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Jörg Widmann überzeugt bei der musica viva in Dreifachfunktion

Beim Konzert der musica viva am 28. Juni 2024 im Münchner Herkulessaal präsentierte sich Jörg Widmann mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks einmal mehr in gleich dreifacher Funktion: als Klarinettist, Dirigent und natürlich als Komponist. Mal abgesehen von Wolfgang Amadeus Mozarts „Adagio für Glasharmonika“, KV 356/617a, mit dem Christa Schönfeldinger Widmanns Schlüsselerlebnis mit diesem Instrument in Erinnerung rief, gab es ausschließlich Widmann-Werke: „Armonica, „Drei Schattentänze“, „Danse macabre“ und das gewaltige Trompetenkonzert „Towards Paradise“ (Labyrinth VI) mit dem Solisten Håkan Hardenberger.

Håkan Hardenberger und Jörg Widmann mit dem BRSO © BR musica viva/Astrid Ackermann

Im letzten Konzert der musica viva Saison am 28. 6. 2024 durfte sich der Münchner Jörg Widmann gleich dreifach in Szene setzen: als Komponist von vier eigenen Werken, mit einem Solostück für sein Instrument: die Klarinette, sowie als Dirigent des Abends – und konnte diesmal in allen Belangen überzeugen. Vor knapp sieben Jahren versuchte sich Widmann hier bereits in dieser Mehrfachfunktion – wir berichteten. Damals rief zumindest sein Dirigat Stirnrunzeln beim Rezensenten hervor. Seitdem hat Widmann ziemlich viel mit Orchestern gearbeitet, nicht nur an eigenen Stücken, mittlerweile auch als Erster Gastdirigent bei der NDR Radiophilharmonie (Hannover). Widmann ist am Pult sicht- und spürbar deutlich souveräner geworden: Er gibt nicht nur hochengagiert und klar alle wichtigen Impulse, sondern steuert den Klang insgesamt viel differenzierter als früher. Natürlich darf man von einem Komponisten erwarten, dass er seine eigene Musik wahrscheinlich besser kennen dürfte als die meisten Dirigierkollegen. Dennoch hat seine Ausstrahlung auf das BRSO heute einen unvergleichlich positiveren Effekt und unmittelbarere Wirkung als etwa in besagtem Konzert von 2017.

An diesem Abend gibt es vier Widmann-Stücke, allerdings keine Uraufführung. In Armonica (2006) versucht der Komponist, die fast jenseitigen klanglichen Sphären der Glasharmonika – diese steht nicht etwa als Soloinstrument ganz vorne, sondern weil dynamisch sonst chancenlos – mittels delikatester Orchestrierung quasi auf den gesamten Apparat zu erweitern. Dabei gelingen ausladende, organische Spannungsbögen mit nur einem absichtsvoll verstörenden „Abbruch“. Christa Schönfeldinger, mit den komplexen Anforderungen von Widmanns Partitur seit nunmehr über 60 Aufführungen bestens vertraut, beweist anschließend – als offizieller Programmpunkt bei der musica viva höchst ungewohnt – mit dem Standardwerk für die Glasharmonika, Wolfgang Amadeus Mozarts Adagio KV 356/617a, die wundervolle Zerbrechlichkeit und Klangschönheit ihres besonderen Instruments. Die Begegnung mit diesem Stück war für Widmann das anregende Schlüsselerlebnis für Armonica.

Wenn der Komponist ein Solo auf der Klarinette darbietet, ist dies immer hochspannend. Die eigenen Drei Schattentänze von 2013 beleuchten höchst kontrastierende Aspekte der Klangerzeugung: Im Echo-Tanz geht es um extreme Techniken des Überblasens, damit erzeugte Mehrstimmigkeit und Mikro-Tonalität. Die übrigen beiden benötigen elektro-akustische Unterstützung: Der (Under) Water Dance vermittelt die beabsichtigte Illusion mittels eines künstlichen Hallraums, der Danse africaine benutzt die Klarinette als imaginäres Schlagzeugensemble – mit Verstärkung. All dies stößt beim Publikum auf helle Begeisterung.

Der Danse macabre (2022) steht natürlich in der großen Tradition des Totentanzes, die nicht erst mit Saint-Saëns beginnt. Der Tod als einschmeichelnder, aber zugleich sarkastischer Werber für den letzten Weg alles Lebendigen, ist naturgemäß eine Steilvorlage für einen Instrumentationskünstler von Rang. Das verwendete Orchester ist noch nicht einmal überdimensioniert, enthält aber erwartungsgemäß Exoten wie Flexaton oder Waterphone – dessen Name verweist sowohl auf seinen wassergefüllten Korpus als auch den Erfinder Richard Waters, und das Instrument machte insbesondere in Filmmusiken des Horror-Genres Karriere. Für die Gattung ist Widmanns Beitrag mit 17 Minuten schon recht lang – mehr echte Tondichtung als nur netter Lärm wie z. B. Helmut Lachenmanns Marche fatale – und verwurstet verschiedene vertraute Tanzmodelle bis zur Groteske bzw. zum nackten Gerippe. Das hemmungslos tonale Hauptmotiv geht fast so ins Ohr wie Klaus Badelts Filmmusik zu Fluch der Karibik. Trotzdem ist das Publikum ob der leichten Zugänglichkeit des Werkes einigermaßen überrascht.

Das mit knapp 40 Minuten äußerst ausladende Konzert Towards Paradise für den nach wie vor phänomenal tonschön agierenden Trompeten-Weltstar Håkan Hardenberger gehört zur Gruppe der Labyrinth-Stücke, in denen Widmann immer auch seine momentane Befindlichkeit als Komponist reflektiert. 2021 prägte diese freilich die Corona-Situation, und so dreht sich der Weg ins Paradiesische nicht zuletzt um das Thema Einsamkeit, was durch den halbszenischen Gang des Solisten von außerhalb des Podiums durch die einzelnen Orchestergruppen, wo er mit unterschiedlichem Erfolg Anschluss sucht, bis zum Entschwinden in die „Katakomben“ des Herkulessaals am Ende überdeutlich wird. Anders als im 2002 für Sergei Nakariakov geschriebenen Konzertstück, das mit seinem Hochgeschwindigkeitswahnsinn Virtuosität ganz wörtlich ad absurdum führte, steht im Labyrinth VI Lyrik und Nachdenklichkeit im Vordergrund. Das Werk ist aber – trotz eindringlicher Choral-Andeutungen – keineswegs nur langsam.

Hardenberger nimmt vom ersten Augenblick die Zuhörer gefangen. Die exquisite Schönheit der Melodik seines riesigen Parts ist von geradezu erstaunlicher Einprägsamkeit, verlangt dafür eine unglaubliche Sicherheit in der Höhe, aber noch mehr Flexibilität im Ausdruck bei den großartigen Interaktionen mit einzelnen Teilen des Orchesters. In der Mitte gibt es zudem auch Jazz-Momente – die jedoch mit etwas zu wenig Synkopen nicht die Authentizität etwa von B. A. Zimmermanns Nobody knows de trouble I see erreichen. Die Innigkeit gerade an Stellen, wo die Trompete mit Dämpfern spielen muss, scheint bei Hardenberger unübertrefflich. Widmann ist hier meilenweit entfernt von der bis ins Extreme ausdifferenzierten Geräuschhaftigkeit seines Dritten Labyrinths, setzt auf Klangkombinationen, die stets aufhorchen lassen und emotional unterstützend wirken – so etwa Akkordeon oder gestrichene Crotales als schärfste Waffen im Diskant. Symbolisiert gegen Schluss Bachsche Kontrapunktik das Erreichen eines paradiesischen Zustands? Dunkles Blech und geheimnisvolles Schlagzeug stellen dies zumindest infrage, während Hardenberger als letztes Statement einsam ein dreigestrichenes Es verhaucht.

Selten einmütiger Applaus für eines der besten Werke Widmanns überhaupt, für ein in jeder Sekunde aufmerksam und empathisch mitgehendes BRSO und selbstverständlich die musikalische Glanzleistung des dann sehr glücklich wieder aus dem Off erscheinenden Solisten. Widmann wird zu Recht für die Erfüllung der hohen Erwartungen in allen drei Funktionen bejubelt – das soll ihm erst mal jemand nachmachen!

[Martin Blaumeiser, 1. Juli 2024]

Beglückender Abend des BRSO unter François-Xavier Roth bei der musica viva

Antoine Tamestit und François-Xavier Roth © Severin Vogl

Im Konzert der musica viva am 12. April 2024 im Münchner Herkulessaal spielte das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter François-Xavier Roth die Uraufführung des Bratschenkonzerts von Francesco Filidei (Solist: Antoine Tamestit), „Cloudline“ der US-Amerikanerin Elizabeth Ogonek sowie Iannis Xenakis‘ unglaublich herausforderndes Werk „Aïs“ – mit dem Bariton Georg Nigl und dem Schlagzeuger Dirk Rothbrust. Zu Ehren des kürzlich verstorbenen Komponisten und Dirigenten Peter Eötvös hatte man dessen Stück „Sirens’ Song“ zusätzlich aufs Programm gesetzt.

Im März 2024 haben wir innerhalb von nur elf Tagen gleich drei echte Weltstars der Neuen Musik verloren: Aribert Reimann, Maurizio Pollini, und am 24. 3. den Ungarn Peter Eötvös (Jahrgang 1944). Der war als Komponist bereits 1980 mit einem Kammermusikwerk bei der musica viva vertreten, hat dann ab 1989 regelmäßig das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks für dieses Format geleitet und dabei Musiker wie Publikum stets begeistert. 2019 war ein komplettes Programm Eötvös‘ eigener Musik gewidmet (wir berichteten). Grund genug, nach einer empathischen Würdigung durch Winrich Hopp und einer Schweigeminute eines seiner letzten Orchesterwerke – Sirens‘ Song von 2020 – erklingen zu lassen.

Schon hier spürt man, dass François-Xavier Roth und das BRSO einen großen Abend haben. Tatsächlich ist das Stück für mittelgroßes Orchester, in dem der Komponist versucht „hörbar zu machen, was Odysseus niemals zu Gehör bekommen hat“ (Eötvös) rhythmisch relativ simpel gestrickt. Harmonisch bilden zunächst Quint- und Tritonus-Schichten die Basis für liebreizende, zugleich ungreifbare Glissandi und wunderbare Bläser-Klangmischungen. Später kommen – von den Bässen ausgehend – Quartschichtungen hinzu; da wird’s schon gefährlicher – und die Bläser mutieren zu „Killervögeln mit Frauenköpfen“. Die Streicher ziehen die Zuhörer jedoch nach und nach in den Abgrund – fast unmerklich, ohne dass es laut würde. In einer kurzen Coda – quasi Dur – bleibt nur das sonnendurchflutete, ruhige Meer: hübsche, völlig nachvollziehbare Musik, die mit ihrer Schönheit auch das Publikum betört.

Francesco Filidei (*1973), der gerade an einer Oper nach Umberto Ecos Der Name der Rose arbeitet, hat die drei Sätze seines gut halbstündigen Konzerts für Viola und Orchester so ziemlich mit allen technisch-klanglichen Möglichkeiten gespickt, die sich für das – verglichen mit der Violine – solistisch immer noch etwas unterbelichtete Instrument anbieten. Der lange erste Satz Die Gärten von Vilnius ist eine Umarbeitung von Filideis gleichnamigem Cellokonzert. Hierbei bezieht sich der Komponist ausdrücklich beispielsweise auf die Tradition von Ottorino Respighis Tondichtungen. Die Verbindung von struktureller Klarheit – hier u. a. symmetrische bzw. „kreisförmige“, fraktale Motivbildungen – und beeindruckender Instrumentationskunst, etwa der konsequenten Auffächerung von Geräuschen über das totale Klangspektrum, sind wie immer bei ihm völlig faszinierend; ebenso, wie er die Solo-Viola dramaturgisch einsetzt. Der Mittelsatz ist rein humoristisch, sozusagen ein einziger, comic-artig vertonter Bratschenwitz. Antoine Tamestit muss hier auf „metronomische“ Vorgaben der Schlagzeuger Skalen, Flageolets usw. „üben“ – was natürlich schiefläuft. Die halbszenische Solistenpose wird dadurch völlig dekonstruiert: zur Posse. Dasselbe geschieht mit dem Material im Orchester, deutlich erkennbar etwa der C-Dur-Schlussfuge von Verdis Falstaff entnommen; die Einleitungstakte dazu werden – mittendrin – gar wörtlich zitiert. Aberwitzig ironisch erinnert dieses gut getimte Intermezzo den Rezensenten an den Mittelsatz TSIAJ („This Scherzo Is A Joke“) von Charles Ives‘ Klaviertrio. Das melancholische Finale – gegen Schluss erklingen nochmals Fragmente aus den Sätzen zuvor – bietet schließlich Tamestit die Gelegenheit, auf seiner Stradivari zu singen. Hinreißend, wie sich diese erfüllte Präsenz seiner Persönlichkeit auf den fast ausverkauften Herkulessaal überträgt: großer Beifall für ein musikalisch vielschichtiges Konzert.

Obwohl viel kürzer, kann Cloudline (2021) der jungen Amerikanerin Elizabeth Ogonek (*1989) – wie Filidei persönlich anwesend – Publikum wie Rezensent fast noch mehr begeistern. Selten hat man ein derartig natürliches, offenkundiges Gespür erlebt, für Orchester zu schreiben. Einerseits ausgehend von Wolken als Naturphänomen, andererseits dem Wunsch – und für die Uraufführung in der gigantischen Londoner Royal Albert Hall absolute Notwendigkeit –, mikrotonale Multiphonics der Klarinetten für einen größeren Klangkörper regelrecht zu instrumentieren, überzeugt dieses Werk auf ganzer Linie – bis ins Detail sensibelst austariert und im wohlklingenden Ergebnis einfach staunenswert.

Im krassen Gegensatz zu solcher Ästhetik steht Iannis Xenakis‘Aïs“ (= Hades), ein Auftragswerk für die musica viva von 1980 (UA 1981). Diese Auseinandersetzung mit dem Tod verlangt neben dem üblichen Riesenorchester einen Solo-Schlagzeuger – vor dem Orchester platziert und ganz vortrefflich: Dirk Rothbrust. Hauptprotagonist ist allerdings der Bariton, mit einer Partie, die – wie eigentlich das gesamte Stück – eine bewusste Zumutung darstellt. Über weite Strecken in höchster Lage der Kopfstimme, später in unglaublich schnellen Wechseln zwischen extrem tiefer – nur da hat man eine Chance, Textfragmente zu verstehen – und wiederum exponierter Falsettlage, muss sich der Solist sichtbar nicht nur gesangstechnisch, sondern ebenso emotional total verausgaben. Georg Nigl gelingt das einmal mehr überragend. Ob singend, schreiend oder deklamierend: Nigls Gestaltung geht an die Nieren, und er ist wohl der erste Sänger, der hier nicht wie ein unfreiwilliger Kastrat klingt, sondern von Beginn an dunkelste Ernsthaftigkeit zu transportieren vermag. Die leichte, leider suboptimale, da durch die benutzten Monitore zu sehr in die Breite gezogene Verstärkung, ist eher ein notwendiges Übel. Vor solch einem Künstler, der ja mit gleicher Energie einen Eisenstein (Fledermaus) gibt, kann man sich nur verneigen.

Das BRSO, von jeher mit einem verblüffend guten Zugang zur kompakten Musik Xenakis‘, legt diesmal wieder eine echte Glanzleistung hin. Man spürt förmlich die Begeisterung für diese alles andere als leichte Kost. Und Roth leitet das gesamte Konzert – auch er dirigiert ohne Taktstock – handwerklich präzise, hat zudem die unglaubliche Vielfalt verschiedenster Klänge mit klarer Vorstellung verinnerlicht und sie in den Proben seinen Musikern offensichtlich kongenial sehr nahegebracht. Trotz aller Herausforderungen wirkt er auf dem Podium völlig entspannt. In allen vier Werken zeigt das BRSO sich in Bestform, ist wirklich zu 100% souverän bei der Sache. Der Saal belohnt Solisten, Dirigent und Orchester schließlich mit Bravos und ungewohnt langanhaltendem Applaus. Wie gesagt: ein ganz besonderer Abend.

[Martin Blaumeiser, 13. April 2024]

Musica viva: Bewegendes Bratschenkonzert von Gubaidulina und eine überzeugende Borboudakis-Uraufführung

Neben drei neuen Werken – „Mali svitac“ und „Čvor“ von Milica Djordjević sowie „sparks, waves and horizons“ von Minas Borboudakis als Uraufführung – spielte das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter der Leitung von Duncan Ward am 23. Februar 2024 im Münchner Herkulessaal noch Charles Ives‘ Klassiker „Central Park in the Dark“. Als eigentliches Hauptwerk erwies sich allerdings Sofia Gubaidulinas Konzert für Viola und Orchester mit dem überragenden Solisten Lawrence Power.

Lawrence Power spielt mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Leitung von Duncan Ward, Photo © Astrid Ackermann/BR

Wohl um das 150. Geburtsjahr – 2024 gibt es noch weit mehr Jubiläen als Bruckner und Schönberg – des Vaters der amerikanischen Neuen Musik zu feiern, hatte man an den Anfang des musica viva Konzerts letzten Freitag Charles Ives‘ (1874‒1954) Klassiker Central Park in the Dark von 1906 gesetzt: immer noch erstaunlich aktuell mit seiner Collage von zunächst Naturlauten (Streicher), die nach und nach von menschlichen Klängen überlagert werden. Schon hierbei zeigte der junge britische Dirigent Duncan Ward, dass er einen komplexen Apparat – mit Fernorchester – absolut im Griff halten und klanglich subtil steuern kann.

Hatte die aus Serbien stammende Komponistin Milica Djordjević (*1984) vor 1½ Jahren den Rezensenten noch mit Mit o ptici überzeugen können, war die Wirkung der beiden jeweils unter 6-minütigen nun dargebotenen Stücke eher blass. Mali svitac, žestoko ozaren i prestravljen nesnošljivom lepotom [Kleines Glühwürmchen, grell beleuchtet und erschrocken von unerträglicher Schönheit], 2023 für die Berliner Philharmoniker komponiert, bezieht sich neben Naturerfahrungen der Kindheit auch wieder auf Dichtung Miroslav Antićs. Die Streicher sind hochdifferenziert geteilt, flirrend bis ins Geräuschhafte; Schlagzeug, Kontrafagott etc. machen unten Dampf. Leider wurde es dann ganz schnell langweilig; über die Bedeutung der chromatischen, offenkundigen Mahler-Allusion im Blech [Trauermarsch der 5. Symphonie, Zif. 18] hätte man gerne mehr erfahren. Farbigkeit und Dichte täuschten nicht darüber hinweg, dass mangels Zeit für zwingende Entwicklung – maximal 5 Minuten waren hier Vorgabe – vieles arg gewollt erschien: trotzdem starker Beifall.

Obwohl durch einen schmerzlichen Krankenhausaufenthalt geprägt, ist Djordjevićs Knoten [Čvor] bei vielen Zuhörern überhaupt nicht geplatzt. Das streicherlose Ensemble erzeugt von Beginn an unentwegt vor allem Schalldruck: lautes Gerappel in Klavier und Schlagwerk. Das sollte sicher absichtsvoll nervig sein, gewissermaßen zeitlichen Stillstand symbolisieren; eine existentielle Bedrohung wurde dadurch jedoch keinesfalls erfahrbar – schwach.

Ganz andere Dimensionen eröffnete der schon lange in München tätige kretische Komponist Minas Borboudakis (*1974) in seinem 26-minütigen Stück sparks, waves and horizons. Mit nur 3-facher Bläserbesetzung, aber gewaltigem Schlagzeugapparat wurde hier die Figur der Welle formgebend. Plumpen Naturalismus vermeidet der ehemalige Schüler u. a. Wilfried Hillers dabei konsequent. Im Orchester hörte man sehr vielschichtige Klänge: spektral geprägte Klangflächen neben distinkten Einzelereignissen und sehr individuellen Instrumentationsideen an den Höhepunkten. Schöne, klare Effekte – besonders im Klavier und melodischem Schlagwerk –, nie zu viel gleichzeitig, sogar mal tonale Akkorde im Blech, vermittelten teils echte Dramatik. Dort, wo die Musik quasi „steht“, wurde es leider auch wieder ziemlich uninteressant – eher Flaute statt Funken. Das mit komplexen Mitteln – Loops, Polyrhythmik, „Morphing“ – bewirkte Auf und Ab schien letztlich doch recht vorhersehbar. Duncan Ward pinselte dies anfangs ziemlich trocken und steif, fast so eckig wie Stop-Motion-Animationen à la Ray Harryhausen, zeigte mit der linken Hand nur wenig. Vieles lief bei ihm über Grimassen – was indes erstaunlich präzise funktionierte. Dafür hörte er genau hin und reagierte extrem vorausschauend und umsichtig – das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks spielte erneut hochengagiert und in Top-Form. Insgesamt zweifellos eine gelungene Uraufführung, die entsprechend honoriert wurde.

Der Höhepunkt des Abends war allerdings dann ganz klar das über eine halbe Stunde währende Bratschenkonzert (1996) von Altmeisterin Sofia Gubaidulina (*1931), sensationell vorgetragen vom Briten Lawrence Power, der von Beginn an nicht nur mit enormer Klangfülle, sondern zudem mit einem schon akustisch ungewöhnlich tragfähigen Instrument aufwarten konnte. Gubaidulina hat den Solopart 2015 gründlich revidiert; vieles ist nun nochmals differenzierter, teils zugleich roher als in der Fassung für Yuri Bashmet. Power – der in der anstrengenden Partie viele Soli zu gestalten hat – agierte sowohl sensibel als auch äußerst kratzbürstig, oft unzähmbar wie ein Wespennest, wo es die Partitur fordert. Solist und Orchester finden in diesem Werk kaum das Miteinander – zwei Welten stehen sich unvereinbar gegenüber, höchstens mal vermittelt durch ein um einen Halbton tiefer gestimmtes Streichquartett innerhalb des Ensembles. Und wie unheimlich wirkten hier die nach einem Drittel zum Einsatz kommenden Wagner-Tuben, gerade im Unisono! Derartige musikalische Zeichen klappen emotional halt punktgenau. Ward dirigierte nun weitaus elastischer als zuvor. Das zutiefst beeindruckende Konzert lag offensichtlich allen Beteiligten – am Schluss nicht enden wollender Applaus, jedoch keine Zugabe. Was soll man solchen Gänsehaut-Momenten auch noch hinzufügen?

[Martin Blaumeiser, 25. Februar 2024]

Gelungene Uraufführung von Johannes Kalitzke und ein bemerkenswertes Orchesterwerk Luc Ferraris

Das zweite Saisonkonzert der musica viva mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks fand am Freitag, 10. November 2023, wieder im üblichen Herkulessaal statt. Johannes Kalitzke dirigierte neben einer eigenen Uraufführung („Zeitkapsel“) noch Lisa Streichs„Jubelhemd“ und Luc Ferraris „Histoire du Plaisir et de la Désolation“. Die Solisten in Streichs Komposition waren Marco Blaauw (Trompete), Dirk Rothbrust (Schlagzeug), Maria Stange (Harfe) und Axel Porath (Viola).

Als Dirigent seit vielen Jahren regelmäßiger Gast bei der musica viva, leitete Johannes Kalitzke (*1959) im Konzert am 10. 11. 2023 das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks zunächst bei der Uraufführung einer eigenen Komposition mit dem Titel Zeitkapsel. Das 25-minütige Stück hat äußerlich die Form eines Totentanzes, besteht aus mehreren, recht klar getrennten „Sätzen“, die durch eine Art Concertino – hier sechs Fagotte und zwei Saxophone mit herrlich dunklem Klang – wie im Concerto Grosso zusammengehalten werden. Stilisierte, dysfunktionalisierte Tanzrhythmen im Orchester wurden durch elektronisch zugespielte Samples ergänzt – entsprechend den persönlichen Fundstücken (Zeitkapseln), die Erbauer in alten Gemäuern oder eigene Vorfahren etwa auf Dachböden hinterlassen haben; darunter so divergente Klänge wie Flammenwerfer oder am Schluss die älteste Tonaufnahme auf Wachspapier von 1860: das Kinderlied Au Claire de la Lune. Dass diese durchgängigen elektronischen Einsprengsel – die erkennen lassen, dass Kalitzke u. a. Schüler von York Höller war – nicht wie Fremdkörper, sondern als echte Erweiterungen des Orchesterklangs wirkten, war nicht zuletzt der exzellenten, unaufdringlichen Klangregie von Sebastian Schottke zu verdanken. Kalitzke dirigierte wie gewohnt stets präzise, glasklar, engagiert, suggestiv und ohne Mätzchen, hörte den Musikern genau zu und griff zuvorkommend ein, wenn nötig. Seine wirkungsvolle, sehr virtuose Musik – am Ende spooky – kam auch beim Publikum gut an.

Die schwedischstämmige, aber vor allem im deutschsprachigen Raum ausgebildete Lisa Streich (Jahrgang 1985) wurde bereits mit Preisen überhäuft – u. a. dem Ernst von Siemens Förderpreis (2017) – und nennt ihr Stück Jubelhemd (2021) ausdrücklich Concerto Grosso. Die ungewöhnliche Instrumentenkombination des Concertinos – Trompete, Schlagzeug, Harfe und Viola – sollte wohl als Projektion des recht großen, enorm farbig gesetzten Orchesters auf kammermusikalische Ebene fungieren. Dabei wird die für die Komponistin leicht zwanghafte Vorgabe einer jubilierenden Musik – ein Auftrag schwedischer Orchester inmitten der Pandemie – derart konterkariert, dass sich die Solisten trotz höchster virtuoser Anforderungen – besonders hervorzuheben der Trompeter Marco Blaauw – nicht wirklich entfalten können. Jubelgesten, von Anklängen an Bach-Trompete bis zu U-Musik – „Mutantenstadl“ mit Zitaten von Offenbach oder Johann Strauss – werden im Keim erstickt. Streichs regelmäßig genutzte, detonierte, aus der tonalen (Chor-)musik stammenden Akkorde, wirkten hingegen erstaunlich fein und schön – und regten die Zuhörer offensichtlich ähnlich an wie die berühmte Madeleine in Prousts Recherche. Die vielen tollen Ansätze in dieser sensiblen Musik wurden leider dadurch zunichte gemacht, dass der monorhythmische Beginn nie wirklich verlassen wird, bis auf einen hilflosen Ausbruchsversuch mit merkwürdiger Kirmesmusik kurz vor Schluss. Insgesamt erhielt die doch über Strecken ziemlich fade Komposition dann auch lediglich freundlichen Beifall.

Den Pariser Luc Ferrari (1929–2005) dürfte man vor allem mit musique concrète in Form von Tonbandkompositionen in Verbindung bringen. Abgesehen von seinem rein instrumentalen Frühwerk – als Pianist war er z. B. noch Schüler des berühmten Alfred Cortot – sind Stücke ohne Tonbänder oder Elektronik eine Seltenheit, Histoire du Plaisir et de la Désolation (1982 uraufgeführt) somit ein echtes Unikum. Die 35-minütige, gewaltig besetzte Komposition besteht aus drei attacca aufeinanderfolgenden Sätzen mit klar unterscheidbarem Material. Grundidee dabei ist laut Kalitzke die sogenannte Bandschleife. Obwohl hier also ständig Repetitionsmuster werkelten und der kurze erste Satz über gleichmäßigen Fundamentalbässen des Schlagzeugs – fast wie ein Auftritt Godzillas – höllische Klänge entwickelte, wurde das Stück nie langweilig. Ferraris Musik, opulent und voller Lebensenergie, beschäftigte sich allerdings, offenkundig geprägt vom französischen Existenzialismus, sehr ernsthaft mit dem Gegensatz von Lust und Verzweiflung – letztlich wie Kalitzkes Totentanz mit Vergänglichkeit. Im zweiten Abschnitt dominierten hellere Farben, teils mit Becken-Grundierung und man wurde eingeschobener, bestimmten Frauen gewidmeter Zitate gewahr. Die Désolation des langen dritten Satzes manifestierte sich u. a. mit dem x-maligen Ansetzen einer a-Moll Kadenz, auf deren Auflösung man jedoch vergeblich wartete. Ein eindrucksvolles Stück, bei dem Kalitzke auch effektiv die Langstrecken-Dynamik des einmal mehr großartig aufgelegten BRSO führte und den Herkulessaal in einen wahren Klangrausch versetzte, der dann mit langanhaltendem Applaus bedacht wurde.

[Martin Blaumeiser, November 2023]

Simon Rattle eröffnet mit Žuraj und Berio die neue Saison der musica viva

Chor und Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks starteten die neue musica viva Saison am Freitag, 13. Oktober 2023, erstmals in der Münchner Isarphilharmonie und unter der Leitung ihres neuen Chefdirigenten Sir Simon Rattle. Auf dem Programm standen die Uraufführung von Automatones des slowenischen Komponisten Vito Žuraj sowie Luciano Berios großangelegtes Meisterwerk „Coro“.

Sir Simon Rattle, Photo © Astrid Ackermann/BR

Nachdem sich der vor knapp vier Jahren verstorbene Mariss Jansons von den Symphoniekonzerten der musica viva erstaunlich zurückgehalten hatte, ließ es sich Sir Simon Rattle nicht nehmen, auch hierbei die Saison höchstpersönlich zu eröffnen. Damit bekundete er zudem seinen Willen, eine alte Tradition der Chefdirigenten beim Bayerischen Rundfunk weiterzuführen und sich für diese in der Neue-Musik-Szene nach wie vor einmalige Veranstaltungsreihe weiterhin ganz besonders zu engagieren. Dafür hatte man letzten Freitag – wohl nicht nur wegen der offenkundigen Unmöglichkeit, im gewohnten Herkulessaal die von Berios „Coro“ geforderte, besondere Sitzordnung zu realisieren – gewagt, erstmals die Isarphilharmonie zu bespielen. Was die Besucherzahlen betrifft, ging dies voll auf: Der HP8 war zwar nicht ausverkauft, jedoch kam schätzungsweise mehr Publikum als der Herkulessaal überhaupt hätte fassen können.

Vor dem eigentlichen Konzert, um 19:20 Uhr, durften im Foyer 24 Zwölftklässlerinnen des Münchner Max-Josef-Stifts unter der Leitung von Dietmar Wiesner ihre kollaborative Komposition Coro 2.0 zu Gehör bringen, Ergebnis eines u. a. von Cathy Milliken und Lucie Wohlgenannt aufwändig vorbereiteten musica viva-Education-Projektes. Hierbei entstand ein knapp 12-minütiges Stück, das sich zwar an Methoden und Prozesse von Berios Coro anlehnt, etwa ebenso Volksliedmaterialien einbezieht, aber als Musik- und Textcollage ganz eigenständig erarbeitet wurde. Schade, dass diese ansprechende Darbietung von Teilen des gerade hereinströmenden Publikums quasi ignoriert wurde und im Umgebungslärm beinahe unterging. Zeitpunkt und Ort waren somit leider ziemlich unvorteilhaft gewählt.

Die Anregung zu Vito Žurajs (*1979) großbesetzter, 25-minütiger Auftragskomposition Automatones findet sich in der aus der griechischen Mythologie weniger bekannten Geschichte über von Hephaistos und Dädalus erschaffene, belebte Metallstatuen von Tieren, Menschen und Monstern, die angeblich sogar fühlen und denken konnten. Unabhängig davon, wie diese antiken Illusionen im Detail gedacht gewesen sein mögen, bedient sich der Slowene Žuraj geschickt ausgeklügeltster Klangillusionen, sowohl aus harmonischer wie rhythmischer Sicht: Melodisch-harmonisch werkelt da etwa die berühmte Shepard-Skala, die dem Hörer eine unendlich auf- oder absteigende Linie vorgaukelt, und gleichermaßen trifft man auf rhythmische Strukturen, die nur scheinbar immer weiter beschleunigen bzw. ritardieren. Ein passender Vergleich aus der bildenden Kunst wären da Maurits C. Eschers bekannte Grafiken von „unmöglichen“ Geometrien. Dazu kommt eine enorm abwechslungsreiche, zugleich divergente Orchestrierung, selbstbewusst irgendwie zusammengehalten von Klavier, Akkordeon, Horn und Harfe – letztere durch Skordatur schon verfremdet.

Žuraj, der auch Musikinformatik studiert hat, nutzt bei der detaillierten Ausarbeitung seiner komplexen Klangwelten durchaus die Unterstützung eigener Computeralgorithmen, gibt aber nie das Heft menschlicher Entscheidung aus der Hand. Schmunzeln durfte man über witzige Seitenhiebe in Richtung der derzeit allgegenwärtigen Diskussion um künstliche Intelligenz, so in zwei Passagen, wo die Blechbläser nur ihre Mundstücke benutzten. Rattle und das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks spielten diese instrumental höchst virtuose Musik mit Präzision und sichtlichem Vergnügen. Freilich wurde hier keine Geschichte wie z. B. in Paul Dukas‘ Vertonung von Goethes Zauberlehrling erzählt, und die genannten wiedererkennbaren Effekte ermüdeten auf Dauer, wo substanzielle musikalische Aussagen fehlten. Das Publikum nahm diese Uraufführung dann auch eher erheitert zur Kenntnis.

Von ganz anderem Kaliber erwies sich naturgemäß Luciano Berios (1925–2003) Coro von 1975–77, neben der berühmteren Sinfonia eines der Hauptwerke des großen Italieners. Das Stück für 40 Sänger und 44 Instrumentalisten verlangt eine exakt festgelegte, gemischte Sitzordnung, so dass jedem Sänger des Chors des Bayerischen Rundfunks (Einstudierung: Peter Dijkstra und Max Hanft) ein bestimmtes Instrument zugeordnet ist, und sich diese bereits lokal sehr kommunikativen Paarungen als echte Duos bald bis ins Tutti erweitern. Dies geht also von solistisch tätigen Einzelstimmen – das Riesenwerk beginnt relativ harmlos wie ein schlichtes Kunstlied mit reiner Klavierbegleitung (sensibel und ausdrucksstark: Lukas Maria Kuen) – über Ensemblegruppen bis hin zur oft in gewaltigen, tatsächlich 40-stimmigen Clustern ausbrechenden Klangtotalen, insbesondere bei den immer wieder eingestreuten Zeilen Venid a ver… („Kommt zu sehen das Blut auf den Straßen“) des chilenischen Dichters Pablo Neruda.

Kontrastierend zur gewaltigen Anklage Nerudas stammen die übrigen Texte („documenti populari“, Berio) aus über den gesamten Globus verteilten Volksdichtungen, allerdings – abgesehen vom Hebräischen – jeweils in die fünf wichtigsten westeuropäischen Sprachen übersetzt. Diese handeln ganz elementar und mit fast ritueller Kraft von Liebe, Arbeit und Bedrohung. Den rituellen Bezug schöpfte Berio nicht zuletzt aus besonderen Techniken musikalischen Zusammenspiels („Klangmaschine“) der zentralafrikanischen Banda Linda – und gerade diese bildeten in der Interpretation Simon Rattles den Kitt, der verhinderte, dass das Ganze auch nur für einen Moment ins Episodische zu zerfallen drohte.

Bei der letzten Münchner Aufführung von „Coro“ – 2017 mit dem MusicÆterna Choir und dem Mahler Chamber Orchestra – hatte Teodor Currentzis ganz auf die Schockwirkung großer Gegensätze vertraut, wohingegen Rattles Sichtweise erfolgreich versuchte, die unterschiedlichen Ebenen zu verbinden – für Berio alles Aspekte menschlicher Existenz. Chor – mit meist hervorragender Textverständlichkeit – und Orchester formten dabei berührende, stimmungsvolle Mischklänge, die sich kontinuierlich transformierten. Ebenso agierten die Chorsolisten klangschön, temperamentvoll, aber emotional nie überhitzt, und die Tutti-Ausbrüche gingen umso mehr unter die Haut. Bei Rattle – der das nun 52-minütige Stück deutlich schneller dirigierte als noch 2010 in Berlin – hatte dann selbst der Schluss (Neruda!) wenig Desolates, eher betroffene Erhabenheit, bei allem Ernst immer noch mit einem Funken Hoffnung. Für die fabelhafte Leistung aller Beteiligten gab es verdient langanhaltenden Beifall. Rattles Fähigkeit, wirklich schwieriges Repertoire dem Publikum ohne Überforderung zu vermitteln, bleibt bewundernswert.

[Martin Blaumeiser, Oktober 2023]

50-jähriges Jubiläum der Ernst von Siemens Musikstiftung mit den Berliner Philharmonikern

Mit dem diesjährigen räsonanz Stifterkonzert feierte die Ernst von Siemens Musikstiftung am 17. September 2023 zugleich ihr 50-jähriges Bestehen. Zur Veranstaltung im Rahmen der musica viva des BR in der Münchner Isarphilharmonie hatte man keine Geringeren als die Berliner Philharmoniker unter ihrem Chefdirigenten Kirill Petrenko eingeladen. Zu erleben gab es vier großbesetzte Werke: Iannis Xenakis‘ „Jonchaies“, Márton Illés‘ „Lég-szín-tér“, Karl Amadeus Hartmanns „Gesangsszene“ (mit dem Bariton Christian Gerhaher) und György Kurtágs „Stele“.

Die Berliner Philharmoniker unter Kirill Petrenko © BR, Astrid Ackermann

Seit dem ersten räsonanz Stifterkonzert 2016 hat man es stets geschafft, in München sonst selten zu hörende, hochrangige Klangkörper einzuladen. Zur Feier ihres 50-jährigen Bestehens ließ sich die Ernst von Siemens Musikstiftung nun erst recht nicht lumpen. Da durften dann die kürzlich erneut zum weltbesten Orchester gekürten Berliner Philharmoniker unter Kirill Petrenko erstmals in der ausverkauften Isarphilharmonie spielen. Erwartbar, aber angesichts des immens anspruchsvollen Programmes durchaus eine Herausforderung auch an die Zuhörer.

Angesetzt waren – man hatte dies die drei Tage zuvor bereits so in Berlin gespielt – neben einer Uraufführungskomposition wieder aufwändig zu realisierende und daher selten zu hörende Werke – ausdrückliches Anliegen der Stifterkonzerte. Die Berliner Philharmoniker beginnen mit Iannis Xenakis (1922–2001): Jonchaies (1977) ist mit in der Partitur explizit geforderten 109 Spielern das größtbesetzte seiner reinen Orchesterwerke – und vielleicht sein bestes. Zwar hat Xenakis immer betont, dass er von gänzlich außermusikalischen – offenkundig stark durch Mathematik und moderne Architekturprinzipien geprägten – Ideen ausgeht, gleichzeitig strahlt seine Musik nicht nur eine eindringliche formale Konsistenz aus: Sie wirkt immens körperlich, verfügt schon rein klanglich über eine Sogwirkung, der man sich nicht entziehen kann, und erzeugt beim Publikum durchaus Assoziationen, die sich dann emotional entladen können. So wird der Rezensent in den ersten zwei Minuten des Stücks unweigerlich sowohl an die Filmmusiken von Hitchcocks Psycho (Bernard Herrmann) als auch von Spielbergs Der weiße Hai („Jaws“, John Williams) erinnert. Jonchaies wird über Strecken tatsächlich wirklich sehr laut: Völlig faszinierend, wie Petrenko, der höchst sachlich die konstruktiven Facetten des Werkes modelliert, sogar in einem dreifachen Forte nochmals etwas draufzusetzen vermag; Ergebnis sorgfältigster Probenarbeit. Alles ist sehr differenziert bis ins Detail austariert; lediglich die Paukenbatterien dröhnen an ein, zwei Stellen selbst den komplett geteilten, riesigen Streicherapparat weg, was aber den akustischen Unzulänglichkeiten des HP8 geschuldet ist. Eine höchst beeindruckende, dionysische Klangorgie, die allerdings keine Minute länger sein dürfte, in absolut perfekter Darbietung.

Das Auftragswerk für dieses Konzert, Lég-szín-tér, zu übersetzen mit „Luft-Farbe-Raum“, stammt vom Ungarn Márton Illés (Jahrgang 1975) – schon 2008 Förderpreisträger Komposition der Ernst von Siemens Musikstiftung. Illés verfügt über ein enormes Instrumentationsgeschick: Das gegenüber Xenakis etwas kleinere Orchester wird noch konsequenter bis auf den einzelnen Spieler hin ausdifferenziert, mit einem – heutzutage üblichen – dichteren Spektrum vielfältigster Spieltechniken, das im Gegensatz zu anderen Tonsetzern seiner Generation hier zum Glück nie zum Selbstzweck gerät. Schon toll, wie manche Klangrezepturen zum fantastischen Vexierspiel oder gar zur Camouflage werden: Sehr helle Klänge ziemlich zu Anfang stammen so etwa nicht von den hohen Streichern oder Bläsern, sondern von Akkordeon und mit Kontrabassbogen gestrichenen Zimbeln. Das wirkt immer sehr farbig, und die Dynamik ist ebenso zwingend. Die Streicher etablieren schnell mit kaum hörbaren Tupfern quasi ihren „Raum“. Sehr konzentriert und doch überraschend, wie sich im zweiten Abschnitt des dreisätzigen Werks quasi aus dem Nichts eine gewaltige Steigerung entwickelt. Der dritte Satz imitiert mit rein instrumentalen Mitteln gekonnt elektronische Klänge. Was dieser Musik leider – zumindest beim ersten Hören – fehlt, ist eine nachvollziehbare Form oder Teleologie. Dennoch erhalten das Stück und seine Wiedergabe fast ungeteilte Zustimmung.

Nach der Pause verneigt man sich vor dem Begründer der Münchner musica viva, Karl Amadeus Hartmann, mit einer grandiosen Aufführung seiner letzten größeren Komposition, der Gesangsszene nach Worten aus Sodom und Gomorrha von Jean Giraudoux (1963). Der eine erschreckende Weltuntergangsstimmung beschwörende Text passte für Hartmann auf die Zeit des Kalten Krieges und erscheint angesichts der derzeitigen Katastrophen aktueller denn je. Der wie immer famose Bariton Christian Gerhaher gestaltet die teils gesungene, stellenweise gesprochene Partie mit überwältigender Ausdruckskraft. Hartmann lässt die Stimme zwar oft dann einsetzen, wenn das Orchester gerade nicht spielt. Gerhaher füllt so mühelos den großen Saal, bleibt mit klarster Diktion und Textverständlichkeit selbst dann präsent, wenn er gegen das Orchester im Forte beinahe anbrüllen muss. Dies ist freilich kompositorisch genauestens einkalkuliert, wird auch emotional von Gerhaher exakt richtig dosiert. Wieder gelingt den Berlinern und ihrem Chef eine Glanzleistung: Vom beginnenden Flötensolo – mit dem sich später der Kreis wieder schließen wird – über die zunächst zärtlich gebändigten, zugleich intensiven Streicherklänge bis zu manch irrsinniger Steigerung wird hier Hartmanns zwölftönige Polyphonie minutiös aufs Schönste realisiert. Der apokalyptische Textschluss („Es ist ein Ende der Welt! Das Traurigste von allen…“) lässt das Publikum zunächst sprachlos, bis verdient tosender Beifall losbricht.

Jetzt noch die 1994 für Claudio Abbado und seine Philharmoniker geschriebene Trauermusik Stele des ungarischen Altmeisters für Miniaturen, György Kurtág (*1926), zu bringen, passt zwar in den Kontext, ist jedoch fast schon zu viel des Guten. Für Kurtágs Verhältnisse war dieses Stück – von der Besetzung (u. a. mit Wagnertuben, 2 Klavieren und natürlich dem ungarischen Identifikationsinstrument, dem Cimbalom) wie von der Länge her – immerhin knapp 13 Minuten – eine ungewöhnliche Herausforderung. Ganz zum Schluss scheint diese dreisätzige symphonie funèbre, in der sich Minimalistisches zwischendurch erfolglos gegen den Tod aufzubäumen scheint, mit ihren matten Impulsen – an die gefrorenen Tränen in Bartóks Herzog Blaubarts Burg erinnernd – sogar irgendwie tröstlich. Kirill Petrenko erzeugt zuletzt eine geradezu erhabene Stille. Danach nicht enden wollende Ovationen; selbst Orchester und Dirigent beglückwünschen sich gegenseitig aufs Herzlichste. Wen wundert’s nach diesem anstrengenden Programm vier Tage hintereinander? Den Münchnern wird ein beglückender Konzertabend sicherlich noch lange in bester Erinnerung bleiben.

[Martin Blaumeiser, 18. 9.2023]

Erneuter Aufguss von Lachenmanns „My Melodies“

Im Herkulessaal widmete sich das letzte Konzert der laufenden musica viva Saison am 23. Juni 2023 einmal mehr der Musik Helmut Lachenmanns. Unter der Leitung von Matthias Hermann spielte das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks mit seiner fantastischen Horngruppe allerdings lediglich die Neufassung der großformatigen My Melodies, die hier vor 5 Jahren uraufgeführt worden waren. Vor der Pause erklangen zwei imposante Duos: Salut für Caudwell mit den Gitarristen Mats Scheidegger und Stephan Schmidt sowie GOT LOST, dargeboten von der Sopranistin Yuko Kakuta und Pierre-Laurent Aimard am Flügel.

Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, Matthias Hermann [© BR / Astrid Ackermann]

Wenn man die Ankündigung für das letzte musica viva Konzert vor der Sommerpause las, war man versucht, an den Film Und täglich grüßt das Murmeltier zu denken, so sehr ähnelte das Programm demjenigen vor gut 5 Jahren, wo ebenfalls Pierre-Laurent Aimard als Pianist auftrat und Helmut Lachenmanns beeindruckende „Musik für acht Hörner und Orchester“ My Melodies ihre Uraufführung erlebte (wir berichteten). Im Vorfeld gab es mehrere Absagen: Zunächst sprang Lachenmanns Schüler und langjähriger Freund Matthias Hermann für den erkrankten Peter Eötvös ein, der sonst auch die Neufassung von My Melodies dirigiert hätte. Und ganz kurzfristig musste noch Ersatz für das Trio Recherche gefunden werden, welches für das neue, zweite Streichtrio Mes Adieux von 2021/22 eingeplant war. Statt des angekündigten „Adieus“ gab es nun zu Beginn des Konzerts ein „Salut“: Salut für Caudwell (1977), das von den beiden Gitarristen Mats Scheidegger und Stephan Schmidt dargeboten wurde, die man bei My Melodies eh‘ für die E-Gitarren im Orchester engagiert hatte und die das Duo-Stück erst kürzlich eingespielt haben.

Lachenmanns „Musik für zwei Gitarristen“ erweist sich nicht nur von seiner Länge her als passender Ersatz für das Streichtrio. Obwohl über 45 Jahre alt, zeigt sich bereits hier, dass eine Reduktion des Komponisten auf reine Verweigerungsästhetik seinem Werk keinesfalls gerecht wird. Natürlich verwendet er die beiden Gitarren über das gesamte, gut 25-minütige Stück vorwiegend unkonventionell: Über weite Strecken spielen sich intensive Plektrumklänge in höchster Lage ab – jenseits der Bünde, die bestimmte Tonhöhen fixieren. Entsprechend dominieren so dauernde Glissando-Effekte; die Textvorlage des im spanischen Bürgerkrieg gefallenen britischen Marxisten Christopher Caudwell – eine Kritik des bürgerlichen Kunstbegriffs – wird von den Musikern teilweise sehr prononciert auf Deutsch rezitiert usw. Scheidegger und Schmidt bleiben selbst dort, wo die anfänglich stabilen Rhythmen variabler werden, immer spannungsvoll und verständlich. Die halsbrecherisch virtuosen Figurationen erinnern den Hörer einerseits an Freiheiten wie etwa den Beginn von Pendereckis 1. Streichquartett, andererseits an die kalte Strenge von Nancarrows Etüden für Player Piano – eine insgesamt ungemein eindringliche Darbietung.

Noch stärker dann GOT LOST (2007/08), quasi eine 28-minütige Auseinandersetzung mit dem Kunstlied, dabei fast schon Musiktheater. Drei scheinbar völlig divergierende Texte –Nietzsches Vierzeiler Der Wandrer, Fernando Pessoas Todas as cartas de amor são ridículas und eine kurze, profane Annonce – werden bis in kleinste, kaum mehr als Worte identifizierbare Fragmente zerlegt: musikalisch vielfältigste Gesten, die aber in der enorm intensiven und bewussten Wiedergabe der japanischen Sopranistin Yuko Kakuta absolut faszinierend geraten. Besonders eindrucksvoll, wenn sie direkt in den Flügel singt, und der Resonanzraum den Klang ihrer Stimme fast wie ein langanhaltendes, natürliches „Echo“ weiterträgt. Pierre-Laurent Aimard ist hierbei mit seinem höchst anspruchsvollen Klavierpart – auch er muss mit dem Mund arbeiten, dazu mit einer Vielzahl von Präparationen im Flügel zurechtkommen – völlig gleichberechtigt, engagiert sich gespannt wie ein Flitzebogen und begeistert mit Raffinement und völliger Durchsichtigkeit. Diese musikalische Glanzleistung wird selbstverständlich mit entsprechendem Beifall bedacht.

Trotz des Triumphs 2018 – sowie weiterer Aufführungen mit den Berliner Philharmonikern unter Simon Rattle – war Lachenmann mit My Melodies wohl längst nicht zufrieden und erstellte nun eine Neufassung, die anscheinend – zum genauen Vergleich müsste man beide Partituren gründlichst studieren – die Gesamtform weitgehend unangetastet lässt, an wenigen Stellen erweitert und im Detail, insbesondere im Satz der acht solistischen Hörner, viele Dinge weiter verfeinert. Zudem hat ein Neue Musik souverän meisternder Klangkörper wie das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks wohl selten Gelegenheit, nach relativ kurzer Zeit ein solch komplex ausgearbeitetes Werk nochmals einzustudieren. Andreas Hermanns Dirigat wirkt leider ziemlich steif: Er schlägt sehr mechanisch, dazu mit der Linken, die nur Einsätze gibt, meist parallel. Nur oberhalb von Forte scheint er auch körperlich mitzugehen. Kein Vergleich mit Peter Eötvös, jedoch darf der äußere Eindruck nicht darüber hinwegtäuschen, dass Hermann anscheinend mit dem Orchester ganz ausgezeichnete Probenarbeit geleistet hat. So funktioniert nicht nur das überragende Solistenensemble der acht Hörner – Carsten Duffin, Ursula Kepser, Thomas Ruh, Ralf Springmann, Norbert Dausacker, François Bastian, Marlene Pschorr (Gast) und Marcin Sikorski – wie vom Komponisten intendiert erneut als ein einziger, atmender Organismus. Auch zahlreiche (teils neue?) leise Bogeneffekte in den Streichern erscheinen nun wie ein zartes Gebläse – die Musik erzeugt sich dadurch sozusagen ständig ihren eigenen „Raum“. Ebenso gebührt der Schlagzeuggruppe ganz besonderes Lob. Jedenfalls gelingt es, die Hörer im Saal zu zwingen, über 40 Minuten jedem noch so winzigem Klangereignis nachzuspüren. Der Applaus beginnt danach erst zögerlich, steigert sich aber, als der 87-jährige Komponist die Bühne betritt, in echte Begeisterung. Die Hörner dürfen sogar die ausgefeilte, absolut verrückte Kadenz kurz vor Schluss von My Melodies noch einmal wiederholen – großartig!

[Martin Blaumeiser, Juni 2023]

Die Rückkehr orchestraler Opulenz – Werke von Lim, Verunelli und Dusapin bei der musica viva

Liza Lim und Franck Ollu © Astrid Ackermann/BR

Anschließend an die – für 2021 nachgeholte – Verleihung der „Happy New Ears“ Preise in der Bayerischen Akademie der Schönen Künste spielte am 12.5.2023 das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks im Herkulessaal bei der musica viva den 2. Teil des Annunciation Triptychs: „Mary / Transcendence after Trauma“ der Preisträgerin für Komposition, Liza Lim. Anschließend erklangen die Uraufführung von Francesca Verunellis „Accord, chord and tune“ für Akkordeon und Orchester (Solist: Krassimir Sterev) sowie „Morning in Long Island“ von Pascal Dusapin. Es dirigierte Franck Ollu.

Auch die Verleihung der im 2-Jahres-Turnus vergebenen Happy New Ears Preise der Hans und Gertrud Zender-Stiftung für 2021 konnte coronabedingt erst jetzt in der Bayerischen Akademie der Schönen Künste nachgeholt werden. Wolfgang Rathert hielt die Laudationes und betonte bei der Preisträgerin für Komposition, der Australierin Liza Lim, die Weltbezogenheit und das politische Engagement ihrer Musik. Der Preisträger für Publizistik zur Neuen Musik, der italienische Musikwissenschaftler Gianmaria Borio, wurde für sein umfangreiches Schaffen beiderseits des Atlantiks – darunter eine 4-bändige Geschichte der Darmstädter Ferienkurse – gewürdigt. Die kurzen, umso prägnanteren Danksagungen der Ausgezeichneten hielten diese in perfektem Deutsch – und erstmals in diesem Rahmen erklang ein kleiner musikalischer Beitrag: Matthew Sadler spielte Lims faszinierendes Trompetensolo Wild Winged-One.

Das Symphoniekonzert beginnt mit Liza Lims 2. Teil ihres Annunciation Triptychs: Mary / Transcendence after Trauma (2020/21), mit dem nun hoffentlich die Reihe der „verpassten“ musica viva Uraufführungen – das Triptychon wurde stattdessen 2022 in Köln von Cristian Măcelaru aus der Taufe gehoben – endet. Ganz im Gegensatz zu Lims zuletzt im Herkulessaal gespielter, hochpolitischer Performance instrumentalen Theaters Extinction Events and Dawn Chorus (wir berichteten) beschäftigt sich Lim hier mit dem Mysterium von Mariä Verkündigung und bedient sich dabei einer gewaltigen Palette orchestraler Klangfarben, deren Opulenz sie mit einer Meisterschaft beherrscht, die in jedem Detail absolut überzeugt. So gut wie nichts ist dabei konventionell oder gar ein Rückgriff in die Kiste der Neo-Romantik. Vom zarten Beginn der Spring Drums und Streicher bis zu ehrfurchtgebietenden Blechbläserglissandi – die die Komposition inspirierenden Texte schlagen von der Geschichte der Verkündigung eine Brücke bis zur Reflexion der Offenbarung – zeugt das gesamte, ca. 18-minütige Stück von tiefer spiritueller Versenkung, auch gerade in eher lauten Abschnitten. Ergreifend der kurze, zentrale Moment Her wild consent – nur mit Basstrommel, Horn und Klavier und die folgenden apokalyptischen Visionen. Lim benutzt gekonnt vierteltönige Einfärbungen und beeindruckende spektrale Klänge, besonders in den Bläsern. Dies alles kontrolliert der französische Spezialist Franck Ollu – er dirigiert ohne Taktstock und mit links – mittels klarer Impulse und genauer dynamischer Führung, bleibt dafür emotional recht unbeteiligt, vor allem im folgenden Beitrag.

Francesca Verunelli (*1979) erhielt 2020 den Förderpreis der Ernst von Siemens Musikstiftung. In ihrem Uraufführungsstück mit dem technischen, neutral erscheinenden Titel Accord, chord and tune geht die Komponistin entschieden radikalere Wege: Konsequente Mikrotonalität erhält hier eine im wahrsten Sinne des Wortes unerhörte Bedeutung. Der Solopart wurde eigens auf das spezielle Viertelton-Akkordeon Krassimir Sterevs abgestimmt. Ein Solistenkonzert im traditionellen Sinne hören wir jedoch nicht: Die besondere Klanglichkeit wird in einen einheitlichen Organismus von Solist und Orchester integriert; das Akkordeon tritt praktisch kaum jemals in den Vordergrund. Aus den nahezu unbegrenzten Möglichkeiten werden beständig neuartige Klänge synthetisiert, wo lediglich die Harfen stellenweise vertraute Akzente setzen. Mit seiner Überladenheit an instrumentalen Effekten, wodurch immerhin ein unterbrechungsloser, stimmiger Klangstrom gelingt, gehört Verunellis Stück zu den vielen „überinstrumentierten“ Orchesterwerken der letzten Jahre, die dann doch ohne jede Emotionalität irgendwie auf der Stelle treten. Das Publikum ist allerdings wohl anderer Meinung und bedenkt die Beteiligten mit großem Applaus.

Nach der Pause kommt Pascal Dusapin mit seinem gut halbstündigen „Konzert Nr. 1 für großes Orchester“ Morning in Long Island von 2010 zum Zuge. Dusapin (geb. 1955), Schüler u. a. von Iannis Xenakis, gehört seit langem zu den wichtigsten Komponisten Frankreichs; entsprechend groß ist seine Souveränität im Umgang mit dem Orchester. Inspiriert durch einen Spaziergang an den eiskalten Strand Long Islands im Jahre 1988 schildert Dusapin nicht etwa konkrete Naturstimmungen, sondern setzt die Erinnerungen an seine damaligen Empfindungen musikalisch um. Der stark durch Literatur – namentlich Flauberts – geprägte Komponist begibt sich auch hier auf eine Metaebene, nie simpel programmatisch. So etwas mag heutzutage dennoch altmodisch wirken – gute Musik ist es trotzdem. Nun ist Franck Ollu, höchst vertraut mit Dusapins Schaffen, endgültig in seinem Element, geht insbesondere im rhythmisch mitreißenden, positiv energetischen Schlussabschnitt (swinging) mit seinen amerikanischen Tanzrhythmen voll mit. Dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks muss man an erster Stelle aber für eine höchst gelungene Darbietung des langen, langsamen Mittelteils (simplement) danken, der farblich ungemein ausdifferenziert herüberkommt. Ollu scheint nun glücklich mit dem ganzen Abend zu sein und erhält zusammen mit dem Komponisten verdient begeisterte Zustimmung.

[Martin Blaumeiser, Mai 2023]

Matthias Pintscher als grandioser Motivator beim BRSO

Im Symphoniekonzert der musica viva vom Freitag, 17. März 2023, brachte das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks neben „Shaar“, einem Streicher-Klassiker Iannis Xenakis‘ (1922–2001) noch zwei großbesetzte Werke zu Gehör, die während der bzw. als Reaktion auf die Corona-Lockdowns von 2020 entstanden sind: Chaya Czernowins „Atara“ mit den beiden Gesangssolisten Sophia Burgos und Holger Falk. Außerdem dirigierte der Komponist Matthias Pintscher sein eigenes Stück „Neharot“.

© BR/ Astrid Ackermann

Die Besucherzahlen der musica viva Symphoniekonzerte im Münchner Herkulessaal haben wohl endlich die Corona-Delle hinter sich gelassen und die Neugier des Münchner Publikums auf ganz moderne Klänge scheint wieder ungebrochen. Wenn dann noch der Komponist und Dirigent Matthias Pintscher zu Beginn einen wegweisenden, mittlerweile als Klassiker geltenden Iannis Xenakis aufs Programm setzt, sind Vorfreude und Erwartungen entsprechend hoch. Shaar (1982), für ein teilweise komplett aufgefächertes, großes Streicherensemble – hier mit 52 Spielern musiziert –, arbeitet mit Clustern, rhythmisch impulsiven Repetitionen und ausladenden Glissandi. Insbesondere letztere, von ihm früher geradezu inflationär eingesetzt, hat der Komponist dabei dermaßen kultiviert, dass man statt von einer Klangflächen– besser von einer Klangraumkomposition sprechen muss, die eigentlich ganz logisch ihre dichtesten Momente im Unisono erreicht. Unter berufenen Dirigenten – wie etwa Lothar Zagrosek – lief das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks bei Xenakis schon immer zu Höchstform auf. Das energetische Stück kann unter Pintschers strukturell glasklarer, emotional immer mitgehender Leitung wieder von Anfang an begeistern: ein genüsslicher Klangschauer.

Zu Pintschers besonderen Fähigkeiten als Komponist gehört längst der differenzierte Umgang mit der ganzen Palette an Orchesterfarben und modernen Spielweisen. Dabei ist der Einsatz des riesigen Instrumentariums aber nie Selbstzweck, sondern eher ökonomisch auf das Erreichen ausdrucksstarker Höhepunkte hin angelegt, wie man sie nicht zuletzt in guter Filmmusik vorfindet. Entstanden angesichts des großen Sterbens in New York im Frühjahr 2020, dominieren in Neharot – hebräisch für Flüsse wie Tränen stehend – dunkle Farben, die sich gerne mal gespenstisch zusammenballen und sofort wieder quasi ins Leere auflösen können. Zentral wird für den 24-Minüter dann ein Trauer-Kaddish der Solotrompete, das Ganze schließlich zum „Tombeau“, gleichzeitig jedoch irgendwie tröstlich. Pintscher lenkt die ungeheuren Energieströme punktgenau – das BRSO folgt dem offenkundig mit Hingabe, klingt fantastisch – und erhält folglich enormen Beifall für ein überaus gelungenes Orchesterstück.

Wie Pintscher lehrt und lebt Chaya Czernowin (* 1957) nun hauptsächlich in den USA. Und ebenso wurde Atara – der Titel bezieht sich auf das integrierte Gedicht Zohar Eitans – durch den menschlichen Kontrollverlust angesichts dann doch immer noch nicht zu bändigender Naturgewalten inspiriert. Noch dunkler als in Neharot – anfangs grummeln tiefste Bässe vom Sampler-Keyboard – setzt die Komponistin ein unvorhersehbares Spiel der Kräfte in Gang. Ausdrücklich als Lamento bezeichnet, wirken hierbei die beiden nach einer Viertelstunde einsetzenden verstärkten Stimmen meist irritierend zerbrechlich – souverän, aber vielleicht selbst nicht völlig überzeugt von dem, was sie da vokal anbieten müssen: Sophia Burgos und Holger Falk. Sowohl die vokalen Effekte als auch die enorm einfallsreiche, abstrus zerfaserte Orchestrierung geraten so – durchaus gewollt – unorganisch, unberechenbar und eher verstörend. Chernowins Kunst liegt gerade darin, über fast 40 Minuten zumindest Spannung aufrecht zu erhalten und immer wieder Neues zu bringen, obwohl dadurch der Zerfall ins Episodische vorprogrammiert ist – erstaunlich wahrhaftig, trotzdem ein wenig ermüdend. Musikalisch grandios in jedem Falle die Leistung des hochmotivierten BRSO und des Dirigenten Matthias Pintscher, den man bei Neuer Musik auch in München nicht mehr missen möchte: Die musica viva lebt!

[Martin Blaumeiser, 18. März 2023]

Mehr und weniger gelungene Uraufführungen bei der musica viva

Auch im Symphoniekonzert der musica viva am Freitag, 17. Februar 2023, präsentierte das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks wieder zwei Uraufführungskompositionen: „In der Farbe von Erde“ von Nikolaus Brass – mit Tabea Zimmermann als Solistin an der Bratsche – sowie „…the Brent geese fly in long low wavering lines…“ von Hans Thomalla. Zuvor erklangen noch die legendären Quattro pezzi su una nota sola des Italieners Giacinto Scelsi. Am Pult stand der aus Simbabwe gebürtige Dirigent Vimbayi Kaziboni.

Vimbayi Kaziboni, Photo © BR/ Astrid Ackermann

So langsam arbeitet man die Auftragskompositionen der musica viva ab, die sich durch Corona mittlerweile aufgestaut haben, und deren Uraufführungen eigentlich viel früher geplant waren. Am Pult steht an diesem Abend der aus Simbabwe stammende Dirigent Vimbayi Kaziboni, der in den USA (Los Angeles) und Deutschland (Frankfurt) ausgebildet wurde, schon länger auf zeitgenössische Musik spezialisiert ist und derzeit eine Professur in Boston innehat. Souverän und mit ruhigen Bewegungen leitet er das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, das in allen drei Stücken trotz vollgestellter Bühne des Herkulessaals in gar nicht mal so großen Besetzungen spielt. Bei Scelsi und Thomalla kann er leider rein technisch nicht allzu viel von seinen Fähigkeiten zeigen, da der Ablauf hier relativ unproblematisch zu kontrollieren ist.

Giacinto Scelsi (1905–1988) hatte nach einer mithilfe fernöstlicher Spiritualität überwundenen psychischen Krise ab Anfang der 1950er Jahre damit begonnen, Aspekte des Einzeltons näher zu erforschen. Dazu nahm er Improvisationen an der Ondiola, einem frühen elektronischen Instrument, auf Tonband auf und ließ diese dann von anderen Musikern transkribieren, was natürlich bis heute zu Diskussionen über die Authentizität gerade seiner Orchesterwerke führte. Die Quattro pezzi su una nota sola von 1959 treiben dies titelgemäß auf die Spitze, indem jedes der kurzen Stücke, kaum mehr als Orchesterstudien, tatsächlich nur jeweils einem Ton gewidmet ist – mit Schwankungen von mikrotonalen Schwebungen bis hin zum Ganzton (Doppelkreuz). Die Konzentration richtet sich also komplett auf Klangfarbe, Dynamik und Rhythmus. Kaziboni gelingt diese Gratwanderung zwischen „Eintönigkeit“ und musikalisch sensibler Aktion ausgezeichnet, vielleicht sogar besser als Hanz Zender 2006 an gleicher Stelle.

Obwohl Nikolaus Brass (*1949) nun wieder in seiner Geburtsstadt Lindau lebt, darf man ihn getrost zu den Münchner Komponisten rechnen. Seinem Ruf als nachdenklicher Spätentwickler wird er mit In der Farbe von Erde (2021) erneut gerecht. Ursprünglich als Musik für 44 Solostreicher geplant, ergab sich nach Kompositionsbeginn die Erweiterung um einen – nun zentralen – Solopart für die Bratschistin der Uraufführung, Tabea Zimmermann. Der Titel bezieht sich auf die Inspiration durch einen Text des schweizerischen Dichters Philippe Jaccottet, der aber keinesfalls als Vorlage einer „Vertonung“ verstanden werden soll. Die Streicher spielen in Gruppen mit unterschiedlichen, feinen Skordaturen und reagieren mit diesen Unebenheiten auf den von Beginn an hochdifferenzierten Solopart, der mit technischen Schwierigkeiten nur so gespickt ist, ohne dabei äußerlich virtuos zu wirken. Die Expressivität von Frau Zimmermann ist einmal mehr grandios. Unglaublich, wie sie dazu fähig ist, in Sekundenbruchteilen Klang und Stimmung glaubwürdig komplett zu modifizieren. Feinheiten sind es auch, die der gesamten Komposition Sinn einhauchen. So wirken besagte Skordaturen keineswegs wie Fremdkörper, sondern organische Bestandteile lebendig gewordenen musikalischen Materials. Lediglich im letzten Tutti nach der großen Kadenz führen sie zu einer gewissen Sprachverwirrung. Überzeugend auch die Idee, zwei Vibraphone als Pedalinstrumente einzusetzen, die den Hörer den Raum als solchen deutlicher wahrnehmen lassen. Das kaum 14-minütige, intensive Wechselspiel zwischen Solistin und Orchester – vom Dirigenten mit Hingabe geführt – begeistert jedenfalls das gesamte Publikum: einfach sehr schön!

Konnte Hans Thomalla (*1975) mit seiner Ballade für Klavier und Orchester 2017 den Rezensenten noch positiv beeindrucken, erweist sich „…the Brent geese fly in long low wavering lines…“ als schlicht langweilig. Knapp 40 Minuten quält uns der Komponist mit einem immerhin recht farbigen Minimalismus, der dabei emotional keinerlei Spuren hinterlässt. Lässt man mal den eher nachträglich gefundenen Titel – aus einem Gedicht von Juliana Spahr – außer Acht: Rhythmisch basiert das komplette Stück auf einem durchgehenden Achtelpuls, der zwar durch einige – jedoch mehr oder weniger identische – metrische Modulationen modifiziert wird, dennoch starr wirkt. Harmonisch bzw. melodisch gibt es ein (!) äußerst simples Motiv, das Dreiklänge umspielt, die sich so als das jeweilige tonale Zentrum etablieren. Mittels verstärkter Klaviere und Vibraphone wirkt dieses zudem zunächst als omnipräsentes, stabiles Gerüst, bald zunehmend wie unbewegliche Säulen, die uns quasi signalisieren: Hier führt kein Weg hinaus; es gibt nicht mal einen Blick über den Tellerrand! In der Tat ist das Stück wegen der recht anspruchsvollen Partien vor allem der Bläser durchaus ein Konzert für Orchester. Trotzdem scheint sich Thomalla an bewährte Rezepte bestimmter amerikanischer Komponisten dranzuhängen, ohne deren Entwicklungsmöglichkeiten auch nur annähernd auszunutzen: also John Adams für Arme? Nein, aber ein viel zu lang geratener Rohrkrepierer, für den es völlig zu Recht entsprechend zurückhaltenden Applaus gibt, der wohl mehr Vimbayi Kaziboni – bei Thomalla fast zu einem taktschlagenden Automaten degradiert – und dem Orchester gilt.

[Martin Blaumeiser, 18. Februar 2023]

Uraufführungen von Milica Djordjević und Nicolaus Richter de Vroe im Herkulessaal

Chor & Symphonieorchester des BR unter Johannes Kalitzke
© Astrid Ackermann für musica viva/BR

Im ersten musica viva Konzert der neuen Saison im Münchner Herkulessaal mit Chor & Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter der Leitung von Johannes Kalitzke gab es am 28. 10. 2022 wieder zwei größere Uraufführungen: „Mit o ptici“ für Chor und Orchester von Milica Djordjević und ein neues Violinkonzert von Nicolaus Richter de Vroe mit dem Weltklassesolisten Ilya Gringolts. Wohl als Beitrag zum Zentenarium Iannis Xenakis‘ (1922–2001) erklang zudem erneut dessen Ensemblestück Jalons.

Zum 100. Geburtstag des griechischen, dann in Frankreich tätigen Komponisten und Architekten Iannis Xenakis, der mit seinem extremen Konstruktivismus bei zugleich überbordender musikalischer Energie bis zu seinem Tode 2001 einer der großen Erneuerer der Nachkriegszeit blieb, spielt das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks nochmals dessen Ensemblestück Jalons von 1986. Eine Verlegenheitsgeste? Das Stück stand erst im Oktober 2020 auf dem Programm (siehe unsere Kritik), freilich zur Zeit der Corona-Beschränkung auf 200 Zuhörer eine fast traurige Angelegenheit. Beim jetzigen Konzert, das zwar nicht ausverkauft, aber doch zum Glück wieder sehr gut besucht ist, dirigiert der technisch ungleich versiertere Johannes Kalitzke.

Das Zusammenspiel der 15 Musiker – Xenakis schrieb Jalons für das von Boulez gegründete Ensemble Intercontemporain zum 10-jährigen Bestehen – erscheint perfekter als unter Peter Rundel, dabei allerdings kälter. Die sich unversöhnlich perspektivisch gegeneinander verschiebenden Klangebenen – absolut toll mal wieder die Bläser – erhalten Vorrang vor Emotionalität, die ja laut Xenakis bei seiner Musik nie Intention ist, auch wenn sie sich unvermeidlich beim Hörer einstellen mag, gerade bei den geradezu beschwichtigenden Harfeneinwürfen. So wirkt diese Darbietung klar, gelassen und fast ein wenig zu routiniert: Schönheit der musikalischen Architektur, die für sich selbst spricht. Trotzdem hätte sich der Rezensent angesichts der immer hochrangigen Xenakis-Aufführungen des BRSO zum Jubiläum doch lieber eines jener großbesetzten Stücke gewünscht, die man bisher noch nie gespielt hat. Davon gäbe es einige, aber angesichts der aufwändigen Probenarbeit an gleich zwei Uraufführungen diesmal wohl nicht realisierbar.

Die Serbin Milica Djordjević – 2016 Komponistenpreisträgerin der Ernst von Siemens Musikstiftung – war schon immer fasziniert von der Dichtung Miroslav Antićs: In Mit o ptici (Mythos des Vogels) für Chor und Orchester geht es um einen von einem Künstler erschaffenen Vogel, der freigelassen zum Monster mutiert und „nicht mehr aus der Welt zu schaffen“ ist. Der über weite Strecken dialogisch geführte Text ist zunächst klar auf die verschiedenen Chorgruppen verteilt, aber die Entropie der Entwicklung über vier längere Abschnitte bringt auch dies zunehmend in Unordnung. Inwieweit die junge Lettin Krista Audere – sie erhielt 2021 den Eric Ericson Preis – bei ihrer Einstudierung die Besonderheiten der serbischen Sprache vermitteln konnte, sei dahingestellt. Für Djordjević ist Textverständlichkeit hier nicht vorrangig, jedoch hält sie gewisse dem Serbischen innewohnende onomatopoetische Qualitäten für unverzichtbar. Das Klanggeschehen im Chor ist von Beginn an hochdifferenziert: Die Frauenstimmen zunächst mit heller Textur; die Herren erinnern stellenweise an die Eindringlichkeit von Strawinskys Zvezdolikij. Selbst bei der brutalen, rauen Steigerung des dritten Abschnitts mit sagenhafter interner Beschleunigung bleibt es dennoch organisch. Im großbesetzten Orchester erscheint ebenso vieles als lautmalerische Mimesis (Flügelschlagen? etc.), von Kalitzke sorgfältig hörbar gemacht. Insgesamt eine poetische, nachvollziehbare Textausdeutung, wobei das musikalische Material für den Hörer allerdings weitgehend unter dem Schirm bleibt. Die Komponistin erfährt dafür einhellige Zustimmung beim Publikum.

Von 1988 bis zu seiner Pensionierung als Violinist beim BRSO tätig, ist der aus Halle stammende Nicolaus Richter de Vroe (*1955) als Komponist auf den bedeutendsten Festivals für Neue Musik gespielt worden. Angesichts des ungewöhnlich breit aufgestellten Repertoires des russischen Stargeigers Ilya Gringolts verwundert es nicht, dass Richter de Vroe in sein 40-minütiges, neues Violinkonzert so ziemlich alles hineingepackt hat, was seit 400 Jahren auf der Geige möglich ist: von Skordaturen bis zum ganzen Arsenal moderner, verfremdender Spieltechniken. Begleitet wird der Solist dabei von einem Kammerorchester – bei den Streichern nur doppelt besetztes Quintett –, erweitert um Klavier bzw. Cembalo, Gitarre bzw. E-Gitarre sowie die japanische Mundorgel Sho, die eine längere, die Violine faszinierend kontrastierende Passage gestaltet.

Das durchgehende Werk ist quasi symmetrisch in sieben Abschnitte gegliedert, mit einem zentralen „Hauptsatz“, der allerdings eher Traditionen karikiert. Gringolts changiert sehr präzise und bewusst zwischen Ton und Geräusch – und wie immer nimmt man diesem Tausendsassa einfach alles ab, egal wie seltsam und im Kontext unerwartbar es vielleicht erscheinen mag. Da Richter de Vroes Bestreben klar in Richtung Klangkomposition geht, hört man sofort Klanggesten in Hülle und Fülle, Laute anstelle „musikalischer“ Motive. Im langen Hauptsatz geht es dann sehr lebendig, wild, schnell und akzentuiert zu. Später gibt es hier eine Reihe von verfremdeten Zitaten bzw. Allusionen „alter“ Musik: vom Barock – daher das Cembalo – bis zu eindeutigen Bezügen zu Bergs Violinkonzert. Nach und nach zerfällt die Spannung – Rückblenden oder gar ein Abschiednehmen vom Orchester? Am Schluss („Zwei Ausgänge“) verlässt Gringolts die Bühne und geht spielend nach hinten durch den Herkulessaal, wobei er geschickt und unsichtbar vom Konzertmeister vorne verdoppelt wird: eine wirkungsvolle räumliche Irritation. Für das ein wenig ausufernde Spektakel instrumentalen Theaters gibt es einzelne Buhs, für den fabelhaften Gringolts, Orchester und Dirigent natürlich den absolut angemessenen, großen Beifall.

[Martin Blaumeiser, 30. Oktober 2022]

Gleich zwei Weltklasse-Klangkörper beim „räsonanz“ Stifterkonzert der musica viva

Dieter Ammann, Jonathan Nott, OSR – © Astrid Ackermann für musica viva/BR

Das räsonanz Stifterkonzert der Ernst von Siemens Musikstiftung fand dieses Jahr wieder im Rahmen der musica viva des BR im Münchner Prinzregententheater statt. Wohl zum ersten Mal überhaupt gastierte am Donnerstag, 29. September 2022, das Genfer Orchestre de la Suisse Romande unter seinem Chef Jonathan Nott in München. Dazu gesellte sich für die Uraufführung von Rebecca Saunders‘ „Wound“ noch ein zwölfköpfiges Solistenensemble aus Mitgliedern und Gästen des Pariser Ensemble Intercontemporain. Außerdem erklangen Pierre Boulez‘ „Messagesquisse“ mit dem Solocellisten Léonard Frey-Maibach sowie die beiden Orchesterwerke „Boost“ und „Glut“ des Schweizers Dieter Ammann, der dieses Jahr seinen 60. Geburtstag feierte.

Die räsonanz Stifterkonzerte der Ernst von Siemens Musikstiftung erfreuen ja seit einigen Jahren einerseits mit ihrer Vorgabe, gerade besonders aufwändige, bereits nach ihren Uraufführungen hochgerühmte Orchesterwerke in Perfektion erneut zur Diskussion zu stellen. Daneben bringen sie im Rahmen der musica viva auswärtige Klangkörper nach München, die hier sonst eher selten bzw. gar nicht zu hören sind – etwa 2019 das London Symphony Orchestra unter Simon Rattle. Kaum zu glauben, dass das 1918 vom legendären Ernest Ansermet gegründete Orchestre de la Suisse Romande mit immerhin 112 festen Mitgliedern zum allerersten Mal in München zu Gast ist. Unter seinem nun auf Lebenszeit gewählten, britischen Chefdirigenten Jonathan Nott durfte man auf ein äußerst anspruchsvolles Programm gespannt sein.

Die nun in Berlin lebende Britin Rebecca Saunders (* 1967) erhielt 2019 den Hauptpreis der EvS Musikstiftung. Dem Rezensenten war schon Anfang der 2000er Jahre ihr besonderes Händchen für mittlere Kammermusik- bzw. Ensemblebesetzungen aufgefallen. Nun führt Saunders mit dem großangelegten, 38-minütigen Stück „Wound“ für Soloensemble und Orchester diese spezielle Begabung mit ihrer stetig gewachsenen Erfahrung mit vollem Orchester zusammen. Tatsächlich könnte man das Werk als Konzert bezeichnen, bei dem 12 Solisten – des von Boulez gegründeten Ensemble Intercontemporain – als Einheit und das Genfer Orchester sich unentwegt die Bälle zuwerfen. Mit anfangs sehr dunklen Klangfarben entwickelt sich schnell ein andauerndes, energetisches Spiel zunächst recht kleiner, aggressiver Wellenbewegungen in unterschiedlichsten, aber immer interessanten Klangmischungen. Dabei fungiert etwa das Akkordeon (im „großen“ Orchester) als Ersatz für elektronische Quellen. Überraschend, dass diese Kleinteiligkeit auf Dauer keineswegs langweilt und trotz nicht überschaubaren Formverlaufs recht organisch zu gewaltigen Steigerungen führt.

Mit Jonathan Nott hat das Orchestre de la Suisse Romande nun offenkundig einen Chef gefunden, mit dem sich eine ganz erstaunliche Symbiose zu ergeben scheint. Wer Notts Anfänge kennt, wird anerkennen müssen, wie stark sich der Dirigent nicht nur in seiner äußerst präzisen Zeichengebung weiterentwickelt hat. Man kann nur darüber staunen, wie ihm seine Musiker insbesondere die immer aktive Nachzeichnung der komplexen, auch heftigen Dynamik – gerade bei Saunders – sozusagen aus der Hand fressen. Jedoch seine größte Leistung ist, den weitgespannten Bogen, die musikalische Entwicklung, ohne den nötigen Blick aufs Detail zu vernachlässigen, in Spannung zu halten. Ohne hier über bildhafte Allusionen wie Hineingreifen oder Aufreißen im Kontext von Wunde zu spekulieren: Die Musik wirkt so wie ständig wechselnder Lichteinfall aus verschiedenen Perspektiven. Saunders ist mit Wound jedenfalls ihr bisher beeindruckendstes Orchesterwerk gelungen – gewaltiger Applaus für eine Weltklasse-Uraufführung.

Nach der Pause steht, zwischen zwei Werken des in Deutschland noch nicht genügend beachteten Schweizers Dieter Ammann, Pierre Boulez‘ Messagesquisse (1977) für Violoncello solo – hervorragend: Léonard Frey-Maibach – und 6 Celli (hier aus beiden Ensembles) auf dem Programm. Nur bei den schnellen, dichten Abschnitten greift Nott hier unterstützend ein. Der Kammermusik-Klassiker ist nicht oft zu hören, sorgt dafür stets für Jubel, wie natürlich auch bei dieser Aufführung. Dieter Ammann kam relativ spät auf die klassische Schiene, und man merkt seiner Musik durchaus die Jazz- und Improvisationserfahrungen an. An seinen Stücken für großes Orchester tüftelt er teils jahrelang; die Ergebnisse sind dann allerdings in jeder Hinsicht faszinierend. Zuletzt hatte Ammann mit einem wirklich bahnbrechenden Klavierkonzert (Gran Toccata, 2019) bewiesen, auf welchem Niveau er sich mittlerweile bewegt, und das Stück geht hoffentlich weiter seinen Siegeszug um die Welt.

Als sie aus der Taufe gehoben wurden, hatten Boost (2001) und Glut (2016) ebenfalls sogleich für Furore gesorgt: Völlig zu Recht, wie die grandiose Darbietung heute erneut zeigt. Stimmige Farbigkeit mit einem bis ins Detail ausgearbeitetem Klangspektrum – dessen oft überbordende Schönheit in der Tat nicht zuletzt auf Ammanns perfektem Umgang mit den Erkenntnissen der französischen Spektralisten beruht – sowie enorme, dabei emotional immer nachvollziehbare Kontraste auf engstem Raum sind ein echtes Festmahl für ein an neuer Musik interessiertes Auditorium wie auch für das Orchestre de la Suisse Romande. Die Souveränität und die offensichtliche Begeisterung der Musiker übertragen sich so unmittelbar auf das Publikum. Nott – der Boost bereits uraufgeführt hatte – geht an den rhythmisch besonders exaltierten Stellen fast tänzerisch mit, zelebriert Ammanns mit der Präzision eines Schweizer Uhrwerks erstellte, wirklich schwierige Partituren mit Inbrunst. Am Schluss des Konzertes gibt es kein Halten mehr, und man muss der EvS Musikstiftung für das mehr als überfällige Gastspiel dieses Spitzenorchesters seinen Dank aussprechen.

[Martin Blaumeiser, 30. September 2022]

Asiatische Opulenz und christliche Zerbrechlichkeit

Wu Wei, Unsuk Chin & Shiyeon Sung, © Astrid Ackermann für musica viva/BR

Als letztes Konzert in der Saison 2021/22 der musica viva erklangen am 1. Juli 2022 im Münchner Herkulessaal Isang Yuns Réak, das Sheng-Konzert Šu der koreanischen Komponistin Unsuk Chin (Solist: Wu Wei) sowie Mark Andres Klarinettenkonzert „… über …“ mit Jörg Widmann, in dem auch das Experimentalstudio des SWR mit komplexer Live-Elektronik zum Einsatz kam. Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks spielte unter Leitung der ebenfalls aus Korea stammenden Dirigentin Shiyeon Sung.

Mal ohne eine Uraufführung beendet dieses Konzert die laufende Saison der musica viva. Der Koreaner Isang Yun (1917–1995) lebte, nachdem er bereits Ende der 1950er Jahre an den Darmstädter Ferienkursen teilgenommen hatte, ab 1964 in Berlin. Réak – 1966 bei den Donaueschinger Musiktagen unter Ernest Bour aus der Taufe gehoben – brachte dem Komponisten den internationalen Durchbruch. Das 13-minütige, großbesetzte Orchesterwerk scheint sich bei oberflächlicher Betrachtung recht nahtlos in die damalige westliche Avantgardemusik einzufügen. Unter der Oberfläche werkeln jedoch vor allem asiatische Form- und Klangprinzipien, die eng an altkoreanische Zeremonialmusik (so eine Übersetzung des Titels) anknüpfen. Harmonisch basieren die Klangschichtungen auf Akkorden, wie sie von der koreanischen Mundorgel Saenghwang – eine Variante der chinesischen Sheng – hervorgebracht werden können. Verschiedene musikalische Materialien, die man bestimmten Instrumentengruppen, auch explizit deren spezifischer Materialität zuordnen könnte, verdichten sich zu einem ziemlich affirmativen Schluss. Das-BR-Symphonieorchester durchdringt die anspruchsvolle Partitur unter der ebenso souveränen Dirigentin Shiyeon Sung mit Hingabe. Die klangliche Sensibilität kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Yuns streckenweise durchaus gewalttätige Musik für an Werken der 1960er geschulte Ohren dann doch wenig spektakulär wirkt.

Ganz anders Unsuk Chins (*1961) Konzert Šu (2009/10): Schon die Exotik der chinesischen Mundorgel Sheng macht natürlich sofort neugierig. Der hinreißend mitgehende Virtuose Wu Wei spielt allerdings eine so erst ab den 1980ern gebaute, gegenüber dem seit Jahrtausenden tradierten Instrument in seinen technischen und musikalischen Möglichkeiten stark erweiterte Sheng mit 37 Bambuspfeifen. Von archaisierenden Klängen – einstimmige Melodik gibt es zwar kaum – bis zu frenetisch-bissigen Grooves oder eigenwilligen Clustern, die sich teils wie Elektronik anhören, sowie Quasi-Glissandi kommt hier eine Bandbreite zum Vorschein, die sogleich ungläubiges Erstaunen hervorruft. Formal zwingend und mit exzellenter Orchestrierung gelingt Chin ein modernes Solokonzert der Superlative – das bislang einzig Wu Wei bewältigen kann. Der verfügt über einen unglaublichen Atem, um das relativ kleine Instrument lauter als ein modernes Akkordeon erklingen lassen zu können. Das Publikum ist entsprechend begeistert: tosender Applaus.

Mark Andre (*1964) fühlt sich in seiner Musik, die stets Türen zu metaphysischen Sphären öffnet, christlicher Mystik verbunden. Sein Klarinettenkonzert mit Live-Elektronik „…über…“ von 2015 bezieht seinen Titel aus dem Schlusssegen der evangelischen Liturgie, in dem das Wort über bekanntlich zweimal vorkommt. Wie immer interessieren den Komponisten fragilste, instabile Klänge und deren Verschwinden, symbolisch für den Verschwundenen – den auferstandenen Jesus Christus – und seine transzendente Präsenz als Heiliger Geist stehend. Es gibt hier aber noch andere, ganz weltlich „Verschwundene“: die Musiker des 2016 aufgelösten Freiburger Orchesters des SWR, deren geflüsterte Vornamen elektronisch auf reale Resonanzkörper einiger Orchesterinstrumente übertragen werden. Was Andre an kaum für realisierbar gehaltenen Klängen – Jörg Widmann hat hierfür ausgiebig mit dem Komponisten experimentiert – vom Solisten fordert, ist erschreckend neu (etwa diverse Multiphonics) und eine stetige Gratwanderung an der Hörbarkeitsgrenze. Die Präzision, mit der das BR-Symphonieorchester dabei Frau Sungs klarer Schlagtechnik folgt und sich in die vom Experimentalstudio des SWR genauestens austarierte Live-Elektronik – bravo an alle Beteiligten! – einbetten lässt, bleibt über fast 40 Minuten jederzeit faszinierend. Und selbst während des absehbaren Endes, wo Widmann minutenlang alleine und beinahe unhörbar bleibt, könnte man eine Stecknadel fallen hören. So wird Neue Musik quasi zur Andacht, der das Publikum bereitwillig und hochkonzentriert folgt. Die demonstrative Entäußerung von Mark Andres Klangkunst bleibt über jeden Zweifel erhaben. Der Beifall entbrandet zögerlich, zeugt dann jedoch von absoluter Zustimmung für ein bewegendes Konzert.

[Martin Blaumeiser, 4. Juli 2022]

Die Musica viva feiert Wolfgang Rihms 70. Geburtstag

Am Freitag, 11. 3. 2022, spielte das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks im Musica-viva-Konzert unter Ingo Metzmacher ein der Musik Wolfgang Rihms gewidmetes Programm: Erster Doppelgesang, Wölfli-Lieder, Die Stücke des Sängers und IN-SCHRIFT. Die Solisten waren Lawrence Power (Viola), Nicolas Altstaedt (Violoncello), Georg Nigl (Bassbariton) und Magdalena Hoffmann (Harfe).

Magdalena Hoffmann und Ingo Metzmacher – © Astrid Ackermann für musica viva/BR

Zwei Tage vor dem siebzigsten Geburtstag Wolfgang Rihms endete die dem wohl produktivsten lebenden deutschen Komponisten gewidmete Woche mit insgesamt vier Veranstaltungen in München mit einem Konzert des BR-Symphonieorchesters. Der schon länger mit einer schweren Erkrankung kämpfende Jubilar war unter den Zuschauern und durfte einen Abend mit wirklich exzellenten Darbietungen miterleben. Angesichts der unfassbaren Kriegsereignisse in der Ukraine bat der künstlerische Leiter der musica viva, Winrich Hopp zunächst um eine Schweigeminute – Totenstille im endlich wieder gut gefüllten Herkulessaal. Die erlaubten 75%-Auslastung wurden augenscheinlich erreicht – sicherlich dem Bekanntheitsgrad Rihms geschuldet; und auch, weil dieser Abend nach langer Zwangspause wieder über die Abos lief. Dass das schon lange so geplante Programm mit überwiegend älteren Werken des Komponisten perfekt zum schockierenden Weltgeschehen passte, sollte sich schnell zeigen.

Wolfgang Rihms Schaffen hat mittlerweile einen so unglaublichen Umfang erreicht, dass kaum eine Handvoll Spezialisten da noch durchblicken kann. Rihm, der sehr früh zu komponieren begann, konnte bereits Ende der 1970er seinen Ausdruckswillen in allen Musikgattungen perfekt umsetzen. Ihn – wie häufig sehr polemisch geschehen – als typischen Vertreter einer Postmoderne oder gar unpolitisch zu verorten, war schon damals reichlich kurz gegriffen bzw. schlicht falsch. Sein Erster Doppelgesang, ein Doppelkonzert für Bratsche und Violoncello, gibt den beiden Solisten – Lawrence Power und Nicolas Altstaedt meistern ihre höchst virtuosen Parts atemberaubend – reichlich Gelegenheit zum Duettieren. Allerdings bedient dieses Stück nicht das traditionelle Narrativ: Individuen kontra Kollektiv. Vielmehr provozieren bereits die Soloinstrumente – Rihm hat auf die Gewalttätigkeit des Paares Rimbaud–Verlaine hingewiesen – zunehmend perkussive Ausbrüche im Orchester; am Schluss zerschlagen Maschinengewehrsalven der kleinen Trommel – 1980 bahnte sich der Erste Golfkrieg an – jeglichen „Gesang“.

Ingo Metzmacher ist mit breitestem Repertoire und jahrzehntelangem Einsatz für moderne Musik genau der richtige Dirigent für Rihms Verknüpfung von Intellektualität und subjektivem Ausdruck. Rhythmisch immer körperlich mitgehend, dabei gleichzeitig gespannt wie elastisch, verfügt er über eine völlig unmissverständliche Schlagtechnik und kann musikalische Entwicklungen minutiös und planvoll gestalten, ohne Solisten in ihrer Freiheit einzuengen. Gerade in der folgenden Orchesterfassung der Wölfli-Lieder (1981) erzielt er Klangwirkungen, denen man sich kaum entziehen kann. Der schizophrene schweizerische Künstler Adolf Wölfli (1864–1930) erweckte ab den 1970ern erneut das Interesse der Kulturszene. Rihms Liederzyklus knüpft oberflächlich scheinbar an das romantische Kunstlied an – quasi schubertsche Gefäße, gefüllt mit Blut und Wahnsinn. Georg Nigl gelingt mit Riesenstimme, klarster Artikulation und dämonischer Unwägbarkeit der Emotionen ein eindringliches Porträt aus der Nervenheilanstalt. Das Orchester enthält sich hier einer Wertung, überhöht dafür die Brüche, überlässt das Publikum einem Wechselbad zwischen Schauder und Empathie – großartig!

Der Titel Die Stücke des Sängers meint nicht etwa Musikstücke, sondern die Überreste des von den Mänaden zerrissenen Sängers Orpheus. Das Harfenkonzert von 2001, das Wolfgang Rihm 2008 etwas erweitert hat, ist gleichzeitig ein vierteiliges Epitaph für den Dichter Heiner Müller. Im eher kleinen, dunkel timbrierten Orchester (Bläser!), das womöglich den Styx repräsentiert, konzertiert die Harfe meist ergänzt durch Klavier – leider stellenweise etwas zu laut – und Schlagzeug; eine von Rihm mehrfach erprobte Kombination. Wie im vorigen Stück grollt gegen Schluss tiefes Schlagwerk. Magdalena Hoffmann, die phänomenale Solo-Harfenistin des BRSO,begeistert mit oft sehr robusten, geradezu plastischen Klängen, ungemein engagiert und dabei meilenweit entfernt von üblichen Topoi des Instruments; dafür gibt es tosenden Beifall.

Und auch im letzten, umfangreichsten Werk des Abends, IN-SCHRIFT (1995), zu dessen Beginn Röhrenglocken auf den Uraufführungsort – San Marco in Venedig – verweisen, dominieren die dunklen Farben: Es gibt keine hohen Streicher, dafür 4 Hörner, 6 Posaunen plus Kontrabasstuba, die sich bei ihrem Eintritt zunächst unisono wie ein potenziert bedrohlicher Fafner winden, um schließlich hochenergetische Chorallinien herauszubrüllen. Ein herrlicher Moment der je 7-geteilten Celli und Bässe evoziert Erinnerungen an Renaissance-Polyphonie, und erneut scheint eine reine Schlagzeug-Stelle – die wohl für das Einmeißeln von Schrift steht – das Ganze zum Kippen zu bringen. Flöten und vor allem die Harfe, die IN-SCHRIFT beendet, verkörpern hingegen anscheinend das Diesseitige, Lebendige; es ist immer wieder erstaunlich, wie klar sich Rihms Klänge vom Zuhörer emotional fassen lassen. Metzmacher und das Orchester realisieren diese im Detail kompliziert changierende Musik mit ungemeiner Präzision und total kontrollierter dynamischer Abstufung: musica viva in Bestform. Der Schlussapplaus gilt dann natürlich trotzdem vorrangig dem doch etwas gerührten Komponisten, dem man nur weiter solch überbordende Schaffenskraft wünschen möchte.

[Martin Blaumeiser, 13. März 2022]

Mark Andre: Drei exemplarische Uraufführungen der musica viva auf CD

BR Klassik 900637; EAN: 4 035719 006377

BR Klassik hat in der Reihe musica viva drei Uraufführungen von Werken des Deutsch-Franzosen Mark Andre aus den Jahren 2017 und 2018 mitgeschnitten. iv 13 (Miniaturen für Streichquartett), iv 15 (Himmelfahrt) für Orgel und woher…wohin für Orchester. Es spielen das Arditti String Quartet, Stephan Heuberger (Orgel) sowie das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter der Leitung von Matthias Pintscher.

Die Musik des zunächst in Paris ausgebildeten, heute in Berlin lebenden Deutsch-Franzosen Mark Andre (Jahrgang 1964) hat in den letzten beiden Jahrzehnten zu einer ganz persönlichen und mittlerweile unverwechselbaren Klangsprache gefunden: Nur unter technischen Aspekten spürt man noch Einflüsse seiner Lehrer Claude Ballif und des Spektralisten Gérard Grisey. Stärker scheinen noch Eigenheiten durch, die Andre in den 1990ern bei Helmut Lachenmann perfektionieren durfte: höchste klangliche Differenzierung bei gleichzeitiger Reduktion bis an die Grenzen des Hörbaren sowie eine gewisse Vorliebe für starke Kontraste. Jedoch wurde Mark Andre – entgegen erster Befürchtungen des Rezensenten – keineswegs zum Epigonen von Lachenmanns Verweigerungsästhetik, die dort immer mit erheblichem Provokationspotential einherging. Andre zwingt sein Publikum zwar zu enormer Konzentration, öffnet aber gleichzeitig immer eine Tür zu metaphysischen und religiösen Sphären – auf beeindruckend zwingende Weise. Die drei auf der 37. Folge der „musica viva“ CD-Edition des BR vorgestellten Uraufführungen für ganz unterschiedliche Besetzungen belegen exemplarisch, wie stark Mark Andres Musik nun gereift ist.

Zwei der Stücke gehören zur mittlerweile 19teiligen Werkreihe »iv«, wobei das Kürzel für »introvertiert« steht. Die zwölf – sicher nicht zufällig wieder eine „heilige“ Zahl – Miniaturen (iv 13) für Streichquartett sind mit zusammen 24 Minuten jeweils deutlich länger als Anton Weberns epochale 6 Bagatellen op. 9 von 1911. Dennoch scheint ein Echo Weberns durch Andres Werk zu uns hinüber zu wehen. Die Spieltechniken – insbesondere verschiedenste Möglichkeiten der Dämpfung – sind penibelst notiert, dafür selten „normal“; die Grunddynamik ist extrem leise. Das Arditti Quartet ist bei solchen Herausforderungen natürlich in seinem Element, realisiert die Partitur präzise ohne bei den bewusst gesetzten Momenten des Verschwindens – ein zentrales Merkmal von Mark Andres Musik – jemals in ein Loch zu fallen: höchst beeindruckend!

Im Orgelstück Himmelfahrt (iv 15) gelingt Andre die Realisierung einer Ästhetik der Instabilität durch Techniken wie etwa das Ausschalten des Motors, wodurch der Winddruck nachlässt, und oft gleichzeitig stattfindende, originelle Registrierungen, die zu fast paradox erscheinenden Effekten führen können: „eine Präsenz des Göttlichen, die im Verschwinden erkannt wird und im Erkennen verschwindet“, wie es Christof Breitsamer in seinem Booklettext treffend beschreibt. Stephan Heuberger spielt auf dem Mitschnitt der Uraufführung der elektrischen Registrierfassung mit Verständnis und Hingabe – und es ist geradezu phänomenal, wie er überhaupt in der Lage ist, mit der äußerst kritischen Akustik der Pfarr- und Universitätskirche St. Ludwig in München zurechtzukommen: ohne die nun mehr als 20-jährige Erfahrung mit der dortigen Beckerath-Orgel von 1960 ein Ding der Unmöglichkeit. Auch der Tontechnik des SWR Experimentalstudios (Joachim Haas) muss man in diesem Zusammenhang größten Respekt zollen.

Höhepunkt der CD ist dann jedoch Andres Orchesterstück „woher…wohin“, das im Rahmen der Happy New Ears Preisverleihung der Hans und Gertrud Zender-Stiftung 2017 vom Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter dem sensationell mitreißend agierenden Matthias Pintscher im Herkulessaal dargeboten wurde. Das Werk bezieht sich auf das Johannes-Evangelium, Kap. 3, Vers 8: „Der Wind weht, wo er will; du hörst sein Brausen, weißt aber nicht, woher er kommt und wohin er geht. So ist es mit jedem, der aus dem Geist geboren ist.“ Hierzu sei auf meine Besprechung besagten Konzerts verwiesen, das hier vom BR – aufnahmetechnisch gleichermaßen perfekt – mitgeschnitten wurde. Die aufschlussreiche Zusammenstellung mit gutem, sich der jeweiligen Programmhefte bedienenden Booklet erscheint dem Rezensenten dann ebenfalls durchaus preiswürdig.

[Martin Blaumeiser, Februar 2022]