Archiv für den Monat: Februar 2022

Mark Andre: Drei exemplarische Uraufführungen der musica viva auf CD

BR Klassik 900637; EAN: 4 035719 006377

BR Klassik hat in der Reihe musica viva drei Uraufführungen von Werken des Deutsch-Franzosen Mark Andre aus den Jahren 2017 und 2018 mitgeschnitten. iv 13 (Miniaturen für Streichquartett), iv 15 (Himmelfahrt) für Orgel und woher…wohin für Orchester. Es spielen das Arditti String Quartet, Stephan Heuberger (Orgel) sowie das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter der Leitung von Matthias Pintscher.

Die Musik des zunächst in Paris ausgebildeten, heute in Berlin lebenden Deutsch-Franzosen Mark Andre (Jahrgang 1964) hat in den letzten beiden Jahrzehnten zu einer ganz persönlichen und mittlerweile unverwechselbaren Klangsprache gefunden: Nur unter technischen Aspekten spürt man noch Einflüsse seiner Lehrer Claude Ballif und des Spektralisten Gérard Grisey. Stärker scheinen noch Eigenheiten durch, die Andre in den 1990ern bei Helmut Lachenmann perfektionieren durfte: höchste klangliche Differenzierung bei gleichzeitiger Reduktion bis an die Grenzen des Hörbaren sowie eine gewisse Vorliebe für starke Kontraste. Jedoch wurde Mark Andre – entgegen erster Befürchtungen des Rezensenten – keineswegs zum Epigonen von Lachenmanns Verweigerungsästhetik, die dort immer mit erheblichem Provokationspotential einherging. Andre zwingt sein Publikum zwar zu enormer Konzentration, öffnet aber gleichzeitig immer eine Tür zu metaphysischen und religiösen Sphären – auf beeindruckend zwingende Weise. Die drei auf der 37. Folge der „musica viva“ CD-Edition des BR vorgestellten Uraufführungen für ganz unterschiedliche Besetzungen belegen exemplarisch, wie stark Mark Andres Musik nun gereift ist.

Zwei der Stücke gehören zur mittlerweile 19teiligen Werkreihe »iv«, wobei das Kürzel für »introvertiert« steht. Die zwölf – sicher nicht zufällig wieder eine „heilige“ Zahl – Miniaturen (iv 13) für Streichquartett sind mit zusammen 24 Minuten jeweils deutlich länger als Anton Weberns epochale 6 Bagatellen op. 9 von 1911. Dennoch scheint ein Echo Weberns durch Andres Werk zu uns hinüber zu wehen. Die Spieltechniken – insbesondere verschiedenste Möglichkeiten der Dämpfung – sind penibelst notiert, dafür selten „normal“; die Grunddynamik ist extrem leise. Das Arditti Quartet ist bei solchen Herausforderungen natürlich in seinem Element, realisiert die Partitur präzise ohne bei den bewusst gesetzten Momenten des Verschwindens – ein zentrales Merkmal von Mark Andres Musik – jemals in ein Loch zu fallen: höchst beeindruckend!

Im Orgelstück Himmelfahrt (iv 15) gelingt Andre die Realisierung einer Ästhetik der Instabilität durch Techniken wie etwa das Ausschalten des Motors, wodurch der Winddruck nachlässt, und oft gleichzeitig stattfindende, originelle Registrierungen, die zu fast paradox erscheinenden Effekten führen können: „eine Präsenz des Göttlichen, die im Verschwinden erkannt wird und im Erkennen verschwindet“, wie es Christof Breitsamer in seinem Booklettext treffend beschreibt. Stephan Heuberger spielt auf dem Mitschnitt der Uraufführung der elektrischen Registrierfassung mit Verständnis und Hingabe – und es ist geradezu phänomenal, wie er überhaupt in der Lage ist, mit der äußerst kritischen Akustik der Pfarr- und Universitätskirche St. Ludwig in München zurechtzukommen: ohne die nun mehr als 20-jährige Erfahrung mit der dortigen Beckerath-Orgel von 1960 ein Ding der Unmöglichkeit. Auch der Tontechnik des SWR Experimentalstudios (Joachim Haas) muss man in diesem Zusammenhang größten Respekt zollen.

Höhepunkt der CD ist dann jedoch Andres Orchesterstück „woher…wohin“, das im Rahmen der Happy New Ears Preisverleihung der Hans und Gertrud Zender-Stiftung 2017 vom Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter dem sensationell mitreißend agierenden Matthias Pintscher im Herkulessaal dargeboten wurde. Das Werk bezieht sich auf das Johannes-Evangelium, Kap. 3, Vers 8: „Der Wind weht, wo er will; du hörst sein Brausen, weißt aber nicht, woher er kommt und wohin er geht. So ist es mit jedem, der aus dem Geist geboren ist.“ Hierzu sei auf meine Besprechung besagten Konzerts verwiesen, das hier vom BR – aufnahmetechnisch gleichermaßen perfekt – mitgeschnitten wurde. Die aufschlussreiche Zusammenstellung mit gutem, sich der jeweiligen Programmhefte bedienenden Booklet erscheint dem Rezensenten dann ebenfalls durchaus preiswürdig.

[Martin Blaumeiser, Februar 2022]

Die Überzeugung, dass Neues kommt

Ein Interview mit Susanna Klovsky und Martina Silvester vom Ensemble Clazzic

Das Ensemble Clazzic spielt mit Genregrenzen, bahnt sich im Dickicht unterschiedlichster Stile und Einflüsse einen ganz eigenen Weg, frei und eigenständig. Nach zwölf Jahren ihres Bestehens legten die vier Musiker nun ein Debut-Album vor, das vor sprühender Lebendigkeit nur so strotzt (Solo Musica SM 371). An einem spätherbstlichen Nachmittag Ende Oktober traf ich die beiden Gründungsmitglieder Susanna Klovsky und Martina Silvester zum Interview.

Oliver Fraenzke: Bei solch einer Musik, die zwischen allen Stühlen steht, muss ich natürlich zunächst fragen: Wie würdet Ihr den Stil Eures Ensembles beschreiben, wo positioniert Ihr Euch selbst?

Martina Silvester: Unseren Stil vergleiche ich gerne mit dem Bild eines Baums: Die Wurzeln befinden sich in der Klassik, und der Stamm auch noch. Darüber hinaus besitzen wir eine ganze Menge an Blättern und Blüten, die den Duft ganz anderer Genres verströmen. Prinzipiell sind wir für alles offen und das merkt man auch, so dass wir gerne Elemente beispielsweise des Jazz oder des Tangos aufgreifen – und mal sehen, was noch alles kommen wird! Das Wichtigste für uns ist, ein klassisches Ensemble zu sein, dass dann aber weitergeht und sich öffnet.
Susanna Klovsky: Was mir an unserem Ensemble so gut gefällt, ist, dass wir alle vier eine klassische Ausbildung durchlaufen haben, aber darüber hinaus vielseitig interessiert blieben. Unser Schlagzeuger beispielsweise hat unter anderem viel im Bereich Pop gewirkt, unser Bassist spielt in Balkan-Formationen mit deren ureigenen Rhythmuselementen, fühlt sich auch im Jazz beheimatet. Martina hat sich auch neben anderem mit dem Beatboxen auseinandergesetzt und ich habe in Latin Bands gespielt. Wir beide vertreten parallel zum Ensemble Clazzic auch ganz andere Konzepte, wo man prinzipiell über stilistische Tellerränder blicken muss. So kann jeder von sich Ideen einbringen. Wir gehen üblicherweise von einem Grund-Werk aus, das bereits so vorliegt und im Idealfall für uns komponiert wurde, und sehen dann, was sich daraus ergibt, was wir alles daraus machen können.

Oliver Fraenzke: Wie lief dies denn im Falle Eures Paradestücks ab, der Clazzic Suite?

Martina Silvester: The Clazzic Suite, die man auf unserer Debut-CD Intersec#ion hören kann, wurde extra für uns komponiert. Wir fragten den israelischen Komponisten Uri Brener, ob er solch eine Suite für uns schreiben würde und waren auch selbst am Kompositionsprozess beteiligt. Uri fragte dezidiert nach unseren Wünschen an das Werk und welche Musik wir gerne hören, hat uns damit das Werk förmlich auf den Leib geschrieben. Wir legten auch Wert darauf, dass jeder von uns einen eigenen Satz bekommt, was ja dann auch so geschah: Saltarello ist mehr der Schlagzeug-Satz, Funky Bird gehört dem Bass und hat ein großes, von Strawinskys Feuervogel abgeleitetes Solo, Susanna am Klavier darf in Amadevans an Mozarts A-Dur-Klaviersonate treten und Syrinxation kommt natürlich von Syrinx, einem Flötenwerk von Debussy. Der Bachsatz, Walking Bachwards, stammt von einer Gambensonate (ursprünglich für zwei Flöten) – diese habe ich mir gewünscht, weil ich diese Sonate so sehr liebe.

Oliver Fraenzke: Jede Epoche und Musikströmung bringt ja auch ganz eigene Techniken mit sich, was sich am Klavier beispielsweise durch die Anschlagsart abzeichnet, beim Gesang sogar durch ganz unterschiedliche Mundhaltung und Stimmfärbung. Wie geht Ihr auf Euren Instrumenten mit diesem Mix an Grundtechniken um; entlehnt Ihr Euch diese nach Bedarf aus den jeweiligen Stilen oder bleibt Ihr im Ursprung den klassischen Artikulationsweisen treu?

Susanna Klovsky: Es schadet nicht, die Stilistik der jeweiligen Strömungen zu kennen. In meinem Falle ist es so, dass mein Vater Jazzmusiker ist und ich so ganz natürlich auch mit deren besonderer Phrasierung und Artikulation in Berührung gekommen bin. Und immer, wenn ich dorthin kam, etwas in diesem Stilbereich zu spielen, sagte mein Vater mir, wie ich es zu phrasieren und artikulieren habe. Aber das wirkt für das Ensemble Clazzic eher im Unterbewusstsein, denn wir wollen uns nicht den Anstrich verpassen, Jazzmusiker zu sein: Das sind wir nicht! Man möchte zwar schon einer gewissen Phrasierung gerecht werden, die dem geforderten stilistischen Idiom entspricht, aber wir bleiben uns treu.
Martina Silvester: Das ist ein Credo: Wir bleiben uns treu. Was bei Susanna der Jazz ist, ist bei mir Bach: Ich studierte auch Traverso und weiß, wie man Bach „pur“ spielt. Das versuche ich auch in unseren Arrangements zu integrieren, aber nicht wortwörtlich, sondern angepasst, dass es wieder „unseres“ wird. Beim Spielen denken wir, so habe ich das Gefühl, gar nicht zu viel nach, was alles in uns verwurzelt ist und wie genau wir etwas umsetzen, das Gedankliche geschieht oftmals erst im Nachhinein. Im Zusammenspiel mit dem Ensemble bemerken wir dann auch eigene Grenzen und wollen uns dementsprechend fortbilden. Was Susanna nun im Jazzidiom bereits kannte, musste ich erst lernen, und nahm dann Unterricht in diesem Bereich bei einem Saxophonisten. Ebenso für Milonga: Hier lernte ich noch bei einer Tango-Flötistin, der Frau des Komponisten Exequiel Mantega. Und am Ende fließen unsere Vorzüge und alles Gelernte zusammen, münden dann in einem großen Ganzen, das uns ausmacht.

Oliver Fraenzke: Also kann der Prozess beim spielerischen Erkunden bis zur finalen Wiedergebe als natürliche Genese beschrieben werden, so dass am Ende die Intuition das Gelernte überlagert?

Susanna Klovsky: Es entsteht aus unserer Zusammenarbeit, besonders aus dem gegenseitigen Zuhören. Bei der Einstudierung hören wir beispielsweise, dass der Bass von Alex [Bayer] – der sich im Bereich Jazz ja zuhause fühlt – groovt und swingt. Das setzt eine Kommunikation in Gang, auf die wir reagieren. Man tüftelt, man probiert aus, man hinterfragt: Ist das der Weg, den wir gehen wollen? Obwohl es so klingt, möchten wir es vielleicht doch ganz anders machen? Das ist das Spannende daran, dass wir vier uns austauschen. Wir schauen, wie wir am besten zusammenkommen, dass es auch danach klingt.
Martina Silvester: Unsere Formation hat sich im Laufe der Zeit auch mal verändert; unser Schlagzeuger Thomas [Sporrer] kam als letztes hinzu. Er hat dann neue Facetten hineingebracht, sogar die Suite bereichert – dem Schlagzeugsatz viel größere Dimensionen verliehen, als vorgesehen war. Das hat uns dann erst zu dem Klang verholfen, den wir heute haben.
Susanna Klovsky: Darum heißt unser Album auch Intersec#ion, Schnittpunkte. Weil wir vier uns gerade hier in dieser Formation treffen und unsere jeweiligen Wurzeln und Kenntnisse zusammenführen. Wir kommen aus verschiedenen Richtungen, treffen uns im Hier und Jetzt, schauen dann, wo wir gemeinsam hingehen.

Oliver Fraenzke: Die Idee, verschiedene Stile zu vermengen, gibt es wohl schon seit Jahrhunderten, wobei natürlich die Entwicklung und vor allem Popularisierung von Musikwiedergabemedien Anfang des 20. Jahrhunderts einen gewaltigen Sprung mit sich führte: Denn plötzlich schwappte der Jazz auch nach Europa und viele Komponisten griffen ihn auf. Die Liste derer, die das in ihren Stil integrierten, was man als Jazz bezeichnete, ist lang, von Milhaud über Antheil zu Krenek, Schnabel etc. – und umgekehrt wollten Komponisten wie Gershwin und Ellington die klassische Welt erkunden. Dieser Austausch herrscht bis heute an, man denke allein an die Klazz Brothers oder Cuba Percussion, Joachim Horsley oder Ernán López-Nussa. Habt Ihr in diesem gewaltigen Kosmos konkrete Vorbilder oder eine Idiomatik, die Ihr weiterführen wollt?

Martina Silvester: Am Anfang, bevor es unser Ensemble Clazzic gab, habe ich mit Freude Ensembles wie die Klazz Brothers gehört und fand diese Stilvermengung immer cool. Ich sage nicht, dass ich so etwas einmal machen wollte, aber ich fand es äußerst erfrischend, weil es anders war als das, was man sonst kennt. Die Idee, mal raus zu kommen aus den Konventionen, das beflügelte uns natürlich. Kopieren wollten wir aber nie – immer unser Eigenes sein.
Susanna Klovsky: Wir begannen mit Suiten von Claude Bolling, die bereits damals auf Tonträger zu hören waren – so tasteten wir uns allmählich an die Stilvermengung heran. Aber schon da dachten wir uns, dass wir das noch aufbrechen und extremer machen müssten. Meine großen Vorbilder hier sind Michel Camilo und Chick Corea. Es gibt ja auch auskomponierte Teile bei ihnen und trotzdem klingt alles frisch und lebendig, alles brodelt.
Martina Silvester: Damit begann unsere Suche. Bei der Bolling-Suite kam Susanna plötzlich auf die Idee, dass man doch einen HipHop-Rhythmus daruntersetzen könnte. Daraus wurde „Bolling Reloaded“ – ich habe dann probiert, dazu ein wenig zu beatboxen.

Oliver Fraenzke: Das sind ja alles Sachen, die man zunächst beherrschen, also lernen muss. Mit den Grundelementen des Jazz sind die meisten klassischen Musiker durch die Musik des 20. Jahrhunderts zumindest rudimentär vertraut, aber HipHop liegt in einer ganz anderen Sphäre.

Susanna Klovsky: Für den HipHop-Part haben wir mit unserem Schlagzeuger wahnsinnig viel getüftelt, bis wir vom Ergebnis überzeugt waren. Andere sonst wenig vertretene Elemente lagen uns da deutlich näher, so beispielsweise der Salsa, denn früher habe ich viel in Salsa-Bands gespielt, so war mir das zumindest in Grundzügen vertraut. Daher wohl auch die Verbindung zum Latin Jazz mit Michel Camilo.

Oliver Fraenzke: Also begegneten Euch die meisten diese Elemente schon während Eurer Laufbahn?

Martina Silvester: Zu guten Teilen ja. Anderes wie das Beatboxen habe ich erst jetzt angefangen. Auch nehme ich nun Jazzunterricht, da ich einfach keine Jazz-Flötistin bin und da Nachholbedarf verspüre. Ich will und werde nie eine Jazz-Flötistin sein, habe auch beim Improvisieren einen ganz eigenen, eher aus der Klassik kommenden Stil, aber ich will es kennenlernen, die Theorie dahinter und einige Handgriffe verstehen.
Susanna Klovsky: Wir wollen den Fachleuten auch nichts vormachen: Wir sind wer wir sind. So werden Jazz-Puristen bei uns keine Freude haben, aber das ist okay, denn in dem Bereich gibt es genug großartige Musiker und Bands, da wollen wir uns nicht einmischen. Wir finden einen Haken für verschiedene Menschen, so erreichen wir viele, die wenig vertraut sind mit einigen der Genres, die wir verarbeiten. Es gibt genug reine Klassik-Hörer, die keinen Kontakt mit Jazz hatten, und unsere Konzerte großartig fanden; auch manche, die nie Bezug zur Klassik hatten, konnten wir ansprechen.
Aber natürlich, vieles kennen wir von früh auf, so hat mein Vater immer sehr produktive Tipps gegeben, wenn ich geübt habe, und hat auch unser Ensemble am Anfang gecoacht. Er hat uns sogar ein Stück geschrieben.

Oliver Fraenzke: Das kommt dann auf Eure zweite CD?

Martina Silvester: Ja, wir sind schon am Sammeln!

Oliver Fraenzke: Da hat Euch nun wohl das CD-Fieber gepackt! Intersec#ion ist ja Euer erstes Album, dabei existiert das Ensemble Clazzic seit zwölf Jahren. Wie kamt Ihr dazu, erst jetzt und genau jetzt ins Studio zu gehen?

Martina Silvester: Wir hatten einen langen Weg und zwischenzeitlich mit unterschiedlichen Bassisten und Schlagzeugern gespielt – nur Susanna und ich blieben uns von Anfang an treu. Wie gesagt begannen wir mit Bolling, ließen uns dann aber recht bald die Clazzic Suite schreiben. Die haben wir auch aufgeführt, dachten aber lange nicht daran, sie auf Tonträger festzuhalten.
Susanna Klovsky: Wir hatten verschiedene Mitmusiker, und manche stellten einfach fest, dass dies nicht die Richtung war, in die sie gehen wollten – was vollkommen in Ordnung ist, und sie sind dem Ensemble noch sehr lieb verbunden. Diese Suite zunächst so zu lernen, wie sie dort steht, das lag manchen nicht im Naturell. Bis man dann die für unseren Weg richtigen Leute findet, und sich dann ein Stil kristallisiert, mit dem wir so zufrieden waren, dass wir ihn festhalten wollten, das hat lange Zeit gedauert. Auch Corona war natürlich noch einmal ein großer Schlag.
Martina Silvester: Wir haben bei allem immer an unser Projekt geglaubt. Unsere Konzerte kamen von Anfang an gut an und wir alle hatten großen Spaß dabei. Doch natürlich musste man zunächst Worte finden, sich zu beschreiben, überhaupt an Veranstalter und zu Publikum zu kommen – auch den richtigen Moment zu finden. Wenn man nur liest, was wir machen, sagt das vermutlich den meisten nichts, deshalb haben wir nun die CD als klingende Visitenkarte, die zeigt, wie wir tönen.

Oliver Fraenzke: Im Kern der CD steht die Clazzic Suite. Nun habe ich ja bereits einiges von Eurer Musizierpraxis gehört: Klingt die Suite noch so, wie sie in der Partitur steht?

Susanna Klovsky: Nein, die Suite hat sich mit uns gewandelt. Wir haben einige der Rhythmen geändert und auch die Klangfarben; dann gibt es improvisierte Teile.

Oliver Fraenzke: Vorgegebene oder selbst eingefügte?

Martina Silvester: Beides. Manche schrieb Uri Brener vor, andere stammen von uns. In Syrinxation gab es eine Solostelle, wo ich zunächst alles wörtlich so spielte, wie es in den Noten stand – dann fragte ich aber Uri, ob ich nicht auch etwas Eigenes hinzufügen könnte, und er antwortete: „Super, noch viel besser!“ Ich glaube sogar, es entspricht seinen Vorstellungen, dass nun jeder von uns eigene Improvisationen einfließen lässt.
Susanna Klovsky: Die Suite wurde ja schon recht früh komponiert, und da wussten wir selbst noch nicht, in welche Richtung es uns treiben würde. Und das hat Uri gemerkt, der schließlich selbst ein Ensemble hat, wo er ähnliches tut – so war ihm klar, dass man so etwas nicht einfach schwarz auf weiß in Noten fassen kann, sondern Freiräume lassen muss, die wir im Laufe der Jahre füllen; oder uns eigene Freiräume schaffen.
Martina Silvester: Ich schickte ihm eine ganz frühe Aufnahme der Suite. Seiner Antwort zu Folge fand er es schön, aber – mit anderen Worten – noch recht brav gespielt. Als ich ihn dann in die CD reinhören ließ, war er begeistert: „Ja, das ist es!“

Oliver Fraenzke: Neben der Suite gibt es noch zwei Milongas auf der Platte. Nun ist das wieder ein anderer Fall, denn solch eine Tangomusik lässt sich schwieriger in Noten fassen als eine klassische Komposition.

Susanna Klovsky: Beim Tango ist die erste Frage stets: Wie instrumentiere ich ihn? Der Rhythmus ist ja festgelegt. Wir haben nun kein Tangoorchester, sondern sind mit vier Musikern eh recht reduziert. Beim Schlagzeuger würde man fragen, welche Instrumente er einsetzt. Die Cajon, die Thomas verwendet, hat eigentlich in der Milonga traditionell nichts zu suchen, fügt aber eine sehr schöne Klangfarbe hinzu. Und je nachdem, wie ich dann phrasiere, oder der Bassist Alex, ändert sich die Klangtextur, wird möglicherweise etwas schärfer als im Original. Für eine Tanzaufführung braucht es eine gewisse Kontinuität, damit die Tänzer darauf überhaupt tanzen können; wir können uns für eine Konzertaufführung mehr Freiheiten nehmen. So können wir an einer Stelle etwas akzentuierter spielen, fetziger, an anderer Stelle eher sentimentaler werden, als man es sonst machen würde.

Oliver Fraenzke: Sind die beiden Stücke auf Eurer CD dann noch Milonga geblieben?

Martina Silvester: Ja, auf jeden Fall. Wir sind jetzt nicht ein Schrecken von Komponisten geworden, dass wir alles möglichst anders machen. Wir wollen ja den Kern der Musik erkunden, und nicht zwanghaft Anders sein. Bei vielen aufgeschriebenen Milongas steht sogar das Wort „frei“ dezidiert in der Partitur.

Oliver Fraenzke: Wo wollt Ihr Eure Musik dann im Konzert positionieren: Konzertsaal oder Jazzclub?

Beide: Im Konzertsaal.
Susanna Klovsky: Wir sehen die Musik ganz eindeutig für den Saal. Glücklicherweise konnten wir uns mittlerweile auch einen Ruf aufbauen, sodass die Zeiten vorbei sind, wo niemand wusste, was wir machen, und wir nur Stand- oder gar elektronische Klaviere zur Verfügung hatten.
Martina Silvester: Wobei wir sogar schon in Jazzclubs gespielt haben. Am Bodensee traten wir einmal in einem Club auf, wo es wahnsinnig eng war, Susanna und ich dann Rücken an Rücken spielten, nur über einen Spiegel kommuniziert haben. Dennoch war es ein wahnsinnig schönes Konzert mit ganz eigener Stimmung. Auch wenn solch ein Ambiente nicht unserem Hauptidiom entspricht, bleiben wir da natürlich möglichst offen.

Oliver Fraenzke: Also Hauptsache akustisches Klavier.

Susanna Klovsky: Ja, diese Musik kann man einfach nicht auf einem E-Piano spielen, noch weniger auf einem Synthesizer. Da müsste man die gesamte Musik neu darauf auslegen, aber das wollen wir nicht.

Oliver Fraenzke: Und wie sieht es mit dem Bass aus?

Martina Silvester: Uri Brener hat tatsächlich überlegt, ob er Funky Bird für E-Bass konzipiert, und Alex könnte das ja auch spielen, aber wir kamen dann doch weg von dieser Idee.

Oliver Fraenzke: Beim Bass macht es aber mehr Sinn, denn auch der E-Bass hat noch echte Schwingungen, ist nur durch die Bünde und den elektronischen Klang gekennzeichnet.
Aber ist es nicht schwierig, einen Veranstalter zu finden, wenn man so wie Ihr zwischen den Stühlen steht?

Susanna Klovsky: Ja, gerade am Anfang. Veranstalter brauchen immer eine Kategorie, müssen einen in eine gewisse Schublade stecken – das war schwierig für uns. Dies wurde schließlich auch zu einem der Hauptgründe für unsere CD, denn wenn man uns hört, versteht man unsere Intention und kann uns einordnen. Aber glücklicherweise sprechen sich Auftritte schnell herum, und wenn man einen großen Auftritt hatte, bekommt man auch andere Aufträge.

Oliver Fraenzke: Und wie wird es weitergehen; folgt noch eine zweite Clazzic Suite?

Susanna Klovsky: Ich glaube, wir werden in andere Richtungen weitergehen. Diese eine Suite ist so stimmig, da brauchen wir gar keinen Nachfolger. Nun haben wir neue Ideen, es wartet schon einiges neues auf uns.

Oliver Fraenzke: Also gerade nun, wo Ihr eine Schiene gefunden habt, drängt es Euch schon weiter?

Susanna Klovsky: Genau. Es wäre schön, wenn wir uns stets selbst neu erfinden könnten! Zwar sehen wir es nicht als konkrete Aufgabe, Neues zu suchen, sind aber überzeugt, dass Neues kommt. Zumindest war es bisher immer so. Wir haben so verschiedene Einflüsse und machen so viele neue Erfahrungen, dass diese unweigerlich ins Ensemble (zurück-)fließen müssen.

[Oliver Fraenzke, Februar 2022]

Antonio Pappanos erster Auftritt in der Isarphilharmonie

Sir Antonio Pappano trat an drei Abenden (17.–19.2.2022) zum ersten Mal mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks in der neuen Isarphilharmonie auf. Auf dem Programm standen Dvořáks Othello-Ouvertüre op. 93, Liszts Klavierkonzert Nr. 1 Es-Dur mit Yuja Wang sowie Nielsens 4. Symphonie „Das Unauslöschliche“. Die Rezension bezieht sich auf das dritte Konzert vom Samstag, 19.2.2022.

Yuja Wang und Sir Antonio Pappano; Konzertfoto vom 17.2.2022 © Astrid Ackermann

Wohl aus organisatorischen Gründen hatte sich der Bayerische Rundfunk entschieden, nach einer erneuten, coronabedingten Zwangspause bis Ende Februar bei 50% Saalauslastung – erlaubt wären bereits 75% – zu bleiben. Unter dieser Prämisse schienen die Konzerte mit Antonio Pappano ihr Publikum gefunden zu haben – vielleicht gerade wegen der chinesischen Starpianistin Yuja Wang, die zwar in München schon öfter mit den Philharmonikern zu hören war, tatsächlich beim BRSO mit diesem Programm debütierte.

Der charmante, irgendwie immer noch jugendlich erscheinende Musikdirektor des Royal Opera House (Covent Garden) in London beginnt mit der mittlerweile selten aufgeführten, knapp viertelstündigen Konzertouvertüre Othello von Antonín Dvořák– nicht nur von der Länge her fast eine symphonische Dichtung. Pappano ist musikalisch ein Ästhet; handwerklich – auch er dirigiert neuerdings ohne Taktstock – sowieso. So erklingt bei ihm der Beginn weich und innig, dabei immer hochpräzise. Für den Rezensenten ist dies der zweite Besuch in der Isarphilharmonie – diesmal eher im Zentrum (Reihe 10) des Geschehens. Die Streicher wirken hier einerseits homogener, dabei zugleich körperlicher als am Rosenheimer Platz. Dass Solostellen ebenso unmittelbar ankommen, kann man später am Abend bei Nielsen hören. Dvořák hat den Bezug zum Shakespeare-Drama erst nachträglich gewählt; ursprünglich sollten die drei Ouvertüren opp. 91–93 eine Naturtrilogie bilden. Der Hörer darf daher keinerlei bildhafte Assoziationen, etwa zum Meer, Venedig oder dergleichen erwarten. Zum von den Holzbläsern herrlich vorgetragenen „Natur-Motiv“ stehen kontrastierend scharfkantige Streichereinwürfe für – hier durch Othello personifizierte – zerstörerische Kräfte, die dann das Hauptmotiv des Allegro con brio in Sonatenform generieren. Viele Ideen der Ouvertüre finden sich wenig später in der 9. Symphonie – so der Paukenwirbel unmittelbar vor dem schnellen Teil – und in Rusalka wieder. Die Steigerungswellen geraten Pappano stets sehr natürlich, durchaus energisch, aber eben ohne jeden zusätzlichen „Drücker“; beim fulminanten Schluss legt er nicht derartig den Turbo ein wie Kubelik in seiner Aufnahme. Dennoch dürfte die Dynamik gerade bei Decrescendi noch differenzierter sein.

Yuja Wang – heute im knallroten Kleid und nach der Laser-OP erstmals ohne Brille – spielt Franz Liszts Klavierkonzert Nr. 1 die ganze Zeit quasi mit geschlossenen Augen; ihrer perfekten Treffsicherheit tut das keinen Abbruch. Wie man mit derart hohen Pumps die Pedale so kultiviert bedienen kann, bleibt hingegen dem männlichen Publikum völlig schleierhaft. Mit ihren absolut überragenden technischen Fähigkeiten ist Liszt für die Pianistin kein großes Ding. Wie gestaltet sie nun dieses Standardkonzert? Dezidiert und mit geradezu männlicher Wucht und Riesen-Dynamik erscheint bereits die Fortsetzung des Hauptthemas wie ein direkter Schlagabtausch mit dem Orchester – den Wang bei seiner Wiederkehr vor dem Allegro marziale animato nochmals steigern kann. Wo immer möglich agiert sie jedoch gesanglich, klanglich dabei etwas zu trocken. Aber leider wird auch einiges regelrecht verschenkt, wodurch der ganze erste Abschnitt wie eine Einleitung wirkt: aber zu was? Überzeugend gelingt Wang das große Solo im Quasi Adagio, als sei es improvisiert – ganz im Sinne Liszts; kontrastierend dazu die Recitativo-Einwürfe als Realitäts-Schock. Dass von der oft belächelten Triangel im Scherzo-Abschnitt, obwohl von Pappano vorne in den Streichern platziert, wenig zu hören ist, irritiert ziemlich, mag aber der Sitzposition des Rezensenten direkt hinter dem geöffneten Klavierdeckel geschuldet sein. Der Dirigent hat hier nicht mehr zu tun, als sensibel zu begleiten; das ginge durchaus präziser. Das Orchester läuft bei Yuja Wang zum Glück nie Gefahr, sie zuzudecken. Die heutige Darbietung bleibt so eine Shownummer, die den Hörer zwar packt, es jedoch an echter Tiefe fehlen lässt. Dass es bei Liszt zudem verstörend dunkle Seiten gibt, hat z.B. Martha Argerich regelmäßig gezeigt; davon will Yuja Wang – noch? – nichts wissen. Frenetischer Applaus für die Pianistin, die sich mit zwei aberwitzigen Zugaben bedankt.

Carl Nielsens (1865–1931) 4. Symphonie ist ein in Deutschland leider immer noch unterschätztes Meisterwerk. Der Däne begann mit der Komposition bereits kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, und der Titel Das Unauslöschliche – gemeint ist der Überlebenswille der Natur und des Menschen – stand wohl ebenfalls sofort fest. In der Einführung wies Antonio Pappano bei seinem empathischen Plädoyer für das Stück auf Gemeinsamkeiten mit Liszt – etwa die Integration der Viersätzigkeit in eine große Bogenform – sowie Mahler (Naturmystik) hin. Natürlich ist diese Musik bereits „moderner“ als die des gleichaltrigen Jean Sibelius, allerdings geht Maestro Pappano der unmittelbare, bewusst chaotische Beginn der Symphonie ganz schön in die Hose. Zwar trifft der Hörer hier auf gegenstrebige Materialien; so ungeordnet wie hier ist das aber keineswegs gedacht; bereits ab Ziffer [2] könnte die Musik strukturierter erklingen als an diesem Abend. Das eigentliche Hauptthema des ganzen Werkes – wie bei Dvořák ein „Naturmotiv“ zunächst im Holz – kommt dadurch fast wie aus einer anderen Welt. Immer wieder fordert Pappano vom Orchester – beim kleinsten Detail ist er bei den entsprechenden Spielern – höchste Emotionalität; und das Orchester liefert! Ein Kabinettstückchen für die Holzbläser ist das idyllische Poco allegretto; die von harten Akzenten gestörte, breite Streicherlinie des Poco adagio quasi andante geht in der Isarphilharmonie durch Mark und Bein. Wer die Symphonie bereits kennt, wartet freilich auf das phänomenale Paukenduell im Finale – ein absolutes Novum der zeitgenössischen Symphonik. Ob hier wirklich – in Stereo! – realistisch an Artilleriefeuer erinnert werden soll, oder die Musik mahnend die emotionalen Schrecken des Krieges reflektiert: Diese Stelle wird jedem Hörer auch optisch im Gedächtnis bleiben; für die beiden Pauker des BRSO natürlich eine Paradenummer. Am Ende siegt das Naturthema als triumphale Hymne. Pappano hat sich samt dem ihm bis an die energetischen Grenzen folgenden Orchester ziemlich verausgabt und Nielsens großartige Symphonie dem begeisterten Publikum eine Spur zu direkt nahegebracht. Nach Stenhammar mit Blomstedt – der Nielsen noch um einiges besser draufhätte – ein weiterer Beweis für die Qualität nordischer Musik. Da gibt’s noch mehr!

[Martin Blaumeiser, 20. Februar 2022]

Tribut an das „unergründliche Leben“ – Halvor Haug zum 70. Geburtstag

Photo © Kristina Fryklöf

Wenn im Schlussteil der Dritten Symphonie Halvor Haugs plötzlich mittels Tonband ein Sprosser (die nordische Nachtigall) zu singen beginnt und sich die Hauptmotive des Werkes um diesen Gesang herum völlig zwanglos gruppieren, dabei zugleich die musikalische Entwicklung so schlüssig zum Ende führen, dass einzig dieser Ausklang für das Stück passend erscheint, dann merkt man als Hörer, dass man Zeuge eines Triumphs künstlerischer Originalität geworden ist, wie er nur einem Komponisten gelingt, dessen für die Welt und für seine innere Stimme gleichermaßen offenes Ohr ihn zu einer Persönlichkeit von ausgeprägter Eigenart hat werden lassen. Dass Haug für den Vogelruf nicht auf ein beliebiges Tondokument zurückgriff, sondern auf eine von ihm selbst gemeinsam mit dem Dirigenten Ole Kristian Ruud während einer Wanderung gemachte Aufzeichnung, verdeutlicht, welch große Bedeutung dem intensiven Erleben der Natur und ihrer elementaren Klangphänomene für seine kompositorische Arbeit zukommt. Eine seiner Tondichtungen setzt im Gewand des Streichorchesters dem Gesang der Tannen ein Denkmal, die vor seinem Arbeitszimmer standen, bis sie einem Bauprojekt zum Opfer fielen. In einer andern übersetzte er eine Winterlandschaft in Musik. Zu seinen Frühwerken, die ihn ab den 1970er Jahren bekannt machten, gehört eine der spannendsten Unternehmungen Die Stille hörbar werden zu lassen – ein veritables kleines Instrumentaldrama für Streichorchester. Von den Tagesmoden des Musikbetriebs unbeirrt, ist der 1952 geborene Norweger stets den Weg gegangen, der ihm als der richtige erschien. Er gehört zu jenen Komponisten, deren Schaffen eine Kategorie für sich bildet, an welchen alle Versuche, sie einer bestimmten „Schule“ oder „Stilrichtung“ zuzuordnen, scheitern müssen. Am 20. Februar wird Halvor Haug, einer der großen skandinavischen Tondichter unserer Zeit, 70 Jahre alt.

Halvor Haug wurde in Trondheim geboren und wuchs in Bærum nahe Oslo auf. In seiner Kindheit spielte Musik eine wichtige Rolle: Er erlernte frühzeitig das Klavier- und Trompetenspiel und gehörte insgesamt neun Jahre lang einem Bläserensemble an. Jedoch war das Musizieren damals nur eines von vielen Interessengebieten eines Jungen, der sich bevorzugt in der freien Natur aufhielt und viel Sport trieb. Mit 17 Jahren begann er, sich intensiver mit klassischer Musik auseinanderzusetzen, und nahm bald darauf ein Studium am Østlandets Musikkonservatorium in Oslo auf, wo sein Theorielehrer Kolbjørn Ofstad (1917–1996) sein Kompositionstalent erkannte und ihn ermutigte, seine ersten Klavierstücke für Orchester zu bearbeiten. 1973 ging Haug nach Helsinki und studierte ein Jahr lang an der Sibelius-Akademie bei Erik Bergman (1911–2006), einem der Pioniere des Modernismus in Finnland, und dem vor allem als Symphoniker bekannten Einar Englund (1916–1999), dem er gründliche Unterweisungen in russisch geprägter Orchestrierungstechnik verdankte. Nachdem er sein Studium in Oslo bei seinem früheren Lehrer Ofstad abgeschlossen hatte, schrieb er mit dem Symphonischen Bild 1975/76 sein erstes von ihm als vollgültig anerkanntes Werk. Das Stück erregte die Aufmerksamkeit der Dirigenten Okko Kamu und Per Dreier, die es in ihre Programme aufnahmen und dadurch dem jungen Komponisten zu ersten Erfolgen verhalfen. 1978 brach Haug zu einem einjährigen Aufenthalt nach London auf, den er vorrangig dazu nutzte, das reiche Konzertleben der Weltstadt auf sich wirken zu lassen. Während seiner Zeit in England war ihm der große Symphoniker und Streichquartettmeister Robert Simpson (1921–1997) ein anregender und verständnisvoller Mentor: „Er half mir, auf das zu vertrauen, was meine innere Stimme mir sagt: Was du fühlst, ist richtig für dich selbst.“

Nach Norwegen zurückgekehrt, arbeitete Haug zwei Jahre lang als Musikkritiker, lebte dann aber nur noch seinem kompositorischen Schaffen. Mit den orchestralen und kammermusikalischen Werken, die er während der 1980er Jahre komponierte, vor allem den ersten beiden Symphonien, etablierte er sich endgültig im norwegischen Konzertleben. Zum wichtigsten Förderer wurde ihm Ole Kristian Ruud, der von 1987 bis 1995 als Chefdirigent des Trondheimer Symphonie-Orchesters wirkte und mehrere Werke Haugs uraufführte. Als einer der meistbeachteten norwegischen Komponisten seiner Generation erhielt Haug zahlreiche Kompositionsaufträge, die teils mit wichtigen öffentlichen Anlässen verbunden waren. Seine letzten drei Symphonien schrieb er 1993 und 2002 für das Symphonie-Orchester Trondheim bzw. 2001 für die Osloer Philharmonie. Die „Symphonische Vision“ Insignia für Kammerorchester wurde 1994 zur Feier der Olympischen Winterspiele in Lillehammer komponiert. 1996 war er offizieller Komponist des Kammermusikfestivals Stavanger, auf welchem sein Zweites Streichquartett zur Uraufführung gelangte. Sein 1997 entstandener symphonischer Liederzyklus Glem aldri henne (Vergiss sie nie) war ein Auftragswerk seiner Geburtsstadt Trondheim im Vorfeld ihrer 1000-Jahr-Feier.

Leider sind seit 20 Jahren keine neuen Werke Halvor Haugs mehr in der Öffentlichkeit bekannt geworden. Die Vierte und Fünfte Symphonie, die kurz hintereinander 2002 zur Uraufführung gelangten, belegen, dass sich der 50-jährige Komponist auf dem Höhepunkt seiner Schaffenskraft befand. Angesichts dessen kann man es nur bedauern, dass ihn der Ausbruch einer chronischen Erkrankung anscheinend dauerhaft an der Fortführung seiner schöpferischen Arbeit hindert. Haugs Werke sind in den letzten Jahren gerade in Deutschland auf besonderes Interesse gestoßen, und die noch nicht lange zurückliegende Veröffentlichung dreier bislang ungedruckter Kompositionen im Münchner Verlag Musikproduktion Höflich zeigt, dass der Komponist – dessen Musik hauptsächlich vom schwedischen Verlag Gehrmans herausgegeben wird – weiterhin die Verbreitung seiner Musik aufmerksam verfolgt.

Haugs Werkverzeichnis umfasst etwa 40 Kompositionen. Der Schwerpunkt liegt eindeutig auf symphonischer Musik, doch liegen aus seiner Feder auch eine Anzahl kammermusikalischer Werke vor. Für Singstimmen schrieb Haug nur wenig, und es erscheint charakteristisch, dass die menschliche Stimme bei ihm immer in einem symphonischen Kontext auftaucht: als Mezzosopransolo in dem Orchesterliederzyklus Glem aldri hemme, als Kinderchor in dem „Symphonischen Epos“ Menneskeverd og fred (Menschenwürde und Frieden), und als wortloser Doppelchor für Frauenstimmen in der Zweiten Symphonie.

Photo © Kristina Fryklöf

Stilistisch ist Haug von Anfang an ein ganz eigener Kopf, was sich namentlich zeigt, wenn man seine Musik mit der seiner Lehrer vergleicht. Serielle Techniken, wie überhaupt die Idee eines vorgefertigten musikalischen Materials, wie sie für Erik Bergman zunehmend Bedeutung erlangten, haben für Haug nie eine Rolle gespielt. Auch blieb Einar Englunds klassizistisches Formideal ohne Einfluss auf ihn. Mit Robert Simpson teilt er dagegen die Aufbruchsstimmung ins Unbekannte, die der Anfang seiner Werke regelmäßig hervorruft – nicht ohne Grund trägt ein Orchesterwerk Haugs den Titel Il Preludio dell‘ ignoto – und die freie Formung mittels permanenter Verwandlung weniger motivischer Zellen, die keinerlei Vorhersehbarkeit der musikalischen Entwicklung, sehr wohl aber den Eindruck kräftiger Naturwüchsigkeit aufkommen lässt. Der deutlichste Unterschied zwischen beiden Komponisten liegt in ihrer Tempogestaltung. Während für Simpson gleichsam das Allegro der Normalzustand ist und die langsamen Abschnitte seiner Werke sehr oft einen vorbereitenden oder nachklingenden Charakter aufweisen, bewegt sich Haug bevorzugt in mäßigen und langsamen Tempi, die sich in besonderen Momenten zu rascherer Bewegung steigern. Sein untrügliches Gespür für tonale Bezüge sorgt dafür, dass die Spannung dabei nie verloren geht. Gern lässt er voneinander weit entfernte Harmonien unmittelbar aufeinandertreffen und führt dadurch dem musikalischen Geschehen neue Kraft zu.

Haug beschrieb seinen Schaffensprozess als „nicht bewusst auf intellektuelle Art, eher emotional. Schwierigkeiten, Gegensätze, Spannung trage ich in mir. Energie ist von zentraler Bedeutung.“ Zwar verliert er beim Komponieren nie den Anfang des Stückes aus den Augen, ebenso wenig den Höhepunkt, auf den dieser zustrebt, doch hat ihn der Schaffensprozess – Robert Simpsons Satz, dass Komponieren „kontrollierte Inprovisation“ sei, dürfte auch auf Haug vollkommen zutreffen – mitunter zu Lösungen geführt, die ihn selbst überraschten. So erkannte er erst nach weit fortgeschrittener Arbeit an der Dritten Symphonie die Integration des bereits erwähnten Nachtigallenrufs als bestmöglichen Schluss des Werkes. Dies war sein Tribut an das „Unergründliche Leben“, das der Symphonie den Titel gab.

Haugs Musik macht keine Umschweife und besticht durch ihre emotionale Direktheit. Zu seinem 70. Geburtstag kann man dem Komponisten nur wünschen, dass sie auch weiterhin innerhalb wie außerhalb seiner Heimat treue Freunde und weite Verbreitung finden möge.

Verzeichnis der Werke Halvor Haugs

Halvor Haugs Kompositionen sind bei Gehrmans Musikförlag (Stockholm), Norsk Musikforlag (Oslo) und Musikproduktion Höflich (München) erhältlich. Die nicht verlegten Werke können über den Notendienst der Norwegischen Nationalbibliothek Oslo (NB noter) bezogen werden.

Orchesterwerke:

Symfonisk bilde (Symphonisches Bild), 1975/76 (Gehrmans)

Symfoniske konturer (Symphonische Konturen), 1977 (NB noter)

Konzert für Horn und Orchester, 1978 (NB noter)

Poema Patetica, 1980 (Gehrmans)

Poema Sonora, 1980 (NB noter)

Symphonie Nr. 1, 1981/82 (Norsk Musikforlag)

Sinfonietta, 1983 (Norsk Musikforlag)

Symphonie Nr. 2 für Orchester, wortlosen Frauenchor und Orgel, 1984 (Gehrmans)

Menneskeverd og fred – Symfonisk epos (Menschenwürde und Frieden) für Kinderchor und Orchester, 1985 (NB noter)

Vinterlandskap (Winterlandschaft), 1986 (NB noter)

Symphonie Nr. 3 Det uuntgrunnelige livet (Das unergründliche Leben) für Orchester und Tonband, 1991–1993 (Gehrmans)

Ouvertüre Norske aspekter (Norwegische Ansichten), 1993 (NB noter)

Insignia – Symfonisk vision für Kammerorchester, 1993 (Gehrmans)

Glem aldri henne (Vergiss sie nie), Liederzyklus für Mezzosopran und Orchester nach Gedichten von Gunnar Reiss-Andersen, 1997 (Gehrmans)

Il Preludio dell‘ ignoto (Das Vorspiel zum Unbekannten), 2000 (Gehrmans)

Symphonie Nr. 4, 2001 (Gehrmans)

Symphonie Nr. 5, 2002 (Gehrmans)

Werke für Streichorchester:

Stillhet (Die Stille), 1977 (Norsk Musikforlag)

Furuenes sang (Gesang der Tannen), 1987 (Gehrmans)

Intermezzo aus dem Liederzyklus Glem aldri henne, 1997 (Gehrmans)

Werke für Blasorchester:

Cordiale für Blasorchester, 1982 (NB noter)

Exit für Blasorchester und Orgel ad libitum, 1985 (NB noter)

Concertino für Blechbläser (4 Trompeten, 4 Hörner, 4 Posaunen, 2 Tuben) und Schlagzeug, 1988 (Musikproduktion Höflich)

Kammermusik (2–5 Instrumente):

Sonatine für Violine und Klavier, 1973 (Musikproduktion Höflich)

Duetto Bramoso (Eifersüchtiges Duett) für Violine und Gitarre, 1976 (Musikproduktion Höflich)

Symphony for five für Flöte (Altflöte), Klarinette (Bassklarinette), Horn, Gitarre und Klavier, 1979 (NB noter)

Quintett für zwei Trompeten, Horn, Tenorposaune und Bassposaune (Tuba), 1981 (Norsk Musikforlag)

Streichquartett Nr. 1, 1985 (Gehrmans)

Dialog für zwei Harfen, 1987 (Gehrmans)

Essay für Altposaune und Streichquartett, 1987 (NB noter)

Klaviertrio, 1995 (Gehrmans)

Streichquartett Nr. 2, 1996 (Gehrmans)

Duo für Violine und Violoncello, 2002 (Gehrmans)

Opus for tre naboer – Andante con amore (Werk für drei Nachbarn) für Violine, Violoncello und Klavier, [ohne Datum] (NB noter)

Werke für Soloinstrumente:

Tre „utfall“ (Drei „Ergebnisse“) für Gitarre, 1974 (Norsk Musikforlag)

Drei Inventionen für Gitarre, 1976 (Gehrmans)

Fantasia für Oboe, 1977 (NB noter)

Impression für Klavier, 1980 (Gehrmans)

Sonata Elegica für Violoncello, 1981 (Norsk Musikforlag)

[Norbert Florian Schuck, Februar 2022]

(Der Autor dankt Christoph Schlüren herzlich für die Bereitstellung von Informationen und die Vermittlung der Photographien)

Für Hausmusik und Klavierunterricht: Klussmanns Xenien

Sikorski SIK0201; ISMN: 9790003033143

Sie suchen nach Klaviermusik des 20. Jahrhunderts für den Hausgebrauch? Nach Stücken von geringer Schwierigkeit, die trotzdem anspruchsvoll komponiert sind und ihrem Spieler Vergnügen bereiten? Antiquarisch fiel mir vor kurzem ein Heft mit sechs kurzen Klavierstücken in die Hände, von denen ich meine, dass sie diesen Anforderungen gerecht werden. Es handelt sich um die Xenien op. 27 von Ernst Gernot Klussmann. Sie sind bei Sikorski erschienen und wurden erstmals 1951 veröffentlicht, können aber nach wie vor vom Verlag bezogen werden, weswegen hiermit ausdrücklich auf sie hingewiesen sei.

Ernst Gernot Klussmann wurde 1901 in Hamburg geboren, war also etwas jünger als Paul Hindemith und Johann Nepomuk David, gleichaltrig mit Ernst Pepping, und etwas älter als Günter Raphael und Kurt Hessenberg. Wie diese wuchs er noch in der Tradition des späten 19. Jahrhunderts auf – sein Kompositionslehrer war der als Symphoniker und Oratorienkomponist hochbedeutende Altonaer Musikdirektor Felix Woyrsch – und suchte ab den 1920er Jahren neue Wege. Auch für Klussmann wurde der Eindruck barocker Polyphonie bedeutsam. Eine Vorliebe für kontrapunktischen Tonsatz, die sich in zahlreichen als Choralbearbeitung, Passacaglia oder Fuge gestalteten Sätzen niederschlägt, prägt sein gesamtes Schaffen. Seit 1942 als Musikpädagoge in seiner Geburtsstadt wirkend, genoss Klussmann den Ruf eines hervorragenden Lehrers. Als Komponist war er vor allem durch seine ab 1928 entstandenen ersten fünf Symphonien bekannt geworden. Hatte er in diesen Werken streng tonal zentriert komponiert, so vollzog er in den 50er Jahren einen radikalen Stilwandel, indem er sich der Zwölftonmusik zuwandte. Unter Verwendung der Zwölftonmethode, die er, ähnlich wie Alban Berg, Nikos Skalkottas oder Alberto Ginastera, zunehmend frei behandelte, schrieb er bis zu seinem Tode 1975 weitere fünf Symphonien und mehrere Opern.

Die Xenien gehören zu den letzten nicht-zwölftönigen Werken Klussmanns. Es handelt sich eindeutig um Nebenwerke, allerdings um Nebenwerke eines reifen Meisters, der kurz zuvor seine Fünfte Symphonie beendet hatte. Der Symphoniker zeigt sich in diesen Stücken, von denen das kürzeste eine halbe, das längste drei Druckseiten umfasst, als konzentriert arbeitender Miniaturist. Kein Takt ist hier zu viel, und jeder hat Anteil an einer konsequent vorangetriebenen, in sich geschlossenen Entwicklung. Klussmann lädt den Spieler ein und macht ihm Mut, indem er mit einem sehr einfachen, zweistimmigen Stück beginnt, das nur 24 Takte dauert, „Modernismen“ ganz dezent einsetzt (erniedrigter Leitton, offene Quintparallele) und sich geradewegs vom Blatt spielen lässt. Nichtsdestoweniger werden beide Hände bereits hier selbstständig behandelt.

Nr. 2, in e-phrygisch, die durch einen ruhelosen, elegischen Ton besticht, steht in langsamem 3/4-Takt und wird von einem durchgehenden Achtelduktus getragen. Das Stück schult beide Hände gleichermaßen im Spiel gesanglicher Melodielinien: Erst tauschen Rechte und Linke nach vier Takten die Stimmen, dann erhält jede Hand eine ostinate Begleitung, zu welcher die jeweils andere auf einfache Weise mehrstimmig spielt. Herbe Dissonanzen, die sich aus der Stimmführung ergeben, verleihen der Musik zusätzlichen Reiz.

Das dritte Stück ist ein sehr sparsam gesetzter, nur in wenigen Takten die Zweistimmigkeit verlassender Ländler. Die linke Hand übernimmt kurz in der Mitte die Melodie, hat aber ansonsten eine durchgehend staccato vorzutragende, in gleichmäßigen Vierteln gehaltene Begleitung aus Quarten und Tritoni zu spielen. Die Dynamik muss der Spieler aus der Musik herausfühlen, da der Komponist lediglich den Schluss (in F statt des erwarteten E) mit einer Angabe versehen hat (pp).

Auch die „ruhig bewegte“, aber durchaus beschwingt wirkende Nr. 4 (g-Moll) gibt der linken Hand über weite Stecken eine gleichmäßige Begleitung zu spielen, diesmal allerdings in Form ständiger Quintsprünge. Harmonisch ist das Stück offensiver modern als die vorigen: Die rechte Hand spielt zahlreiche Sekundparallelen, und in den G-Schlussakkord mischen sich ein F und ein A. Spieltechnisch geschult werden die Hände hier durch die Umkehrung der Motive in der zweiten Hälfte des Stücks.

Die an fünfter Stelle stehende Invention, die gleich zu Beginn E und G in der Linken auf Es in der Rechten treffen lässt und die gleiche Konstellation zum Schluss in die Dissonanz E-G-D „auflöst“ (es wirkt tatsächlich entspannend), ist das einzige Stück der Reihe, das größere Ansprüche an die Fingerfertigkeit stellt. Die Hände tauschen hier untereinander eine melodisch prägnante Stimme und albertibassartige Sechzehntelfigurationen aus, wobei sich in letzteren eine latente Zweistimmigkeit verbirgt, die vom Spieler zur Geltung zu bringen ist.

Nach diesem verhältnismäßig „virtuosen“ Stück beschließt Klussmann seine kleine Sammlung mit einer Air in e-Moll (3/4-Takt), deren Schwierigkeitsgrad etwa demjenigen des zweiten Stücks entspricht. Wie dieses strahlt Nr. 6 strenge, apollinische Schönheit aus. In der rechten Hand entfaltet sich ein den Grundton immer nur streifender, sich erst am Schluss auf ihm niederlassender Melodiebogen, der im Laufe des Stückes mehrere Oktaven durchmisst, während die linke mit einer in gleichmäßigen Vierteln pochenden, meist dreistimmigen Begleitung grundiert. Sehr interessant ist es zu verfolgen, wie Klussmann mittels Sekundrückungen die Musik durch immer neue harmonische Zwischenstufen führt und sie dabei allmählich zu glühender Intensität steigert. Großartig wirkt insbesondere der Abgesang, der melodisch, erst in der Rechten, dann in der Linken, G-Dur durchmisst, dieses aber in der jeweils anderen Stimme mit der Quartsextakkordfolge E-, D-, C-, B-, As-, Ges-, F-, Es- und D-Dur umkleidet. Ich stehe nicht an, das Xenion Nr. 6 ein kleines Juwel zu nennen. Es dürfte sich auch ideal dazu eignen, Klavierschüler mit den Reizen freier Stimmführung bekannt zu machen.

Der Titel, den der Komponist der Sammlung gegeben hat, bezieht sich wohl nicht auf die Tradition spöttischer Epigramme, wie sie in der deutschen Literatur von den Xenien Goethes und Schillers begründet wurde – dazu sind Klussmanns eher introvertierte Stücke zu wenig keck. Eher scheinen mir hier im ursprünglichen Wortsinne „Gastgeschenke“ vorzuliegen – Dinge also, die ins Haus mitgebracht werden. Um Hausmusik handelt es sich eindeutig: um Stücke zum Selbstspielen oder zum Gebrauch im Klavierunterricht. Zu beiderlei seien die Xenien op. 27 von Ernst Gernot Klussmann wärmstens empfohlen.

[Norbert Florian Schuck, Februar 2022]

Klassischer Jazz, notierte Improvisation

Edition Schott: Gingerbread Man op. 111 ED 23033; Wheel of Fortune op 113 ED 23035

Mehrere späte Werke des ukrainischen Komponisten Nikolai Kapustin erschienen nun bei Schott, darunter die hier besehenen Gingerbread Man op. 111 und Wheel of Fortune op. 113.

Die meiste Zeit seines Lebens blieb Nikolai Kapustin ein Geheimtipp. Man war sich uneins über seine Position, konnte seine widersprüchliche Musik nicht so recht einordnen. Den Umsturz bedeutete eine Aufnahme Steven Osbornes aus dem Jahr 2000, die mit dem Preis der Deutschen Schallplattenkritik prämiert wurde und plötzliches Interesse an der Musik Kapustins aufkeimen ließ. Vor allem Pianisten folgten: Marc-André Hamelin, Christopher Park und Elisaveta Blumina seien exemplarisch für die Vielzahl an namhaften Virtuosen genannt, die nun den Ukrainer entdeckten und ebenfalls einspielten. Als Kapustin am 2. Juli 2020 verstarb, überschlugen sich die Medien geradezu vor Kondolenzbekundungen – aus dem Insider war einer der gefragtesten Musiker geworden.

Die Laufbahn des am 22. November 1937 in Nikitowka, Vorort der ukrainischen Stadt Horliwka, geborenen Nikolai Kapustin fand nahezu vollständig in Moskau statt. Nach erstem Klavierunterricht durch seine Mutter und durch Pjotr Winnitschenko (unter dem auch eine Erste Klaviersonate entstand, geschrieben mit dreizehn Jahren), reiste er 1952 in die russische Metropole, um sich für das Academic Music College zu bewerben. Dort nahm in Awrelian Rubach in seine Klasse auf, einem sehr gefragten Lehrer, der aus der Tradition Felix Blumenfelds kam. 1956 bestand er seine Prüfung fürs Moskauer Konservatorium, studierte dort beim legendären Pianisten und Komponisten Alexander Goldenweiser. Anzumerken sei hierbei, dass Kapustin sich ausschließlich am Klavier ausbilden ließ, sich das Komponieren autodidaktisch erarbeitete.

Noch vor seinem zwanzigsten Geburtstag hatte der Student seine Passion für Jazz entdeckt und empfand diesen als die ideale, seinem Naturell entsprechende Form der musikalischen Kommunikation. Er spielte in mehreren Bigbands, gründete ein Jazz-Quintett und musizierte über mehr als zehn Jahre im Orchester von Oleg Lundstrem, einem Schüler Ellingtons und Armstrongs. In den 70ern kam Kapustin ins Orchester von Boris Karamyschew, das bekannt war, auch symphonischen Jazz zu spielen, und schrieb für dieses zahlreiche Kompositionen – unter anderem das Zweite Klavierkonzert op. 14, durch das er 1980 zum Mitglied des Sowjetischen Komponistenverbands wurde, wodurch erstmals sein Werk auch als staatlich anerkannt galt. Von 1984 an wirkte er ausschließlich freiberuflich.

Die Musik Kapustins empfindet man beim Hören als dem Jazz deutlich verwandt, wobei die Strukturen denen klassischer Formen näher sind. Die meisten Werke strahlen durch treibende Rhythmik und physisch-virtuose Brillanz, die einen unverkennbar haptischen bis gar körperlichen Eindruck verleiht. Die Linien wirken oftmals frei, wie improvisiert, und doch steckt eine innere Struktur dahinter, die auf eine deutliche Reifung durch den Kompositionsprozess verweist.

Hauptverleger Kapustins ist der deutsche Verlag Schott, der Ende 2021 wieder neue Werke in seinen Katalog aufnahm – namentlich kürzere Klavierkompositionen nach 2000, die Opusnummern über 100 aufweisen. Von diesen liegen hier Gingerbread Man op. 111 (ED 23033) und Wheel of Fortune op. 113 (ED 23035) vor. Es handelt sich in beiden Fällen um von den Erben autorisierte Versionen, die erstmalig auf dem Markt erschienen. Die beiden im Jahr 2003 komponierten Werke unterscheiden sich deutlich durch Struktur und Klang: Gingerbread Man op. 111 könnte vom Höreindruck ausgehend rein aus der Improvisation entstanden sein, denn das thematische Material kehrt nie wörtlich zurück, nur in größtenteils recht weit vom Ausgangspunkt entfernten Variationen. Schon nach wenigen Takten spinnt sich der Initialgedanke fort und in der Mitte der zweiten Seite heben improvisatorisch anmutende Linien an, uns vollends vom Ausgangspunkt fortzutragen. Man folgt dem Fluss der Musik, lässt sich treiben und bewundert die immer neuen rhythmischen wie harmonischen Wunder, die an einem vorbeiziehen. Dabei steht Gingerbread Man durchweg im 4/4-Takt ohne Tempoänderungen, folgt also einem kontinuierlichen Strom. Ganz anders Wheel of Fortune, das wie der durch den Titel besungene Reichtum launisch und wechselhaft erscheint. Im Zentrum steht eine eingängige, rhythmisch aufgeladene Bassfigur, die immer wieder deutlich hervortritt und somit die Form prägt. Dadurch wirkt das Stück ungleich klassischer, durchkomponierter. Dazwischen heben wieder freie, virtuose Läufe an, doch scheinen sie hier gefasster im allgemeinen Strom – auch wenn die regelmäßigen Taktwechsel mit Fokus auf den 7/8-Takt versuchen, dies zu unterminieren. Beide Stücke erfordern fundierte technische Kenntnisse des Klaviers, rhythmische Prägnanz, klaren Anschlag und gewisses Grundwissen auch über Harmonik und Aufführungspraxis im Jazz.

Die Ausgaben von Schott setzen auf ein klares, feines Notenbild, das die Noten vergleichsweise klein setzt, um Raum für die Vielzahl an auftretenden Vorzeichen zu lassen und die rhythmische Struktur offenzulegen. Auch für Anmerkungen beim Üben finden wir reichlich Platz zwischen den Systemen, was das Arbeiten mit diesen Ausgaben ausgesprochen angenehm macht. Alles wirkt geordnet, regelrecht „aufgeräumt“. Dadurch erhöht sich natürlich die Seitenanzahl, wobei das Blättern bei solch einer pausenlos strömenden Musik nicht immer leichtfällt; doch darf dies im Ausgleich für das leicht leserliche und gut konturierte Notenbild zweifelsohne das kleinere Übel (und kaum vermeidbar gewesen) sein. Die Fingersätze erscheinen durchweg gewählt und sinnig, dabei nicht inflationär, sondern nach Möglichkeit an Stellen, die mehrere Optionen offenlassen und somit die Hand in die Irre führen könnten.

[Oliver Fraenzke, Februar 2022]

Beethovens Diabelli-Variationen mit klanglichem Feingefühl

Sonus Eterna, 37423; EAN: 4 260398 610090

Der 1994 in Hamburg geborene Pianist Spartak Margaryan stellt sich Ludwig van Beethovens kolossalen 33 Veränderungen über einen Walzer von Anton Diabelli in C-Dur op. 120, heute hauptsächlich als Diabelli-Variationen bekannt. Die CD erschien beim Label Sonus Eterna.

Die umfangreichen wie anspruchsvollen, allein durch die Länge von etwa einer Stunde ehrfurchtgebietenden Diabelli-Variationen C-Dur op. 120 gehören zu den Meilensteinen der Klavierliteratur, zu einem Höhepunkt der Form allgemein. Dass Beethoven das schlichte, zu Beginn seiner diesbezüglichen Beschäftigung gar als „Schusterflecke“ verhöhnte Thema nicht mit bloßer Ornamentik und glitzerndem Fingerwerk füllen würde, erklärt sich von selbst, besieht man seine anderen als Variationen titulierten wie auch in anderen Großformen enthaltenen Ketten an Veränderungen. Selbst in seinen mit zwölf Jahren komponierten Dressler-Variationen WoO 63 beweist er schon das Gespür, Themen nicht bloß zu füllen, sondern als Ausgangspunkt für eigene Entwicklungen zu nutzen. Die Gattung der Variation sah Beethoven als lebenslanges Training für Kreativität und Formgestaltung, feilte entsprechend unentwegt daran, den Themen immer neue Facetten abzuringen. In den Diabelli-Variationen, einem seiner spätesten Klavierwerke, forderte er die Variation in all ihren Aspekten heraus, bewies vollständige Durchdringung des Themas und konnte jeden noch so nichtig erscheinenden Aspekt herauspicken und eigens ins rechte Licht rücken. Anders als in den zwischenzeitlich entstandenen drei letzten Klaviersonaten von 1822, wo die thematischen Fortspinnungen in Großformen zusammengeschweißt wie aus einem Guss erscheinen, brechen sich die Veränderungen des Diabelli-Walzers auf und scheinen in gewissen Teilen gar untereinander austauschbar zu sein: Beethoven präsentierte ein Kaleidoskop an Möglichkeiten, eine kaum würdig erscheinende Vorlage in hohe Kunst zu transformieren. (Dabei sollte die Vorlage doch nicht verachtet werden, denn sie wurde explizit als Vorlage für Variationen komponiert. Ihre Anlage fordert es, mit ihr frei zu verfahren, den Sinn für eigene Expansion und Gestaltungsgabe auf die Probe zu stellen.)

In der hier vorliegenden Aufnahme wagt sich ein junger, aufstrebender Pianist an dieses Spätwerk, welches neben fingertechnischen wie auch gestalterischen Höchstleistungen profunde Kenntnis der Genese der Beethoven’schen Variationsformen voraussetzt. Wäre dies nicht schon bemerkenswert genug, dass Spartak Margaryan sechsundzwanzigjährig das Studio betritt mit solch einem schwierigen, in zahlreichen Referenzaufnahmen bereits erschienenen „Brocken“ der Klavierliteratur, so besticht seine enorme Gesetztheit und profunde Kenntnis, ja Durchdringung des Werkes. Das Spiel ist weit entfernt von jugendlichem Stürmen und Drängen, von Selbstpräsentation – ganz im Gegenteil: Margaryan reduziert äußeren Glanz auf ein Minimum und taucht ein in die Tiefen von Beethovens Klangkosmos.

Spartak Margaryan sieht Beethoven nicht als polternden Vorreiter einer Ausdruckskunst, die wir landläufig als „Romantik“ bezeichnen, sondern bezieht Beethovens Satz auf die klangliche Verfeinerung und Differenziertheit der Wiener Klassik. Ungestümen Forti und Sforzati schwört er ab, nimmt auch Pedal mit Bedacht, lässt so eine luzide, gebändigte Klangkultur aufkeimen. Dabei schafft Margaryan doch Kontraste durch den deutlichen Unterschied zwischen Forte und Piano sowie zwischen den Variationen durch gewählte Tempi. Gerade die langsamen Veränderungen nimmt Margaryan gewagt langsam, fordert den innermusikalischen Zusammenhalt in einer Extremsituation heraus – geht aber in den meisten Fällen siegreich hervor. Lediglich die Variationen, die sich ununterbrochen um das immer gleiche Motivfragment drehen, so insbesondere die Variationen I und IX, könnten noch an Stringenz des Aufbaus hinzugewinnen, um die Form zu straffen. Umso gelungener dafür die kontrapunktische Ausgestaltung aller Stimmen, durch die selbstredend gerade die mehrstimmig angelegten Variationen aufblühen (also in erster Linie IV, V, XI, XIV, XIX, XXIV, XXX und XXXII), doch auch die restlichen Veränderungen ziehen große Vorteile aus der aktiven Gestaltung der Gegenstimmen, namentlich III, XII, XV und XVIII. Dagegen weiß Spartak Margaryan auch, Stimmen im Untergrund zu belassen, die ansonsten durch ihre Klangfülle die Melodie stören könnten (XVI und XXI).

Im Gesamteindruck legt Spartak Margaryan eine beeindruckende und in jeder Hinsicht bemerkenswerte Darlegung der 33 Veränderungen eines Walzers von Diabelli op. 120 vor, die durch präzise Kenntnis, musikalisches Feingefühl und gewählte Klangvorstellung überzeugt. Wir können gespannt bleiben, wie sich dieser junge Musiker weiterhin entwickeln wird!

[Oliver Fraenzke, Februar 2022]

Auf Tuchfühlung mit dem Klavier

divine art, dda 21373; EAN: 8 09730 13732 7

In seiner 3-CD-Kollektion At the Heart of the Piano (“Am Herzen des Klaviers”) stellt Burkard Schliessmann ein Programm existentieller Klavierwerke unterschiedlicher Epochen zusammen. Er beginnt mit Bach/Busonis Chaconne in d-Moll, bewegt sich über Schumanns Großformen der Symphonischen Etüden op. 13 und der Phantasie C-Dur op. 27 zu Liszts h-Moll-Klaviersonate, präsentiert eine Auswahl an Scriabins Klaviermusik (Sonate fis-Moll op. 23, Auswahl an Etüden aus op. 2 und 8 sowie Préludes aus den Opera 11, 16, 37 und 74, sowie die beiden Tänze op. 73), rundet schließlich mit der Klaviersonate op. 1 von Alban Berg ab.

Nach seiner 2016 erschienenen und von den Medien hoch gelobten 3-CD-Box Chronological Chopin legt Burkard Schliessmann bei divine art nun eine neue Sammlung an drei CDs vor, betitelt sie At the heart of the piano, zu deutsch „Am Herzen des Klaviers“. Es ist der Versuch, sich dem Klavier als Instrument zu nähern und ihm seine innigsten Emotionen abzuringen. Der Titel spricht die philosophische Fragestellung an, ob das Klavier als zunächst körperfremdestes aller Instrumente, bestehend größtenteils aus Holz und Metall, das ohne Körpereinsatz durch simplen Tastendruck einen vollendeten Ton hervorbringt, überhaupt Gefühle vermitteln und ausdrücken kann – ein Herz besitzt. Dies will Burkard Schliessmann beweisen durch ein sehr inniges Repertoire, das ihm spürbar viel bedeutet und das verschiedene Aspekte der Klavierliteratur auf (für die Größe des Projektes gar knapp bemessenen) drei CDs zusammenfasst. Es handelt sich ausschließlich um ältere Aufnahmen der Jahre 1990 (Scriabin), 1994 (Bach/Busoni und Berg), 1999 (Schumann Fantasie und Liszt) und 2000 (Schumann Etüden), die jedoch entweder noch nie oder nur in kleiner Auflage und regional beschränkt erschienen sind, mit neuem Master in frischem Glanz erstrahlen, so dass ihnen nun die Reichweite ermöglicht wird, die ihnen zustehen. Für sämtliche Aufnahmen verwendete Schliessmann seinen eigenen Flügel, als Steinway Artist ist dies ein Steinway Piano D Concert Grand.

Selbst bezeichnet sich Burkard Schliessmann in seinem ausführlich informierenden, sowohl Fakten als auch persönliche Anschauungen zu den Stücken preisgebenden Begleittext zu der Trippel-CD als Repräsentanten der „große[n] romantischen Tradition. Technische Beherrschung ist natürlich wichtig, aber meine Interpretationen bleiben im Wesentlichen intuitiv. Ich denke nicht nach und mache mir keine Gedanken über die Umsetzung meiner Interpretation.“ Wenngleich dies sicherlich für den Moment der Darbietung stimmen mag, so verschweigt er damit die immense Arbeit, die er zuvor mit den Werken hatte – gehabt haben muss. Denn es bleibt unüberhörbar, dass sich Schliessmann genaue Gedanken gemacht hat, was er mit den Werken aussagen will und wie seine persönliche Stimme in die Noten miteinfließen soll. In den Aufnahmen zeigt er sich als charakterstarker Pianist, der weiß, die Werke nach seiner Vorstellung zu formen und sie so auf ihn zugeschnitten zu gestalten.

Die berühmte Chaconne d-Moll mit Johann Sebastian Bach in der virtuosen Transkription Ferruccio Busonis gestaltet Schliessmann als Versuch einer Synthese einer barocken und einer frühmodernen Spielweise, verzichtet auf halligen Klang und setzt auf präzisen, dabei wirkungsstark-prägnanten Anschlag. Das tempo rubato spart er sich für besondere Momente auf, um dort den Ausdruck zu maximieren.

Schumann spielt Burkard Schliessmann wahrhaft appassionato, wobei er die Phantasie vergleichsweise noch klassischer nimmt, um dafür die Symphonischen Etüden umso romantisch-beschwingter gestalten zu können – dieser Eindruck mag aber zum Teil auch am unterschiedlichen Hall liegen, denn bei den Etüden spielt leider der Raum deutlich mit hinein (während hingegen bei den anderen Aufnahmen die Akustik sehr deutlich und klar dem Klavierklang schmeichelt). Bei beiden Stücken nutzt der Pianist deutliche Tempokontraste und Rubati für starken Effekt, setzt einzelne Passagen deutlich gegeneinander ab und gibt so der Musik plastisch-lebendiges, dabei spontanen erscheinendes, beinahe improvisatorisches Antlitz. Er spielt mit dem Nachhall des Pedals, um orchestrale Klangfülle zu entwickeln, wobei ich behaupten würde, er sieht das „Symphonische“ der Etüden nicht auf die Nachahmung bestimmter Orchesterinstrumente, sondern rein auf die differenzierte Klangfarbigkeit des Klaviers bezogen. Auch experimentiert Schliessmann mit dem Verhältnis der Stimmen zueinander, was deutlich in den Variationen vier und sechzehn zutage tritt: Die Melodie bleibt deutlich, muss sich aber stets gegen die brodelnden Nebenstimmen behaupten, was das Zuhören ungemein spannend macht.

Franz Liszts gewagte, erst spät von der Öffentlichkeit anerkannte Sonate h-Moll stellt Burkard Schliessmann durchaus ruppig dar, lässt den Klang in ungeahnte Höhen aufschaukeln und nimmt sich sogar die Freiheit, manche Höhepunkte gewalttätig darzustellen – wohl ganz so, wie der große Virtuose und Publikumsmagnet Liszt es seinerzeit gespielt haben könnte, um mit dem Effekt zu polarisieren. Doch dass dieser bei Schliessmann nicht an erster Stelle steht, zeigt die zutiefst musikalische Ausgestaltung der Themen und deren Abwandlungen im Lauf des Stückes, wobei er besonders dem Hauptthema gespenstisch-erdrückende Präsenz verleiht. So gelingt ihm ein aus einem Guss erscheinender Gesamteindruck von ausgefeilter psychologischer Natur, die in sich stimmig erscheint.

Von Alexander Scriabin stellt Burkard Schliessmann ein Programm quer durch alle Schaffensperioden dar, von den noch auf Chopin bezogenen Etüden opp. 2 und 8 und den Préludes op. 11 über die an Eigenständigkeit gewinnende Sonate fis-Moll op. 23 bis hin zu den späten Tänzen op. 73 und Préludes op. 74, welche in ihrem spirituell anmutenden Habitus und der komplex erweiterten Harmonik absolut eigenständig in der Musikgeschichte erscheinen. Die fließenden, frei anmaßenden Formen liegen dem instinktiven Spiel des Pianisten, der so die einzelnen Momente zum Erblühen bringt und dabei die Gesamtform zusammenzuhalten weiß. Die rhythmische Polyphonie zwischen den Händen oder deren einzelnen Stimmen stachelt ihn an, ein hohes Maß an Feinheit zu erhalten, selbst in groß auftrumpfenden Passagen. Die Kontraste treibt Schliessmann auf die Spitze und zeigt so bereits den frühen Scriabin als modern-fortschrittlichen Komponisten.

Das Programm schließt mit Alban Bergs Sonate op. 1, ein Paradestück der frühen Moderne und besonders der freien Tonalität, die doch immer tonartliche Beziehungen erkennen lässt. Schliessmann schafft hier eine Brücke zwischen Zweiter Wiener Schule und dem ekstatischen Scriabin, holt auch bei Berg gewisses Volumen hervor und erlaubt sich tempomäßige Freiheiten, um die Dichte der Polyphonie zu unterstreichen.

So gelingt eine stilistisch einheitliche und doch vielseitige Darstellung von Schliessmanns pianistischem Schaffen, die uns durch die höchst persönlichen Anschauungen des Pianisten Meisterwerke verschiedener Epochen ganz menschlich nahebringt und uns einlädt, sie zu erkunden.

[Oliver Fraenzke, Januar 2022]