestes. Zwar hat Xenakis immer betont, dass er von gänzlich außermusikalischen – offenkundig stark durch Mathematik und moderne Architekturprinzipien geprägten – Ideen ausgeht, gleichzeitig strahlt seine Musik nicht nur eine eindringliche formale Konsistenz aus: Sie wirkt immens körperlich, verfügt schon rein klanglich über eine Sogwirkung, der man sich nicht entziehen kann, und erzeugt beim Publikum durchaus Assoziationen, die sich dann emotional entladen können. So wird der Rezensent in den ersten zwei Minuten des Stücks unweigerlich sowohl an die Filmmusiken von Hitchcocks Psycho (Bernard Herrmann) als auch von Spielbergs Der weiße Hai („Jaws“, John Williams) erinnert. Jonchaies wird über Strecken tatsächlich wirklich sehr laut: Völlig faszinierend, wie Petrenko, der höchst sachlich die konstruktiven Facetten des Werkes modelliert, sogar in einem dreifachen Forte nochmals etwas draufzusetzen vermag; Ergebnis sorgfältigster Probenarbeit. Alles ist sehr differenziert bis ins Detail austariert; lediglich die Paukenbatterien dröhnen an ein, zwei Stellen selbst den komplett geteilten, riesigen Streicherapparat weg, was aber den akustischen Unzulänglichkeiten des HP8 geschuldet ist. Eine höchst beeindruckende, dionysische Klangorgie, die allerdings keine Minute länger sein dürfte, in absolut perfekter Darbietung.
Das Auftragswerk für dieses Konzert, Lég-szín-tér, zu übersetzen mit „Luft-Farbe-Raum“, stammt vom Ungarn Márton Illés (Jahrgang 1975) – schon 2008 Förderpreisträger Komposition der Ernst von Siemens Musikstiftung. Illés verfügt über ein enormes Instrumentationsgeschick: Das gegenüber Xenakis etwas kleinere Orchester wird noch konsequenter bis auf den einzelnen Spieler hin ausdifferenziert, mit einem – heutzutage üblichen – dichteren Spektrum vielfältigster Spieltechniken, das im Gegensatz zu anderen Tonsetzern seiner Generation hier zum Glück nie zum Selbstzweck gerät. Schon toll, wie manche Klangrezepturen zum fantastischen Vexierspiel oder gar zur Camouflage werden: Sehr helle Klänge ziemlich zu Anfang stammen so etwa nicht von den hohen Streichern oder Bläsern, sondern von Akkordeon und mit Kontrabassbogen gestrichenen Zimbeln. Das wirkt immer sehr farbig, und die Dynamik ist ebenso zwingend. Die Streicher etablieren schnell mit kaum hörbaren Tupfern quasi ihren „Raum“. Sehr konzentriert und doch überraschend, wie sich im zweiten Abschnitt des dreisätzigen Werks quasi aus dem Nichts eine gewaltige Steigerung entwickelt. Der dritte Satz imitiert mit rein instrumentalen Mitteln gekonnt elektronische Klänge. Was dieser Musik leider – zumindest beim ersten Hören – fehlt, ist eine nachvollziehbare Form oder Teleologie. Dennoch erhalten das Stück und seine Wiedergabe fast ungeteilte Zustimmung.
Nach der Pause verneigt man sich vor dem Begründer der Münchner musica viva, Karl Amadeus Hartmann, mit einer grandiosen Aufführung seiner letzten größeren Komposition, der Gesangsszene nach Worten aus Sodom und Gomorrha von Jean Giraudoux (1963). Der eine erschreckende Weltuntergangsstimmung beschwörende Text passte für Hartmann auf die Zeit des Kalten Krieges und erscheint angesichts der derzeitigen Katastrophen aktueller denn je. Der wie immer famose Bariton Christian Gerhaher gestaltet die teils gesungene, stellenweise gesprochene Partie mit überwältigender Ausdruckskraft. Hartmann lässt die Stimme zwar oft dann einsetzen, wenn das Orchester gerade nicht spielt. Gerhaher füllt so mühelos den großen Saal, bleibt mit klarster Diktion und Textverständlichkeit selbst dann präsent, wenn er gegen das Orchester im Forte beinahe anbrüllen muss. Dies ist freilich kompositorisch genauestens einkalkuliert, wird auch emotional von Gerhaher exakt richtig dosiert. Wieder gelingt den Berlinern und ihrem Chef eine Glanzleistung: Vom beginnenden Flötensolo – mit dem sich später der Kreis wieder schließen wird – über die zunächst zärtlich gebändigten, zugleich intensiven Streicherklänge bis zu manch irrsinniger Steigerung wird hier Hartmanns zwölftönige Polyphonie minutiös aufs Schönste realisiert. Der apokalyptische Textschluss („Es ist ein Ende der Welt! Das Traurigste von allen…“) lässt das Publikum zunächst sprachlos, bis verdient tosender Beifall losbricht.
Jetzt noch die 1994 für Claudio Abbado und seine Philharmoniker geschriebene Trauermusik Stele des ungarischen Altmeisters für Miniaturen, György Kurtág (*1926), zu bringen, passt zwar in den Kontext, ist jedoch fast schon zu viel des Guten. Für Kurtágs Verhältnisse war dieses Stück – von der Besetzung (u. a. mit Wagnertuben, 2 Klavieren und natürlich dem ungarischen Identifikationsinstrument, dem Cimbalom) wie von der Länge her – immerhin knapp 13 Minuten – eine ungewöhnliche Herausforderung. Ganz zum Schluss scheint diese dreisätzige symphonie funèbre, in der sich Minimalistisches zwischendurch erfolglos gegen den Tod aufzubäumen scheint, mit ihren matten Impulsen – an die gefrorenen Tränen in Bartóks Herzog Blaubarts Burg erinnernd – sogar irgendwie tröstlich. Kirill Petrenko erzeugt zuletzt eine geradezu erhabene Stille. Danach nicht enden wollende Ovationen; selbst Orchester und Dirigent beglückwünschen sich gegenseitig aufs Herzlichste. Wen wundert’s nach diesem anstrengenden Programm vier Tage hintereinander? Den Münchnern wird ein beglückender Konzertabend sicherlich noch lange in bester Erinnerung bleiben.
Der Tragödie folgt bei den alten Griechen das Satyrspiel. Ganz ähnlich erging es dem Verfasser bei seinem Aufenthalt in Bern, denn er bekam die Gelegenheit, einen Tag nach der Aufführung des Raffschen Samson, am 9. September 2023, im Konzertsaal des Berner Casinos einen musikalischen Abend besonderer Art zu besuchen. Die Schweizer Bundesstadt stand ganz im Zeichen des Musikfestivals Bern, dessen vielgestaltiges Programm ernstes und heiteres, klassisches und modernes vereinte. „Im Orchester Graben“ war die unter der Regie von Tom Ryser zustande gekommene Veranstaltung betitelt, die das beliebte Schweizer Komiker-Duo Ursus & Nadeschkin (Ursus Wehrli und Nadja Sieger) gemeinsam mit der Camerata Schweiz unter der Leitung ihrer Ersten Gastdirigentin Graziella Contratto, der Produzentin der Raff-Aufführung und -Einspielung, auf die Bühne brachte.
Zwar ahnt man schon zu Beginn, wenn Ursus und Nadeschkin sich auf dem Podium einen Platz suchen, aber die Stühle immer wieder den hinzukommenden Orchestermitgliedern überlassen müssen, dass man hier kein gewöhnliches klassisches Konzert erlebt, doch scheint mit dem Auftritt der Dirigentin genau ein solches anzufangen. Es gibt Beethovens Fünfte. Der erste Satz erklingt, rasant, streng, unerbittlich, ganz so wie Graziella Contratto sich im Folgenden auch selbst verhält. Denn da Ursus und Nadeschkin es wagen, bereits nach dem ersten Satz zu klatschen, werden sie von der Kapellmeisterin zurechtgewiesen: Das tue man nicht, die Symphonie sei zerrissen worden! Sie gibt das Zeichen zum zweiten Satz, doch weit kommt da Orchester nicht. Nur zu berechtigt ist der in quirligem Schwyzerdütsch vorgebrachte Einwand der Komödianten, warum denn mit dem zweiten Satz fortgefahren werde, da doch die Einheit des Werkes verloren gegangen sei. In dem folgenden Wortwechsel stellt sich heraus: Ursus und Nadeschkin sind heute hier als Botschafter der Musik, um den Graben zuzuschütten zwischen „denen mit Konservatorium“ auf dem Podium und „denen ohne Konservatorium“ im Parkett. Nachdem die Dirigentin empört das Podium verlassen hat, geht es zu wie beim Zauberlehrling: Ursus greift zum Taktstock, das Orchester fängt wieder an zu spielen, allerdings schrecklich falsch. In dem Momant aber, als Graziella Contratto wieder ans Pult kommt und den Taktstock wieder in ihre Hand nimmt, stimmt sofort wieder alles. Anschließend werden Ursus und Nadeschkin von Contratto geprüft, was sie über Beethoven, aber auch allgemein über Musikgeschichte und Musiktheorie wissen, doch die Fachtermini der Sonatenhauptsatzform haben sie nur ungenügend gelernt. Danach kann das Publikum zeigen, wie „die ohne Konservatorium“ ihren Beethoven beherrschen. Nadeschkin dirigiert, das Publikum singt die Anfangstakte der Fünften, aber schon einige Takte später stellt sich Unsicherheit ein. Contratto will zeigen, wie man es besser macht, tatsächlich singen die Leute sofort mit mehr Kraft, aber auch hier verliert sich der Gesang nach wenigen Takten. Nun demonstriert die Dirigentin, was „die mit Konservatorium“ alles können, und lässt ihr Orchester souverän Takte von Rachmaninow und Tschaikowskij in der Kopfsatz der Fünften einfügen. Die Musiker gehen nach einer gewissen Zeit in die ihnen vertraglich zustehende Pause. Contratto bleibt allein zurück. Ursus und Nadeschkin kommen mit ihr ins Gespräch, wobei sich herausstellt, dass sie nur die strenge Chefin ist, wenn sie vor dem Orchester steht.
So beginnt der zweite Teil versöhnlicher: Das Publikum wird aus der Pause von Klängen eines Kinderkeyboards in den Saal zurückgelockt: Contratto wechselt zwischen Disco-Musik, Mozarts Alla turca, Beethovens Für Elise und Bachs d-Moll-Toccata, Ursus und Nadeschkin kommen hinzu, ale drei spielen und singen Falco (Amadeus), dann Abba (Money, Money, Money), zu welchen Tönen das Orchester freudig auf die Bühne stürzt. Man beginnt wendet sich dann wieder Beethovens Fünfter zu, doch nun alles andere als streng: Der Erste Satz (bzw. nur die Exposition) wird verjazzt, in Dur gespielt, rückwärts gespielt (sodass ein unbefriedigender Dominanschluss stehen bleibt). Dann kommen Ursus und Nadeschkin auf die Idee, die Noten zu vertauschen: So erhält der erste Hornist die Paukenstimme und soll zum Vergleich spielen, was er selbst und was die Pauke in den ersten vier Takten des Werkes zu spielen hat. Man stellt fest: Es klingt genau gleich! Also wird von allen Orchestermitgliedern das Notenmaterial eingesammelt und anders wieder ausgeteilt. Contratto dirigiert unter Protest. Es klingt schief, so schief, dass während des Spiels (!) die Musiker ihre Noten untereinander zurücktauschen, bis jeder wieder die richtige Stimme vor sich hat. Man wird noch rechtzeitig fertig, um den Schluss des Satzes korrekt wiederzugeben. Zu guter Letzt singen Ursus und Nadeschkin die ganze Exposition des Satzes virtuos vor (der Text besteht aus den Namen der jeweils erklingenden Instrumente) und werden daraufhin von Contratto als Botschafter der Musik anerkannt. Als Zugabe gibt es Beethovens Fünfte, wie Beethoven sie selbst gehört hat…
Damit endete in geschäftiger Stille ein höchst vergnüglicher Abend! Und gewiss wird der eine oder andere Besucher Beethovens Fünfte nun mit anderen Ohren hören.