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Pendereckis Streichquartette in engagierter Darbietung

Naxos, 8.574288; EAN: 7 47313 42887 8

Kurz nach dem Tod des polnischen Komponisten hat das britische Tippett Quartet sämtliche Werke Krzysztof Pendereckis für Streichquartett sowie das Streichtrio auf Naxos eingespielt. Eine rundum überzeugende Darbietung.

Die Popularität der Musik Krzysztof Pendereckis (1933–2020) scheint seinen Tod zu überdauern. Bemerkenswert, dass sich die frühen, zumindest klanglich avantgardistischen Kompositionen bis zur Mitte der 1970er Jahre fast der gleichen Beliebtheit bei Musikern und Rezipienten erfreuen wie die späteren, mehr tonalen und vielfach an Traditionen der Spätromantik anknüpfenden Werke. Man muss natürlich die ab dem 1. Violinkonzert von 1977 zunehmend eklektizistische Schreibweise nicht mögen, aber Pendereckis Ausdruckskraft als solche ist kaum infrage zu stellen.

Das Schaffen für Streichquartett erscheint demzufolge zweigeteilt: Den der mehr oder weniger avantgardistischen Periode zuzurechnenden Quartetten Nr. 1 und 2 (1960 bzw. 1968) folgten 20 Jahre, in denen der Komponist bis auf kurze Gelegenheitswerke – wie das Geburtstagsständchen Per Slava für Mstislaw Rostropowitsch (Cello solo) – Kammermusik gänzlich aus dem Auge verlor. Dazu gehört wohl noch das nur zweiminütige Quartettstück Der unterbrochene Gedanke (1988). Doch mit dem Streichtrio von 1990/91 begann eine ganze Reihe teils recht umfänglicher Werke – vor allem im Jahre 2000 die zweite Violinsonate und das Sextett. Das 3. Streichquartett von 2008 „Blätter eines nicht geschriebenen Tagebuches“ dauert dann länger als die beiden ersten Quartette zusammen, wobei hingegen das 4. Quartett von 2016 wieder recht kurz gehalten ist.

Das britische Tippett Quartet besteht bereits seit 1998, hält in seinem Repertoire eine gute Balance zwischen Althergebrachtem und Musik der letzten hundert Jahre, und hat für verschiedene Labels bislang ca. 30 CDs eingespielt. Beim ersten Quartetto per archi Pendereckis, dessen Beginn durch eine Vielzahl unterschiedlichster – oft vordergründig geräuschhafter – Spieltechniken geprägt ist, wobei unterschwellig zunehmend musikalische Spannung aufgebaut wird, ist die alte DG-Aufnahme mit dem LaSalle Quartet nach wie vor unerreicht. Das phänomenal klug disponierende Ensemble frisst sich in derart hinreißender Weise durch den Geräuschdschungel, hin zu der folgenden, ruhiger ablaufenden Sphäre, rhythmisch bis ins letzte Detail überzeugend, dass dies so anscheinend weder halbwegs nachzuahmen, geschweige denn zu toppen ist. Hier schlägt sich das Tippett Quartet wacker, bleibt freilich dynamisch zu undifferenziert, um eine Entwicklung anzudeuten – im letzten Teil fühlt man sich offensichtlich wohler. Schon beim zweiten Quartett wirkt die Imagination dieser anfangs erneut irritierenden Klangwelten viel schlüssiger; alles fügt sich in ein vorausgedachtes Konzept, das Ideen von Ligeti aufnimmt, gleichzeitig etwa Anspielungen an das Capriccio per Siegfried Palm für Solocello aus demselben Jahr bereithält.

Das dritte Quartett ist eine völlig andere Welt: Nicht wirklich Neo-Romantik, jedoch mit tonalen Wurzeln und Quasi-Zitaten jüdischer Melodik. Somit ist diese Musik, die offen und scheinbar zu früh endet, viel näher an den autobiographisch geprägten Streichquartetten Schostakowitschs dran als am Penderecki der 1960er. Hier zeigt das Tippett Quartet seine ganze Stärke: Emotional dicht, dabei ergreifend ohne zu romantisieren – wie es das polnische Royal String Quartet in seiner Aufnahme von 2012 über weite Strecken macht. Knapp und klanglich deutlich ausgedünnter gibt sich das letzte Quartett, das aus einem einleitenden Andante von nur anderthalb Minuten und einem 4½-minütigen Vivo mit konsequent motivischer Arbeit besteht, und eine ebenso abgerundete Darbietung erfährt.

Die eigentliche Überraschung der CD ist allerdings das Streichtrio von 1991: Was für ein beeindruckender, engagierter Vortrag! Zwar benutzt Penderecki auch hier wieder die für ihn – nicht erst in den gemäßigten Werken der Spätphase – so typischen Intervallfolgen über Gebühr, was schnell ermüden könnte; trotzdem ist das zweisätzige Stück äußerst spannungs- und beziehungsreich, lässt dem Zuhörer in seiner Direktheit kaum Zeit zum Atmen: pure Ausdrucksmusik, fast etwas altmodisch. Insgesamt gelingt den technisch perfekten Briten eine durchaus gelungene Werkschau von Pendereckis Beschäftigung mit dem Genre. Da die Aufnahmetechnik untadelig ist und der Booklettext vom erfahrenen Richard Whitehouse kompakt und informativ, verdient das Album eine klare Empfehlung.

Vergleichsaufnahmen: [Streichquartett Nr. 1] LaSalle Quartet (DG 423 245-2, 1967); [Streichquartette Nr. 1-3] Royal String Quartet (Chandos CDA67943, 2012)

[Martin Blaumeiser, Dezember 2021]

Klarinetten-Kontraste

All Sound Around, EAN: 9 120094 930029

Mit ihrem „The GershWIEN Project“ begeben sich der Klarinettist Markus Adenberger und die Pianistin Maria Radutu auf eine abenteuerliche Reise durchs 19. und 20. Jahrhundert. Pendereckis satirische Drei Miniaturen öffnen den Vorhang, bevor wie zwei jazzige Solokonzerte in Arrangements hören: Gershwins Rhapsodie in Blue und Artie Shaws Klarinettenkonzert, wo Franz Hofferer als Gast am Drumset dazustößt. Sarasates Zigeunerweisen und Schumanns Drei Romanzen op. 94 bringen uns in die Welt der Romantik, bevor Poulenc uns nach Frankreich entführt: von ihm hören wie zunächst die Hommage à Edith Piaf für Klavier solo und schließlich die Klarinettensonate FP 184.

Über George Gershwins Aufenthalt in Wien gibt es eine Anekdote, deren Richtigkeit nicht nachgewiesen wurde: Nachdem er bereits in Paris Künstler wie Ravel, Prokofieff und Strawinsky getroffen hatte, besuchte er in Wien Kálmán, Lehár und Berg. Kálmán machte Gershwin die Überraschung, dass die örtliche Kapelle zum Nachtisch seine Rhapsody in Blue aufspielte, deren in Europa noch völlig unbekannte Klänge für sie eine gewaltige Herausforderung darstellten. Zum Dank schenkte der gerührte Gershwin seinem Kollegen den Kugelschreiben, mit dem er angeblich die Rhapsody geschrieben habe. Dieser Stift verblüffte die Anwesenden, die so etwas noch nie gesehen haben, denn dieses war der erste Kugelschreiber in Wien.

So hängt zumindest das hier zu hörende Werk Gershwins mit der Metropole Wien zusammen, aus der Klarinettist Markus Adenberger stammt. Die anderen der Titel haben meines Wissens keine Verbindung mit Gershwin oder der Hauptstadt Österreichs: dafür bieten sie umso mehr Kontraste und lebendige Musikgestaltung.

Innerlich aufgewühlt, unstet und gewissermaßen sarkastisch geben sich die Drei Miniaturen von Penderecki, die modernistischsten Stücke dieser Aufnahme, die zugleich direkt zu Beginn stehen und damit ein Statement setzen: auch freitonale, dissonante Musik kann ein Programm stilsicher eröffnen! Dann folgt das titelgebende GershWIEN-Stück, die Rhapsody in Blue, dem die beiden Musiker eine erstaunlich melancholische Note verleihen. Anstelle der großstädtischen Aufgeregtheit erhält das Werk hier eine warme, beinahe zärtlich liebevolle Note, die der Musik durchaus wohltut. Shaws Klarinettenkonzert führt uns vollends in den Bereich des Jazz, rhythmisch getragen von Franz Hofferer am Drumset. In diesem Stück kann sich vor allem die Klarinette klanglich entfalten, mit kleinen Zerrungen und Schleifen arbeiten, dabei einen vollkernigen Ton in den Raum projizieren; das Klavier errichtet bei Shaw die klangliche Basis für die Klarinette und sorgt für den nötigen Drive. Noch virtuoser trumpft die Klarinette bei Sarasate auf, dessen Zigeunerweisen wir hier für das Blasinstrument arrangiert hören, wodurch der beliebten Zugabe vieles an Schärfe und Direktheit genommen wird, was Markus Adenberger mit Innigkeit, Lyrik und Witz füllt. Introvertiert gelingen die Drei Romanzen von Schubert, in denen Radutu und Adenberger echtes Gefühl voller Wärme kundtun. Unvorstellbar sensibel gestalten sich die Stücke von Francis Poulenc, die alle Feinheiten und Nuancen der Klanggebung abverlangen, wofür sie aber auch mit fesselnder Wirkung und Unmittelbarkeit danken. Maria Radutu und Markus Adenberger nehmen jedes dieser Stücke für sich und gehen auf die individuellen Anforderungen an Klang und Gefühl ein, folgen je der Musik und erzielen so unverfälschte und reine Darstellungen all dieser verschiedenartigen Stilwelten.

[Oliver Fraenzke, Dezember 2019]

Neue Horizonte erleben

Der Chor des Bayerischen Rundfunks lädt gemeinsam mit dem Münchner Kammerorchester und dem Dirigenten Yuval Weinberg ein, neue musikalische Horizonte zu erkunden. Im Münchner Prinzregententheater geben sie am 17. November 2018 ein Konzert mit zeitgenössischer Chormusik, bei welchem mitreißende Entdeckungen auf uns warten: Den Anfang macht Bjørn Andor Drage mit seinem „Klag-Lied“ für Soli (Priska Eser, Jutta Neumann, Bernhard Schneider, Christof Hartkopf), Sprechchor, gemischten Chor und Streicher nach einer – zuvor erklingenden – Vorlage von Dietrich Buxtehude. Danach hören wir „Ad genua“ von Anna Thorvaldsdóttir für Sopran-Solo (Anna-Maria Palii), gemischten Chor und Streicher, „Nuits, adieux“ aus der Feder von Kaija Saariaho für gemischten Chor mit vier Solisten (Sonja Philippin, Ruth Volpert, Q-Won Han, Matthias Ettmayr) und „Nocturne (Richter)“ von Thierry Machuel für gemischten Chor a cappella op. 7. Nach der Pause gibt es noch Werke von zwei Klassikern des 20. und frühen 21. Jahrhunderts: Zum einen Krzysztof Penderecki, von dem „Domine, quid multiplicati“ für gemischten Chor a cappella (Andrew Lepri Meyer, Tenor-Solo), „Cherubinischer Lobgesang“ für gemischten Chor a cappella und die „Serenade“ für Streichorchester erklingen; und zum anderen Arvo Pärt, dessen „Berliner Messe“ für Chor und Streichorchester aufgeführt wird.

Dieses Programm ist durchaus gewagt für ein Abonnementkonzert, und doch dürfte es viele der Hörer positiv überrascht und begeistert haben. Kaum jemand aus dem Publikum dürfte die Komponisten der ersten Programmhälfte gekannt oder sogar Musik von ihnen gehört haben: „Horizonte“ lautet deshalb auch das Motto des Konzerts.

Zu Beginn des Programms steht direkt eine Uraufführung, „Klag-Lied“ aus der Feder eines norwegischen Komponisten, von dem bislang kaum Musik über die Landesgrenzen drang: Bjørn Andor Drage. Als Komponist begibt er sich auf die Suche nach einem eigenen und unverwechselbaren Stil, der oft auf Modellen der Barockzeit basiert, welche allerdings nur fragmentarisch Gebrauch finden und zu neuen Formen modelliert werden. Laut Drage liegt eine gesamte Welt in der Zwölftonreihe, alle Kontraste und Extreme lassen sich aus ihrer Ganzheit ableiten. So nimmt die Dodekaphonie auch zentralen Stellenwert im Schaffen Drages ein, wobei sie nicht zwingend im „atonalen“, durch die Zweite Wiener Schule konnotierten Gewand erscheinen muss, sondern auch tonale oder ebenso gänzlich neuartige Stile annehmen kann. Drage braucht keine übermodernen Effekte, um originell zu sein, er bedient sich bekannten Idiomen, um damit eigenes zu schaffen. Das „Klag-Lied“ entstand 2004 nach dem Tod seiner Mutter, ursprünglich als a cappella-Stück, wobei er sich auf das gleichnamige Werk Buxtehudes BuxWV 76 bezieht – diesen veranlasste der Tod seines Vaters zur Komposition des Trauerliedes. Drage begeistert sich für die Musik der Barockzeit mit ihrem stetigen rhythmischen Trieb und fühlt sich zu dem für seine Zeit expressionistisch-fortschrittlichen Buxtehude hingezogen, dessen Gespür für Dissonanz ihn anreizt. Die sich auffächernden kontrapunktischen Bewegungen des Originals extremisierte Drage alleine durch seine Aufteilung der Musiker: Den Chor spaltete er in vier Solisten, einen vierstimmigen Sprechchor und (singenden) gemischten Chor auf, wobei der Text in fünf Sprachen erklingt. In der 2015 entstanden, heute uraufgeführten Fassung teilte er zudem die neu hinzugekommenen Streicher mehrfach und schuf so ein zutiefst komplexes und dichtes Gewebe aus Stimme, Sprache, Tönen und Klängen. Dabei beweist Drage enormes Gefühl für formale Gestaltung: Wellenartig expandiert das Geschehen von zartem Flüstern bis hin zu einem Aufschrei gegen den Tod und kehrt wieder zu seiner Ausgangsstimmung zurück. Immer wieder schwingen Fragmente der barocken Klangwelt mit, doch schon treibt die Musik hinfort und lässt die Anklänge wie ein schwaches Echo vergangener Zeiten erscheinen. Erschüttert bleibt der Hörer zurück; die kurzen Momente der Hoffnung in der Musik negiert Drage und am Schluss tönt noch der mehrsprachige „Schmerz“ nach.

Ebenso überwältigend geht der Abend weiter mit einer zweiten musikalischen Überraschung, der isländischen Komponistin Anna Thorvaldsdóttir. „Ad genua“ (Auf die Knie) bezieht sich wie auch Drages Werk auf Buxtehude, allerdings auf den gleichnamigen zweiten Satz des Oratoriums „Membra Jusu nostri“, welches einzelne Körperteile des Gesalbten besingt. Mit der Einleitung durch die Bässe und Celli zieht uns Thorvaldsdóttir tief hinab, nur um uns mit dem Einsatz des Solo-Soprans wieder zum Licht zu führen. Meditativ, spirituell und naturverwurzelt schwebt die Musik auf sanften Dissonanzen durch immer neu aufgespannte Klangsphären, treibt ohne Nachdruck, aber zielgerichtet auf den Wendepunkt zu, wo der Fall auf die Knie nicht mehr das Ersuchen nach Vergebung darstellt, sonders das Huldigen der ewigen Musik. Hinreißend zart und schlicht singt Anna-Maria Palii das Sopran-Solo, luzide Schönheit schmeichelt der Fragilität dieser Musik zwischen Licht und Schatten. Der Chor des Bayerischen Rundfunks und das Münchner Kammerorchester rücken die beiden unbekannten Komponisten genau ins rechte Licht, gehen auf deren Klangvorstellungen ein und erfüllen sie mit Farbe und Ausdruck. Yuval Weinberg bewegt sich so sicher und frei in der Musik, als hätte er sich seit Jahren genau diesen Werken hingegeben. Meisterlich erspürt er die Pausen, lässt sie nicht als bloße Lücken im Raum stehen, sondern ergründet ihren Zweck in der Struktur.

Nach zwei derart beeindruckenden Werken lässt sich über das nächste hinwegsehen: „Nuits, adieux“ von Kaija Saariaho. Auch dieses Chorstück bearbeitet Trauer, jedoch nicht auf eine direkt auf den Hörer wirksame Weise, sondern auf eine intellektuell erdenkbare. Saariaho zerfasert die Worte des Chors in einzelne Laute, wobei sie Geräusche imitiert, die sie in der ersten Fassung mit Elektronik erreichte. Man kann sich verschiedene Stadien des Abschieds bis hin zu einer Versöhnung in diese Musik denken, aber wirklich hören tut man nichts davon. Manche Abschnitte wirken so skurril, dass man sich ein Lachen direkt unterdrücken muss: Ist dies gewollt in einem Stück, das Trauer behandelt? Wenn der ganze Chor wild hechelt, zischt, stöhnt und kurzzeitig aufschreit, fällt es schwer, die Ernsthaftigkeit der Thematik nachzuvollziehen.

Thierry Machuels „Nocturne (Richter)“ weist eine ungewöhnliche Entstehungsgeschichte auf, denn die Musik entstand vor dem Text. Ursprünglich schrieb Machuel das Chorwerk nach einem „berühmten Dichter des 20. Jahrhunderts“, doch nach der Uraufführung verweigerten die Erben unerwarteterweise die Rechte am Text – so beauftragte Machuel Benoît Richter, Worte für seine Komposition zu finden, die mit der Musik und deren Wirkung zusammen funktionieren; dies war der einzige Weg, die Partitur zu retten. Das Werk zaubert manch einen interessanten Klang hervor, findet Wendungen, die aufhorchen lassen – und doch fließt die Musik insgesamt etwas blass daher; sie bannt den Hörer nicht, gleitet scheinbar ohne Ziel dahin.

Nach der Pause folgen hochkarätige Werke von zwei Größen der letzten Jahrzehnte, die ineinander verschränkt wurden. Zu Beginn hören wir zwei a cappella-Werke von Penderecki, „Domine, quid multiplicati sunt“ und „Cherubinischer Lobgesang“; sie beide bestechen durch den Umgang mit Tonlagen, Höhen und Tiefen. Mal baut sich die Musik vom Bass her auf bis in die Sopranlage, mal bricht plötzlich die Basis weg; die Stimmgruppen spielen sich gegeneinander auf wie hohe Wellen, bis sie ineinander schwappen und zerfallen. Penderecki nutzt auch die Entfernung zwischen Sopran und Bass, kostet den klanglichen Abstand aus. Im Anschluss erklingt Pärts „Berliner Messe“, die jedoch von Pendereckis Serenade für Streichorchester unterbrochen wird. In der Serenade konfrontieren die Streicher den Hörer mit rauer Härte; die am Anfang stehende Passacaglia attackiert mit unbarmherziger Wucht und rhythmischer Energie, bereits die ersten repetierten Töne laden die Stimmung auf. Das Larghetto lässt kurzzeitig auch gewisse Sentimentalität durchscheinen, die abrupt wieder zerstört wird. Es ist ein packendes Werk, das mit einer Serenade nur wenig zu tun zu haben scheint, aber eben dadurch Aufsehen erregt. Ich hätte sie lediglich Pärts Messe vorangestellt oder es an den Schluss gesetzt, denn das Ohr braucht etwas Zeit, sich in die Neue Welt einzufinden und mit ihren jeweiligen Harmonien zurechtzukommen. Dies jedoch ist der einzige Mangel an dem ansonsten von vorne bis hinten perfekt durchgeplanten Programm, das von einem Werk direkt zum nächsten führt, thematisch, musikalisch und/oder inhaltlich.

Pärts „Berliner Messe“ evoziert sogleich den melancholischen, trüben Klang, den man hier mit nordischer und baltischer Musik verbindet. Jede einzelne Harmonie hat ihren festen Platz, jede Melodie führt folgerichtig in die nächste, alles passt in- und zueinander in feiner Ausgewogenheit. Hinreißend gibt sich die Streicherbegleitung, die eben nicht als Continuo durchgeht, sondern teils ganz fragmentarisch gesetzt ist und dem Chor Raum lässt, sich eigenständig zu entfalten. Inbrünstige Religiosität strömt von der Messe aus, nicht aufdringend, sondern durchdringend.

Große Hoffnung ruht auf dem jungen Dirigenten Yuval Weinberg, der mit seinen 28 Jahren bereits ein solch inniges Musikverständnis beweist und dieses ausnahmslos nachvollziehbar an den Hörer vermitteln kann. Weinberg horcht, lauscht, forscht und lässt entstehen, pausenlos stimmt er den aufkeimenden Klang noch feiner ab und behält dabei die Zügel in der Hand. Daraus resultiert eine zutiefst persönliche, aber auch einheitliche Klangvorstellung, die ihre Wirkung nicht verfehlt. Der Chor des Bayerischen Rundfunks und das Münchner Kammerorchester vertrauen auf das Schaffen ihres Dirigenten und werden nicht enttäuscht, alle Musiker wirken als unzertrennbare Einheit, die wechselnden Solisten bleiben stets mit dem restlichen Ensemble verbunden und auch das Zwischenspiel zwischen Streicher und Sänger funktioniert makellos.

[Oliver Fraenzke, November 2018]

Wiedersehen macht Freude

Arthaus Musik; EAN: 4058407090854

Die neue 6-DVD-Box von Arthaus Musik macht erstmals fünf der legendären Gesprächskonzerte „Wege zur Neuen Musik“ mit dem Dirigenten Gerd Albrecht, die als Education-Projekt zwischen 1986 und 1995 vom SFB produziert wurden, der Öffentlichkeit zugänglich. Ein sechstes Konzert mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin für den RBB aus dem Jahr 2011 erscheint gewissermaßen als Nachtrag. Diese Präsentationen dürfen auch heute noch als Sternstunden in Sachen Musikvermittlung gelten.

Der 2014 verstorbene Dirigent Gerd Albrecht hat sich in seiner langen Karriere nicht nur als hochrangiger Interpret von Werken der Romantik und Moderne – unvergessen die Münchner Uraufführung von Aribert Reimanns Lear – einen Namen gemacht, sondern auch als einer der Ersten intensiv um Musikvermittlung bemüht. Schon in den 1960er Jahren als GMD in Kassel gab es von ihm moderierte Erklärkonzerte für Kinder und Jugendliche. Höhepunkt dieses pädagogischen Einsatzes Albrechts waren insgesamt 14 Live-Gesprächskonzerte der Reihe „Wege zur Neuen Musik“, die zwischen 1986 und 1995 vom SFB produziert wurden, und in denen jeweils ein zeitgenössisches Werk vorgestellt und mit dem anwesenden Komponisten diskutiert wurde. Fünf dieser Produktionen und als Nachtrag ein ähnlich aufgemachtes Konzert von 2011 für den RBB erschienen jetzt – endlich! –  bei Arthaus Musik in einer aufwendigen DVD-Box: Pendereckis Partita, Henzes Barcarola, Ligetis San Francisco Polyphony, Kagels Quodlibet, Yuns Muak sowie Widmanns Elegie.

Über die musikalischen Qualitäten dieser Darbietungen brauche ich hier nur wenig Worte verlieren: Sie sind allesamt erstklassig. Das Besondere an Albrechts Gesprächskonzerten ist die Art seiner pädagogischen Herangehensweise. Die üblicherweise knapp 70-minütigen Konzerte beginnen damit, dass er zwei, drei Minuten des Anfangs eines Stücks erklingen lässt, dann im Laufe des Gesprächs mit dem auf der Bühne sitzenden Komponisten unter Beteiligung des Orchesters vor allem die komplizierte Klanglichkeit, mit der uns Neue Musik zumeist begegnet, detailliert auseinandernimmt; abschließend wird das Werk komplett gespielt. Was hier so fasziniert, ist Albrechts große Empathie, mit der er den Komponisten teils sehr persönliche Äußerungen entlockt, wie sich seine Begeisterung für raffinierte Instrumentationskunst unmittelbar auf die Zuhörer überträgt. Gleichzeitig gelingt es, das vorgestellte Stück so in den jeweiligen Schaffenskontext zu stellen, dass hier echte Komponistenporträts entstehen. Es ist das Timing, die Eloquenz seiner Erklärungen und die Wortwahl, die sich zwar an ein mit klassischer Musik vertrautes Publikum, jedoch nicht an Experten richtet, die nie langweilt und immer zum Staunen anregt.

Nebenbei kommen so auch ein paar nette Charaktereigenschaften und Eitelkeiten der Komponisten zum Vorschein, die bereits für sich als historische Dokumente sehenswert sind. So berichtet der nachdenkliche, aber auch immer sehr selbstsicher, quasi als linker Aristokrat, auftretende Hans Werner Henze beispielsweise, dass er beim Komponieren einer extremen Trompetenstelle der Barcarola rein von der Klangvorstellung nachher Kopfweh bekam. Auf der nächsten DVD erwähnt Albrecht dies gegenüber György Ligeti, worauf der mit seinem unnachahmlich verschmitzten Humor begeistert diese Steilvorlage aufnimmt: „Also, ich habe sehr selten Kopfschmerzen.“

Vielleicht mag dieses Format einem heutigen, jungen Publikum dann doch immer noch zu schulmeisterlich, zu antiquiert vorkommen. Ich wüsste jedoch nichts, was da live auf dem Gebiet moderner Musik herankäme, einschließlich Sir Simon Rattles Reihe „Die Revolution der Klänge“. Die DVDs können nicht mehr als die damals übliche TV-Qualität aus den alten MAZ-Formaten (stereo, 4:3) herausholen. Problematisch ist jedoch wie immer die Umwandlung von PAL interlaced ins NTSC-Format. Dafür kommt die Box mit einem zweisprachigen, 200-seitigem gebundenen Buch, das ganz exzellent recherchiert ist und sich neben den dargebotenen Werken ebenso umfänglich dem pädagogischen Vermächtnis Gerd Albrechts widmet. Dies entschädigt auch für den etwas hohen Preis. Schade, dass man nicht noch mehr dieser 14 Sendungen ausgraben konnte, wohl auch wegen ungeklärter Copyright-Fragen. Da wären noch ein paar gute dabei gewesen, etwa Tippett und Reimann. Trotzdem kann man Arthaus nicht genug für diese längst überfällige Veröffentlichung danken: meine ausdrückliche Empfehlung, nicht nur an Musikpädagogen.

 

[Martin Blaumeiser, Mai 2018]