Alle Beiträge von Martin Blaumeiser

Das Orquestra Sinfónica do Porto Casa da Música brilliert beim „räsonanz“ Stifterkonzert der musica viva

Für das erste räsonanz Stifterkonzert der neuen Münchner musica viva Saison – es folgt noch ein zweites im Januar – hatte die Ernst von Siemens Musikstiftung am 28. 9. 2024 das Orquestra Sinfónica do Porto Casa da Música mit seinem Chefdirigenten Stefan Blunier ins Münchner Prinzregententheater eingeladen. Zunächst erklang das großangelegte Orchesterwerk „Ruf“ des portugiesischen Komponisten Emmanuel Nunes. Helmut Lachenmanns „Tanzsuite mit Deutschlandlied“ benötigt zusätzlich als Solisten ein Streichquartett: hier spielte kein Geringeres als das weltberühmte Arditti Quartet. Wie gewohnt ein staunenswertes Programm.

Orquestra Sinfónica do Porto Casa da Música; StefanBlunier – © BR-Astrid Ackermann

Die räsonanz Stifterkonzerte der Ernst von Siemens Musikstiftung bleiben ihrem Prinzip treu, einerseits höchst aufwändige Werke zu programmieren, die bereits historische Relevanz haben, ohne allzu oft aufgeführt worden zu sein, andererseits dem Münchner Publikum Klangkörper vorzustellen, die bislang selten oder gar nie hier zu Gast waren. Letzten Samstag brillierte im „Prinze“ das Orquestra Sinfónica do Porto Casa da Música, 1947 zunächst als Konservatoriumsorchester gegründet, nun nach dem 2001 für den Auftritt Portos als eine Kulturhauptstadt Europas neu errichteten musikalischen Zentrum Casa da Música benannt und dort ab 2006 beheimatet. Der Schweizer Stefan Blunier – in Deutschland u. a. von 2008-2016 GMD in Bonn – ist seit 2021 Chef des 94-köpfigen Ensembles. Leider hatten wohl selbst Teile des geladenen Publikums wegen der bereits grassierenden Erkältungswelle absagen müssen: Etliche Plätze blieben frei.

Nach anfänglichen Studien in seiner Heimat bei Fernando Lopes-Graça war Emmanuel Nunes (1941–2012) Schüler von Boulez, Pousseur und Stockhausen, gehört somit bereits zur zweiten Komponistengeneration, die man mit den Darmstädter Ferienkursen verbindet. Seine großangelegten Vokal- und Orchesterwerke führten bald zu internationalen Erfolgen. Später unterrichtete der Portugiese selbst in Lissabon, Freiburg und Paris. Ruf – für Orchester und Tonband (1977, revidiert 1982) – verwendet nicht einmal einen Riesenapparat: 28 Streicher, nur doppelt besetzte Bläser, 2 Schlagzeuger, Klavier (+ Celesta) und Harfe. Der 45-Minüter besteht aus sechs verbundenen Abschnitten. Bei vier davon wird der zeitliche Ablauf unerbittlich durch das Zuspielband vorgegeben. Das Orchester spielt seine Parts hochdifferenziert – jeder Spieler quasi als Solist – und der Dirigent muss trotz des engen Korsetts einerseits präzises Zusammenspiel, andererseits ein gehöriges Maß an kontrolliert aleatorischen Ereignissen koordinieren. Stefan Bluniers Schlagtechnik ist von makelloser Klarheit, dabei zum Glück nie mechanisch. Er formt den Klang der einzelnen Orchestergruppen immer gestisch äußerst dynamisch mit, agiert zugleich als emotionaler Katalysator dieses sich anfangs als recht chaotisch darstellenden, jedoch mit feinst austariertem Innenleben gestalteten musikalischen Stromes. Die elektronischen Klänge erscheinen als echte – gerade auch räumliche – Erweiterung, wirken streckenweise mit ihrem Gewobbel wie aus zeitgenössischen Science-Fiction-Filmen dem doch recht natürlichen Geschehen im Orchester dialektisch entgegen. Am Schluss wird es sehr leise, mit ganz unterschwelligen Zitaten aus spätromantischer Musik – Wagner und Mahler: ein überwältigendes Erlebnis. Hier ist bereits klar, dass man das tolle Orchester aus Porto einfach liebgewinnen muss.

Ganz anders nach der Pause Helmut Lachenmanns „Tanzsuite mit Deutschlandlied“ von 1979/80. Hier ist alles bis ins letzte Detail ausnotiert, mit schwäbisch-protestantischer Gründlichkeit. Dabei ist dies ein perfektes Beispiel der vom bald 89-jährigen Komponisten selbst so benannten Verweigerungsästhetik, die er über Jahrzehnte gepflegt und Teile des Publikums damit häufig ziemlich provoziert hat. So bleibt also hier das „Unerhörte“, lediglich Mitzudenkende, zentrales Element des großbesetzten Stücks, wohingegen das tatsächlich Erklingende konsequent so gut wie jede Hörerwartung enttäuscht. Nicht nur das Orchester, sondern ebenso das solistische, kaum merklich verstärkte Streichquartett, das anfangs die Führung übernimmt, spielen fast nur geräuschhafte Maskierungen. Der Prozentsatz „normal“ herausgebrachter „Töne“ ist minimal, dann jedoch meist verstörend. Das Arditti Quartet kennt das Stück genau; die vier Streicher schütteln die komplexen Spielanweisungen locker aus den Ärmeln. Die den 17 Abschnitten zugrunde liegenden Tanzrhythmen werden noch am ehesten erkennbar, wenn man optisch (!) dem wieder absolut souveränen Dirigenten folgt. Nach und nach wird klar, mit welch subversiver Energie und tiefgründigem Humor hier Altbekanntes komplett dekonstruiert wird. Selbstverständlich kommt auch das Deutschlandlied in der letzten der fünf Abteilungen – Mahler lässt grüßen – nur als „leeres Gerüst“: Nicht mal ansatzweise erscheinen Text oder Ton verbatim. Lediglich in der Partitur sind Stimmen mit den Silben der ersten (!) Strophe unterlegt, bereits zu Tode geritten (Galopp), bevor diese überhaupt anklingen könnte. Trotz des anstrengenden Appells von Lachenmanns Musique concrète instrumentale ans Publikum, hier zu versuchen, ständig zwischen den Zeilen zu hören, wird diese von Blunier und seinen fabelhaften portugiesischen Musikern sorgfältigst erarbeitete Darbietung keinen Moment langweilig. Und irgendwie passt Lachenmanns Werk auch zum 50. Jahrestag der Nelkenrevolution. Provozieren kann das heutzutage kaum mehr – und Musik wie Ausführende, die hier wirklich alles gegeben haben, erhalten verdient langen Applaus. Das Stifterkonzert ist einmal mehr seinen hohen Ansprüchen gerecht geworden.

[Martin Blaumeiser, 30. 9. 2024]

Die Jubiläumsessays der Ernst von Siemens Musikstiftung

Zum 50-jährigen Jubiläum der Ernst von Siemens Musikstiftung im vorigen Jahr gab man fünf Autoren den Auftrag, relativ übersichtliche Essays zu verfassen, die sich mit der Geschichte der Stiftung, vor allem aber mit der Entwicklung und den Zukunftsperspektiven „Neuer Musik“ generell auseinandersetzen sollten. So entstanden vier – einzeln veröffentlichte – Essays und ein eher belletristischer Beitrag: 1. Lydia Goehr: Musik, Maß, Klima; 2. Sophie Emilie Beha: Katalysator am Puls der Zeit – 50 Jahre Ernst von Siemens Musikstiftung; 3. Tim Rutherford-Johnson: Neue Räume, neue Zeiten: Neue Musik seit 1973; 4. Christian Grüny: Höllisch kompliziert. Das Neue, das Zeitgenössische und die Musik – und 5. Cia Rinne: notes on music.

Die vier erstgenannten Essayhefte erscheinen im Klavierauszugformat (DIN D4 ~ 19 cm x 27 cm) auf hochwertigem Papier und in erstklassigem Druck, haben einen Umfang zwischen 37 (Grüny) und 48 Seiten (Goehr) und enthalten die Essaytexte jeweils im Original – englisch bzw. deutsch – sowie zusätzlich in der Übersetzung in die jeweils andere Sprache. Die eigentlichen Texte sind somit sehr knappgehalten: 13 Seiten bei Grüny und Rutherford-Johnson, 15 Seiten bei Beha und 17 Seiten bei Goehr. In der Mitte der Bändchen finden sich jeweils acht Seiten in Kunstdruckqualität, die Abbildungen von Skizzen oder Ausschnitten von Partiturautographen moderner Komponisten – oft Preisträgern des EvS Musikpreises oder Förderpreisträgern – zeigen und nicht zwangsläufig in direktem Zusammenhang mit den Essays stehen müssen. Die einzelnen Beiträge seien hier kurz beleuchtet:

Lydia Goehr: Musik, Maß, Klima

Die Philosophieprofessorin an der Columbia University unternimmt, ausgehend von Elementen aus Ray Bradburys berühmtem Roman Fahrenheit 451 (1953) und dessen späterer Bemerkung, er habe damit die Vorhersage einer Welt „wie sie sich in vier oder fünf Jahrzehnten entwickeln könnte“ schreiben wollen, einen Spaziergang durch Frankfurt am Main. Entlang des Weges, der sie u. a. ans Opernhaus Frankfurt, die Alte Oper sowie ins Cafe Utopia führt, möchte sie „die Klimaveränderungen in den heutigen Musikinstitutionen, der Musikpraxis und den Paradigmen der modernen klassischen Musik […] untersuchen“. Bald greift sie dabei auf André Malraux‘ Begriff des Musée Imaginaire zurück – Goehr hat 1992 selbst ein wegweisendes Buch mit dem Titel The imaginary museum of musical works verfasst. Hochinteressant sind ihre klug gesammelten Zitate zum Thema: Hass auf moderne klassische Musik, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreichen. Ihr Ausblick auf deren Zukunft in Anbetracht sozio-kulturellen Wandels, dessen musikgeschichtlicher Aufarbeitung – Stichwort: Erweiterung/Inklusion jenseits des nach wie vor bestehenden Eurozentrismus – und des veränderten Konsumverhaltens etwa durch digitale Medien bleibt indes vage. Schade, dass – anders als bei den Essays von Rutherford-Johnson und Grüny – hier die genauen Quellenangaben zu den von Goehr zitierten Bemerkungen, denen man gerne weiter folgen möchte, fehlen. Da hätte man vielleicht bei der Stiftung nacharbeiten sollen.

Sophie Emilie Beha: Katalysator am Puls der Zeit – 50 Jahre Ernst von Siemens Musikstiftung

Die Musikjournalistin gibt in ihrem knappen, dabei jedoch hochinformativen Essay einen Abriss der Geschichte der Ernst von Siemens Musikstiftung. Sie informiert über den Werdegang deren Gründers, erwähnt durchaus seine Bemühungen um Wiedergutmachung an ehemaligen jüdischen Zwangsarbeitern beim Siemens Konzern, verrät aber kaum etwas über dessen Musikgeschmack. Ein wenig unbefriedigend angesichts der später mehrfach erwähnten Missbilligung der Preisvergabe 1986 an Karlheinz Stockhausen durch Ernst von Siemens. Sicher nach so vielen Jahren erfolgreicher Förderung „Neuer Musik“ wissenswert, dass diese anfangs gar nicht zentral im Fokus stand, und es Persönlichkeiten wie Paul Sacher oder Pierre Boulez – 1979 selbst Hauptpreisträger des EvS Musikpreises – im Stiftungsrat zu verdanken ist, dass die Stiftung heute maßgeblicher Geldgeber für zahlreiche Zeitgenössischem gewidmete Projekte ist. Beha beschreibt die Struktur und Finanzierung der gemeinnützigen Stiftung, die Förderungen neben der immer die größte Öffentlichkeit erreichenden Preisverleihung sowie die Entwicklung, dass die Preisträger nun endlich diverser werden. Der Band erfüllt seinen Zweck ohne Beweihräucherung und gibt eine präzise Standortbestimmung, ohne dass der Leser auf die existierenden, umfangreicheren Dokumentationen angewiesen ist.

Tim Rutherford-Johnson: Neue Räume, neue Zeiten: Neue Musik seit 1973

Der britische Musikkritiker nimmt die politischen, wissenschaftlichen und künstlerischen Marksteine dreier Jahre – 1973, das Gründungsjahr der EvS Musikstiftung, 1989, das Jahr der großen politischen Umbrüche in Europa, und 2020, den Beginn der Covid-19-Pandemie – sowie deren unmittelbare zeitliche Umfelder näher ins Visier, um maßgebliche Strömungen der Neuen Musik zu skizzieren, was auf derart begrenztem Raum natürlich nur rudimentär erfolgen kann. So bleibt etwa eine musikalische Postmoderne – bereits der Begriff erweist sich als Streitthema – komplett unbeachtet. Rutherford-Johnson verweist auf Manuel Castells Buch The Information Age (2010), und sieht durchaus Parallelen in der Entwicklung der Informationstechnologie und der modernen Musik. Sehr klar beschreibt er die Verdrängung linearer Strukturen – noch zentral in der Musik des ersten EvS-Preisträgers Benjamin Britten (1974) – zugunsten nichtteleologischer Musiklogik, beginnend beim parametrischen Denken serieller Musik über frühe Loop-Formen bei Harrison Birtwistle (The Triumph of Time, 1971) bis zu Helmut Lachenmanns Pression für Solocello. Er erwähnt die wachsende Popularität von Spektralismus und Minimalismus ab den 1980ern, kommt dann allerdings schnell auf das Genre der Netzwerkmusik – anhand von Werken Peter Ablingers, Anthony Braxtons und Jennifer Walshes, als „Beispiele eines parametrisch organisierten Raums der Ströme“. Die Corona-Zeit beschreibt er als „wirklich zeitlose Zeit, eine Ära ohne Zukunft oder Vergangenheit, ein endloses Jetzt“ und bringt für die musikalischen Reaktionen darauf einige recht spezielle Hör-Anregungen. Die in diesem klug sondierten Beitrag vermerkten Strategielinien haben – wen wundert’s? – natürlich auch in den Preisen der EvS Musikstiftung ihren Niederschlag gefunden.

Christian Grüny: Höllisch kompliziert. Das Neue, das Zeitgenössische und die Musik

Im Essay des in Stuttgart lehrenden Ästhetik-Professors Christian Grüny geht es nicht etwa um die meist hohe inhärente Komplexität Neuer Musik selbst, sondern um die Klärung und Abgrenzung der Begriffe des Neuen und des Zeitgenössischen. Dies ist eine recht abstrakte Angelegenheit und ein wenig schwierig zu verfolgen, aber äußerst lesenswert. Hatte Paul Bekker, der als einer der ersten von „neuer Musik“ sprach, noch beide Begriffe miteinander gekoppelt, erscheint das historisch Neue bei Reinhard Koselleck differenzierter. Insbesondere „in dem Sinne des ganz Anderen, gar Besseren gegenüber der Vorzeit“ (Koselleck) unterscheidet Grüny das Andere nochmals: als Abweichung, (dialektische) Negation bzw. Utopie (radikaler Bruch). Er untersucht die Kategorie des Neuen bei Adorno und erwähnt die Ablehnung eines „fetischistischen“ Materialfortschritts bei vielen Protagonisten der zeitgenössischen Musik. Das Zeitgenössische ist fast noch komplizierter zu fassen. Peter Osbornes Theorie beschreibt es als „im historischen Sinne die Zeitlichkeit der Globalisierung“, was allerdings zu Heterochronie führt und somit den Begriff als Fiktion bzw. Aufgabe bezeichnet. Eine institutionalisierte, internationale Vernetzung sieht Grüny – verglichen mit den Biennalen der bildenden Kunst – bei der Neuen Musik höchstens in ersten Ansätzen und plädiert zum Schluss für die „Rettung einer Perspektive, die wirklich über die wie auch immer komplexe Gegenwart hinausgeht“.

Cia Rinne: notes on music

Hat man von der finnlandschwedischen, jedoch in Deutschland aufgewachsenen Autorin Cia Rinne tatsächlich einen wissenschaftlichen Essay erwartet? Wohl nein. So liefert die von Fluxus und Dadaismus beeinflusste Literatin auch eher ein belletristisches Kunstwerk ab: in Form von zwei Postkarten – eine zeigt 32-mal denselben gedrückten (Tür?)-Klingelknopf, die andere das Klingeldisplay einer großen Wohnanlage – und eines ca. 1 m langen vertikalen Leporellos. Auf dessen Vorderseite findet der Leser am rechten Rand extrem kurze Aphorismen, die zumeist musikalische Begriffe – mal mehr, mal weniger intelligent bzw. humorvoll – dekonstruieren. Hier nur zwei Beispiele (Zitat):

c dur

c’est dûr

sinfonica domestica

after Richard Strauss

see sharp

b flat

age minor

[usw.]

Manche davon sind nur typographische Spielereien, wie man sie allerspätestens vom Dadaismus her kennt. Die Rückseite – in Pink – zieren längs zwei Zeilen in mikrokleiner Schrift mit einem quasi Bewusstseinsstrom über „this movement“: „this movement would like to extend endlessly in time | this movement could be a bad idea | this movement wishes it could start all over again |…” usw. Maximal eine recht originelle Grußbotschaft.

Mehr Infos über die anregende Essayreihe mit der Möglichkeit, Druckexemplare – übrigens kostenlos – anzufordern, finden ernsthaft interessierte Leser hier:

https://50jahre.evs-musikstiftung.ch/jubilaeumsbeitraege/jubilaeumsessay/

[Martin Blaumeiser, September 2024]

Pendereckis 6. Symphonie und zwei Konzerte unter Antoni Wit

Naxos 8.574050; EAN: 7 47313 40507 7

Die als letzte von Krzysztof Pendereckis insgesamt acht Symphonien entstandene Sechste „Chinesische Lieder“ liegt nun in einer weiteren Einspielung mit dem Norrköping Symphony Orchestra unter Antoni Wit vor. Auf der Naxos-Produktion erklingen zudem das Trompeten-Concertino (2015) und das Concerto Doppio von 2012 in der Version für Violine und Violoncello. Die Solisten sind Jarosław Bręk (Bassbariton), David Guerrier (Trompete), Aleksandra Kuls (Violine), Hayoung Choi (Violoncello) sowie Hsin Hsiao-ling (Erhu).

Die Zählung der acht Symphonien Krzysztof Pendereckis (1933‒2020) verließ bereits früh die Chronologie: So wurde etwa die 3. Symphonie erst nach der vierten und fünften fertig. Eine 6. Symphonie war bereits für Ende 1996 bei den Münchner Philharmonikern angekündigt worden. Nach den Premieren der 7. Seven Gates of Jerusalem“ (1997) und 8. „Lieder der Vergänglichkeit“ (2005 bzw. 2007) rechnete eigentlich niemand mehr mit der noch fehlenden 6. Symphonie; und so entstanden schon CD-„Gesamtaufnahmen“ eben ohne eine solche. Penderecki hatte allerdings seit 2008 an einem Liederzyklus gearbeitet, der – wie Gustav Mahlers Lied von der Erde – altchinesische Dichtungen in der deutschsprachigen Übertragung Hans Bethges vertonen sollte. Die insgesamt acht Lieder, gesetzt für Bassbariton und relativ kleines Orchester, wurden 2017 vollendet und erschienen dann schließlich als 6. Sinfonie (Chinesische Lieder). Nach der Uraufführung in Guangzhou kamen für die Dresdner Aufführung im März 2018 noch vier Zwischenspiele für Erhu – das vielleicht typischste, lediglich zweisaitige Streichinstrument Chinas – hinzu.

Penderecki hat sich ja bekanntlich vorwerfen lassen müssen, vom Avantgardisten zum hemmungslosen Romantiker mutiert zu sein. Wie schon in der 8. Symphonie bedient der Komponist auch in der Sechsten ausgerechnet Texte auf Deutsch. Im Unterschied zu Mahlers Lied von der Erde, wo dieser alle angesprochenen individuellen Befindlichkeiten der altersweisen chinesischen Lyrik gleich in allgemeinen Weltschmerz umdeutet, bleibt Penderecki bei der Einsamkeit seines Protagonisten. Das ist feine Kammermusik, subtil instrumentiert, und interessanterweise nicht so stark mit Penderecki-typischen Intervallfolgen infiltriert wie lange bei ihm üblich. Ja, man darf sich an romantische Liederzyklen erinnert fühlen und ein im engeren Sinne erwartbarer symphonischer Zusammenhang ist schwer erkennbar.

Antoni Wit (*1944), noch Schüler von Henryk Czyż, Stanisław Skrowaczewski und Nadia Boulanger, erlangte als Karajan-Preisträger schnell Weltruhm. Sein größter Verdienst liegt im unermüdlichen Einsatz für zeitgenössische polnische Komponisten, insbesondere Lutosławski und Penderecki, dessen Orchesterwerke er fast komplett für Naxos eingespielt hat – meist in herausragender Qualität. Bislang kamen dafür fast ausschließlich Warschauer Orchester zum Einsatz. Das vorliegende Programm benötigt zwar weniger große Klangkörper; das Norrköping Symphony Orchestra – zuletzt gelobt für seine Aufnahmen der Symphonik Allan Petterssons – fremdelt nun allerdings ein wenig mit der Musik des polnischen Meisters.

Ein echter Schwachpunkt der Wit-Aufnahme ist der leider kürzlich viel zu jung verstorbene Bariton Jarosław Bręk. Verglichen mit Stephan Genz auf der Erstaufnahme der Symphonie unter Wojciech Rajski stört der überdeutliche polnische Akzent Bręks, mehr jedoch seine seltsam unbeteiligte, über Strecken fehlende Ausdeutung des Textes – fast so, als wisse er nicht, von was er da singen soll. In den mittleren Sätzen IV. und V. (Die wilden Schwäne/ Verzweiflung) erweist sich sein deutlich dunkleres Timbre als vorteilhaft, aber selbst hier wirkt der Vortrag blass. Das Orchester bleibt bei der Symphonie ebenfalls nur präzis routiniert, kann höchstens punktuell mal emotional mitreißen. Wenigstens aufnahmetechnisch gewinnt die Neueinspielung, ist durchsichtiger und dynamisch besser ausbalanciert als die recht mulmige CD Accord Veröffentlichung. Kurios allerdings, dass die vier kurzen Erhu-Zwischenspiele mit Hsin Hsiao-ling völlig gesondert ein halbes Jahr später in Hong Kong aufgezeichnet wurden.

Viel besser gelingen die beiden konzertanten Werke: Pendereckis Concerto doppio – 2012 ursprünglich für Violine und Viola konzipiert – ist, so wie sein Bratschenkonzert, inzwischen auch für andere Besetzungen, selbst für Akkordeon, adaptiert worden. Dem Rezensenten gefällt die Fassung für Violine und Cello – die Violastimme wird dazu durchgängig nur nach unten oktaviert – eigentlich besser als das Original. Der zusammengenommen nun größere Ambitus der beiden Solistinnen bietet den in diesem Konzert überwiegenden Duopassagen differenziertere Klangmöglichkeiten. Die polnische Geigerin Aleksandra Kuls – u. a. Schülerin von Kaja Danczowska und Wienawski-Preisträgerin – und die Südkoreanerin Hayoung Choi – Siegerin des Queen Elizabeth Competition 2022 für Cello – übertreffen hier an gestalterischer Energie sogar die Interpreten der Urfassung in Pendereckis eigener Aufnahme. Wit bewegt sich in gewohntem Fahrwasser mit nachtwandlerischer Sicherheit und inspiriert dabei ebenso das schwedische Orchester.

Vom gut 10-minütigen Trompeten-Concertino (2015) existieren bereits mehrere Aufnahmen. David Guerrier, 2003 Erster Preisträger des ARD-Wettbewerbs und seit Anfang des Jahres Solotrompeter der Berliner Philharmoniker, musiziert das dankbare, zugleich denkbar traditionelle viersätzige Stück mit Hingabe und vollster Überzeugung, perfekt von Wit unterstützt – eine makellose Darbietung, die nur begeistern kann. Für Sammler ist die mit dieser CD vollständige „echte“ Gesamtaufnahme aller Penderecki-Symphonien unter Antoni Wit wohl ein Muss, obwohl eine rundum befriedigende Wiedergabe der 6. Symphonie noch aussteht. Die Konzerte verdienen eine uneingeschränkte Empfehlung.

Vergleichsaufnahmen: [6. Symphonie] Stephan Genz, Polska Filharmonia Kameralna Sopot, Wojciech Rajski (CD Accord ACD 270-2, 2019); [Concerto doppio – Fass. für Violine & Viola] Bartłomiej Nizioł, Katarzyna Budnik, Jerzy Semkow Polish Sinfonia Iuventus Orchestra, Krzysztof Penderecki (DUX 1537, 2018)

[Martin Blaumeiser, August 2024]

Begeisternde Einspielungen von George Antheils Violinsonaten

Naxos 8.559937; EAN: 6 36943 99372 9

Als Co-Produktion mit Deutschlandfunk Kultur haben die Geigerin Tianwa Yang und der Pianist Nicholas Rimmer in Berlin die vier Violinsonaten des US-amerikanischen Komponisten George Antheil (1900‒1959) für Naxos eingespielt. Die Veröffentlichung kann in allen Belangen überzeugen.

George Antheil war in den 1920er Jahren in der klassischen Musikszene Europas tatsächlich das enfant terrible schlechthin, bezeichnete sich nicht erst in seiner gleichnamigen Autobiographie (1945) ausdrücklich als Bad Boy of Music. Insbesondere durch rhythmisch äußerst aggressive, über Strecken dabei mechanistisch unterkühlte Musik – allem voran sein Ballet mécanique (1926, rev. 1952) – wusste er stets gehörig zu provozieren. Die dann auch immer vorhandenen Jazz-Einsprengsel taten ein Übriges. Genoss der Komponist in Europa seine Skandale, war ein Konzert in der New Yorker Carnegie Hall 1927 ein einziges Debakel. Als er 1933 zurück in die USA ging, ab 1936 in Hollywood arbeitete – nicht nur für die Filmindustrie – wurde er zunehmend „braver“, so dass er fortan kaum noch als Avantgardist wahrgenommen wurde und seine frühen, für uns heute umso erfrischender wirkenden Glanzlichter lange in Vergessenheit gerieten. Eine echte Renaissance erlebt sein Werk erst wieder seit den späten 1970ern.

Antheils erste drei Violinsonaten entstanden 1923 und 1924, genau während seiner Experimente mit dem Ballet mécanique. Der Komponist war 1922 nach Europa gereist, traf in Berlin sein Idol Igor Strawinsky und folgte ihm 1923 nach Paris. In der viersätzigen ersten Violinsonate erkennt man in den Ecksätzen Strawinskys Einfluss sehr stark (Les Noces, Histoire du soldat). Aber gleichzeitig gibt es hier bereits in der Violinliteratur bislang unerhörte, bewusst bis an die Grenze der Erträglichkeit sich wiederholende Barbareien, clusterartig klingendes, extremes Kratzen zwischen Steg und Saitenhalter, härteste irreguläre Akzente usw. Jedwede Formerwartungen an klassische Sonaten werden enttäuscht. Andererseits ist das 24-minütige Werk voller Exotismen und schöner Details, die den Hörer ebenso umwerfen.

Die aus Peking stammende, mittlerweile mit Preisen gerade für ihre CD-Aufnahmen (Sarasate, Rihm, Brahms…) überhäufte Violinistin Tianwa Yang ist bereits lange in Deutschland tätig, seit 2018 Professorin in Würzburg. Mit ihrem britischen Klavierpartner Nicholas Rimmer gelingt ihr schon hier eine Darbietung, die alle bisherigen Einspielungen weit in den Schatten stellt. Während etwa Vera Beths und Reinbert de Leeuw einerseits die Bruitismen nicht bis an die Grenze ausloten, andererseits die Musik – sicherlich absichtsvoll – völlig ohne innere Anteilnahme wie eine Maschine abspulen, atmet und lebt bei Yang/Rimmer jeder Moment. Alles ist hier auch emotional nachvollziehbar und verständlich. Der Klang beider Musiker –wunderbar flexibel und farbig – lässt niemals kalt, trotz haarsträubender Präzision. Selbst die barbarischsten Stellen klingen natürlich: zum Beispiel wie der Schrei eines Esels. Und der Schluss des Finales, nicht nur von den Bewegungsmustern her an den Schluss des ersten Teils von Le Sacre du printemps gemahnend, wirkt in seiner Raserei geradezu hinreißend. Rimmers Geschmeidigkeit bei Läufen ist staunenswert – das ganze Stück kommt so absolut großartig herüber.

Genauso begeisternd spielen Yang und Rimmer die übrigen Sonaten. Die Jazz-Einflüsse der Sonaten Nr. 2 und 3 sind (aber)witzig, haben Swing und wirken keinesfalls als Fremdkörper wie bei Beths/de Leeuw. Die vierte Sonate von 1947-48 beweist, dass der dann vermeintlich zahme Antheil nichts an Ausdrucksstärke eingebüßt hat, alles andere als zahnlos oder gar ein Langweiler geworden ist. Erinnert der Kopfsatz – mit ein, zwei Beinahe-Zitaten – an die besten Momente von Kammermusik Prokofjews, erreicht die Passacaglia enormen Tiefgang. Das Toccata-Rondo ist ein wenig konventionell, dennoch ein brillanter Abschluss. Aufnahmetechnisch vermag die CD ebenfalls mit Transparenz und Dynamik völlig zu überzeugen. Die Veröffentlichung kann nicht hoch genug gelobt werden und gehört wirklich in jede Sammlung: ein echtes Kleinod für diese Besetzung.

Vergleichsaufnahme: Vera Beths, Reinbert de Leeuw (Auvidis Montaigne MO 782022, 1989)

[Martin Blaumeiser, Juli 2024]

Jörg Widmann überzeugt bei der musica viva in Dreifachfunktion

Beim Konzert der musica viva am 28. Juni 2024 im Münchner Herkulessaal präsentierte sich Jörg Widmann mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks einmal mehr in gleich dreifacher Funktion: als Klarinettist, Dirigent und natürlich als Komponist. Mal abgesehen von Wolfgang Amadeus Mozarts „Adagio für Glasharmonika“, KV 356/617a, mit dem Christa Schönfeldinger Widmanns Schlüsselerlebnis mit diesem Instrument in Erinnerung rief, gab es ausschließlich Widmann-Werke: „Armonica, „Drei Schattentänze“, „Danse macabre“ und das gewaltige Trompetenkonzert „Towards Paradise“ (Labyrinth VI) mit dem Solisten Håkan Hardenberger.

Håkan Hardenberger und Jörg Widmann mit dem BRSO © BR musica viva/Astrid Ackermann

Im letzten Konzert der musica viva Saison am 28. 6. 2024 durfte sich der Münchner Jörg Widmann gleich dreifach in Szene setzen: als Komponist von vier eigenen Werken, mit einem Solostück für sein Instrument: die Klarinette, sowie als Dirigent des Abends – und konnte diesmal in allen Belangen überzeugen. Vor knapp sieben Jahren versuchte sich Widmann hier bereits in dieser Mehrfachfunktion – wir berichteten. Damals rief zumindest sein Dirigat Stirnrunzeln beim Rezensenten hervor. Seitdem hat Widmann ziemlich viel mit Orchestern gearbeitet, nicht nur an eigenen Stücken, mittlerweile auch als Erster Gastdirigent bei der NDR Radiophilharmonie (Hannover). Widmann ist am Pult sicht- und spürbar deutlich souveräner geworden: Er gibt nicht nur hochengagiert und klar alle wichtigen Impulse, sondern steuert den Klang insgesamt viel differenzierter als früher. Natürlich darf man von einem Komponisten erwarten, dass er seine eigene Musik wahrscheinlich besser kennen dürfte als die meisten Dirigierkollegen. Dennoch hat seine Ausstrahlung auf das BRSO heute einen unvergleichlich positiveren Effekt und unmittelbarere Wirkung als etwa in besagtem Konzert von 2017.

An diesem Abend gibt es vier Widmann-Stücke, allerdings keine Uraufführung. In Armonica (2006) versucht der Komponist, die fast jenseitigen klanglichen Sphären der Glasharmonika – diese steht nicht etwa als Soloinstrument ganz vorne, sondern weil dynamisch sonst chancenlos – mittels delikatester Orchestrierung quasi auf den gesamten Apparat zu erweitern. Dabei gelingen ausladende, organische Spannungsbögen mit nur einem absichtsvoll verstörenden „Abbruch“. Christa Schönfeldinger, mit den komplexen Anforderungen von Widmanns Partitur seit nunmehr über 60 Aufführungen bestens vertraut, beweist anschließend – als offizieller Programmpunkt bei der musica viva höchst ungewohnt – mit dem Standardwerk für die Glasharmonika, Wolfgang Amadeus Mozarts Adagio KV 356/617a, die wundervolle Zerbrechlichkeit und Klangschönheit ihres besonderen Instruments. Die Begegnung mit diesem Stück war für Widmann das anregende Schlüsselerlebnis für Armonica.

Wenn der Komponist ein Solo auf der Klarinette darbietet, ist dies immer hochspannend. Die eigenen Drei Schattentänze von 2013 beleuchten höchst kontrastierende Aspekte der Klangerzeugung: Im Echo-Tanz geht es um extreme Techniken des Überblasens, damit erzeugte Mehrstimmigkeit und Mikro-Tonalität. Die übrigen beiden benötigen elektro-akustische Unterstützung: Der (Under) Water Dance vermittelt die beabsichtigte Illusion mittels eines künstlichen Hallraums, der Danse africaine benutzt die Klarinette als imaginäres Schlagzeugensemble – mit Verstärkung. All dies stößt beim Publikum auf helle Begeisterung.

Der Danse macabre (2022) steht natürlich in der großen Tradition des Totentanzes, die nicht erst mit Saint-Saëns beginnt. Der Tod als einschmeichelnder, aber zugleich sarkastischer Werber für den letzten Weg alles Lebendigen, ist naturgemäß eine Steilvorlage für einen Instrumentationskünstler von Rang. Das verwendete Orchester ist noch nicht einmal überdimensioniert, enthält aber erwartungsgemäß Exoten wie Flexaton oder Waterphone – dessen Name verweist sowohl auf seinen wassergefüllten Korpus als auch den Erfinder Richard Waters, und das Instrument machte insbesondere in Filmmusiken des Horror-Genres Karriere. Für die Gattung ist Widmanns Beitrag mit 17 Minuten schon recht lang – mehr echte Tondichtung als nur netter Lärm wie z. B. Helmut Lachenmanns Marche fatale – und verwurstet verschiedene vertraute Tanzmodelle bis zur Groteske bzw. zum nackten Gerippe. Das hemmungslos tonale Hauptmotiv geht fast so ins Ohr wie Klaus Badelts Filmmusik zu Fluch der Karibik. Trotzdem ist das Publikum ob der leichten Zugänglichkeit des Werkes einigermaßen überrascht.

Das mit knapp 40 Minuten äußerst ausladende Konzert Towards Paradise für den nach wie vor phänomenal tonschön agierenden Trompeten-Weltstar Håkan Hardenberger gehört zur Gruppe der Labyrinth-Stücke, in denen Widmann immer auch seine momentane Befindlichkeit als Komponist reflektiert. 2021 prägte diese freilich die Corona-Situation, und so dreht sich der Weg ins Paradiesische nicht zuletzt um das Thema Einsamkeit, was durch den halbszenischen Gang des Solisten von außerhalb des Podiums durch die einzelnen Orchestergruppen, wo er mit unterschiedlichem Erfolg Anschluss sucht, bis zum Entschwinden in die „Katakomben“ des Herkulessaals am Ende überdeutlich wird. Anders als im 2002 für Sergei Nakariakov geschriebenen Konzertstück, das mit seinem Hochgeschwindigkeitswahnsinn Virtuosität ganz wörtlich ad absurdum führte, steht im Labyrinth VI Lyrik und Nachdenklichkeit im Vordergrund. Das Werk ist aber – trotz eindringlicher Choral-Andeutungen – keineswegs nur langsam.

Hardenberger nimmt vom ersten Augenblick die Zuhörer gefangen. Die exquisite Schönheit der Melodik seines riesigen Parts ist von geradezu erstaunlicher Einprägsamkeit, verlangt dafür eine unglaubliche Sicherheit in der Höhe, aber noch mehr Flexibilität im Ausdruck bei den großartigen Interaktionen mit einzelnen Teilen des Orchesters. In der Mitte gibt es zudem auch Jazz-Momente – die jedoch mit etwas zu wenig Synkopen nicht die Authentizität etwa von B. A. Zimmermanns Nobody knows de trouble I see erreichen. Die Innigkeit gerade an Stellen, wo die Trompete mit Dämpfern spielen muss, scheint bei Hardenberger unübertrefflich. Widmann ist hier meilenweit entfernt von der bis ins Extreme ausdifferenzierten Geräuschhaftigkeit seines Dritten Labyrinths, setzt auf Klangkombinationen, die stets aufhorchen lassen und emotional unterstützend wirken – so etwa Akkordeon oder gestrichene Crotales als schärfste Waffen im Diskant. Symbolisiert gegen Schluss Bachsche Kontrapunktik das Erreichen eines paradiesischen Zustands? Dunkles Blech und geheimnisvolles Schlagzeug stellen dies zumindest infrage, während Hardenberger als letztes Statement einsam ein dreigestrichenes Es verhaucht.

Selten einmütiger Applaus für eines der besten Werke Widmanns überhaupt, für ein in jeder Sekunde aufmerksam und empathisch mitgehendes BRSO und selbstverständlich die musikalische Glanzleistung des dann sehr glücklich wieder aus dem Off erscheinenden Solisten. Widmann wird zu Recht für die Erfüllung der hohen Erwartungen in allen drei Funktionen bejubelt – das soll ihm erst mal jemand nachmachen!

[Martin Blaumeiser, 1. Juli 2024]

Die Kunst der Reduktion: Zauberhafte Miniaturen von Steffen Wolf

TYXart TXA21160 EAN: 4 250702 801603

Sechs Zyklen, bestehend aus insgesamt 51 Miniaturen, vereint die Kammermusik-CD „Essais musicaux“ mit Musik des in Hamburg lebenden Komponisten Steffen Wolf (Jahrgang 1971): Die titelgebenden Essais musicaux I(„To quiet the mind“) und II („Abbaye Saint-Philibert“) für Violine bzw. Klarinette und Klavier, „Im Zeichen der Kastanie“ (Violine solo), „Kreise“ (Klarinette solo) sowie die Klavierzyklen „Als Kind“ und „So listen to my lullaby, you knights and ladies fine“ (zu vier Händen). Die Interpreten sind Ewelina Nowicka (Violine), Pamela Coats (Klarinette), Jennifer Hymer und Michi Komoto (Klavier) sowie der Komponist als Sprecher.

Der wohl im südlichen Niedersachsen (?) aufgewachsene, nun in Hamburg ansässige Sänger und Komponist Steffen Wolf (*1971), hält sich mit Informationen über seine Vita erstaunlich bedeckt, selbst auf seiner eigenen Website: überall stets die fast im Wortlaut identischen, mehr als spärlichen Angaben. Offenkundig interessiert ihn beim Komponieren mehr als nur die reine Musik, vielmehr eine Verbindung zu Malerei, Architektur, Literatur und Philosophie, was auch in den vorliegenden sechs Zyklen mit insgesamt 51 Miniaturen seinen Niederschlag erfährt. Die Besetzung geht von solistischen Werken – Im Zeichen der Kastanie (Violine), Kreise (Klarinette) sowie dem Klavierzyklus Als Kind – über So listen to my lullaby, you knights and ladies fine (Klavier vierhändig) bis zu den für die CD titelgebenden Essai musical I („To quiet the mind“) und Essai musical II („Abbaye Saint-Philibert“) für Violine bzw. Klarinette und Klavier.

Die kurzen, emotional fein dosierten Stücke wollen nicht die jeweiligen Inspirationsquellen „übersetzen“ oder gar illustrieren; es sind die inneren Bewegungsmomente des Komponisten bei diesen Kunstbegegnungen, die dem Hörer vermittelt werden. So vergleicht man den durch eine alte Fotografie – des Komponisten? – angeregten Zyklus Als Kind unweigerlich mit von der äußerlichen Anlage ähnlich scheinenden Werken, natürlich insbesondere Schumanns Kinderszenen. Gemeinsam mit diesen werden auch hier eben nicht konkrete Kindheitssituationen gleichsam geschildert, sondern eben aus der Sicht des Erwachsenen in die Gegenwart zurückgeholt und reflektiert. Jedoch ist Wolfs Rhetorik vorsichtiger und dabei noch reduzierter. Da Wolfs Harmonik nie tonal fundiert ist – sie schwankt zwischen eher weicher Atonalität und Polytonalität mit teils mehreren Zentraltönen – wirken die kurzen Blicke dieser Musik recht spontan, nicht „gewollt“ oder gar konstruiert. Das soll nicht heißen, dass es hier keine inneren musikalischen Zusammenhänge gäbe; dies aufzudecken bedürfte eingehenderer Analysen anhand des Notentexts. Michi Komoto spielt makellos, die schnelleren Abschnitte kommen teils etwas aufgesetzt herüber.

Wie diese oft zauberhafte, durchgehend sehr intime Musik – die daher überhaupt nicht in große Konzertsäle passt – wirkt, ist schwer zu beschreiben. Gemessen an der Kammermusik und den Liedern des frühen, expressionistischen Anton Webern mangelt es ihr an Direktheit, sie ist dafür deutlich zugänglicher. Dem vielleicht großartigsten lebenden Verfasser musikalischer Miniaturen, György Kurtág, ähnelt Wolfs Herangehensweise ebenso nur bedingt, da hier nicht ständig musikgeschichtliche Querverweise von der stillen Ausdruckskraft ablenken. Am gelungensten erscheinen dem Rezensenten in der Tat die beiden Essais musicaux: To quiet the mind nimmt Bezug auf einen Bilderzyklus von Carmen Hillers, Wolfs Gattin. Die den 7 Sätzen zugeordneten Kunstwerke sind im Booklet abgebildet. Die exzellente Violinistin Ewelina Nowicka – sie glänzte erst kürzlich auf einer fabelhaften CD mit konzertanten Werken verfolgter polnischer Komponisten – gestaltet die recht freien Assoziationen überzeugend empathisch und wird von Jennifer Hymer minutiös begleitet. Im Zeichen der Kastanie – hier wechseln ruhige und erregtere Abschnitte einander abbringt Nowicka kongenial auf den Punkt. Die kammermusikalisch sehr umtriebige Klarinettistin Pamela Coats spielt Abbaye Saint-Philibert – mit eingebauten Glockenassoziationen sowie einem Zitat Hildegard von Bingens – klanglich und dynamisch differenziert, aber setzt mehrfach auf einen leicht gockelhaften Klarinettensound, der Wolfs intimen Ansatz stellenweise konterkariert. In Kreise – die kurzen Haikus Kobayashi Issas werden vom Komponisten selbst mit etwas zu viel Hall dazu gesprochen – wirken die Tierschilderungen (Frosch und Hund) geradezu lächerlich.

Merkwürdig ist die Klangverteilung – die Mittellage des Flügels erscheint unterrepräsentiert – der beiden Spielerinnen in So listen to my lullaby, you knights and ladies fine, in der sich Steffen Wolf einmal mehr Christoph Martin Wielands Versdichtung Der Vogelsang widmet. Da, wo der Satz dichter wird, erreicht der Komponist beinahe ungewohnt orchestrale Fülle. Jedoch wirken gerade in den von der Faktur eher schlichteren Abschnitten Primo und Secondo eher als Antipoden als klanglich zu verschmelzen, was sich nicht nach Absicht anhört. Aufnahmetechnisch hat man offenkundig versucht, diesem Manko (?) mit Hall entgegenzuwirken, sonst vermögen die Einspielungen den intimen Charakter von Wolfs Musik durchaus zu transportieren. Insgesamt eine außergewöhnliche Hörerfahrung, auf die sich einzulassen lohnt, wenn man dafür tunlichst immer nur einen der sechs Zyklen konzentriert genießt, keinesfalls die komplette CD am Stück.

[Martin Blaumeiser, Juni 2024]

Klaus Ospalds „Entlegene Felder“ in der CD-Reihe „musica viva“

BR Klassik 900642; EAN: 4 035719 006421

In der Reihe „musica viva“ hat BR Klassik zwei Kompositionen aus der Trias „Entlegene Felder“ des Komponisten Klaus Ospald (*1956) veröffentlicht: Das großbesetzte „Más raíz, menos criatura“ sowie das „Quintett von den entlegenen Feldern“. Es spielen das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Peter Rundel – mit dem Pianisten Markus Bellheim und Singer Pur – sowie das Ensemble Experimental mit dem SWR Experimentalstudio, geleitet von Peter Tilling.

Der aus Münster stammende und lange in Würzburg lebende und lehrende Komponist Klaus Ospald (Jahrgang 1956) hat einen höchst individuellen Stil entwickelt, der stark von Literatur inspiriert scheint. Zuletzt zieht sich insbesondere der früh in den Kerkern der spanischen Faschisten verstorbene Miguel Hernández (1910‒1942) wie ein roter Faden durch Ospalds Schaffen, auch wenn die Texte selbst in der Musik gar nicht direkt in Erscheinung treten oder gar „vertont“ werden. Auf der vorliegenden CD der Reihe musica viva erklingen zwei Werke der Trias Entlegene Felder – inzwischen erweiterte der Komponist seine Auseinandersetzung mit der Dichtung Hernández‘ zum bislang aus sechs ganz unterschiedlich besetzten Stücken bestehenden Guerra-Zyklus.

2019 erhielt Ospald den Happy New Ears Preis für Komposition der Hans und Gertrud Zender Stiftung (wir berichteten). Anlässlich der Preisverleihung erklang im musica viva Konzert des BR eine beeindruckende Darbietung des gut 50-minütigen Werks Más raíz, menos criatura („Mehr Wurzel als Mensch“ = Entlegene Felder III) für Orchester, Klavier und achtstimmigen Kammerchor, die hier nun festgehalten wurde. Die exzellente Aufnahmetechnik überspielt dabei einmal mehr so manche Unzulänglichkeit des Münchner Herkulessaals. Sie macht gleichzeitig klar, wie Ospald die Textfragmente aus Hernández‘ Gedicht El niño yuntero („Das Kind als Zugtier“) selbst für den 8-stimmigen Kammerchor – hier mit dem um zwei zusätzliche Sängerinnen ergänzten, vorzüglichen Vokalsextett Singer Pur – lediglich als Material benutzt und sehr bewusst mit den hochdifferenzierten Orchesterklängen verschmelzen lässt. Dasselbe gilt für den durchgehenden Klavierpart, der mehr reflektiert und kommentiert als solistisch aufzutrumpfen: Markus Bellheim realisiert dies absolut souverän, klangschön und stets präsent, ohne bei aller Virtuosität daraus eine Art Klavierkonzert zu machen. Das Klavier wird oft durch ein Upright-Piano sowie zwei Harfen – alles leicht gegeneinander verstimmt – sekundiert. Ein empathischer Aufschrei für Humanität in einer Welt der Unterdrückung. Das BRSO unter Peter Rundel spielt vielleicht eine Spur zu distanziert, in jedem Fall engagiert und auf höchstem Niveau.

Das Quintett von den entlegenen Feldern für Streichtrio, Klarinette (Bassklarinette), Klavier und Live-Elektronik (2012/13, rev. 2014) als erstes Werk der Trias arbeitet zwar nicht mit Texten, dafür aber mit sehr subtiler Klangerweiterung, die sowohl mit bewegtem Raumklang als auch mit Präparationen sowie Transducern auf dem Resonanzboden des Flügels experimentiert und deshalb nicht nur einen zweiten „Spieler“ am Klavier, sondern auch eine äußerst aktiv eingreifende Klangregie erfordert. Zunächst erscheint die Live-Elektronik eher episodenhaft, steigert jedoch mit der Zeit eindrucksvoll auch ihre emotionale Bedeutung – etwa mit „eingefrorenen” Klängen bzw. plötzlichen Klang-Abbrüchen. Die ebenfalls sehr gelungene Einspielung mit dem Ensemble Experimental und dem SWR-Experimentalstudio entstand im Mai 2019 bei einem Live-Konzert in Coburg. Fazit: Ergreifende Musik eines erklärten Außenseiters, die bei aller klanglichen Dichte und Finesse auf alle äußerliche Effekthascherei verzichtet, klar durchhörbar bleibt und quasi über jeden Ton Rechenschaft ablegen könnte. Die mit knapp 83 Minuten randvolle CD wird so zum Muss für alle Hörer Neuer Musik, verlangt allerdings enorme Aufmerksamkeit. Wer mehr über Ospalds Kompositionsprinzipien als im durchaus informativen Booklet erfahren möchte, sei auf nachstehende Veröffentlichung verwiesen.

Ergänzende Literatur: Ulrich Tadday (Hrsg.), Klaus Ospald, Musik-Konzepte 183, II/2019, edition text+kritik, München

[Martin Blaumeiser, Mai 2024]

Verleihung des Ernst von Siemens Musikpreises 2024 im Herkulessaal

Am Samstag, 18. Mai 2024 um 19 Uhr, fand – erneut im Münchner Herkulessaal – die Verleihung des Ernst von Siemens Musikpreises 2024 an die koreanische Komponistin Unsuk Chin statt. Die diesjährigen Förderpreise für Komposition und Ensembles gingen an Daniele Ghisi, Bára Ghísladóttir, Yiquing Zhu bzw. das Broken Frames Syndicate sowie Frames Percussion. Neben zwei Werken Chins – Gran Cadenza und das Doppelkonzertwurden auch die drei jungen Komponisten mit Live-Beiträgen vorgestellt.

Die Preisträger der Ernst-von-Siemens-Musikpreise 2024: Yiqing Zhu,
Unsuk Chin, Bára Ghísladóttir und Daniele Ghisi. Photo © Ernst-von-Siemens-Musikstiftung/Astrid Ackermann

Deutlich schlechter besucht als in den Vorjahren schien dem Rezensenten die diesjährige Preisverleihung der Ernst von Siemens Musikstiftung im Münchner Herkulessaal. Ebenso war die „Promi-Dichte“ heuer recht überschaubar. Vielleicht lag es an den bevorstehenden Pfingstferien. Man muss allerdings kritisieren, dass das Publikum das sehr lange Programm – gute 160 Minuten – ohne Pause absitzen musste und das Foyer für den anschließenden Empfang der Stiftung einfach unangenehm überakustisch wirkt. Annekatrin Hentschel vom Bayerischen Rundfunk moderierte die Veranstaltung, die übrigens am 18. und 20. Juni auf BR Klassik gesendet werden wird. Nach einem Grußwort durch die Bratschistin Tabea Zimmermann, Vorsitzende des Stiftungsrats, gab es die mit Spannung erwarteten Porträtfilme über die Förderpreisträger Komposition bzw. Ensemble von Johannes List. Leider fielen diese diesmal erheblich uninspirierter aus als in den letzten Jahren; geradezu nichtssagend die kurzen Filmclips zu den Ensembles: Broken Frames Syndicate aus Frankfurt am Main sowie Frames Percussion aus Barcelona. Umso erfreulicher, dass sich die jungen Komponisten auch mit jeweils einer Live-Aufführung vorstellen durften – hier gebührt Zoro Babel schon mal Dank für die gelungene Klangregie.

Wir hatten hier bereits kurz die diesjährigen Stiftungspreisträger vorgestellt. Daniele Ghisis drei Stücke aus Weltliche (2020) – für Klavier und Elektronik – mochten, trotz der engagierten Darbietung durch den britischen Pianisten Joseph Houston, nicht so recht überzeugen: Ghisi verarbeitet darin u. a. Material aus drei weltlichen Bach-Kantaten. In seiner Live-Elektronik, die akustisch ebenso auf den Korpus des Konzertflügels übertragen wird, verwendet der stark mathematisch orientierte Italiener zudem musique concrète. Das Ganze wirkte dann doch sehr verkopft; da halfen die teils sensiblen Klänge kaum weiter.

Einen völlig anderen Weg geht die isländische Komponistin und Kontrabassistin Bára Ghísladóttir. Wie in den meisten ihrer Kompositionen macht sie auch in RÓL (2023) – für Tuba und Elektronik – aus ihrer besonderen Liebe zum Tieffrequenten keinen Hehl: Was Jack Adler-McKean hier an bedrohlich Geräuschhaftem aus dem Instrument des Jahres herausholte, war wirklich beeindruckend, erschien geradezu wie ein Hurrikan in der Tuba. Und die intensive Live-Elektronik – endlich hatte man ein paar Lautsprecher im Herkulessaal aufgebaut, die tatsächlich satte Bässe hergeben – traktierte die Zuhörer gleichermaßen enorm körperlich, entsprechend Ghísladóttirs grundsätzlichem Bekenntnis zum Animalischen.

Am tiefgründigsten erschien jedoch The Aether and Nether des stilistisch sehr breit aufgestellten Chinesen Yiqing Zhu, der selbst auf dem Podium dirigierend die Live-Elektronik – mit vielen verfremdeten Echo- bzw. Loop-Effekten – bediente und gemeinsam mit Liyi Lu an der Pipa (chinesische Laute) und dem Flötisten Rafał Zolkos mit einem erstaunlichen Wechselbad von expressiver Hochspannung und chillig-lässigem Jazz faszinierte. Große Zustimmung für die jungen Tonkünstler bei der Preisverleihung durch den nach 36 Jahren im Kuratorium nun ausscheidenden Vorsitzenden Thomas Angyan.

Nun folgte endlich Musik der Hauptpreisträgerin Unsuk Chin: Dazu hatte man das Ensemble intercontemporain aus Paris eingeladen, mit dem Chin durch eine bald 30-jährige Zusammenarbeit eng verbunden ist. In der für Anne Sophie Mutter und ihre Geigen-Eleven 2018 geschriebenen Gran Cadenza für zwei Violinen – selbst schon ein kleines Doppelkonzert – durften Hae-Sun Kang und Diégo Tosi alle Register ihres Könnens ziehen: eine technisch wie musikalisch ungemein wirksame, zweifellos phänomenale Wiedergabe. Die Laudatio für Chin, die mittlerweile in Berlin lebt, jedoch bereits als Schülerin von György Ligeti in Hamburg entscheidende musikalische Impulse bekam, hielt der langjährige Intendant der Kölner Philharmonie, Louwrens Langevoort. Er betonte insbesondere den außergewöhnlichen Klangsinn der aus Korea stammenden Komponistin, für Orchester zu schreiben sowie die konsequente Umsetzung ihres vielzitierten Leitspruchs „Meine Musik ist die Abbildung meiner Träume“, die vielleicht in der 2007 in München uraufgeführten Oper Alice in Wonderland einen ersten Kulminationspunkt erreichte.

Nach der Preisübergabe und der ein wenig selbstgefälligen Danksagung der Geehrten gab es als krönenden Abschluss das Doppelkonzert, 2002 als drittes Auftragswerk für das Ensemble intercontemporain entstanden. Hier spielten nun dieselben Solisten wie bei der Uraufführung: Samuel Favre (Schlagzeug) und Dimitri Vassilakis, der am geschickt teilweise präparierten Steinway eine vielschichtige, aber nie vordergründig virtuose Klangwelt hinzauberte. Wirklich virtuos war jedoch das hochdifferenzierte, dabei dicht verschmelzende Zusammenspiel mit dem Ensemble – unter dem kongenialen, präzisen und nie aufdringlichen Dirigat seines seit letztem Jahr neuen Leiters: Pierre Bleuse. Dank eines etwas ungewöhnlichen Gewandes sah der agile, kraftstrotzende Herr beim Dirigieren von hinten ein wenig aus wie eine Fledermaus, beherrschte die herausfordernde Partitur dafür absolut souverän. Hier bewahrheitete sich nun offenkundig, mit welchem musikalischen Kaliber man es bei Unsuk Chin zu tun hat: Tosender Applaus im Saal – und sicher nicht die letzte Komponistin, die diesen Preis völlig zu Recht erhält.

[Martin Blaumeiser, 20. Mai 2024]

Patrick Hahn mit Zemlinsky beim Münchner Rundfunkorchester

Nur einen Tag nach Arnold Schönbergs „Gurre-Liedern“ besuchte unser Rezensent im Münchner Prinzregententheater das Sonntagskonzert des Münchner Rundfunkorchesters vom 21. April 2024 unter Patrick Hahn. Auf dem Programm standen zwei Kompositionen Alexander Zemlinskys: Die Sinfonietta op. 23 sowie die fabelhafte „Lyrische Symphonie“ op. 18, in der Johanni van Oostrum und Milan Siljanov die beiden Gesangspartien gestalteten.

Münchner Rundfunkorchester, Patrick Hahn, Johanni van Oostrum, Milan Siljanov
© BR/Markus Konvalin

Wenn man unmittelbar nach den Jubiläumskonzerten zum 75-jährigen Bestehens des BRSO als zweiter Klangkörper des Bayerischen Rundfunks nicht nur gratulieren, sondern ein Zeichen für die Leistungsfähigkeit des kleineren Münchner Rundfunkorchesters setzen wollte, war es vielleicht nicht unbedingt die klügste Idee, sein Sonntagskonzert ausschließlich dem Wiener Komponisten Alexander Zemlinsky (1871–1942) zu widmen. Nur eingefleischte Fans – der Rezensent gehört freilich dazu – gerade dieser musikalischen Stilepoche werden die Gelegenheit ergriffen haben, quasi im Tagesabstand zwei so hochbedeutende, dazu äußerst selten gespielte Werke wie Arnold Schönbergs „Gurre-Lieder“ und Zemlinskys „Lyrische Symphonie“ anhören zu wollen. So war das Prinzregententheater an diesem Sonntagabend kaum zu zwei Dritteln gefüllt. Widmete die alte MGG (Musik in Geschichte und Gegenwart) von 1968 dem Lehrer Schönbergs noch weniger als eine Textspalte und wurde Zemlinskys Musik bis zu Beginn der 1980er Jahre so gut wie nicht gespielt, sind dessen ausgezeichnete Opern und Streichquartette, vor allem jedoch seine offenkundig an Mahlers Lied von der Erde anknüpfende Lyrische Symphonie, in der sieben Gedichte des bengalischen Literaturnobelpreisträgers Rabindranath Tagore vertont werden, mittlerweile sicher im Repertoire verankert und auch auf Tonträgern gut zugänglich.

Patrick Hahn, der sympathische Erste Gastdirigent des Rundfunkorchesters, beginnt den Abend mit der dreisätzigen Sinfonietta von 1934, in der Zemlinsky von seiner Verwurzelung in der Spätromantik längst abgerückt ist – und selbst die Roaring Twenties allenfalls noch als Nachklang wirken. Das Stück ist heterogen, hochartifiziell, schwankt zwischen brillantem Humor, virtuosem Aberwitz und durchaus depressiven Vorahnungen. Hahn dirigiert dies alles kraftvoll und souverän – die linke Hand könnte dabei noch mehr gestalten als nur Dynamik und Einsätze zu verwalten. Das Orchester hat sichtbar Spaß an dieser diffizilen Musik, klingt gerade in den knackigen Tuttis des Kopfsatzes prächtig, bleibt in dessen komplexer Polyphonie und den eher kammermusikalischen Phrasen gleichermaßen durchsichtig. In der düsteren Ballade des zweiten Satzes werden die grundierenden Ostinati flexibel aufgefasst, die gut geführte Dynamik führt zu einem Höhepunkt ohne Pathos mit ebenso organischem Abbau. Die hervorragende Leistung der Holzbläser (Klarinettensolo!) ist besonders hervorzuheben. Das Finale beginnt fein, wird im Forte dann leicht lärmend, gegen Schluss regelrecht wild, ohne seinen Humor zu verlieren und wird dabei von Hahn umsichtig kontrolliert: eine beachtliche Leistung des Orchesters.

Noch vor der Pause wird dann von Moderatorin Anna Greiter mit dem Dirigenten und live demonstrierten Klangbeispielen die Lyrische Symphonie – die heuer ihren 100. Geburtstag feiert – vor allem wohl für die zugeschalteten Rundfunkhörer erklärt. Natürlich soll hier eben nicht in erster Linie ein Fachpublikum angesprochen werden, jedoch gerät das Vorhaben durch unsagbar dümmliche Fragen fast zur Farce. Nein – in dem Stück geht es nie um plumpe Erotik, vielmehr um geschlechterspezifische Stereotypen und die darin begründeten Schwierigkeiten von Beziehungen überhaupt. Und wenn die musikgeschichtliche Nachwirkung von Zemlinskys Stück – von Alban Bergs Lyrischer Suite bis etwa zu Michael Gielens Un Vieux Souvenir – komplett unterschlagen wird, ist das schon traurig. Der Programmhefttext von Wolfgang Stähr hingegen ist völlig adäquat.

Das Rundfunkorchester hatte bei der Vorbereitung doppeltes Pech mit gleich zwei Absagen für die Sopranpartie hintereinander (Marlis Petersen bzw. Vera-Lotte Boecker), so dass die Südafrikanerin Johanni van Oostrum äußerst kurzfristig eingesprungen sein muss. Sie singt stimmlich schön und gestaltet differenziert – die Stimme ist aber leider selbst für diese in den Streichern klar unterdimensionierte Besetzung zu klein. Zemlinsky hat kongenial aus den 85 unzusammenhängenden Gedichten aus Tagores Band Der Gärtner zwar keinen wirklichen „Plot“ exzerpiert. Aber die ausgewählten Texte zeichnen teleologisch, dabei kreisförmig eine Beziehungsentwicklung nach: von der Sehnsucht des Mannes und der mädchenhaften Schwärmerei für den „Märchenprinzen“ über Eroberung, gegenseitiges Unverständnis in Ekstase, Loslassen bzw. Verlassen bis hin zum erneuten Alleinsein. Beim Sopran hat der Komponist dies viel deutlicher in die Gesangsstimme integriert als beim Bariton. Der extremen Spannweite von jugendlichem Überschwang im 2. Gesang bis zur Eiseskälte mit nicht mehr tonalen Intervallgängen im 6. Gesang wird van Oostrum noch nicht wirklich gerecht, erwischt manchmal auch nicht alle Töne korrekt. Perfekt hat dies nach Meinung des Rezensenten bisher vielleicht nur Julia Varady in der Aufnahme mit ihrem Gatten Dietrich Fischer-Dieskau hinbekommen. Bei Milan Siljanov spürt man dagegen sofort, dass er sich eingehend mit Text und Musik auseinandergesetzt hat: Textverständlichkeit, Diktion, Emotion – alles wirklich überzeugend. Seine auffallend einnehmende Stimme kommt ohne Mühe über das Orchester und seine Darbietung erfasst die Vielschichtigkeit der Partie gut, vermeidet dabei bewusst Übertreibungen, gerade im 3. Lied, und überlässt dies dem Orchester.

Das Münchner Rundfunkorchester stellt die enorme Farbigkeit – hier übertrifft der erfahrene Zemlinsky sogar die „Gurre-Lieder“ seines Schülers Schönberg – ganz hervorragend zur Schau. Die vielen Effekte – namentlich Glissandi – in allen Instrumentengruppen wirken daher eher schmerzlich, emotional überwältigt oder einfach als tonmalerische Natur-Mimesis: grandios z. B. die Stelle im 4. Gesang bei „der Wind seufzt durch die Blätter“. Den großen symphonischen Zusammenhang kann Patrick Hahn allerdings nicht überall herstellen. Bei den echten Höhepunkten bzw. Zwischenspielen, wo Zemlinsky dann tatsächlich mal ein dreifaches Forte bemüht, fehlen hier schlicht mindestens ein Dutzend Streicher. Ebenso gibt es Stellen, wo das Holz zugedeckt wird oder sogar die Hörner [Ziffer 104] nicht mehr durchkommen, was dann eher der Platzierung auf der Bühne des Prinzregententheaters geschuldet ist. Die Ausgestaltung sämtlicher Solostellen – vorzüglich das Violinsolo im 4. Satz – braucht sich keinesfalls hinter dem BRSO zu verstecken. Bei der Wahl der Tempi fällt auf, dass Hahn im ersten Satz schon ab dem Baritoneinsatz ein wenig zu zäh agiert und das Stück noch größere Flexibilität verdienen würde. Der gesamte 6. Gesang gerät viel zu langsam und die ein wenig unsichere Sopranistin bräuchte da bessere Führung durch den Dirigenten. So zerfällt hier jegliche Spannung. Insgesamt zweifellos ein mutiger und durchaus gelungener Abend, zu dem man dem Rundfunkorchester gratulieren darf. Das Publikum im Saal reagierte auf diesen Vorstoß in offensichtliches Neuland gar enthusiastisch.

[Martin Blaumeiser, 22. April 2024]

Das BRSO feiert sein 75-jähriges Bestehen mit Schönbergs „Gurre-Liedern“

Mit einem Galakonzert feierte das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks am 19. April in der Münchner Isarphilharmonie sein 75-jähriges Bestehen. Wie schon zum 60. Jubiläum 2009 spielte man zu diesem Anlass Arnold Schönbergs (18741951) „Gurre-Lieder“, diesmal freilich unter Leitung von Sir Simon Rattle. Zum immensen Aufgebot im Orchester gesellten sich dazu noch der Chor des Bayerischen Rundfunks, der MDR-Rundfunkchor sowie sechs Solisten – insgesamt ca. 280 Mitwirkende. Unser Rezensent besuchte die zweite Aufführung – nun ein „normales“ Abo-Konzert – am 20. April.

Applaus für die Mitwirkenden der Aufführung vom 19. April 2024 © BR Astrid Ackermann

„Wie sich die Bilder gleichen“, stellt man zunächst verwundert fest, weil das BRSO anlässlich seines 75. Geburtstags dasselbe Stück ausgewählt hat wie bereits zum 60. Jubiläum – damals unter der Leitung von Mariss Jansons in der Gasteig-Philharmonie. Doch erstens rechtfertigt dies der anstehende 150. Geburtstag des Komponisten Arnold Schönberg am 13. September – dieses Jahr häufen sich die runden Klassik-Events, da ist Bruckner nur einer von vielen. Und natürlich benötigt der immense Aufwand für dessen Gurre-Lieder eigentlich immer einen besonderen Aufhänger, um überhaupt eine Aufführung zu realisieren. Diese Besprechung soll auch keinen direkten Vergleich von Jansons‘ und Sir Simon Rattles Darbietungen liefern, obwohl sich ihre Auffassungen von dieser gewaltigen Kantate nicht unerheblich unterscheiden.

Nicht nur die Bühne – die für das gigantische Orchesteraufgebot mit beispielsweise 8 Flöten, 7 Klarinetten, 10 Hörnern usw. sogar vorne noch einen „Anbau“ erfordert – ist an diesem Abend rappelvoll, sondern ebenso der Zuschauerraum: Beide Vorstellungen waren seit Wochen restlos ausverkauft. Und das Münchner Abo-Publikum muss man für sein Vertrauen loben, sich 110 Minuten reinen Schönberg anzutun, der hier über weite Strecken entgegen sicher mancher Befürchtungen unerfahrenerer Hörer noch ganz wie Wagner oder Richard Strauss klingt. Der Aufwand, in jeder Instrumentenfamilie quasi über den kompletten Tonumfang und entsprechendes Klangvolumen zu verfügen, dient im ersten Teil dazu, den üblichen spätromantischen Mischklängen – Musterbeispiel etwa Brahms – sehr reine Klänge selbst bei komplexeren Akkorden entgegenzusetzen. Durch das dichte, polyphone Stimmengeflecht entstehen so einerseits unglaublich neuartige Klangflächen, andererseits enorm individuelle Mischungen, wie man sie 1900 – da begann Schönberg bereits mit der Instrumentation – noch nicht mal von R. Strauss gehört hatte.

Gerade bei den Naturstimmungen evozierenden Klangflächen gleich zu Beginn agiert Rattle an diesem Abend ein wenig tranig, was rhythmischer Klarheit nicht unbedingt förderlich, vielleicht jedoch bewusst so gewollt ist. Dem Rezensenten schien die Aufnahme vom Vortag, die gleich nach dem zweiten Konzert im BR-Fernsehen zu sehen war, im gesamten Ersten Teil der Kantate spürbar flüssiger. Möglicherweise kann der Dirigent durch die ruhigeren Tempi dadurch den Sängern – an zwei aufeinander folgenden Tagen sind solche Partien eine echte tour de force – stellenweise helfen, ihre Stimmen ein wenig zu schonen. So bleibt jedoch ein wichtiger Aspekt dieser Musik, der schon in Alban Bergs umfänglicher Analyse zur Sprache kommt, auf der Strecke. Zwar gelingt es Rattle über das ganze Stück, die leitmotivische Bedeutung der zahlreichen Themen adäquat mit dem nötigen Wiedererkennungswert zu gestalten; dass es sich aber bei den neun Wechselgesängen zwischen Waldemar (Simon O’Neill) und Tove (Dorothea Röschmann) formal um echte Lieder handelt, geht schon dadurch etwas verloren, weil Rattle die spezifische Charakteristik der einzelnen Melodien nicht genug herausarbeitet und zu rasch im allgemeinen Stimmengewirr untergehen lässt. Dass Schönberg die jeweiligen Hauptmelodien in den Zwischenspielen zudem – in der Informatik würde man das Morphing nennen – ineinander verwandelt, bleibt unklar. Das wird im – freilich eindeutig symphonischeren – Lied der Waldtaube (Jamie Barton) dann zum Glück viel besser.

Röschmanns Stimme kann die naturverbundene Jugendlichkeit Toves berührend herüberbringen, kommt jedoch nur in der Höhe wirklich übers Orchester. Ihre empathische Ausdrucksstärke ist dafür Weltklasse. O’Neill artikuliert klangschön und stilvoll, in tieferer Lage wirkt er ein wenig knödelig. Seine Darstellung der sich ständig wandelnden psychischen Befindlichkeiten Waldemars überzeugt gleichermaßen. Gegen das Orchester hat er allerdings – wie wohl alle Heldentenöre, die sich an diese Partie herangewagt haben – oft keine Chance. Er teilt sich seine Kraft gut ein und vermag gerade im zweiten („Herrgott, weißt du, was du tatest [?]“) und dritten Teil („Du strenger Richter droben“) das Publikum zu Recht zu begeistern – und: Höhe hat der Mann! Barton verfügt über eine untadelige Diktion und Wärme. Auch ihre Stimme erscheint im HP8 bei dieser Mezzo-Paraderolle etwas dünn, wird erst ab „Den Sarg sah ich auf des Königs Schultern“ glaubwürdig unheimlich, gerät später („Wollt ein Mönch…“) zu brustig. Das ginge sicher in anderen Sälen besser.

Bei diesem Riesenwerk wird einmal mehr deutlich, dass der HP8 zwar eine ordentliche Interimslösung ist, jedoch seine Schwächen nicht wegzudiskutieren sind. Simon Rattle wird auch an den lauten Stellen niemals knallig, jedoch haben wichtige Höhepunkte – namentlich der im Orchester prägnant dargestellte Todesstoß für Tove [Ziffer 95] – zu wenig Durchschlagskraft, einzig der Akustik geschuldet. Und die Eisenketten während des Männerchors von Waldemars Mannen sind kaum zu hören.

Nach der Pause kommen dann zusätzlich der Chor des Bayerischen Rundfunks und der MDR-Rundfunkchor auf die Bühne – gut 70 Herren und ca. 40 Damen; letztere werden nur im Schlusschor benötigt. Einstudiert von Peter Dijkstra liefern insbesondere die Herrenchöre – in der brutalen „Zombie“-Szene „Gegrüßt, o König“ sind sie dreigeteilt, also zwölfstimmig (!) – wahre Glanzleistungen ab. Besonderes Lob gilt der wunderbaren, intonatorisch perfekten Realisierung des intrikat schweren Chores „Der Hahn erhebt den Kopf zur Kraht“. Die Damen setzen dem Ganzen später die Krone auf.

Der Bauer von Josef Wagner ist mir anfangs zu unbeteiligt, dann ab dem lyrischeren Abschnitt „Ich schlage drei heilige Kreuze“ beseelter. Wirklich den Vogel ab („Ein seltsamer Vogel ist so’n Aal“) schießt bei den Solisten der Charaktertenor Peter Hoare. Wie so mancher Fachkollege mit einem speziellen Timbre begünstigt, braucht er bei der scherzomäßigen Arie des Klaus-Narr nicht gegen das Orchester zu kämpfen, das den hierbei kurz aufblitzenden Strauss’schen Humor ebenfalls besonders zu mögen scheint – herrlich. Im letzten Abschnitt – hier merkt man, dass sich Schönbergs Orchestersprache und sein harmonisches Verständnis in den zehn Jahren bis zur endgültigen Fertigstellung der Gurre-Lieder spürbar gewandelt hat – benötigt man einen Sprecher mit beinahe prophetischer Überzeugungskraft: Die hat der fabelhafte Thomas Quasthoff bei Des Sommerwindes wilde Jagd zweifellos. Absolut faszinierend, wie er – nicht ganz ohne Ironie, aber die gegen Schluss arg blumige Sprache komplett ernstnehmend – das vorherige symbolistische Drama in ein selbstverständliches Naturereignis umzumünzen versteht, wo die Sonne für stetige Erneuerung sorgt. Rattle und sein Orchester blühen in der zweiten Hälfte nun völlig auf: Die gewaltigen Chorszenen genau wie der viel kammermusikalischer geprägte Schlussteil gelingen überaus differenziert und anrührend, werden so den hohen Ansprüchen von Publikum und Musikern gleichermaßen gerecht – grandioser Beifall und schließlich Standing Ovations.

[Martin Blaumeiser, 21. April 2024]

Beglückender Abend des BRSO unter François-Xavier Roth bei der musica viva

Antoine Tamestit und François-Xavier Roth © Severin Vogl

Im Konzert der musica viva am 12. April 2024 im Münchner Herkulessaal spielte das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter François-Xavier Roth die Uraufführung des Bratschenkonzerts von Francesco Filidei (Solist: Antoine Tamestit), „Cloudline“ der US-Amerikanerin Elizabeth Ogonek sowie Iannis Xenakis‘ unglaublich herausforderndes Werk „Aïs“ – mit dem Bariton Georg Nigl und dem Schlagzeuger Dirk Rothbrust. Zu Ehren des kürzlich verstorbenen Komponisten und Dirigenten Peter Eötvös hatte man dessen Stück „Sirens’ Song“ zusätzlich aufs Programm gesetzt.

Im März 2024 haben wir innerhalb von nur elf Tagen gleich drei echte Weltstars der Neuen Musik verloren: Aribert Reimann, Maurizio Pollini, und am 24. 3. den Ungarn Peter Eötvös (Jahrgang 1944). Der war als Komponist bereits 1980 mit einem Kammermusikwerk bei der musica viva vertreten, hat dann ab 1989 regelmäßig das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks für dieses Format geleitet und dabei Musiker wie Publikum stets begeistert. 2019 war ein komplettes Programm Eötvös‘ eigener Musik gewidmet (wir berichteten). Grund genug, nach einer empathischen Würdigung durch Winrich Hopp und einer Schweigeminute eines seiner letzten Orchesterwerke – Sirens‘ Song von 2020 – erklingen zu lassen.

Schon hier spürt man, dass François-Xavier Roth und das BRSO einen großen Abend haben. Tatsächlich ist das Stück für mittelgroßes Orchester, in dem der Komponist versucht „hörbar zu machen, was Odysseus niemals zu Gehör bekommen hat“ (Eötvös) rhythmisch relativ simpel gestrickt. Harmonisch bilden zunächst Quint- und Tritonus-Schichten die Basis für liebreizende, zugleich ungreifbare Glissandi und wunderbare Bläser-Klangmischungen. Später kommen – von den Bässen ausgehend – Quartschichtungen hinzu; da wird’s schon gefährlicher – und die Bläser mutieren zu „Killervögeln mit Frauenköpfen“. Die Streicher ziehen die Zuhörer jedoch nach und nach in den Abgrund – fast unmerklich, ohne dass es laut würde. In einer kurzen Coda – quasi Dur – bleibt nur das sonnendurchflutete, ruhige Meer: hübsche, völlig nachvollziehbare Musik, die mit ihrer Schönheit auch das Publikum betört.

Francesco Filidei (*1973), der gerade an einer Oper nach Umberto Ecos Der Name der Rose arbeitet, hat die drei Sätze seines gut halbstündigen Konzerts für Viola und Orchester so ziemlich mit allen technisch-klanglichen Möglichkeiten gespickt, die sich für das – verglichen mit der Violine – solistisch immer noch etwas unterbelichtete Instrument anbieten. Der lange erste Satz Die Gärten von Vilnius ist eine Umarbeitung von Filideis gleichnamigem Cellokonzert. Hierbei bezieht sich der Komponist ausdrücklich beispielsweise auf die Tradition von Ottorino Respighis Tondichtungen. Die Verbindung von struktureller Klarheit – hier u. a. symmetrische bzw. „kreisförmige“, fraktale Motivbildungen – und beeindruckender Instrumentationskunst, etwa der konsequenten Auffächerung von Geräuschen über das totale Klangspektrum, sind wie immer bei ihm völlig faszinierend; ebenso, wie er die Solo-Viola dramaturgisch einsetzt. Der Mittelsatz ist rein humoristisch, sozusagen ein einziger, comic-artig vertonter Bratschenwitz. Antoine Tamestit muss hier auf „metronomische“ Vorgaben der Schlagzeuger Skalen, Flageolets usw. „üben“ – was natürlich schiefläuft. Die halbszenische Solistenpose wird dadurch völlig dekonstruiert: zur Posse. Dasselbe geschieht mit dem Material im Orchester, deutlich erkennbar etwa der C-Dur-Schlussfuge von Verdis Falstaff entnommen; die Einleitungstakte dazu werden – mittendrin – gar wörtlich zitiert. Aberwitzig ironisch erinnert dieses gut getimte Intermezzo den Rezensenten an den Mittelsatz TSIAJ („This Scherzo Is A Joke“) von Charles Ives‘ Klaviertrio. Das melancholische Finale – gegen Schluss erklingen nochmals Fragmente aus den Sätzen zuvor – bietet schließlich Tamestit die Gelegenheit, auf seiner Stradivari zu singen. Hinreißend, wie sich diese erfüllte Präsenz seiner Persönlichkeit auf den fast ausverkauften Herkulessaal überträgt: großer Beifall für ein musikalisch vielschichtiges Konzert.

Obwohl viel kürzer, kann Cloudline (2021) der jungen Amerikanerin Elizabeth Ogonek (*1989) – wie Filidei persönlich anwesend – Publikum wie Rezensent fast noch mehr begeistern. Selten hat man ein derartig natürliches, offenkundiges Gespür erlebt, für Orchester zu schreiben. Einerseits ausgehend von Wolken als Naturphänomen, andererseits dem Wunsch – und für die Uraufführung in der gigantischen Londoner Royal Albert Hall absolute Notwendigkeit –, mikrotonale Multiphonics der Klarinetten für einen größeren Klangkörper regelrecht zu instrumentieren, überzeugt dieses Werk auf ganzer Linie – bis ins Detail sensibelst austariert und im wohlklingenden Ergebnis einfach staunenswert.

Im krassen Gegensatz zu solcher Ästhetik steht Iannis Xenakis‘Aïs“ (= Hades), ein Auftragswerk für die musica viva von 1980 (UA 1981). Diese Auseinandersetzung mit dem Tod verlangt neben dem üblichen Riesenorchester einen Solo-Schlagzeuger – vor dem Orchester platziert und ganz vortrefflich: Dirk Rothbrust. Hauptprotagonist ist allerdings der Bariton, mit einer Partie, die – wie eigentlich das gesamte Stück – eine bewusste Zumutung darstellt. Über weite Strecken in höchster Lage der Kopfstimme, später in unglaublich schnellen Wechseln zwischen extrem tiefer – nur da hat man eine Chance, Textfragmente zu verstehen – und wiederum exponierter Falsettlage, muss sich der Solist sichtbar nicht nur gesangstechnisch, sondern ebenso emotional total verausgaben. Georg Nigl gelingt das einmal mehr überragend. Ob singend, schreiend oder deklamierend: Nigls Gestaltung geht an die Nieren, und er ist wohl der erste Sänger, der hier nicht wie ein unfreiwilliger Kastrat klingt, sondern von Beginn an dunkelste Ernsthaftigkeit zu transportieren vermag. Die leichte, leider suboptimale, da durch die benutzten Monitore zu sehr in die Breite gezogene Verstärkung, ist eher ein notwendiges Übel. Vor solch einem Künstler, der ja mit gleicher Energie einen Eisenstein (Fledermaus) gibt, kann man sich nur verneigen.

Das BRSO, von jeher mit einem verblüffend guten Zugang zur kompakten Musik Xenakis‘, legt diesmal wieder eine echte Glanzleistung hin. Man spürt förmlich die Begeisterung für diese alles andere als leichte Kost. Und Roth leitet das gesamte Konzert – auch er dirigiert ohne Taktstock – handwerklich präzise, hat zudem die unglaubliche Vielfalt verschiedenster Klänge mit klarer Vorstellung verinnerlicht und sie in den Proben seinen Musikern offensichtlich kongenial sehr nahegebracht. Trotz aller Herausforderungen wirkt er auf dem Podium völlig entspannt. In allen vier Werken zeigt das BRSO sich in Bestform, ist wirklich zu 100% souverän bei der Sache. Der Saal belohnt Solisten, Dirigent und Orchester schließlich mit Bravos und ungewohnt langanhaltendem Applaus. Wie gesagt: ein ganz besonderer Abend.

[Martin Blaumeiser, 13. April 2024]

Henzes „Floß der Medusa“ mit Cornelius Meister geht unter die Haut

Capriccio C5482; EAN: 8 4522105482 7

Capriccio hat eine weitere Aufführung von Hans Werner Henzes (1926-2012) Oratorium „Das Floß der Medusa“ veröffentlicht – diesmal live. Unter der Leitung von Cornelius Meister spielen und singen das ORF Radio-Symphonieorchester Wien, der Arnold Schoenberg Chor sowie die Wiener Sängerknaben. Die Solisten sind: Sarah Wegener (La Mort), Dietrich Henschel (Jean-Charles) und Sven-Erich Bechtolf (Sprecher/Charon).

Nachdem es um Henzes Oratorium Das Floß der Medusa, dessen geplante Uraufführung Ende 1968 durch einen Polizeieinsatz vereitelt wurde und so den vielleicht größten Konzertskandal der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte verursachte, lange still war, sorgte wohl die Flüchtlingskrise im Mittelmeer in den letzten Jahren für eine gewisse Renaissance dieses echten Meisterwerks – bis hin zu szenischen Realisationen (Amsterdam, Berlin). Ende 2019 hatte SWR Classic eine Aufnahme aus der Elbphilharmonie (vom 15.–17. 11. 2017) mit dem kürzlich verstorbenen Dirigenten Peter Eötvös herausgebracht – siehe unsere Kritik mit ein paar näheren Infos zum Werk. Nun gibt es eine weitere – nur zwei Wochen ältere (!) – Einspielung, diesmal live aus dem Wiener Konzerthaus. Capriccio hätte mit dieser Veröffentlichung allerdings nicht sechs Jahre warten müssen: Die Aufführung mit dem ORF Radio-Symphonieorchester Wien unter Leitung von Cornelius Meister liegt auf demselben Niveau wie die des SWR Symphonieorchesters. Das fordert geradezu zum direkten Vergleich heraus. Die Erstaufnahme auf Deutsche Grammophon – der Mitschnitt der Generalprobe von 1968, dirigiert vom Komponisten – fällt nach Meinung des Rezensenten eigentlich in allen Belangen schwächer aus, bleibt als historisch ganz ungewöhnliches Dokument aber weiterhin interessant.

Die Akustik der Elbphilharmonie – sicher nicht jedermanns Sache – kommt Eötvös‘ Streben vor allem nach Durchsichtigkeit dieses riesig besetzten Oratoriums gut entgegen, was aufnahmetechnisch entsprechend eingefangen wurde. Das Wiener Konzerthaus hat bei etwas mehr Hall – wohl nicht zuletzt deswegen braucht Cornelius Meister auch ca. 4½ Minuten länger – gleichzeitig mehr Wärme. Dies kommt gerade den Chören der Lebenden zugute – die anfangs nur von Bläsern begleitet werden. Später wechseln sie ja – bis auf die dann solistisch agierenden 14 Überlebenden – ins von den Streichern dominierte Reich der Toten. Eine erstaunliche Transparenz wird jedoch gleichfalls in Wien erreicht. Die Dynamik über alles scheint dabei hier größer.

Meister zielt ganz bewusst auf Drama – das gelingt über weite Strecken. Die Bemerkung Christoph Bechers im ansonsten ordentlichen Booklet zum unmittelbaren Schluss des Werks, dass Meister sich hier dafür entschied, die ursprüngliche Version sogar zu verstärken, ist allerdings schlicht falsch: Tatsächlich lässt der Dirigent – ebenso wie Eötvös – nach Charons abschließenden Worten „Die Überlebenden aber kehrten in die Welt zurück[…], fiebernd, sie umzustürzen“ im Orchester Henzes Revision von 1990 spielen, wo der Schlagzeug-Rhythmus des „Ho-Ho-Ho-Tschi-Minh“-Protestrufs melodisch eindringlich umwölkt wird, letzteren zusätzlich noch vom Chor verbatim skandieren. Das steht so in keiner Partitur, sondern reflektiert anscheinend nur die Situation, dass Henze sich seinerzeit als Reaktion auf die gar nicht erst begonnene Uraufführung zusammen mit einigen Studenten auf dem Podium eben dazu hinreißen ließ. Musikalisch widersprüchlich: Die ursprüngliche Fassung enthält zwar nur besagten, reinen Schlagzeug-Rhythmus, wirkt jedoch insbesondere durch die – auch nicht notierte – Beschleunigung in Henzes eigener Einspielung brandgefährlich, wohingegen die revidierte Fassung fast als visionäre Apotheose aufgefasst werden könnte. Beides zugleich ist eher Murks.

Waren schon die Leistungen der Chöre in der SWR-Aufnahme grandios, legen in der Wiener Aufführung der Arnold Schoenberg Chor – unter der erprobten Einstudierung Erwin Ortners – und die Wiener Sängerknaben noch eins drauf. Präzision und Ausdrucksstärke gehen hier derart Hand in Hand, dass man nur andächtig staunen kann. Die Qualitäten der Orchester lassen sich hingegen nicht gegeneinander ausspielen, beide Male absolut überzeugend. Meister wagt es allerdings, viele Details ganz unverfroren naturalistisch zu verstehen: Oft hört man bei seiner Darbietung etwa wirklich Klänge, die unmittelbar das Meer assoziieren usw. Also auch hier noch Hans Werner Henze auf den Spuren Richard Strauss‘? Diesen Vergleich hat der Komponist bekanntlich verabscheut…

Ungeachtet, wie die Rolle des Sprechers/Charons (Sven-Eric Bechtolf) live eingepegelt gewesen sein mag: In der Aufnahme gerät sie mir jedenfalls künstlich viel zu sehr in den Vordergrund. Bechtolf ist abgesehen davon o. k., kommt aber nicht wirklich an Peter Stein heran. Sarah Wegener als La Mort singt stimmlich ausgezeichnet, erscheint allerdings emotional blasser als Camilla Nylund. Dafür begeistert Dietrich Henschel in allen Belangen: Wärme, ergreifende Textausdeutung und intonatorische Treffsicherheit machen ihn zum bisher besten Jean-Charles auf Tonträgern. Dagegen wirkt Peter Schöne über Strecken fast zu artifiziell.

Muss man also eine der 2017er Aufnahmen klar vorziehen? Nein – aber Konkurrenz belebt nun hoffentlich auch für Henzes aufrüttelndes Oratorium das Geschäft. Mehr Dramatik, leichter Vorsprung für die Wiener Chöre und ein herausragender Dietrich Henschel bei Meister; mehr Analytik, stellenweise knackigere Tempi und ein beeindruckender Peter Stein bei Eötvös. Unter die Haut geht das in beiden Fällen und macht Cornelius Meisters Einspielung zumindest zu einer hochwertigen Alternative und unbedingt empfehlenswert.

Vergleichsaufnahmen: Camilla Nylund, Peter Schöne, Peter Stein, SWR Vokalensemble, WDR Rundfunkchor, Freiburger Domsingknaben, SWR Symphonieorchester, Peter Eötvös (SWR Classic SWR19082CD, 2017); Edda Moser, Dietrich Fischer-Dieskau, Charles Regnier, RIAS-Kammerchor, Chor & Orchester des NDR, Hans Werner Henze (Deutsche Grammophon 449 871-2, 1968)

[Martin Blaumeiser, 7. April 2024]

Wirkungsvoller Adès, problematischer Beethoven – Simon Rattle im Herkulessaal

Auch bei den Abo-Konzerten am 14. und 15. März 2024 im Münchner Herkulessaal erlebte das Publikum die Uraufführung eines Auftragswerks für das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks: Thomas Adès‘ „Aquifer“. Zuvor dirigierte Sir Simon Rattle „Vorspiel und Liebestod“ aus Richard Wagners „Tristan und Isolde“, nach der Pause dann Beethovens Symphonie Nr. 6. Der Rezensent besuchte die Aufführung am Donnerstag, 14. 3.

Thomas Adés und Sir Simon Rattle mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks © BR/Astrid Ackermann

Auf dem ziemlich engen Podium des Herkulessaals wirkt bereits die volle Orchesterbesetzung einer Wagner-Oper – in diesem Fall noch nicht mal des Rings – respekteinflößend, zumal wenn zusätzlich schon der ganze Schlagzeugapparat plus Konzertflügel etc. für eine Uraufführung bereitstehen. Und der Saal ist augenscheinlich komplett ausverkauft. Beim Programm dieses Abends scheint sich vieles um den Topos „Wasser“ zu drehen: In Wagners Tristan und Isolde spielt ja der komplette erste Aufzug auf dem Meer, und im dritten Akt beherrscht dessen Nähe psychologisch vor allem den unglücklichen Helden. In Beethovens Pastorale gibt es das anmutige Bächlein, aber ebenso ein beängstigendes Gewitter, und Aquifer, der Titel von Thomas Adès‘ neuem Orchesterwerk, bezeichnet in der Geologie eine Grundwasser führende Gesteinsschicht.

Simon Rattle beginnt beim Vorspiel und Liebestod aus Wagners Oper sehr langsam, steigert sukzessive mit der zunehmenden Komplexität der sich ineinander verzahnenden Motivik wohldosiert das Tempo, ist dann am Höhepunkt des Vorspiels – da vermisst man leider die zu verhalten gespielten Hörner, Bassklarinette und Violoncelli als echte Gegenstimme – angenehm flüssig. Zwingend gelingt auch der Aufbau von Isoldes Liebestod, jedoch mit britischem Understatement, das Wagners musikalischen Strukturen vertraut und nicht versucht, diese ohnehin dichte Gefühlswelt noch künstlich hochzupushen. Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks überzeugt hier klanglich in jedem Detail, mit der genau richtigen Balance für den Saal.

Thomas Adès (Jahrgang 1971) dirigierte im Herkulessaal zuletzt – Anfang 2020 – selbst sein Klavierkonzert, längst ein Erfolgsstück trotz einiger Eklektizismen. Sein viertelstündiges Auftragswerk fürs BRSO – mit Unterstützung der Carnegie Hall und des Wiener Musikvereins – knüpft qualitativ an die besten Orchesterwerke an, die er bislang geschrieben hat. Die Idee des Aquifers wird so vielmehr allgemeines Sinnbild für Werden und Vergehen als nur eine pittoreske Darstellung von fließendem Wasser, das mit Widerständen zu kämpfen hat. Adès kann hierbei einmal mehr seiner ganz besonderen Begabung gerade für dunkle Klangfarben frönen. Zu Beginn bewegt sich der junge Grundwasserlauf allerdings als quicklebendiger Schwall, mit glänzenden Bläser- und Schlagzeugeinwürfen, bevor er – Streicher auf Blech-Untergrund – bald ins Stocken gerät: ein, zwei Minuten ziemlicher Leerlauf mit eintönigen, chromatischen Abwärtsbewegungen meist nur innerhalb kleiner Terzen. Adès‘ Harmonik bleibt in weitgehend tonalen Rahmen, verzichtet zunächst völlig auf Mikrointervalle. Später – im Lauf einer grandiosen, wirkungsvollen Steigerung – erscheinen dann teils unisono bedrohlichere Wendungen in den Streichern, die mittels Glissandi auch mal um einen Viertelton „verrutschen“. Die rhythmischen Schichten werkeln dafür wie gewohnt komplexer: Erstaunlicherweise erhalten sie dabei für den Hörer ihren geradezu unwiderstehlich natürlichen Fluss, sind jedoch für den Dirigenten eine enorme Herausforderung, die Sir Simon selbstverständlich souverän meistert. Zuletzt scheint der Wasserlauf – mit recht traditionell anmutenden Fanfaren im Blech – seine Freiheit bis ans Tageslicht gefunden zu haben; was passt besser zu frischem Wasser als strahlendes C-Dur? Ganz am Schluss muss der einstige Schlagzeuger Rattle mit einer großen Ratsche (rattle) in der Rechten den gewaltigen Strom abwinken – netter Gag britischen Humors. Sicher kein Werk für die musica viva, aber einfach großartig, was vom Publikum ebenfalls begeistert honoriert wird.

Problematischer gerät dem BRSO diesmal Beethovens Pastorale. Rattle bleibt seinem Konzept, das u. a. auf extrem flexiblen, zugleich immer äußerst flüssigen Tempi basiert, und welches er seit seinen Aufnahmen mit den Wiener oder den Berliner Philharmonikern konsequent verinnerlicht hat, treu. Leider folgt ihm das Orchester von Beginn an nicht aufmerksam genug. So viel Geklappere, mangelnde Präzision im Zusammenspiel und stellenweise klangliche Mattigkeit bei einer Beethoven-Symphonie habe ich hier lange nicht mehr gehört. Liegt es daran, dass am Abend nach einer sicher anstrengenden Generalprobe leichte Ermüdungserscheinungen auftreten? Kaum ein Übergang gelingt perfekt – gerade im Kopfsatz. Schon beim minimalen Ritardando vor der Fermate im vierten Takt ist man sich uneins. Natürlich möchte Rattle das eigentliche Hauptzeitmaß erst im Tutti Takt 37 erreichen; dass er die Musiker zuvor jedoch regelrecht antreiben muss, ist vermutlich so nicht geplant. Dennoch bezaubern durchweg ordentliche Klangfarben; auch die im ersten Satz (Durchführung) mittels Ostinati erzeugten quasi Klangflächen sowie die des „Bächleins“ im Andante molto mosso stiften Atmosphäre und werden nie langweilig. Dort ist die synkopierte Holzbläsergrundierung erneut hörbar ungenau.

Richtig bei der Sache ist man dann erst im Lustigen Zusammensein der Landleute: Besonders stimmig wird es ab dem derberen Mittelteil im Zweier-Takt, und schon der Übergang zum Gewitter wirkt unheimlich. Das folgende Naturschauspiel ist an Intensität kaum zu überbieten, ohne an Klangkultur einzubüßen. Dem Finale fehlt es ein wenig an Aufrichtigkeit: Innige Dankbarkeit kann man hier jedenfalls nicht spüren. An einigen Stellen nimmt der Dirigent das eigentliche Hauptthema zugunsten des Hirtenmotivs zurück – unklar, warum. Immerhin endet das Ganze zumindest nachdenklich. Der Eindruck dieser Darbietung bleibt für den Rezensenten jedoch zwiespältig, obwohl sie im Saal wahre Beifallsstürme auslöst.

[Martin Blaumeiser, 16. März 2024]

Claudio Santoros Orchesterwerke der 1960er bergen Erstaunliches

Naxos 8.574410; EAN: 7 47313 44107 5

In der dritten Folge der entstehenden Gesamtaufnahme der Symphonien Claudio Santoros (1919–1989) widmet sich das Goiás Philharmonic Orchestra unter Neil Thomson endlich der Phase des brasilianischen Komponisten während der 1960er Jahre, wo er sich mit der europäischen Avantgarde auseinandersetzt. Neben der 8. Symphonie hören wir noch die Três Abstrações, die Interações Assintóticas sowie das während der Errichtung der Berliner Mauer in Ost-Berlin entstandene Cellokonzert mit der Solistin Marina Martins. Das als Zugabe konzipierte One Minute Play schließlich dauert tatsächlich nicht länger als der Titel nahelegt.

Das Orquestra Filarmônica de Goiás unter seinem britischen Chef Neil Thomson hatte sich in der ersten Folge der Symphonik Claudio Santoros (dort findet der Leser auch nähere Infos zum Werdegang des Komponisten) mit seiner quasi nationalistischen Schaffensphase befasst, auf der zweiten CD dann Beispiele des Spätwerks vorgestellt. Nun folgen auf der dritten Veröffentlichung konsequenterweise Stücke aus den 1960er Jahren, wo Santoro – konfrontiert mit den verschiedenen Strömungen der damaligen europäischen Avantgarde – wieder höchst eigenwillig und mit beeindruckenden Ergebnissen seinen persönlichen Weg findet.

Den Sommer 1961 verbrachte Santoro auf Einladung des Komponistenverbandes der DDR in Ost-Berlin, wo er ganz unmittelbar die unruhigen Zeiten während des Mauerbaus erlebte. Diese Eindrücke gingen offenkundig ins Cellokonzert mit ein, das im August begonnen und im Oktober vollendet wurde. Das gut halbstündige Werk ist das symphonischste aller Konzerte Santoros und verlangt von Solisten, die sich daran wagen, technisch wie emotional alles ab. Die brasilianische Cellistin Marina Martins kann hier völlig überzeugen: engagiert und spannungsvoll, ohne je zu überdrehen oder auch nur eine Sekunde zu langweilen. Wenn das Cello im gewaltigen, insgesamt jedoch verhaltenen Kopfsatz erst nach gut 5½ Minuten eintritt, gilt es, sofort die ungeheure Entwicklung der langen Solokadenz nachzuvollziehen. Danach wird es deutlich dramatischer, später im langsamen 2. Satz noch desolater. Erst im Finale bewegt sich das Stück in zunächst gewohnt konzertanten Gefilden, endet jedoch pessimistisch: tief berührend, vielleicht nicht ganz so genial wie Dutilleux‘ Tout un monde lointain…, zumindest auf ähnlich hohem Niveau. Warum gab’s da bisher keine Aufnahme?

Die 8. Symphonie von 1963 hat mit ihrer inhärenten Zwölftönigkeit – nicht durch äußerlich vorgegebene Reihen – einen Sonderstatus innerhalb Santoros Symphonik, auch weil erst wieder knapp 20 Jahre später die nächsten Gattungsbeiträge folgen. Das nur 15-minütige Stück erweist sich als hochexpressionistisch und integriert im Mittelsatz überraschend eine Mezzosopran-Vokalise – hier von Denise de Freitas ausdrucksvoll dargeboten. Nachdem die Militärjunta den Komponisten 1966 quasi aus der Heimat vertrieben hatte, führte ihn ein DAAD-Stipendium wieder nach Deutschland, diesmal in den Westen. Dort setzte er sich intensiv mit den aktuellen Avantgarde-Strömungen auseinander, nachdem seine frühe Begegnung mit der Schönbergschen Zwölftontechnik über Hans-Joachim Koellreutter eher in Ablehnung gemündet war. Die Três Abstrações (nur für Streicher, 1966) und die Interações Assintóticas (Paris, 1969) sind so lediglich unterschwellig vom Serialismus geprägt: Erstere experimentieren mehr mit Clustern, Glissandi und unkonventionellen Spieltechniken, letztere – erst 1976 in Bonn uraufgeführt – mit Vierteltönigkeit und Aleatorik – für den Rezensenten doch die interessantesten Entdeckungen. Manches mag hier an Penderecki oder Ligeti erinnern, ist aber durchaus originell. One Minute Play (1967), von vornherein als kurzes Zugabenstück gedacht, ist ein witziges moto perpetuo mit achtstimmigem Fugato.

Nun schon erwartungsgemäß gelingt dem – ich kann es nicht oft genug wiederholen – Weltklasse-Orchester aus der Zwei-Millionenstadt Goiânia wieder eine positive Überraschung nach der anderen. Neil Thomson weiß mit diesen – bis auf Interações Assintóticas – Ersteinspielungen völlig zu begeistern, was freilich nicht zuletzt am höchst abwechslungsreichen Repertoire liegt, dessen spezifische Anforderungen der Dirigent punktgenau umzusetzen versteht. Das musikalische und aufnahmetechnische Niveau sowie die immer höchst informativen Booklets der Naxos-Serie The Music of Brazil führen auch diesmal zu einer ausdrücklichen Empfehlung.

[Martin Blaumeiser, März 2023]

Musica viva: Bewegendes Bratschenkonzert von Gubaidulina und eine überzeugende Borboudakis-Uraufführung

Neben drei neuen Werken – „Mali svitac“ und „Čvor“ von Milica Djordjević sowie „sparks, waves and horizons“ von Minas Borboudakis als Uraufführung – spielte das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter der Leitung von Duncan Ward am 23. Februar 2024 im Münchner Herkulessaal noch Charles Ives‘ Klassiker „Central Park in the Dark“. Als eigentliches Hauptwerk erwies sich allerdings Sofia Gubaidulinas Konzert für Viola und Orchester mit dem überragenden Solisten Lawrence Power.

Lawrence Power spielt mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Leitung von Duncan Ward, Photo © Astrid Ackermann/BR

Wohl um das 150. Geburtsjahr – 2024 gibt es noch weit mehr Jubiläen als Bruckner und Schönberg – des Vaters der amerikanischen Neuen Musik zu feiern, hatte man an den Anfang des musica viva Konzerts letzten Freitag Charles Ives‘ (1874‒1954) Klassiker Central Park in the Dark von 1906 gesetzt: immer noch erstaunlich aktuell mit seiner Collage von zunächst Naturlauten (Streicher), die nach und nach von menschlichen Klängen überlagert werden. Schon hierbei zeigte der junge britische Dirigent Duncan Ward, dass er einen komplexen Apparat – mit Fernorchester – absolut im Griff halten und klanglich subtil steuern kann.

Hatte die aus Serbien stammende Komponistin Milica Djordjević (*1984) vor 1½ Jahren den Rezensenten noch mit Mit o ptici überzeugen können, war die Wirkung der beiden jeweils unter 6-minütigen nun dargebotenen Stücke eher blass. Mali svitac, žestoko ozaren i prestravljen nesnošljivom lepotom [Kleines Glühwürmchen, grell beleuchtet und erschrocken von unerträglicher Schönheit], 2023 für die Berliner Philharmoniker komponiert, bezieht sich neben Naturerfahrungen der Kindheit auch wieder auf Dichtung Miroslav Antićs. Die Streicher sind hochdifferenziert geteilt, flirrend bis ins Geräuschhafte; Schlagzeug, Kontrafagott etc. machen unten Dampf. Leider wurde es dann ganz schnell langweilig; über die Bedeutung der chromatischen, offenkundigen Mahler-Allusion im Blech [Trauermarsch der 5. Symphonie, Zif. 18] hätte man gerne mehr erfahren. Farbigkeit und Dichte täuschten nicht darüber hinweg, dass mangels Zeit für zwingende Entwicklung – maximal 5 Minuten waren hier Vorgabe – vieles arg gewollt erschien: trotzdem starker Beifall.

Obwohl durch einen schmerzlichen Krankenhausaufenthalt geprägt, ist Djordjevićs Knoten [Čvor] bei vielen Zuhörern überhaupt nicht geplatzt. Das streicherlose Ensemble erzeugt von Beginn an unentwegt vor allem Schalldruck: lautes Gerappel in Klavier und Schlagwerk. Das sollte sicher absichtsvoll nervig sein, gewissermaßen zeitlichen Stillstand symbolisieren; eine existentielle Bedrohung wurde dadurch jedoch keinesfalls erfahrbar – schwach.

Ganz andere Dimensionen eröffnete der schon lange in München tätige kretische Komponist Minas Borboudakis (*1974) in seinem 26-minütigen Stück sparks, waves and horizons. Mit nur 3-facher Bläserbesetzung, aber gewaltigem Schlagzeugapparat wurde hier die Figur der Welle formgebend. Plumpen Naturalismus vermeidet der ehemalige Schüler u. a. Wilfried Hillers dabei konsequent. Im Orchester hörte man sehr vielschichtige Klänge: spektral geprägte Klangflächen neben distinkten Einzelereignissen und sehr individuellen Instrumentationsideen an den Höhepunkten. Schöne, klare Effekte – besonders im Klavier und melodischem Schlagwerk –, nie zu viel gleichzeitig, sogar mal tonale Akkorde im Blech, vermittelten teils echte Dramatik. Dort, wo die Musik quasi „steht“, wurde es leider auch wieder ziemlich uninteressant – eher Flaute statt Funken. Das mit komplexen Mitteln – Loops, Polyrhythmik, „Morphing“ – bewirkte Auf und Ab schien letztlich doch recht vorhersehbar. Duncan Ward pinselte dies anfangs ziemlich trocken und steif, fast so eckig wie Stop-Motion-Animationen à la Ray Harryhausen, zeigte mit der linken Hand nur wenig. Vieles lief bei ihm über Grimassen – was indes erstaunlich präzise funktionierte. Dafür hörte er genau hin und reagierte extrem vorausschauend und umsichtig – das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks spielte erneut hochengagiert und in Top-Form. Insgesamt zweifellos eine gelungene Uraufführung, die entsprechend honoriert wurde.

Der Höhepunkt des Abends war allerdings dann ganz klar das über eine halbe Stunde währende Bratschenkonzert (1996) von Altmeisterin Sofia Gubaidulina (*1931), sensationell vorgetragen vom Briten Lawrence Power, der von Beginn an nicht nur mit enormer Klangfülle, sondern zudem mit einem schon akustisch ungewöhnlich tragfähigen Instrument aufwarten konnte. Gubaidulina hat den Solopart 2015 gründlich revidiert; vieles ist nun nochmals differenzierter, teils zugleich roher als in der Fassung für Yuri Bashmet. Power – der in der anstrengenden Partie viele Soli zu gestalten hat – agierte sowohl sensibel als auch äußerst kratzbürstig, oft unzähmbar wie ein Wespennest, wo es die Partitur fordert. Solist und Orchester finden in diesem Werk kaum das Miteinander – zwei Welten stehen sich unvereinbar gegenüber, höchstens mal vermittelt durch ein um einen Halbton tiefer gestimmtes Streichquartett innerhalb des Ensembles. Und wie unheimlich wirkten hier die nach einem Drittel zum Einsatz kommenden Wagner-Tuben, gerade im Unisono! Derartige musikalische Zeichen klappen emotional halt punktgenau. Ward dirigierte nun weitaus elastischer als zuvor. Das zutiefst beeindruckende Konzert lag offensichtlich allen Beteiligten – am Schluss nicht enden wollender Applaus, jedoch keine Zugabe. Was soll man solchen Gänsehaut-Momenten auch noch hinzufügen?

[Martin Blaumeiser, 25. Februar 2024]