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Das Stifterkonzert begeistert erneut

Foto (c) Astrid Ackermann

Räsonanz Stifterkonzert: Elliott Carter, George Benjamin, Enno Poppe und György Ligeti, Chamber Orchestra of Europe, David Robertson (Leitung); Tabea Zimmermann (Viola), Pierre-Laurent Aimard (Klavier)

Erst zum dritten Mal gab es am 9.6.2018 im Münchner Prinzregententheater das räsonanz Stifterkonzert der Ernst von Siemens Musikstiftung, die in Zusammenarbeit mit der musica viva des Bayerischen Rundfunks ermöglicht, auch hochkarätige Orchester bzw. Ensembles von außerhalb mit anspruchsvollen zeitgenössischen Musikprogrammen in die Stadt zu bringen. Diesmal gastierte das Chamber Orchestra of Europe unter David Robertson mit den Solisten Tabea Zimmermann, Viola und Pierre-Laurent Aimard, Klavier. Auf dem Proramm standen fünf Werke von Elliott Carter, George Benjamin, Enno Poppe und György Ligeti. Es sollte ein phänomenaler Konzertabend werden.

Nichts gegen das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, das ja bereits an den beiden vorangegangenen Abenden ein wirklich gelungenes Werk von Helmut Lachenmann (My Melodies, für acht Hörner und Orchester) mit Begeisterung aus der Taufe gehoben hatte. Trotzdem ist man froh, auch mal einen anderen Klangkörper mit Neuer Musik in München hören zu dürfen. Das noch im Dunstkreis von Claudio Abbado entstandene Chamber Orchestra of Europe – zum Glück auch alles andere als ein Spezialensemble für Zeitgenössisches – hatte sich ein höchst anspruchsvolles Programm vorgenommen, darunter zwei Klassiker, das Klavierkonzert von Ligeti und Penthode von Elliott Carter, bei denen es ja auch gilt, eben im Vergleich mit spezialisierten Formationen zu bestehen.

Der Abend beginnt mit dem letzten (Kammer-)orchesterstück des in Deutschland immer noch viel zu selten gespielten Altmeisters Elliott Carter (1908-2012), Instances, im Alter von 103 Jahren komponiert, immer noch von ungebrochener musikalischer Intelligenz, mit den sich typisch durch metrische Modulation überlagernden Zeitschichten, die gleichzeitig Weitsicht und große Zusammenhänge stiften, andererseits auf Individualität einzelner Spieler bzw. Teilgruppen abzielen. Stets baut Carter (etwa im Unterschied zu Boulez oder Xenakis) nicht nur auf klar konzipierte Materialstrukturen, sondern lässt ganz bewusst Emotionen zu. Der Schluss klingt doch etwas wehmütig nach Abschied. David Robertson setzt nicht nur hier ganz auf Klarheit, ist schlagtechnisch mit Präzision bei der Sache – im abschließenden Ligeti-Klavierkonzert gibt der Dirigent bei der Aufführung dann eh quasi nur ein Metronom ab – kennt die Stücke ganz genau, kann sich aber über Strecken völlig auf die hervorragenden Musiker des ECO verlassen, hält sie gewissermaßen an der langen Leine. Aber gerade dadurch wirkt bei der doch durchweg extrem komplexen Musik des Abends alles erstaunlich entspannt und gelöst, fast selbstverständlich. Bei Carters Penthode (nach der Pause), das in seiner hyperchromatischen Klanglichkeit wie auch seiner Expressivität immer noch an Schönberg erinnert, halten die Darbietenden das Publikum ununterbrochen in Spannung, ohne dass dies ermüdend wirkt – was hier mit großem Applaus bedacht wird. Allein dies zeigt die hohe Qualität des Abends, aber beim ECO hat auch jeder Spieler definitiv solistische Qualitäten; Genauigkeit im Zusammenspiel und eine gut aufeinander abgestimmte Dynamik tun ein Übriges. Der zweite Programmpunkt, George Benjamins farbige Three Inventions von 1995, wirkt dann fast schon wie easy listening, so natürlich und unangestrengt gelingt hier alles.

Enno Poppe hat sich in den letzten 15 Jahren zu einem der nachdenklichsten und in seinem Bemühen um eine neuartige Harmonik durch Mikrotonalität vielleicht konsequentesten deutschen Komponisten entwickelt. Die Solistin seines Bratschenkonzerts Filz (2014), Tabea Zimmermann, kann hier mit einem staunenswert großen und profunden Ton überzeugen. Das Stück bedient den typischen Klangcharakter der Viola ganz vortrefflich. Die Art und Weise, wie sich die Solistin durch einen Dschungel oft ausufernder Vibrati und Glissandi kämpfen muss, hat durchaus dramatische Qualitäten, besonders da, wo das kleine Orchester – nur 16 Streicher und vier Klarinetten – sie dann doch fast gefährlich abzuwürgen scheint. Das Stück erweist sich lediglich als etwas lang; trotz einiger Abnutzungserscheinungen wird es vom Publikum aber dankbar angenommen.

Der Schluss dann ein einziger Triumph für den letztjährigen Preisträger des Ernst von Siemens Musikpreises, Pierre-Laurent Aimard. Ligetis Klavierkonzert ist ja mittlerweile ein echter Klassiker. Die enorm witzigen und ideenreichen polyrhythmischen Strukturen, die hier dargeboten werden, spotten in ihrer Komplexität zwar jeder Beschreibung, nichtsdestotrotz ist diese Musik – letztlich in ihrem Bemühen um eine transzendente Aufhebung der Zeit – verständlich und hat dreißig Jahre nach der Uraufführung nichts von ihrer Faszination eingebüßt. Ich habe das Stück mittlerweile schon öfters live gehört, aber die Perfektion und der Aberwitz, mit dem hier Solist und das Kammerorchester diesem Drahtseilakt gerecht werden, kann wohl kaum noch übertroffen werden. So endet der Abend gleichsam in einem großen Aufschrei an Begeisterung; der Dirigent verneigt sich vor dem Pianisten bis auf den Boden. Die Stifterkonzerte wird man in München nicht mehr missen wollen, sie sind jetzt schon fester Bestandteil des Musiklebens geworden.

[Martin Blaumeiser, Juni 2018]

Die Macht der Rhythmik

NEOS 10819; EAN: 4 260063 108198

Der japanische Perkussionist Isao Nakamura spielt Werke für Schlagzeug solo. Es erklingen zwei der Acht Stücke für vier Pauken von Elliott Carter, Saëta und Improvisation, „dasselbe ist nicht dasselbe“ von Nicolaus A. Huber, Mauricio Kagels Solo aus Exotica, Ta-Ryong IV (Die Kehrseite der Postmoderne) von Younghi Pagh-Paan, Thunder aus Triangel von Peter Eötvös, Rebonds von Iannis Xenakis sowie Sen VI von Toshio Hosokawa.

Erst im 20. Jahrhundert wurde das Schlagwerk als Soloinstrumentarium entdeckt. Zuvor gab es Werke für gestimmte Pauken und Schlagstabspiele wie Xylophon oder Metallophon, die sich früh großer Beliebtheit erfreuten, doch die Rhythmik verlor erstaunlich spät die Bindung an die melodischen Komponenten. Und das, obgleich die Symphoniker schon im frühen 19. Jahrhundert dem Schlagwerk immer größere Bedeutung zumaßen, man denke alleine an die Pauke in Beethovens Violinkonzert oder die erweiterte Schlagzeugbesetzung in Berlioz‘ Symphony fantastique.

Isao Nakamura verbannt die Melodie auf vorliegender CD in den Hintergrund, abgesehen von Pauken verwendet er kein Instrument mit definierbarer Tonhöhe. Die Pauke kommt bei Carter zum Einsatz, dessen komplex durchkonstruierte Kompositionsstudien „Acht Stücke für vier Pauken“ ihren Reiz aus der Beschränkung des Materials ziehen. Durch diese entstehen phantastische Effekte, die Carter nicht überreizt und darüber hinaus sogar dezidiert vorschreibt, maximal vier der acht Stücke in einem Programm zu spielen. Eötvös reduziert noch weiter, in Thunder kommt lediglich eine einzige Basspauke zum Einsatz. Das „Donnern“ entsteht durch Verstimmen des Instruments mit Hilfe des Fußpedals, wodurch der Klang in kürzester Zeit mehrere Ganztöne fallen oder steigen kann. Die Beschränkung auf nur ein Instrument findet sich auch in Hubers „dasselbe ist nicht dasselbe“ für Snare Drum, was mit einer Viertelstunde Laufzeit allerdings eine spürbare Überlänge aufweist, die wenigen Effekte der Snare Drum nutzen sich zu schnell ab, um die Spannung so lange Zeit aufrecht zu erhalten. Ähnlich lang, doch dichter und kurzweiliger gestalten sich die Rebonds von Xenakis, der mit genauen Proportionen und dem Wechsel zwischen verschiedenartigen Schlaginstrumenten einen hypnotischen Bogen spannt. Hosokawa schreibt zahlreiche gestische Anweisungen vor, die Stille ist omnipräsent. Vieles dieser Musik ist bedauernswerterweise ohne optische Dokumentation nicht darstellbar, und doch bezaubern die spärlichen Klangereignisse eben dadurch, dass sie sich rar machen. Die meisten unterschiedlichen Klänge erleben wir in Pagh-Paans Ta-Ryong IV – vielleicht sogar zu viele, um die Form noch schlüssig ausfallen zu lassen. Kagel besticht durch gezielte Skurrilitäten, der Text für einen obligaten Gesangspart darf frei erfunden werden: Lacher sind vorprogrammiert. Kagel nahm sich selbst nicht allzu ernst, das verleiht ihm Frische und Unverbrauchtheit.

Die Zuneigung zu allen Stücken spiegelt das Spiel von Isao Nakamura wider, voller Inbrunst stürzt er sich auf jedes einzelne Stück dieses Programms. Er versteht, den Klang minutiös zu differenzieren und so lange an ihm zu feilen, bis exakt das Resultat erscheint, was er sich herbeigewünscht hat. Nakamura kann sekundenschnell zwischen Ernst und Witz changieren, seine Begeisterung für beide Welten ist offenkundig. Die Komponisten könnten sich keinen geeigneteren und passionierteren Interpreten für ihre Stücke wünschen, nicht zufällig sind drei der hier aufgenommenen Stücke Nakamura gewidmet.

[Oliver Fraenzke, März 2018]

Zwischen Magie der Stimmen und Videospiel

Der diesjährige Ernst von Siemens Musikpreis wurde an den französischen Pianisten Pierre-Laurent Aimard verliehen, die Komponisten-Förderpreise gingen an Lisa Streich, Michael Pelzel und Simon Steen-Andersen.

Am 2. Juni lud die Ernst von Siemens Musikstiftung zur alljährlichen Verleihung des Ernst von Siemens Musikpreises im Münchner Prinzregententheater. Es handelt sich hierbei um die wohl gewichtigste europäische Auszeichnung für einen Komponisten oder einen Musiker mit zentraler Bedeutung im Feld der zeitgenössischen Musik. Das Lebenswerk solch einer Schlüsselfigur wird mit dem Hauptpreis in Höhe von 250.000 Euro prämiert. Zudem wird drei aufstrebenden Komponisten der Komponisten-Förderpreis verliehen, der sie mit jeweils 35.000 Euro unterstützt, um sich für eine gewisse Zeit ohne monetäre Sorgen dem Komponieren widmen zu können. Die Verleihung jedoch ist nur die sichtbare Spitze des Eisbergs, den die Ernst von Siemens Musikstiftung an Fördergeldern ausschüttet: circa 130 Projekte zeitgenössischer Musik werden auf internationaler Ebene alleine 2017 von der Stiftung unterstützt, wofür insgesamt 3,5 Millionen Euro investiert werden.

Neben den exzellenten Portraitfilmen von Johannes List, einer Begrüßungsrede von Michael Krüger, der Vergabe der Förderpreise durch Thomas von Angyan und des Hauptpreises durch Michael Krüger sowie der Laudatio von George Benjamin für Aimard ist es üblich, dass auch Musik von und/oder durch die ausgezeichneten Persönlichkeiten erklingt. Das Münchener Kammerorchester spielt unter Leitung von Jonathan Stockhammer.

Das erste Werk ist ein Auszug aus Augenlider (2015) von Lisa Streich für präparierte Gitarre und Orchester, Solistin ist Laura Snowden. Der zu hörende Auszug ist im Grunde eine ausschweifende Paraphrase über Paganinis La Campanella, die auf statische Weise quasi „lontano“ dargestellt wird. Ausgebreitete Flächen aus unverändertem Klang dominieren das Bild, die Gitarre spielt teils beinahe im Untergrund. Die klirrende Statik wird jedoch zu sehr ausgereizt, es fehlt an nötigem Antrieb, um ein flüssiges Fortschreiten des musikalischen Geschehens zu ermöglichen.

Auszüge aus Gravity’s Rainbow (2016) von Michael Pelzel für CLEX (elektronische Kontrabassklarinette) – gespielt von Ernesto Molinari – und Orchester schließen sich an. Nicht nur das Instrument fasziniert, sondern auch die ausgefeilte Harmonik, die dem Werk zugrunde liegt. Verstärkt wird der unnatürliche Effekt der CLEX durch gestimmte Gläser und zwei Verrophone, was der atemberaubenden Tiefe des Soloinstruments einen gespenstischen Gegenpol verleiht. Die Virtuosität von Molinari, im Übrigen auch Erfinder der CLEX, ist phänomenal und stimmt sich gut mit dem Münchener Kammerorchester ein, welches unter Stockhammer mit technischer wie musikalischer Höchstleistung agiert.

Simon Steen-Andersen stellte die Musik an diesem Abend auf den Kopf: Mit Run Time Error @ Opel feat. Ensemble Modern (2015) schuf er nie Dagewesenes. Auf zwei Bildschirmen läuft zeitgleich ein Video ab, in welchem die Aufnahme einer mit allerlei Geräuschen gespickten Kettenreaktion zu sehen ist, von instrumentalen Lauten bis zu einem Stimmgerät oder umfallenden Gegenständen. Durch zwei Joysticks kontrolliert Steen-Andersen das Geschehen, spult die Videos unabhängig voneinander vor und zurück oder verändert die Geschwindigkeit. So entsteht ein kanon-ähnliches Klangkonstrukt, das die Aufmerksamkeit der Hörer bannt. Selbst wenn sie nicht das Musikgeschehen der kommenden Zeit dominieren wird, bleibt es eine kurzweilige wie unterhaltsame Idee mit Potential.

In der zweiten Hälfte spielt der Hauptpreisträger Pierre-Laurent Aimard Werke von Vassos Nicolaou, George Benjamin, György Kurtág, György Ligeti, Marco Stroppa und Elliott Carter, ersteres gemeinsam mit Tamara Stefanovich. Hier stellt Aimard nicht nur technische Perfektion unter Beweis, sondern auch einen beinahe übermenschlich nuancierten Anschlag und die Fähigkeit, sowohl mit einer einzigen Stimme eine ganze Welt zu erfüllen – wie in Ligetis Zauberlehrling oder Carters Caténaires – als auch eine Vielzahl an Stimmen zu phrasieren und in der Spannung zu halten, was gerade in Benjamins Shadowlines besticht. Seit Jahrzehnten prägt Aimard wie kaum ein anderer Pianist die zeitgenössische Musik-Szene, zahlreiche Komponisten wie Messiaen, Carter, Benjamin oder Ligeti verdanken ihm die Inspiration zu bedeutsamen Klavierwerken, diesem erstklassigen ausführenden Künstler, der in allen Belangen neue Maßstäbe setzte – und sicher auch weiterhin setzen wird.

[Oliver Fraenzke, Juni 2017]