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Roland Leistner-Mayer – eine Würdigung zu seinem 80. Geburtstag

Roland Leistner-Mayer, der am 20. Februar sein 80. Lebensjahr vollendet, kann mittlerweile auf ein Schaffen von 159 Opuszahlen zurückblicken, hinter denen sich Werke unterschiedlichster Gattungen und Besetzungen, von einminütigen Miniaturen für Soloinstrumente bis zur abendfüllenden Chorsymphonie, verbergen. So vielgestaltig dieses Gesamtwerk ist, eines bleibt in ihm immer konstant: die hohe Qualität der Kompositionen. Man kann sich ein beliebiges Stück Leistner-Mayers heraussuchen, und man wird auf ein Meisterwerk stoßen, auf eine mit echter Hingabe geschaffene Arbeit, in welcher der Komponist hinter jedem Ton steht, den er geschrieben hat. Kurz vor Eintritt in sein neuntes Lebensjahrzehnt hat Leistner-Mayer mit seinem Streichquartett Nr. 8 aufs schönste bestätigt, dass er zu den schätzenswertesten Tondichtern unserer Zeit gehört. Das Werk wurde am 27. Januar 2025 durch das Sojka-Quartett Pilsen im Jüdischen Gemeindezentrum Regensburg uraufgeführt und am folgenden Tag im Sudetendeutschen Haus in München ein zweites Mal gespielt. Dort hörte es der Komponist zum ersten Mal.

Roland Leistner-Mayer studierte in München bei Harald Genzmer und Günter Bialas, ohne dass einer dieser Lehrer einen nachhaltigen Einfluss auf ihn ausübte. Eine gewisse Nähe zu Bialas lässt sich in seinem Frühwerk wohl feststellen, doch wurde sein Kompositionsstil schließlich durch ganz andere Eindrücke entscheidend geprägt. Kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs im böhmischen Graslitz an der Grenze zu Sachsen geboren (heute Kraslice in Tschechien), hatte Leistner-Mayer die Heimat seiner Eltern bereits als Kleinkind verlassen müssen. Tschechien wurde für ihn zu einem Sehnsuchtsort, den zu bereisen ihm erst als Erwachsener möglich war. Er lernte die Musik Leoš Janáčeks kennen, die ihn mit elementarer Kraft in ihren Bann zog und seitdem nicht mehr losgelassen hat. „Wahrheit“ lautet das Wort, mit dem Leistner-Mayer auf die Frage antwortet, was ihm Janáček bedeute. Stets skeptisch gegenüber vorgefertigten Kompositionssystemen und der Idee, der Wert eines musikalischen Werkes lasse sich an seinem „Materialstand“ ablesen, fand Leistner-Mayer in Janáček den künstlerischen Rückhalt, der ihm den endgültigen Durchbruch zu seinem persönlichen Idiom ermöglichte.

Leistner-Mayers Musik lebt von der Einfachheit der tonalen Grundspannungen. Die Melodik basiert auf diatonischen Skalen, die aber selten reines Moll oder Dur sind und in der Regel durch modale Wendungen, häufig phrygische, angereichert werden. Von demonstrativer Handwerkskontrapunktik, hat Leistner-Mayer stets Abstand gehalten, dennoch ist er ein polyphon denkender Komponist, für den sich die Harmonik aus dem Aufeinandertreffen der Stimmen, nicht aus einem System von Akkordfunktionen, ergibt. Seine dissonanten Akkorde erhalten ihre Wucht dadurch, dass sich in ihnen lineare Bewegungen der Stimmen zum gleichzeitigen Erklingen zusammenballen. Der „eingefrorene Vorhalt“ ist fester Bestandteil seines Stiles. An eine Haupttonart fühlt sich Leistner-Mayer häufig nicht gebunden. Es gibt Stücke, die tonal zu ihrem Ausgangspunkt zurückfinden – so kann die Zweite Symphonie als Werk in as-Moll, das Zweite Streichtrio als in d-Moll stehend gelten –, doch meist wechselt das tonale Zentrum im Verlauf des Werkes. Diesen Prozessen hat Leistner-Mayer viel Aufmerksamkeit gewidmet und jedem seiner großen, zyklischen Werke diesbezüglich ein individuelles Erscheinungsbild gegeben. So wird etwa im Siebten Streichquartett eine gewisse Geschlossenheit erzielt, indem beide Ecksätze in Fis schließen. Das Werk beginnt allerdings in C. Eine weitere Spezialität Leistner-Mayers besteht darin, Tonarten anzudeuten, ohne dass sich die Musik entscheidet. Der Kopfsatz des Zweiten Streichquartetts schwankt zwischen G und Es, wobei sich im Es-Bereich Dur und Moll mischen. Zwar wird G anfangs von Es nach wenigen Takten verdrängt, doch schließt der Satz letztlich in G.

Die spezifische Art der Harmonik Leistner-Mayers lässt seine Musik einerseits fest, hart und entschlossen klingen, doch ist dem immer ein melancholischer Gegensatz beigemischt. Sehr deutlich zutage treten die zwei Seiten seines Wesens in dem Streichquartett Nr. 6, das aus Sieben untapferen Bagatellen besteht. In diesen kurzen Sätzen münden kraftvolle Klänge regelmäßig in Zweifel und Unentschiedenheit. Hier findet sich eine künstlerische Gestaltung des Scheiterns, wie sie nur ein großer Formkünstler unternehmen kann. Dass Leistner-Mayer im Übrigen die Kunst, ein Werk zum Ende hin energisch zu steigern, glänzend beherrscht, hat er in zahlreichen seiner Finalsätze eindrucksvoll bewiesen. Überhaupt ist er ein Meister des Allegros, wie sie heutzutage selten sind. Er schreibt Musik, die sich – in schnellen wie in langsamen Tempi und häufig unter Verwendung unregelmäßiger Metren und Rhythmen – tatsächlich bewegt und die immer eine nachvollziehbare Handlung besitzt. In diesem Sinne waltet in seinem Schaffen ein klassischer Geist.

Wie gesagt, umfasst Leistner-Mayers Schaffen Kompositionen zahlreicher Gattungen und Besetzungen. Mit seinen Werken für großes Orchester hat der Komponist weniger Erfolg gehabt als man angesichts ihres offenkundigen Wertes glauben möchte. Zwar existieren Rundfunkproduktionen seiner drei Symphonien, aber keines dieser Werke hat in den letzten 30 Jahren eine weitere Aufführung erlebt. Die Dirigenten und Konzertveranstalter, die diese Zeilen hier lesen, seien deshalb ausdrücklich auf Leistner-Mayers symphonisches Schaffen aufmerksam gemacht. Die ersten beiden Symphonien sind rein instrumentale Stücke von jeweils etwa 23 Minuten Spieldauer. Die Erste op. 14 (1975) besteht aus einem großen Satz, in welchem deklamatorische Themen mehrfach zu heftigen Ausbrüchen gesteigert werden. Die Zweite op. 31 (1984) ist zweisätzig. Nach einem forsch vorandrängenden Kopfsatz beginnt der zweite Satz zunächst langsam, lässt aber dann einen lebhaften Schlussteil folgen, der die Klänge des ersten Satzes aufgreift. Was die Behandlung des Orchesters betrifft, zieht Leistner-Mayer den schroffen Kontrast dem geschmeidigen Mischklang vor. Die Dritte Symphonie op. 81 (1994) kommt als Werk für Sopran- und Bariton-Solo, Chor und Orchester (mit einem prominenten Altsaxophon-Solo, geschrieben für den großen Saxophonisten John-Edward Kelly) einem Oratorium nahe. Auf einen Text Rudolf Mayer-Freiwaldaus komponiert, trägt sie den Titel Das weiße Requiem. Die Farbe weiß symbolisiert dabei die Sphäre der Seligen, mit deren Tanz – im Kontrast zum eröffnenden schwarzen Tanz des Todes – das achtsätzige Werk nach etwa 70 Minuten schließt. Die Vokalstimmen, die im Laufe der Handlung die Toten, die Diesseitigen, die Überirdischen, die Überlebenden und die Seligen verkörpern, sind durchweg präsent, dennoch ist der Stil der Komposition, ähnlich anderen großen Chorsymphonien wie Schostakowitschs Dreizehnter, Petterssons Zwölfter oder Eliassons Quo Vadis, mit denen Leistner-Mayers Werk die Gegenüberstellung nicht zu scheuen braucht, echt symphonisch. Es gibt übrigens mit der Musik für Kontrabass und Orchester op. 38 und dem Konzert für Flöte, Harfe und Streichorchester op. 137 zwei gewichtige Kompositionen Leistner-Mayers, die noch ihrer Uraufführung harren. Welche Musiker möchten sich die Ehre erwerben?

Am stärksten im Schaffen des Komponisten vertreten ist die Kammermusik. Die Vielfalt der Kombinationen, für die Leistner-Mayer geschrieben hat, ist kaum zu überblicken. So hat er mittlerweile acht Streichquartette, drei Streichtrios, ein Nonett für Bläser und Streicher, jeweils ein Quintett für Klavier, Gitarre, Klarinette und Streichquartett, ein Bläserquintett, ein Flötenquartett, ein Quartett für vier Hörner, verschiedene Trios für Klavier in Kombination mit Streichern und/oder Bläsern komponiert. Unter den Duos finden sich große Sonaten für Violine, Viola, Violoncello, Kontrabass, Klarinette, jeweils mit Klavier. Dazu kommen unzählige kleinere Werke vom Solo bis zum Quartett. Eine gesonderte Gruppe stellen die bislang zehn Poeme dar, kleine Tondichtungen in freier Form für verschiedene Besetzungen. Mit Ausnahme von Nr. 10, die für Violine, Horn und Klavier geschrieben ist, handelt es sich um Duos. Im siebten und achten dieser Stücke ist das Hackbrett zu hören. Mit diesem Instrument verbindet Leistner-Mayer, der mit der Hackbrett-Virtuosin Heidi Ilgenfritz verheiratet ist, eine besondere Beziehung. Für seine Frau hat er eine ganze Hackbrett-Literatur verfasst: Solostücke, Duos für zwei Hackbretter, Kammermusik für ein, zwei oder vier Hackbretter mit anderen Instrumenten, sowie ein Konzert für Hackbrett und Streichorchester. Jedes dieser Werke beweist, dass das Hackbrett ein vollwertiges Konzertinstrument ist, dessen klangliches Potential in hochpoetischer Musik trefflich entfaltet werden kann.

Von zahlreichen kammermusikalisch oder kammerorchestral besetzten Werken Leistner-Mayers liegen CD-Aufnahmen vor, von denen die meisten beim Verlag Vogt & Fritz erschienen sind, der auch den Großteil seiner Partituren veröffentlicht hat. Sie sind entweder vom Verlag oder beim Komponisten selbst zu beziehen. In den vergangenen Jahren hat auch TYXart drei CDs mit Kammermusik Leistner-Mayers herausgebracht. Die erste ist ganz seinem Schaffen gewidmet und enthält die Streichquartette Nr. 5–7, gespielt vom Sojka-Quartett. Die beiden anderen kombinieren jeweils eines seiner Werke mit Stücken anderer Komponisten. So sind auf dem Album des Duos Maiss-You (Burkhard Maiss, Violine und Viola, und Ji-Yeoun You, Klavier) neben Leistner-Mayers Sonate für Viola und Klavier noch Violinsonaten von Béla Bartók (Nr. 2) und Leoš Janáček zu hören. Das Deutsche Streichtrio präsentiert als Streichtrios aus Böhmen Leistner-Mayers Streichtrio Nr. 3 gemeinsam mit dem Trio Nr. 2 von Bohuslav Martinů und stellt diesen beiden modernen Stücken Trios aus dem 18. Jahrhundert von Johann Baptist Vanhal und Vaclav Pichl gegenüber. Alle drei Alben sind nicht nur dazu geeignet, den Kompositionen Leistner-Mayers, sondern auch den anderen Werken Freunde hinzuzugewinnen, und können wärmstens empfohlen werden.

Wenige Tage vor seinem 80. Geburtstag ist nun Leistner-Mayers jüngstes Werk in die Öffentlichkeit getreten, das Streichquartett Nr. 8 op. 159. Wie man aus einer Notiz des Komponisten im Programmheft der Münchner Aufführung vom 28. Januar erfahren konnte, nennt er es Das Wirbelquartett. Der Titel greift die Bemerkung eines ungenannten Komponistenkollegen auf, der meinte, im Finalsatz des Werkes würden die Taktarten „ganz schön durcheinander wirbeln“, denn jeder Takt steht in einer anderen. Mit etwa 35 Minuten Spieldauer ist das viersätzige Werk nicht nur das bislang umfangreichste Streichquartett Leistner-Mayers, sondern auch eines seiner ausgedehntesten zyklischen Werke überhaupt. (Die meisten sonatenartigen Stücke des Komponisten dauern zwischen 15 und 30 Minuten. Die Dritte Symphonie ist eine Ausnahme.) Der äußeren Ausdehnung entspricht das innere Gewicht des Quartetts. Der erste Satz ist ein unruhiges, nervös gespanntes Stück, das ständig zwischen langsamen und raschen Tempi hin und her wechselt. Ihm schließt sich ein Scherzo feurig-tänzerischen Charakters an. Der langsame Satz schlägt in der Stimmung die Brücke zum den Kopfsatz. Ungefähr die Mitte zwischen einer Elegie und einem Trauermarsch haltend, steigert er sich zu einem machtvollen Höhepunkt und verklingt schließlich still. Das bereits erwähnte „Wirbel“-Finale bildet den Abschluss: ein energisch voran stürmender Satz, der Leistner-Mayers Fähigkeit, auch bei ständig wechselnden Takten die Musik in Fluss und Schwung zu halten, das beste Zeugnis ausstellt. Dem Sojka-Quartett (Martin Kos, Martin Kaplan, Tomáš Hanousek und Hana Vítková), das in dem zuvor gespielten Beethoven-Quartett op. 18/4 etwas schwächelte, namentlich im zu rasch genommenen Finale, gelang in diesem Werk eine Darbietung, die von den Qualitäten der Komposition vollends überzeugen konnte. Ist es vermessen zu hoffen, dass auch dieses neueste Streichquartett von Roland Leistner-Mayer bald in einer angemessenen Wiedergabe den Weg auf den Tonträger finden möge? Quartett-Ensembles, die nach guter zeitgenössischer Musik für ihre Konzerte suchen, sollten jedenfalls nicht an ihm vorüber gehen. Erschienen ist es bei edition 49, über welchen Verlag mittlerweile auch die bei Vogt & Fritz publizierten Werke zu beziehen sind.

Dem Komponisten sei zu seinem bald anstehenden 80. Geburtstag gewünscht, dass ihm seine kräftig fließende Inspiration möglichst lange erhalten bleibe, auf dass er der stattlichen Reihe seiner Werke noch zahlreiche Meisterstücke hinzufügen kann. Seine Musik, die sich nie der Mode gebeugt hat und Ausdruck einer leidenschaftlichen, empfindsamen Seele ist, wird schwerlich veralten können und – die Prognose möchte ich wagen – in ferner Zukunft noch so frisch und unverbraucht dastehen wie heute die Musik seines Vorbilds Janáček. Die Musiker brauchen nur hineinzugreifen in diese Fülle.

[Norbert Florian Schuck, Februar 2025]

Die Kunst der Reduktion: Zauberhafte Miniaturen von Steffen Wolf

TYXart TXA21160 EAN: 4 250702 801603

Sechs Zyklen, bestehend aus insgesamt 51 Miniaturen, vereint die Kammermusik-CD „Essais musicaux“ mit Musik des in Hamburg lebenden Komponisten Steffen Wolf (Jahrgang 1971): Die titelgebenden Essais musicaux I(„To quiet the mind“) und II („Abbaye Saint-Philibert“) für Violine bzw. Klarinette und Klavier, „Im Zeichen der Kastanie“ (Violine solo), „Kreise“ (Klarinette solo) sowie die Klavierzyklen „Als Kind“ und „So listen to my lullaby, you knights and ladies fine“ (zu vier Händen). Die Interpreten sind Ewelina Nowicka (Violine), Pamela Coats (Klarinette), Jennifer Hymer und Michi Komoto (Klavier) sowie der Komponist als Sprecher.

Der wohl im südlichen Niedersachsen (?) aufgewachsene, nun in Hamburg ansässige Sänger und Komponist Steffen Wolf (*1971), hält sich mit Informationen über seine Vita erstaunlich bedeckt, selbst auf seiner eigenen Website: überall stets die fast im Wortlaut identischen, mehr als spärlichen Angaben. Offenkundig interessiert ihn beim Komponieren mehr als nur die reine Musik, vielmehr eine Verbindung zu Malerei, Architektur, Literatur und Philosophie, was auch in den vorliegenden sechs Zyklen mit insgesamt 51 Miniaturen seinen Niederschlag erfährt. Die Besetzung geht von solistischen Werken – Im Zeichen der Kastanie (Violine), Kreise (Klarinette) sowie dem Klavierzyklus Als Kind – über So listen to my lullaby, you knights and ladies fine (Klavier vierhändig) bis zu den für die CD titelgebenden Essai musical I („To quiet the mind“) und Essai musical II („Abbaye Saint-Philibert“) für Violine bzw. Klarinette und Klavier.

Die kurzen, emotional fein dosierten Stücke wollen nicht die jeweiligen Inspirationsquellen „übersetzen“ oder gar illustrieren; es sind die inneren Bewegungsmomente des Komponisten bei diesen Kunstbegegnungen, die dem Hörer vermittelt werden. So vergleicht man den durch eine alte Fotografie – des Komponisten? – angeregten Zyklus Als Kind unweigerlich mit von der äußerlichen Anlage ähnlich scheinenden Werken, natürlich insbesondere Schumanns Kinderszenen. Gemeinsam mit diesen werden auch hier eben nicht konkrete Kindheitssituationen gleichsam geschildert, sondern eben aus der Sicht des Erwachsenen in die Gegenwart zurückgeholt und reflektiert. Jedoch ist Wolfs Rhetorik vorsichtiger und dabei noch reduzierter. Da Wolfs Harmonik nie tonal fundiert ist – sie schwankt zwischen eher weicher Atonalität und Polytonalität mit teils mehreren Zentraltönen – wirken die kurzen Blicke dieser Musik recht spontan, nicht „gewollt“ oder gar konstruiert. Das soll nicht heißen, dass es hier keine inneren musikalischen Zusammenhänge gäbe; dies aufzudecken bedürfte eingehenderer Analysen anhand des Notentexts. Michi Komoto spielt makellos, die schnelleren Abschnitte kommen teils etwas aufgesetzt herüber.

Wie diese oft zauberhafte, durchgehend sehr intime Musik – die daher überhaupt nicht in große Konzertsäle passt – wirkt, ist schwer zu beschreiben. Gemessen an der Kammermusik und den Liedern des frühen, expressionistischen Anton Webern mangelt es ihr an Direktheit, sie ist dafür deutlich zugänglicher. Dem vielleicht großartigsten lebenden Verfasser musikalischer Miniaturen, György Kurtág, ähnelt Wolfs Herangehensweise ebenso nur bedingt, da hier nicht ständig musikgeschichtliche Querverweise von der stillen Ausdruckskraft ablenken. Am gelungensten erscheinen dem Rezensenten in der Tat die beiden Essais musicaux: To quiet the mind nimmt Bezug auf einen Bilderzyklus von Carmen Hillers, Wolfs Gattin. Die den 7 Sätzen zugeordneten Kunstwerke sind im Booklet abgebildet. Die exzellente Violinistin Ewelina Nowicka – sie glänzte erst kürzlich auf einer fabelhaften CD mit konzertanten Werken verfolgter polnischer Komponisten – gestaltet die recht freien Assoziationen überzeugend empathisch und wird von Jennifer Hymer minutiös begleitet. Im Zeichen der Kastanie – hier wechseln ruhige und erregtere Abschnitte einander abbringt Nowicka kongenial auf den Punkt. Die kammermusikalisch sehr umtriebige Klarinettistin Pamela Coats spielt Abbaye Saint-Philibert – mit eingebauten Glockenassoziationen sowie einem Zitat Hildegard von Bingens – klanglich und dynamisch differenziert, aber setzt mehrfach auf einen leicht gockelhaften Klarinettensound, der Wolfs intimen Ansatz stellenweise konterkariert. In Kreise – die kurzen Haikus Kobayashi Issas werden vom Komponisten selbst mit etwas zu viel Hall dazu gesprochen – wirken die Tierschilderungen (Frosch und Hund) geradezu lächerlich.

Merkwürdig ist die Klangverteilung – die Mittellage des Flügels erscheint unterrepräsentiert – der beiden Spielerinnen in So listen to my lullaby, you knights and ladies fine, in der sich Steffen Wolf einmal mehr Christoph Martin Wielands Versdichtung Der Vogelsang widmet. Da, wo der Satz dichter wird, erreicht der Komponist beinahe ungewohnt orchestrale Fülle. Jedoch wirken gerade in den von der Faktur eher schlichteren Abschnitten Primo und Secondo eher als Antipoden als klanglich zu verschmelzen, was sich nicht nach Absicht anhört. Aufnahmetechnisch hat man offenkundig versucht, diesem Manko (?) mit Hall entgegenzuwirken, sonst vermögen die Einspielungen den intimen Charakter von Wolfs Musik durchaus zu transportieren. Insgesamt eine außergewöhnliche Hörerfahrung, auf die sich einzulassen lohnt, wenn man dafür tunlichst immer nur einen der sechs Zyklen konzentriert genießt, keinesfalls die komplette CD am Stück.

[Martin Blaumeiser, Juni 2024]

Der Wandel als Markenzeichen

TYXart, TXA19130; EAN: 4 250702 801306

Das Duo Maiss You spielt die Violinsonaten von Leoš Janáček und Béla Bartók (Nr. 2 Sz 76) und stellt sie neben ein Werk eines zeitgenössischen Komponisten: Roland Leistner-Mayer: Von diesem erklingt die Bratschensonate op. 156. Diesen Wechsel zwischen Musik für Violine und für Viola macht sich das Duo zum Markenzeichen, so changierte Burkhard Maiss auch im Debutalbum (Schumann, Brahms) zwischen den beiden Instrumenten.

Nach ihrem hochromantischen Debutalbum geht das Duo Maiss You nun über zur Musik des frühen 20. Jahrhunderts und widmet sich den Violinsonaten von Leoš Janáček und Béla Bartók: während Bartók mittlerweile zum Standardrepertoire gehört, kommt die viersätzige Sonate von Janáček kaum zu Gehör [frisch erschien sie mit Augustin Hadelich und Charles Owen: zur Rezension]. Die Sonaten fügen sich im Programm wunderbar zusammen, leben sie doch beide von den selben Charakteristika, die sie jeweils auf ureigene Weise umsetzen: hinreißende Melodien, abrupte bis ruppige Wechsel, harmonisch vagierende Akkordverläufe und ein Gespür für Proportion. Gefühl spielt für beide Werke eine größere Rolle als das tatsächliche Verständnis – wenngleich natürlich beide Komponisten genau wussten, was sie taten. Zwischen ihnen passt sich ideal die Bratschensonate op. 156 von Roland Leistner-Mayer ein, die klanglich ebenso in die Zeit der beiden Violinsonaten passen könnte. Leistner-Mayer kehrte sich früh von den Avantgardeströmungen ab und ging dazu über, traditionellere Formen individuell aufzuarbeiten und auf seine Vorstellungen zu personalisieren. In seiner Musik nimmt die Melodie den höchsten Stellenwert ein; sie wandelt durch harmonisch eindeutig bestimmbare, nicht aber der klassischen Harmonielehre folgenden Akkordfelder; das Prinzip beschreibt er selbst als „freitonale Funktionalität“.

Das Duo Maiss You scheint nach ihrem Debutalbum beinahe noch dichter aneinandergewachsen zu sein und spielt vollständig aus einem Atem und einer Intention heraus. Gerade bei Janáček wird dies ersichtlich, der rhythmisch vertrackt das Zusammenspiel auf eine harte Probe stellt. Die Musiker spannen große Bögen, finden sich also bestens zurecht in den oft weitschweifenden bis gar abstrakten Verläufen dieser Musik; ebenso gelingen abenteuerliche Brüche mit fanatischen Ausbrüchen, sofern es die Musik vorschreibt. Die Harmoniemodelle werden am Klavier plastisch erkennbar und verständlich, Ju-Yeoun You differenziert die einzelnen Schichten klar aus und kann besonders durch eine breite Palette an Piano-Schattierungen brillieren. Ihr Forte kracht nicht, sondern schwingt voluminös als ideale Basis für das Streichinstrument. Burkhard Maiss meistert Violine und Bratsche gleichermaßen, passt sich den individuellen Gegebenheiten der beiden Instrumenten an und zieht sogar aus den Vorteilen des einen Erkenntnisse für das andere: so erhält die Violine mehr von dem runden, weichen Klang der Viola, umgeht so die dem Instrument innewohnende scharfe Kantigkeit; dafür darf sich die Bratsche mehr Glanz und Brillanz erfreuen. Eine perfekte Symbiose zweier optisch ähnlicher, klanglich aber vollkommen unterschiedlicher Instrumente.

[Oliver Fraenzke, August 2020]

[Rezensionen im Vergleich] Authentische Melancholie

Roland Leistner-Mayer: Streichquartette Nr. 5 op. 147, Nr. 6 ‚Untapfere Bagatellen’ op. 148 & Nr. 7 op. 151 – Sojka Quartet
TyxArt CD TXA 17090; EAN: 4250702800903

Roland Leistner-Mayer, geboren im Februar 1945 zweieinhalb Monate vor Kriegsende im heute tschechischen Grenzort Graslitz im Vogtland und aufgewachsen bei Ingolstadt, studierte ab 1968 in München Komposition bei den lokalen Antipoden Harald Genzmer und Günter Bialas (Genzmer war der Statthalter der neusachlich-freitonalen Hindemith’schen Handwerkstradition, der einstige Max Trapp-Schüler Bialas hingegen bezog auch die freie Zwölftönigkeit in sein Schaffen ein und fürchtete den vielbeschworenen „Beifall von der falschen Seite“ – also von den Reaktionären – bis ans Ende seiner Tage). Zunächst fasziniert von den sensationellen Klangwirkungen der Avantgarde, entdeckte er Mitte der siebziger Jahre seine Liebe zu Leos Janácek (sein erstes Streichquartett ist eine Hommage an den böhmischen Meister) und wandte sich vom blinden Fortschrittsglauben, dem bis heute die meisten etablierten Tonsetzer seiner Generation anhängen, ab. Dies, seinem Gewissen wie seinem innersten Bedürfnis geschuldet, ruinierte allerdings seine Karriere nachhaltig. Fast alle Kritiker und Programmmacher, und auch viele charakter- und urteilsschwache Musiker, die immer zuerst nach rechts und links schauen, ob eine Kunstäußerung auch den allgemeinen Beifall der autorisierten Meinungsbildner erheischt, schließen aus Angst vor dem potenziellen Vorwurf, sie seien altmodischen Ködern auf den Leim gegangen, sowohl Sympathie als auch jegliche objektivierend offene Haltung gegenüber Abtrünnigen bis heute aus. Man könnte ja als „Reaktionär“ gebrandmarkt werden, was zwar harmloser als etwa der unabhängigen Freidenkern allgegenwärtig auflauernde Vorwurf des „Antisemitismus“ ist, aber doch den unsicheren Konjunkturzeitgenossen die Knie zittern lässt. Also gehen sie auf ‚Nummer sicher’ und nehmen lieber ein süßstoffhaltiges Schaumbad im ausrichtungslosen Allerlei der umherirrenden Postmoderne auf der unerfüllbaren Suche nach einer geilen Aufmerksamkeitsspritze – denn welcher seelisch korrupte Töneschmied träumte nicht klammheimlich davon, mal ähnlich skandalös ins Rampenlicht zu geraten wie einst Strawinsky oder Varèse. Auch wenn das Neue heute so ganz woanders liegt als auf der Linie des einst die Bürger dissonanzgeladen Erschreckenden.

Roland Leistner-Mayers Streichquartette Nr. 5-7 entstanden in den Jahren 2014-2016. Sie bestechen vor allem durch die eindringliche Fantasie und den seelischen Reichtum der Harmonien und harmonischen Bezüge. Melodisch liebt Leistner-Mayer narrativ mäandernde Energie, die lange zusammenhängende Stimmungsgebilde ermöglicht. In metrischer Hinsicht verfährt er so einfach wie unmissverständlich und zieht fast immer den Taktwechsel der auch möglichen Verschiebung der Betonung innerhalb des Metrums vor. Dies sorgt für ausgesprochene Prägnanz des Moments und verleiht der Musik eine holzschnittartige Wirkung, zumal auch sein – durchaus handwerklich geschliffener – Kontrapunkt auch eher gemeinsame als gegeneinander versetzte Knotenpunkte des energetischen Verlaufs aufweist. Am schönsten ist seine Musik in jenen langsamen Sätzen, wo er eine maximale Einfachheit zulässt, also auch mit dem Kontrapunktieren sehr sparsam verfährt, wie vor allem im herrlichen ‚Ricordanza’-Larghetto des siebensätzig programmatischen 6. Quartetts. Hier vermag er in der gesanglichen Direktheit der Empfindungsübertragung, fern jeglichen Anflugs von Prätention, den Hörer ganz unmittelbar zu berühren und zu rühren, und erzählt ihm eine so persönlich authentische wie melancholisch hinreißende Geschichte. Leistner-Mayer ist zutiefst Melancholiker, seine Musik spricht eine überwiegend introvertierte, wehmütige Sprache, auch wenn der Gegenpol des ländlich Bukolischen, durchaus auch hemdsärmelig Zupackenden, immer wieder zum Zuge kommt und einen ursprünglichen Humor offenbart. Das ist keine Musik für gebildete Lackaffen, sondern für alle, insofern sie es zulassen können, sich auch intensiv schwermütig anrühren zu lassen. Und Leistner-Mayers Musik ist sehr dramatisch und arbeitet mit klar konturierten Kontrasten, hat ihr charakteristisches Pathos. Hier spricht einer von dem, was er erlebt, und niemals von etwas, das er sich und anderen vorgaukeln würde. Mangel an Ehrlichkeit wird man hier so wenig finden wie die kosmopolitisch glatte Eleganz mancher ganz im Trend liegenden jüngeren Kollegen, und so sehr seine Musik aus der Tradition gewachsen und unverbrüchlich in ihr verankert ist, so wenig lässt er sich auf selbstverliebte Recyclingspielchen mit der Musikgeschichte ein, weder im post-adornitisch gebrochenen noch im neopopulär naivistischen Sinne. Leistner-Mayer schreibt nur das, was ihm wesentlich erscheint, und das spürt man. Wer das mag und sich darauf einlässt, kann eine wohltuende Einfachheit hinter allem expressiven Drängen spüren, und eben – bei aller Abwendung vom modeschmuckträchtigen Glamour – eine Ausgerichtetheit, die ihr Maß aus dem ganz eigenen Bezug zu den Erscheinungen bezieht. Sehr schön sind insbesondere auch die lang gedehnten Entwicklungszüge der beiden anspruchsvollen langsamen Sätze des 7. Quartetts.

Das Sojka Quartet lässt sich ‚mit Leib, Seele und Verstand’ auf diese Musik ein und bezaubert mit angemessener Echtheit des Ausdrucks, agiert auch in sehr heiklen Passagen mit kerniger Kraft und Selbstbewusstsein. Bezüglich der Tempi, zumal der Tempowechsel und vieler agogischer Details bin ich zwar oftmals nicht so glücklich, doch das ist auch ein sehr diffiziles Feld. Auch wird immer wieder der Pianissimo-Bereich hin zu einem bequemeren ‚Mezzo’ nivelliert, was die gesangliche Phrasierung zwar für den Moment vereinfacht, jedoch die formbildenden Gegensätzlichkeiten abschwächt. Aufnahmeklang und der makellos wesentliche Booklettext sind durchaus zufriedenstellend, wenngleich die Graphik nicht gerade Bestnoten für die Leserlichkeit verdient.

[Christoph Schlüren, Dezember 2017]

Beschaulichkeit und Meisterschaft

TYX art, TXA17097; EAN: 4 250702 800972

Eingerahmt von Bachs Französischen Suiten Nr. 5 G-Dur BWV 816 und Nr. 3 h-Moll BWV 814 spielt Alexandra eine Auswahl an Mazurken von Frédéric Chopin: Op. 6 Nr. 1, Op. 7 Nr. 2, Op. 17 Nr. 4, Op. 24 Nr. 2 und 4, Op. 50 Nr. 3, Op. 63 Nr. 3, Op. 67 Nr. 4 sowie Op. 2 und 4. Die CD erschien bei TYX Art.

Klarheit, Schlichtheit und absolute Formbeherrschung charakterisieren sowohl die beschaulichen und nicht zu unterschätzenden Französischen Suiten von Johann Sebastian Bach als auch die das polnische Nationalgefühl mit französischer Note einfangenden Mazurken von Frédéric Chopin. Wo den Fingern kaum eine übermäßige Aufgabe gestellt wird, ist der Geist gefragt, die kurzen Sätze und Tänze mit Bewusstsein und Verständnis zu erfüllen.

Alexandra Sostmann hat eine klare Vorstellung über das Konzept der Französischen Suiten und weiß, dieses auch verständlich zu vermitteln, was den Sätzen jene Geschlossenheit und Logik gibt, die der Pianist in ihnen entdecken muss, um sie zu erfassen. So gelungen das allgemeine Verständnis dieser Suiten ist, spielen kleine Unaufmerksamkeiten doch immer wieder gewaltig gegen den Strich und somit gegen die zusammenhängende Gestaltung: Regelmäßig brechen die Finger kurz aus und stören den Kontext, sei es durch immer wieder zu bemerkendes, unkorreliertes Schnellerwerden oder durch ungewollte dynamische Hervorhebungen beispielsweise von Trillern oder Verzierungen. Insgesamt ist allerdings die innere Ruhe und Luzidität der Darstellung bemerkenswert.

Es scheint ein gängiges Phänomen zu sein, was sich auch in dieser Aufnahme der Mazurken Chopins abzeichnet: Immer mehr Pianisten versuchen, in diese Werke alles nur Erdenkliche hineinzudeuten und ihnen die Anmutung ehrfurchtgebietender Monumentalität zu verleihen. Rubati und freie Tempi, verschliffene Rhythmen, große dynamische Kontraste und Ähnliches sollen eine persönliche Note hineinbringen. Und doch sind Mazurken im Kern immer noch Volkstänze, leicht und schlicht, absolut unprätentiös und unkompliziert. Es würde reichen, ihnen nur das allernötigste an Individualismen aufzuprägen, um diesen kleinen Perlen den vollen Glanz zu verleihen. Zu viel „überfrachtet“ die Tänze: Vernehmbare, doch subtile Kontraste und lediglich formuntergliedernde Ritardandi reichen vollkommen aus, die Mazurken zur angemessen sublimierten Stilisierung echter Volkstänze werden zu lassen.

[Oliver Fraenzke, September 2017]