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50-jähriges Jubiläum der Ernst von Siemens Musikstiftung mit den Berliner Philharmonikern

Mit dem diesjährigen räsonanz Stifterkonzert feierte die Ernst von Siemens Musikstiftung am 17. September 2023 zugleich ihr 50-jähriges Bestehen. Zur Veranstaltung im Rahmen der musica viva des BR in der Münchner Isarphilharmonie hatte man keine Geringeren als die Berliner Philharmoniker unter ihrem Chefdirigenten Kirill Petrenko eingeladen. Zu erleben gab es vier großbesetzte Werke: Iannis Xenakis‘ „Jonchaies“, Márton Illés‘ „Lég-szín-tér“, Karl Amadeus Hartmanns „Gesangsszene“ (mit dem Bariton Christian Gerhaher) und György Kurtágs „Stele“.

Die Berliner Philharmoniker unter Kirill Petrenko © BR, Astrid Ackermann

Seit dem ersten räsonanz Stifterkonzert 2016 hat man es stets geschafft, in München sonst selten zu hörende, hochrangige Klangkörper einzuladen. Zur Feier ihres 50-jährigen Bestehens ließ sich die Ernst von Siemens Musikstiftung nun erst recht nicht lumpen. Da durften dann die kürzlich erneut zum weltbesten Orchester gekürten Berliner Philharmoniker unter Kirill Petrenko erstmals in der ausverkauften Isarphilharmonie spielen. Erwartbar, aber angesichts des immens anspruchsvollen Programmes durchaus eine Herausforderung auch an die Zuhörer.

Angesetzt waren – man hatte dies die drei Tage zuvor bereits so in Berlin gespielt – neben einer Uraufführungskomposition wieder aufwändig zu realisierende und daher selten zu hörende Werke – ausdrückliches Anliegen der Stifterkonzerte. Die Berliner Philharmoniker beginnen mit Iannis Xenakis (1922–2001): Jonchaies (1977) ist mit in der Partitur explizit geforderten 109 Spielern das größtbesetzte seiner reinen Orchesterwerke – und vielleicht sein bestes. Zwar hat Xenakis immer betont, dass er von gänzlich außermusikalischen – offenkundig stark durch Mathematik und moderne Architekturprinzipien geprägten – Ideen ausgeht, gleichzeitig strahlt seine Musik nicht nur eine eindringliche formale Konsistenz aus: Sie wirkt immens körperlich, verfügt schon rein klanglich über eine Sogwirkung, der man sich nicht entziehen kann, und erzeugt beim Publikum durchaus Assoziationen, die sich dann emotional entladen können. So wird der Rezensent in den ersten zwei Minuten des Stücks unweigerlich sowohl an die Filmmusiken von Hitchcocks Psycho (Bernard Herrmann) als auch von Spielbergs Der weiße Hai („Jaws“, John Williams) erinnert. Jonchaies wird über Strecken tatsächlich wirklich sehr laut: Völlig faszinierend, wie Petrenko, der höchst sachlich die konstruktiven Facetten des Werkes modelliert, sogar in einem dreifachen Forte nochmals etwas draufzusetzen vermag; Ergebnis sorgfältigster Probenarbeit. Alles ist sehr differenziert bis ins Detail austariert; lediglich die Paukenbatterien dröhnen an ein, zwei Stellen selbst den komplett geteilten, riesigen Streicherapparat weg, was aber den akustischen Unzulänglichkeiten des HP8 geschuldet ist. Eine höchst beeindruckende, dionysische Klangorgie, die allerdings keine Minute länger sein dürfte, in absolut perfekter Darbietung.

Das Auftragswerk für dieses Konzert, Lég-szín-tér, zu übersetzen mit „Luft-Farbe-Raum“, stammt vom Ungarn Márton Illés (Jahrgang 1975) – schon 2008 Förderpreisträger Komposition der Ernst von Siemens Musikstiftung. Illés verfügt über ein enormes Instrumentationsgeschick: Das gegenüber Xenakis etwas kleinere Orchester wird noch konsequenter bis auf den einzelnen Spieler hin ausdifferenziert, mit einem – heutzutage üblichen – dichteren Spektrum vielfältigster Spieltechniken, das im Gegensatz zu anderen Tonsetzern seiner Generation hier zum Glück nie zum Selbstzweck gerät. Schon toll, wie manche Klangrezepturen zum fantastischen Vexierspiel oder gar zur Camouflage werden: Sehr helle Klänge ziemlich zu Anfang stammen so etwa nicht von den hohen Streichern oder Bläsern, sondern von Akkordeon und mit Kontrabassbogen gestrichenen Zimbeln. Das wirkt immer sehr farbig, und die Dynamik ist ebenso zwingend. Die Streicher etablieren schnell mit kaum hörbaren Tupfern quasi ihren „Raum“. Sehr konzentriert und doch überraschend, wie sich im zweiten Abschnitt des dreisätzigen Werks quasi aus dem Nichts eine gewaltige Steigerung entwickelt. Der dritte Satz imitiert mit rein instrumentalen Mitteln gekonnt elektronische Klänge. Was dieser Musik leider – zumindest beim ersten Hören – fehlt, ist eine nachvollziehbare Form oder Teleologie. Dennoch erhalten das Stück und seine Wiedergabe fast ungeteilte Zustimmung.

Nach der Pause verneigt man sich vor dem Begründer der Münchner musica viva, Karl Amadeus Hartmann, mit einer grandiosen Aufführung seiner letzten größeren Komposition, der Gesangsszene nach Worten aus Sodom und Gomorrha von Jean Giraudoux (1963). Der eine erschreckende Weltuntergangsstimmung beschwörende Text passte für Hartmann auf die Zeit des Kalten Krieges und erscheint angesichts der derzeitigen Katastrophen aktueller denn je. Der wie immer famose Bariton Christian Gerhaher gestaltet die teils gesungene, stellenweise gesprochene Partie mit überwältigender Ausdruckskraft. Hartmann lässt die Stimme zwar oft dann einsetzen, wenn das Orchester gerade nicht spielt. Gerhaher füllt so mühelos den großen Saal, bleibt mit klarster Diktion und Textverständlichkeit selbst dann präsent, wenn er gegen das Orchester im Forte beinahe anbrüllen muss. Dies ist freilich kompositorisch genauestens einkalkuliert, wird auch emotional von Gerhaher exakt richtig dosiert. Wieder gelingt den Berlinern und ihrem Chef eine Glanzleistung: Vom beginnenden Flötensolo – mit dem sich später der Kreis wieder schließen wird – über die zunächst zärtlich gebändigten, zugleich intensiven Streicherklänge bis zu manch irrsinniger Steigerung wird hier Hartmanns zwölftönige Polyphonie minutiös aufs Schönste realisiert. Der apokalyptische Textschluss („Es ist ein Ende der Welt! Das Traurigste von allen…“) lässt das Publikum zunächst sprachlos, bis verdient tosender Beifall losbricht.

Jetzt noch die 1994 für Claudio Abbado und seine Philharmoniker geschriebene Trauermusik Stele des ungarischen Altmeisters für Miniaturen, György Kurtág (*1926), zu bringen, passt zwar in den Kontext, ist jedoch fast schon zu viel des Guten. Für Kurtágs Verhältnisse war dieses Stück – von der Besetzung (u. a. mit Wagnertuben, 2 Klavieren und natürlich dem ungarischen Identifikationsinstrument, dem Cimbalom) wie von der Länge her – immerhin knapp 13 Minuten – eine ungewöhnliche Herausforderung. Ganz zum Schluss scheint diese dreisätzige symphonie funèbre, in der sich Minimalistisches zwischendurch erfolglos gegen den Tod aufzubäumen scheint, mit ihren matten Impulsen – an die gefrorenen Tränen in Bartóks Herzog Blaubarts Burg erinnernd – sogar irgendwie tröstlich. Kirill Petrenko erzeugt zuletzt eine geradezu erhabene Stille. Danach nicht enden wollende Ovationen; selbst Orchester und Dirigent beglückwünschen sich gegenseitig aufs Herzlichste. Wen wundert’s nach diesem anstrengenden Programm vier Tage hintereinander? Den Münchnern wird ein beglückender Konzertabend sicherlich noch lange in bester Erinnerung bleiben.

[Martin Blaumeiser, 18. 9.2023]

Neue Orchesterkunst vom Feinsten

Das Orchesterkonzert am 7. Juli 2017 im Rahmen des „musica viva“ Wochenendes überzeugte diesmal nicht nur durch eine Zusammenhang stiftende Programmkonzeption mit vier bereits in sich völlig schlüssigen Werken, sondern darüber hinaus mit einer in der Tat preiswürdigen Uraufführung. Der Abend wurde einmal mehr zum Triumph für den Dirigenten (und Komponisten) Matthias Pintscher und einem grandios aufgelegten BR-Symphonieorchester.

(c)Astrid Ackermann© Astrid Ackermann

Der ja ursprünglich zunächst vor allem als äußerst vielversprechender, junger Komponist, der ab und zu auch eigene Werke dirigiert, in den Fokus der Öffentlichkeit getretene Matthias Pintscher entwickelt sich immer mehr zu einem ganz großen Dirigenten der Neuen Musik, wie zahlreiche maßstabsetzende Aufführungen von ‚Klassikern‘ (Boulez, Varèse, Stockhausen…) mit dem Ensemble intercontemporain, aber auch beim Lucerne Festival, belegen. Und bei den Orchesterkonzerten der Münchner musica viva konnte er ebenfalls bereits überzeugen. Dieser Abend wurde jedoch zu einem wahren Triumph des Dirigenten und einem geradezu unglaublich motivierten BR-Symphonieorchester, das von Pintscher mit traumwandlerischer Sicherheit und sichtbarer Empathie für die dargebotene Musik durch vier wirklich herausfordernde Werke mit ganz unterschiedlicher Klangästhetik geführt wurde – nur zwei Wochen nach einem großartigen Messiaen unter Kent Nagano im Gasteig.

Pintscher eröffnete den Abend mit einer eigenen Komposition: with lilies white von 2001/02 – dem ältesten Werk dieses Konzerts. Die Orchesterfantasie mit Stimmen (3 Soprane und Knabensopran) verbindet Texte aus dem „Sterbeprotokoll“ des britischen Künstlers Derek Jarman mit einem Lamento William Byrds, welches deutlich, aber in geschickter Verfremdung zitiert wird. Tod und das Jenseitige bilden dann auch die verbindende Klammer für alle vier Werke des Abends, sozusagen den gemeinsamen transzendentalen Hintergrund bei aller Verschiedenheit der jeweiligen Werkkonzeptionen. Das Riesenorchester (inkl. im Raum verteilter Schlagzeuger) ist ein Beispiel für Pintschers klangliche Opulenz gerade um die Jahrtausendwende, die aber nie nur zum äußeren Zweck, sondern für eine hochdifferenzierte Dynamik und Farbigkeit zum Einsatz kommt. Damit steht der Komponist in einer Tradition überzeugender Orchestrierungskunst, wie sie etwa durch Hans Werner Henze repräsentiert wurde. Mit präziser Zeichengebung und immer sichtbarer Emotionalität brachte Pintscher sein Stück in jedem Detail zur Geltung. Der erst 13-jährige Augsburger Domsingknabe Vinzenz Löffel beherrschte seine Gesangs- und Sprechpartie bombensicher und stahl damit den drei mehr als Ensemble formierten, aber qualitativ natürlich ebenbürtigen Sopranistinnen Sarah Aristidou, Anna-Maria Palii und Sheva Tehoval etwas die Schau, durchaus zur Freude des Saals.

Ich stand bisher den meisten Kompositionen Mark Andres einigermaßen skeptisch gegenüber. Auch die bereits bei der musica viva zu Gehör gebrachten Werke „auf I“ und „…hij 1…“ ließen mich ziemlich kalt und ich fragte mich lange, inwieweit in Andres Schaffen eine eigene Stimme zu finden sei, die über bloßes Epigonentum – bezogen auf die Verweigerungsästhetik seines Lehrers Helmut Lachenmann – hinausginge. Doch mit seiner Uraufführungskomposition „woher…wohin“ konnte mich der frischgebackene, diesjährige Happy New Ears Preisträger diesmal wirklich überzeugen. Dem eigentlich aus sieben Miniaturen bestehenden Werk ist quasi als Motto Vers 3,8 aus dem Johannes-Evangelium vorangestellt: „Der Wind bläst, wo er will…“. Tatsächlich gelingt es Mark Andre verblüffend realistisch, mit einer höchst ausgeklügelten Instrumentation verschiedenste Windgeräusche umzusetzen; eine kleine Gehörbildung basierend auf Hörerfahrungen während eines Istanbul-Aufenthalts, wie er in der Konzerteinführung verriet. Das ist jedoch nur eine äußere Schicht der Komposition. Klar wird bereits beim ersten Hören, dass in den sieben Stücken, oder auch nur längeren Passagen daraus, der Klang jeweils aus einheitlichen Materialitäten gewonnen wird (etwa ‚mit Bögen gestrichen‘), hiermit an Werke wie Xenakis‘ Pléïades anknüpfend. Dabei gibt es Momente von äußerster Intensität, die schon körperlich unmittelbar berühren (krachende, kollektive Bartók-Pizzicati mit entsprechender Unterstützung von Blech und Schlagwerk), aber letztlich wie durch ein astronomisches Wurmloch immer metaphysisch auf das Entschwinden (gemeint ist hier das des auferstandenen Jesus in der Emmaus-Episode) hinweisen. Ob im dritten Abschnitt absichtsvoll eine Allusion zum vierten der 6 Orchesterstücke op. 6 (Marcia funebre) Anton Weberns hergestellt wird, sei dahingestellt. Die sieben Abschnitte folgen zudem einer nachvollziehbaren Dramaturgie mit einer gewaltigen Steigerung des siebten Abschnitts vor dem letzten Aushauchen. Das ist alles wohldosiert und gekonnt, zeugt von einer echten Reife des Komponisten und wurde sogleich mit entsprechendem Beifall gewürdigt.

György Kurtàgs „Geburtstagsständchen“ zu Pierre Boulez‘ Neunzigstem gehört mit knapp sieben Minuten eigentlich bereits zu den längeren Werken des Miniaturisten. Mit erheblich kleinerer Besetzung, durchaus klangsinnlich und persönlich (Cimbalom!), gelang hier dennoch eine ergreifende Hommage an den fast gleichaltrigen Kollegen, wobei naturgemäß der Tod irgendwo nicht mehr wegzudiskutieren ist, was durch verschiedene musikhistorische Anspielungen allzu deutlich wird. Leider wurde dieses wertvolle und sensibel gespielte Werk hier durch die umgebenden Stücke fast etwas erdrückt.

Am Schluss im Verhältnis geradezu ätherische Klänge: „…towards a pure Land“ des in Deutschland immer noch viel zu wenig beachteten, großartigen britischen Komponisten Jonathan Harvey (1939-2012). Ein Blick auf eine utopische, eigentlich bereits jenseitige, nach buddhistischer Prägung idealisierte Lebensvision von klanglich üppiger Schönheit, die aber nie überbordet, geschweige denn in Kitsch umschlägt. Auch hier agierte das Orchester unter dem inspirierenden Matthias Pintscher (jetzt mit Taktstock) mitreißend und setzte diese phantastische Klangwelt kongenial um. Das Stück ist ein wirklich großer Wurf, das Publikum war aber dann nicht mehr mit voller Aufmerksamkeit dabei. Auf Harvey auch in den musica viva Orchesterkonzerten nochmals zurückzukommen, fände ich sehr lohnenswert. Insgesamt war dieses Konzert auf jeden Fall der absolute Höhepunkt der diesjährigen Saison. Die Mitglieder des BR-Symphonieorchesters mögen ähnlich empfunden haben und dankten dies dem Dirigenten mit großer Geste.

[Martin Blaumeiser, Juli 2017]

Zwischen Magie der Stimmen und Videospiel

Der diesjährige Ernst von Siemens Musikpreis wurde an den französischen Pianisten Pierre-Laurent Aimard verliehen, die Komponisten-Förderpreise gingen an Lisa Streich, Michael Pelzel und Simon Steen-Andersen.

Am 2. Juni lud die Ernst von Siemens Musikstiftung zur alljährlichen Verleihung des Ernst von Siemens Musikpreises im Münchner Prinzregententheater. Es handelt sich hierbei um die wohl gewichtigste europäische Auszeichnung für einen Komponisten oder einen Musiker mit zentraler Bedeutung im Feld der zeitgenössischen Musik. Das Lebenswerk solch einer Schlüsselfigur wird mit dem Hauptpreis in Höhe von 250.000 Euro prämiert. Zudem wird drei aufstrebenden Komponisten der Komponisten-Förderpreis verliehen, der sie mit jeweils 35.000 Euro unterstützt, um sich für eine gewisse Zeit ohne monetäre Sorgen dem Komponieren widmen zu können. Die Verleihung jedoch ist nur die sichtbare Spitze des Eisbergs, den die Ernst von Siemens Musikstiftung an Fördergeldern ausschüttet: circa 130 Projekte zeitgenössischer Musik werden auf internationaler Ebene alleine 2017 von der Stiftung unterstützt, wofür insgesamt 3,5 Millionen Euro investiert werden.

Neben den exzellenten Portraitfilmen von Johannes List, einer Begrüßungsrede von Michael Krüger, der Vergabe der Förderpreise durch Thomas von Angyan und des Hauptpreises durch Michael Krüger sowie der Laudatio von George Benjamin für Aimard ist es üblich, dass auch Musik von und/oder durch die ausgezeichneten Persönlichkeiten erklingt. Das Münchener Kammerorchester spielt unter Leitung von Jonathan Stockhammer.

Das erste Werk ist ein Auszug aus Augenlider (2015) von Lisa Streich für präparierte Gitarre und Orchester, Solistin ist Laura Snowden. Der zu hörende Auszug ist im Grunde eine ausschweifende Paraphrase über Paganinis La Campanella, die auf statische Weise quasi „lontano“ dargestellt wird. Ausgebreitete Flächen aus unverändertem Klang dominieren das Bild, die Gitarre spielt teils beinahe im Untergrund. Die klirrende Statik wird jedoch zu sehr ausgereizt, es fehlt an nötigem Antrieb, um ein flüssiges Fortschreiten des musikalischen Geschehens zu ermöglichen.

Auszüge aus Gravity’s Rainbow (2016) von Michael Pelzel für CLEX (elektronische Kontrabassklarinette) – gespielt von Ernesto Molinari – und Orchester schließen sich an. Nicht nur das Instrument fasziniert, sondern auch die ausgefeilte Harmonik, die dem Werk zugrunde liegt. Verstärkt wird der unnatürliche Effekt der CLEX durch gestimmte Gläser und zwei Verrophone, was der atemberaubenden Tiefe des Soloinstruments einen gespenstischen Gegenpol verleiht. Die Virtuosität von Molinari, im Übrigen auch Erfinder der CLEX, ist phänomenal und stimmt sich gut mit dem Münchener Kammerorchester ein, welches unter Stockhammer mit technischer wie musikalischer Höchstleistung agiert.

Simon Steen-Andersen stellte die Musik an diesem Abend auf den Kopf: Mit Run Time Error @ Opel feat. Ensemble Modern (2015) schuf er nie Dagewesenes. Auf zwei Bildschirmen läuft zeitgleich ein Video ab, in welchem die Aufnahme einer mit allerlei Geräuschen gespickten Kettenreaktion zu sehen ist, von instrumentalen Lauten bis zu einem Stimmgerät oder umfallenden Gegenständen. Durch zwei Joysticks kontrolliert Steen-Andersen das Geschehen, spult die Videos unabhängig voneinander vor und zurück oder verändert die Geschwindigkeit. So entsteht ein kanon-ähnliches Klangkonstrukt, das die Aufmerksamkeit der Hörer bannt. Selbst wenn sie nicht das Musikgeschehen der kommenden Zeit dominieren wird, bleibt es eine kurzweilige wie unterhaltsame Idee mit Potential.

In der zweiten Hälfte spielt der Hauptpreisträger Pierre-Laurent Aimard Werke von Vassos Nicolaou, George Benjamin, György Kurtág, György Ligeti, Marco Stroppa und Elliott Carter, ersteres gemeinsam mit Tamara Stefanovich. Hier stellt Aimard nicht nur technische Perfektion unter Beweis, sondern auch einen beinahe übermenschlich nuancierten Anschlag und die Fähigkeit, sowohl mit einer einzigen Stimme eine ganze Welt zu erfüllen – wie in Ligetis Zauberlehrling oder Carters Caténaires – als auch eine Vielzahl an Stimmen zu phrasieren und in der Spannung zu halten, was gerade in Benjamins Shadowlines besticht. Seit Jahrzehnten prägt Aimard wie kaum ein anderer Pianist die zeitgenössische Musik-Szene, zahlreiche Komponisten wie Messiaen, Carter, Benjamin oder Ligeti verdanken ihm die Inspiration zu bedeutsamen Klavierwerken, diesem erstklassigen ausführenden Künstler, der in allen Belangen neue Maßstäbe setzte – und sicher auch weiterhin setzen wird.

[Oliver Fraenzke, Juni 2017]

Siebzig Jahre Klaviermusik von den Darmstädter Ferienkursen

NEOS 11630 (7CDs), LC 15673; EAN: 4 260063 116308

Wohl kein Ort der Welt scheint nach 1945 so mit dem Begriff der „Musikalischen Moderne“ verknüpft wie Darmstadt mit seinen berühmt-berüchtigten Ferienkursen. Von den etwa tausend bei den dortigen Begleitkonzerten aufgeführten Klavierwerken hat jetzt das Label NEOS auf sieben CDs eine kluge Auswahl als „Darmstadt Aural Documents – Box 4 · Pianists“ vorgelegt, die dem Hörer gut die mannigfaltigen ästhetischen Positionswechsel der letzten siebzig Jahre demonstriert. Dabei hatte die Klaviermusik, vergleichbar mit dem Streichquartett in früheren Epochen, immer eine Schlüsselfunktion inne. Unter den Aufnahmen etlicher für die Interpretation von neuer Klaviermusik prägender PianistInnen – darunter viele CD-Erstveröffentlichungen – finden sich auch einige echte Schätze, gerade aus den Anfangsjahren. Das komplette Programm der Box findet man hier.

In der Reihe Darmstadt Aural Documents widmet sich die vierte Veröffentlichung bei NEOS (nach Orchesterwerken, John Cage und Ensemblemusik) endlich der Darmstädter Auseinandersetzung mit der Klaviermusik. Die 7-CD-Box enthält 54 Werke von 49 verschiedenen Komponisten mit insgesamt über 8½ Stunden Musik. Im Gegensatz zur großen Anthologie Musik in Deutschland 1950-2000 (RCA), die dem Hörer Stücke oft nur häppchenweise vorsetzt, sind hier zum Glück aus mehreren Teilen bestehende Werke immer vollständig zu hören. Das unerwartet dünne Booklet enthält neben der Trackliste zunächst nur ein Vorwort sowie einen schönen Text von Stefan Fricke, der die historische Position des Klaviers nach dem Zweiten Weltkrieg und deren Veränderung beleuchtet. Nachfolgend versucht Michael Zwenzner zwar, die meisten der vorgestellten Werke innerhalb ihres konkreteren ästhetischen Kontexts zu verorten – tatsächliche Werkbeschreibungen zu den einzelnen Stücken fehlen aber. Dies kann und soll diese Besprechung natürlich nicht nachholen.

Die Verteilung der Musik auf die 7 CDs entspricht so sicher nicht ganz ihrer anteiligen historischen Bedeutung für Darmstadt. CD1 enthält Klavierwerke vor 1950 – hier findet man neben Arnold Schönbergs opp. 19 u. 23 und einigen zu Unrecht vergessenen Raritäten (Wolpe, Sessions, Apostel) z.B. auch die Klaviersonate von Béla Bartók (1926), was zunächst verwundern mag, da diese heute allenfalls gemäßigt modern erscheint. Man muss sich allerdings vor Augen führen, dass die erste Aufgabe der Darmstädter Ferienkurse darin bestand, dem interessierten Publikum und den (jungen) Komponisten nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst die Musik zugänglich zu machen, die während des Dritten Reichs schlicht verfemt war (Stichwort: Entartete Musik). Auch in der Aufführungsstatistik etwa der Münchner Musica-Viva-Konzerte während der 1950er-Jahren hatte Bartók einen erstaunlich hohen Stellenwert. CD2 ist allerdings etwas unbefriedigend: Auf nur einer CD erscheinen die Werke der 50er und 60er-Jahre unterrepräsentiert, da gerade diese zentrale Bedeutung für die weitere Entwicklung, insbesondere auf Reflexionsebene, in Darmstadt hatten – nicht zuletzt dadurch, dass die Kurse bis 1970 noch jährlich stattfanden (danach im Zweijahreszyklus). Hier bedauert man auch die Entscheidung der Herausgeber, Werke für zwei Klaviere ganz herauszunehmen. Die komplexesten Werke dieser Zeit sind oft gerade für diese Besetzung konzipiert. CDs 3-6 präsentieren jeweils ca. ein gutes Jahrzehnt (1970-2010). Die zweite Hälfte von CD6 und CD7 sind dann Stücken gewidmet, bei denen das Klavier modifiziert ist (andere Stimmung, Präparation, Hinzunahme von Tonbändern oder Live-Elektronik, computergenerierte Klänge etc.), oder aber der Pianist noch andere Aktionen – etwa als Sprecher – ausführen muss bzw. gänzlich fehlt (Player Piano).

Darmstadt stand jahrzehntelang nicht nur für einen wichtigen Aufführungsort Neuer Musik – das war Donaueschingen bereits seit den Zwanzigerjahren – sondern vor allem auch für den Ort kritischer Reflexion unter Komponisten und Musikwissenschaftlern. Bezeichnend ist hier allerdings das fast dogmatische Festhalten an einem bestimmten, sicher auch ideologisch geprägten Fortschrittsbegriff, wie ihn etwa Theodor W. Adorno und Heinz-Klaus Metzger vertraten. Dieser fordert eine rational herstell- und analysierbare Materialstimmigkeit („Materialfortschritt“), die auf der anderen Seite musikalische Begrifflichkeiten wie etwa „Ausdruck“ völlig ignoriert und so auch – besonders deutlich im Fall von Pierre Boulez‘ 3. Klaviersonate – quasi das „Fehlen des Autors“ geradezu heraufbeschwört.

Vielleicht lässt sich diese (Fehl?)entwicklung anhand der ersten beiden CDs für den Hörer gut nachvollziehen. So finden wir hier eine Darbietung von Anton Weberns Variationen op.27 durch den Uraufführungspianisten Peter Stadlen, dem der Komponist 1937 mit auf den Weg gegeben hatte, das hochkonstruktive Werk quasi romantisch und mit Rubato vorzutragen. Erstaunlich angesichts der Tatsache, dass schon die erste Phrase nicht nur ein Palindrom in  zeitlicher Richtung, sondern auch noch in der Vertikalen spiegelsymmetrisch ist. Tatsächlich folgt der Pianist in seiner Wiedergabe von 1948 dieser Aufforderung überzeugend. Und wenn man Stadlens Interpretation von Schönbergs op. 23 (das letzte Stück, der Walzer, ist das erste offizielle Zwölftonwerk Schönbergs) mit der staubtrockenen, rationalen Aufnahme von Schönbergs eigentlich expressionistischen Sechs kleinen Klavierstücken op. 19 unter den Händen von Eduard Steuermann – seinerseits Widmungsträger der Webernschen Variationen – aus dem Jahre 1957 vergleicht, wundert man sich nicht schlecht über den ästhetischen Wandel des Klavierspiels, der da stattgefunden hat. Wenn Weberns hermetische Kunst einer konsequenten Materialbeschränkung von den „Darmstädtern“ (insbesondere Boulez und Stockhausen) quasi zur Prämisse erklärt wurde, so war der Weg zur seriellen Musik unaufhaltsam. Dass diese dann (Ligeti erklärt dies bereits in einem frühen Aufsatz mit unweigerlich auftretender Entropie) irgendwie immer „gleich“ klingt, führte sehr schnell – bereits ab 1955 – zu einer Abkehr von simpler Reihentechnik, aber dafür zu noch komplexeren Ableitungen des Ausgangsmaterials unter dem Gesetz der Zahl – teilweise aber bereits unter Einbeziehung von Zufallsentscheidungen, die man in Darmstadt durch John Cage kennengelernt hatte. Auf CD2 finden sich hintereinander gleich zwei Schlüsselwerke dieser Periode: Karlheinz Stockhausens Klavierstück XI (gespielt vom legendären David Tudor) und Pierre Boulez‘ Troisième Sonate. Letztere ist ein work in progress geblieben; von den fünf geplanten Sätzen –  hier: Formanten – sind nur zwei im Druck erschienen (Trope und Constellation/Miroir). Die übrigen Sätze wurden nie fertig. Die vorliegende Aufnahme ist ein ganz besonderes Tondokument, da sie nicht nur die stupenden Fähigkeiten von Boulez auch als Pianist zeigt. Er spielt hier eine vorläufige (bei den unveröffentlichen Formanten noch sehr rudimentäre) fünfsätzige Fassung. Immerhin erscheint es bei der ganzen Gehirnakrobatik hinter dieser Komposition als menschlich, dass selbst der Komponist es nicht schafft, sauber einen Weg durch das von ihm erschaffene Labyrinth zu finden: Boulez lässt – offensichtlich aus Versehen – etliche Wege in Miroir (das später gedruckte eine Notenblatt misst 3,47m x 59,6 cm!) aus, die er eigentlich obligatorisch spielen müsste. Dem oben erwähnten John Cage ist zwar eine eigene CD in der Reihe der Darmstadt Aural Documents gewidmet; in der Klavierbox fehlen aber leider auch die anderen wichtigen Vertreter der New York School (so Morton Feldman oder Earle Brown), die wichtige Bezugspunkte für Darmstadt geliefert haben.

Bei CD2 empfehle ich dringend, den CD-Player auf jeweils ein Werk zu programmieren und dies eventuell mehrfach anzuhören. Beim ersten Hören ist sonst die Gefahr in der Tat groß, sich schon im nächsten Stück – eines anderen Komponisten! – zu befinden, ohne etwas davon gemerkt zu haben. Ob so Werken wie der 3. Boulez-Sonate (über die es ein halbes Dutzend umfängliche Dissertationen gibt) etwas abzugewinnen ist, sei jedem Hörer selbst überlassen.

Es ist interessant, dass gerade das Klavier mit seinem monochromen Klang über die Jahre so wichtig für die Vertreter der seriellen Schiene geblieben ist, obwohl es auch die Schwächen dieses Komponierens mehr als deutlich zu Tage treten lässt. Vielleicht ist das Klavier aber auch – schon als Möbelstück geradezu das Repräsentationsobjekt des Bürgertums – einfach historische Reibungsfläche par excellence; man denke nur an die geradezu genüsslichen Klavierdestruktionen nicht erst der Fluxus-Bewegung.

In Darmstadt hielt man länger als irgendwo sonst an seriellen Konzepten fest. Wer damit nicht konform ging, wurde oft schlicht hinausgeekelt (etwa Hans Werner Henze). So entstand eben nicht nur ein Ort gegenseitiger künstlerischer Befruchtung, sondern auch zerbrochener Freundschaften und unerledigter Diskurse – später etwa um den Begriff einer musikalischen Postmoderne, die manchem von vornherein als regressiv galt. Als selbst Adorno die aktuelle Entwicklung kritisch hinterfragte (in seiner Schrift Vers une musique informelle, 1961), erntete er überwiegend „zementierte“ Reaktionen.

Trotzdem hinterließen auch die „Abweichler“ in Darmstadt unweigerlich ihre Spuren: Als vielleicht typische Beispiele für die musikalische Postmoderne der 70er- bzw. 80er-Jahre höre man z.B. Wolfgang Rihms Klavierstück Nr. 5 „Tombeau“ (Neo-Expressionismus?) und Wilhelm Killmayers Klavierstück Nr. 7 (unverschämter Weise mit tonalen Zitaten, die einzigen in der Box). Nachdem die Postmoderne-Diskussion Anfang der 1990er urplötzlich abbrach, komponierten etliche Jüngere anscheinend ein wenig unbeeinflusster von „Trends“, gerade bei der Klaviermusik allerdings oft in quasi ironisch gebrochener Weise – und auch der „Komplexismus“ ist bis heute keineswegs aus Darmstadt verschwunden.

Ob manche der in der Box vorgestellten Werke nach 1970 irgendwann – und wenn auch nur aus historischen Gründen – Repertoirestücke werden, wird erst die Zeit entscheiden. Lob verdienen auf jeden Fall die Ausführenden: Sowohl die Beispiele virtuoser Entgrenzungen (Xenakis, Boucourechliev, Ferneyhough, Sciarrino, Rothman…) als auch sich solchem verweigernde Gegenpole (Febel, Tanaka, Lang…) werden hier absolut überzeugend dargeboten – nicht von ungefähr darf ein Großteil der hier tätigen Pianisten als creme de la creme bei der Bewältigung Neuer Musik gelten. Wirklich überragend – auch gerade im Vergleich mit späteren Einspielungen – seien stellvertretend Alois Kontarsky mit Xenakis‘ Evryali und Claude Helffer mit Boucourechlievs Six études d’après Piranèse genannt.

Besonderes Augenmerk wurde bei der Auswahl für die Box auch auf solche Werke gelegt, bei denen das übliche Gespann – Pianist(in) plus wohltemperiert gestimmter Konzertflügel – verworfen wird. Hier finden sich einerseits Stücke, die den normalen Tonvorrat in Richtung Mikrotonalität verändern oder erweitern (Roland Kayns Quanten, Jean-Etienne Maries Trois pièces brêves, Pascal Critons Thymes) – andererseits solche, die den Pianisten völlig ignorieren (Player Piano bzw. Computerrealisationen mit und ohne Live-Elektronik bei Barlow und Zuraj) oder aber zusätzliche Aktionen wie Singen oder Sprechen von ihm abfordern (Aperghis, Baltakas). Stockhausens Luzifers Traum oder Klavierstück XIII (1981) ist ja eigentlich auch eine Opernszene: aus Samstag aus »Licht«.

Man sollte hoffen, dass die Quintessenz des Ganzen nicht so schlimm ist, wie sie Steffen Krebber (*1976) in seinem witzigen faire signe (für Automatenklavier und einen Lautsprecher) von 2014 ironisch zu ziehen scheint. Das Stück beginnt – vom Tonband – mit dem Text: „Es lohnt sich nicht zuzuhören, weil spätere Kunst sicher besser sein wird. Bitte verlassen Sie den Saal!“

Aufnahmetechnisch ist die Box nicht zu beanstanden. Der Digital-Transfer gerade auch vieler älterer, monauraler Aufnahmen (beginnend 1948) ist gut gelungen, die zeitüblichen Störungen wurden weitgehend herausgefiltert – bei ein, zwei Aufnahmen war wohl etwas Jitter nicht zu beheben. Einige der Einspielungen zeigen neben ihrem historischen Wert die jeweiligen Interpreten auf dem absoluten Höhepunkt ihrer Möglichkeiten – zudem hört man gleich drei Komponisten (Boulez, Castiglioni und Lachenmann) in der eher seltenen Rolle als Pianisten mit ihren eigenen Werken. Dass viele der dargebotenen Werke bisher gar nicht in anderer Form auf CD zugänglich waren, spricht alleine schon für eine Kaufempfehlung – allerdings eher nur für hartgesottene Fans moderner Musik. Dies ist alles andere als leichte Kost!

[Martin Blaumeiser, August 2016]