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Ein reines Boulez-Programm beim zweiten „räsonanz“ Stifterkonzert der musica viva

Für die Freunde Neuer Musik wird 2025 in erster Linie wohl ein Boulez-Jahr. Aus Anlass dessen 100. Geburtstags (26. März) widmete die Ernst von Siemens Musikstiftung ihr zweites „räsonanz“ Stifterkonzert am 9. Januar 2025 ganz dem großen Franzosen und präsentierte dem Publikum im Münchner Prinzregententheater endlich auch das fantastische Ensemble Les Siècles, dessen schon lange geplanter Auftritt wegen der Corona-Pandemie weit verschoben werden musste. So erklangen nun unter der Leitung von Franck Ollu zwei der Hauptwerke von Pierre Boulez: „Éclat/Multiples“ und „Pli selon pli. Portrait de Mallarmé“. Für die anspruchsvolle Sopranpartie konnte Sarah Aristidou gewonnen werden.

Sarah Aristidou und Franck Ollu mit dem Ensemble Les Siècles ©BR/Severin Vogl

Pierre Boulez (1925–2016) zählt noch immer zu den wichtigsten Komponisten der Nachkriegsavantgarde – völlig zu Recht, wie man am Donnerstag schon zur Pause des zweiten „räsonanz“ Stifterkonzerts im so gut wie ausverkauften Münchner Prinzregententheater feststellen durfte. Unter den meist in einem Atemzug genannten Zeitgenossen Xenakis, Berio, Nono, Ligeti und Stockhausen gilt Boulez vielleicht als der am verkopftesten agierende Intellektuelle, der zwar typische Techniken der 1950er Jahre wie den Serialismus aufgreift, jedoch zugleich mit geschickt gelenkter Aleatorik seine Musik sehr offen hält, zudem vielen Werken nie eine endgültige Fassung gab – Stichwort: work in progress –, sondern immer wieder daran weiterbastelte. Als Dirigent war Boulez spätestens ab Mitte der 1960er nicht nur einer der präzisesten Interpreten neuester Musik – seine manchmal als „Karate“ verspottete Schlagtechnik erwies sich als ungemein effektiv. Bei vielen modernen „Klassikern“ wie der Neuen Wiener Schule, Bartók und Strawinsky, insbesondere jedoch Ravel und Debussy wirkte er als Klangsensualist allererster Güte.

Die oft sehr vom instrumental hochdifferenzierten Schlagzeug dominierte, schon deshalb über Strecken leicht exotisch angehaucht klingende Musik Boulez‘ vermittelt sich dann auch dem Hörer überhaupt nicht über ihre oft mathematisch akribisch angelegten inneren Strukturen, sondern durch Raum, Resonanz, Hall und eben äußerst subtile und fantasievolle Farbmischungen. Éclat/Multiples (1970) entstand zunächst in zwei Etappen, wobei Multiples eine Art Erweiterung des ursprünglich für 15 Instrumentalisten geschriebenen Éclat (1965) darstellt, von der Besetzung her um 10 Bratschen erweitert. Sonst gibt es nur noch ein Cello in den Streichern. Abgesehen davon kann das Publikum schon optisch die beiden Abschnitte gut unterscheiden. In Éclat existieren weder durchgängige Metren noch Takte oder ein fixierbares Tempo, so dass der Dirigent – Franck Ollu, bereits in einem Konzert der musica viva 2023 mit dem BRSO ein überragend souveräner Leiter – hier wirklich jedes (!) einzelne Klangereignis dezidiert anzeigen muss. Bei Multiples gibt es streckenweise dann wieder Takt und Tempo: Der ungemein farbige, aber eben punktuelle Klang weicht dank der Bratschen stark auf und erscheint so insgesamt flächiger. Faszinierend sind die sich gegenseitig bespiegelnden Momente zwischen den einzelnen Orchestergruppen. Und kein Mensch merkt, dass Boulez dieses Werk ebenfalls nie wirklich beendet hat. Das von François-Xavier Roth gegründete, stets auf historisch korrekten Instrumenten spielende Orchester Les Siècles bewältigt all dies mit größter Konzentration, enormer Einigkeit mit dem Dirigenten, gerade was die Länge und den Nachhall einzelner Töne betrifft, und echter Sinnlichkeit – von wegen verkopft! Hier sind praktisch alle Musiker Solisten; besonderen Dank für eine gelungene Darbietung zollen Dirigent und Saal jedoch dem Pianisten, dem Bassetthorn sowie den Spielerinnen von Celesta und Cimbalom.

Pli selon pli. Portrait de Mallarmé (1957–1962) – vielleicht das wichtigste Werk des Komponisten – ist ebenso wieder in Boulez-typischer Manie mehrfach umgearbeitet worden, teils mit einschneidenden Veränderungen, zuletzt 2010/11, wo es mit Barbara Hannigan unter Boulez so hier aufgeführt wurde. Zum Glück entschieden sich Ollu und Les Siècles doch für die Fassung von 1989 – der letzte Satz Tombeau wirkte 2011 nicht nur nach Meinung des Rezensenten arg kastriert, worunter die symmetrisch angelegte Gesamtform spürbar litt. Wie der Komponist mit den revolutionär erratischen, hochästhetischen Texten des Dichters Stéphane Mallarmé (1842–1898) arbeitet, soll hier nicht erörtert werden. Nur so viel: Das gut 65 Minuten dauernde Werk besteht aus 5 Sätzen. In allen wirkt auch eine Sopranistin mit, die jedoch in den beiden großbesetzten Ecksätzen – Don und Tombeau – eher eine untergeordnete, in den drei mehr kammermusikalisch angelegten Improvisations, die allerdings minutiös ausnotiert sind, klar die Hauptrolle spielt. Es gibt nur wenige Künstlerinnen, die dies so überzeugend schaffen wie Sarah Aristidou – seit erst wenigen Jahren eine der profiliertesten jungen Koloratursopranistinnen und wegen ihres besonderen Engagements für Neue Musik da längst ein Star. Ihre Stimme ist bis auf wenige tiefe Töne – Boulez‘ Partie hat einen irrwitzigen Umfang – immer tragfähig, dabei jedoch nie grell, verströmt stets Wärme und bringt vor allem ein gewaltiges Charisma herüber, wodurch Aristidous Gesang eben nie nur instrumental wirkt, sondern menschlich und überraschend natürlich. Der Hörer klebt quasi an ihren Lippen, die von sirenenhaftem Schmelz bis zum aggressiv Hässlichen quasi sämtliche Schattierungen hervorbringen, die man einer Stimme überhaupt zutrauen mag. Eine absolute Glanzleistung, obwohl dieses Stück die erste Begegnung der aus Paris stammenden Sängerin französisch-zypriotischer Herkunft mit Boulez‘ Musik ist. Zwar enttäuschte der berühmte erste Zwölftonakkord von Don etwas – der sollte eigentlich wie der Urknall reinhauen –, doch danach klangen die Musiker von Les Siècles schlicht überwältigend: egal, ob solistisch-kammermusikalisch oder als Teil des faszinierenden Gesamtklangs agierend. Ollu hat dies natürlich perfekt im Griff: Ohne Allüren dient er der Musik und hält die Spannung über das gesamte, tief beeindruckende Werk, das wieder mit besagtem Zwölftonakkord endet, diesmal mit durchschlagendem Effekt. Mehr kann man als Dirigent für Pierre Boulez nicht leisten. Riesiger Beifall für Aristidou, Les Siècles und Ollu. Und entgegen verbreiteter Meinungen in einigen Medien: Boulez‘ Musik ist nicht tot. Man muss nur ihre Schönheiten entdecken.

[Martin Blaumeiser, 10. Januar 2025]

Loops, Scherben und Whistleblower

Beim musica viva Konzert am 20. 12. 2024 im Münchner Herkulessaal war der Stargeiger Leonidas Kavakos zu Gast und spielte das 2. Violinkonzert „Scherben der Stille“ der diesjährigen Trägerin des Ernst von Siemens Musikpreises, Unsuk Chin. David Robertson leitete das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks außerdem bei der Uraufführung von Bernhard Langs „GAME 18 Radio Loops“ und der deutschen Erstaufführung von Philippe Manourys „Anticipations“.

Leonidas Kavakos, Unsuk Chin, David Robertson, © BR-Astrid Ackermann

Nicht nur die Bühne im Herkulessaal stand – trotz einer nur 50er-Streicherbesetzung – mal wieder randvoll, vor allem mit einer breiten Palette an Schlaginstrumenten. Auch das Publikum war äußerst zahlreich erschienen, zudem sogar alle drei Komponisten des anspruchsvollen Programms, das vom amerikanischen „Neue Musik“-Experten und ehemaligen Boulez-Schüler David Robertson geleitet wurde.

Der Linzer Bernhard Lang (*1957) bezeichnete sich in der Einführung sogleich etwas ironisch, aber absolut zutreffend, als „Wiederholungstäter“. Zumindest im deutschsprachigen Raum hat sich wohl kein Komponist so lange und intensiv mit dem Potential von Wiederholungen, gerade auch in Verbindung mit Live-Elektronik – Stichwort Loops – auseinandergesetzt. Lang verlangt für GAME 18 Radio Loops einen differenzierten Orchesterapparat aus praktisch individuellen Akteuren inklusive Synthesizer samt besonderer Lautsprecherinstallation in zwei Höhenebenen, großartig realisiert von Zoro Babel. Das Grundmaterial besteht – anlässlich des 75-jährigen Bestehens des BR – aus „Pausenzeichen“ (heute sagt man Jingles) nicht nur deutscher Rundfunkanstalten. Diese zerlegt Lang natürlich in seine atomaren Bestandteile, um daraus über etwa 40 Minuten eine faszinierend neue Klangwelt zu schaffen. Von den einzelnen Spielern des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks erwartet der Komponist dabei in mehreren der – schon durch deutlich hörbare „Schnitte“ in der Beschallung – gut erkennbaren sieben Abschnitte ein Höchstmaß an Selbstverantwortung, da sie oft, wie aus einem Kartenspiel, das Material, das sie selbst konkret zum Klingen bringen wollen, quasi ziehen dürfen. Das knüpft – wenn auch mit viel weitgehenderer Freiheit – noch an die kontrollierte Aleatorik etwa Witold Lutosławskis an. Und so laufen längere Sequenzen völlig ohne Beteiligung des Dirigenten ab. Überraschend, dass das klangliche Ergebnis zwar undurchschaubar komplex, jedoch keinesfalls chaotisch wird, sondern – im Gegenteil – erstaunlich homogen. So gibt es eine durchaus witzig-groovige Passage, die nur vom Schlagwerk gestaltet wird; die Loops im Raum wandern teilweise in zwei gegenläufigen Kreisen rund um den Saal und erzeugen dann eine Art Weltraumatmosphäre usw. Im letzten Abschnitt generiert Lang u. a. naturnahe Geräusche. Da, wo Robertson eingreifen darf, gelingt ihm enorme Kontrolle. Der immer mit ausgesprochen freundlicher „Ansprache“ agierende Dirigent – schlagtechnisch sieht das bei Lang ähnlich „einfach“ aus wie bei Ligeti – kann trotz allem Klein-Klein in der Partitur vor allem präzise Charakterisierungen zustande bringen, die einfach Freude machen. Ganz am Schluss kommt dann – ausnahmsweise klar erkennbar – das BR-Sendezeichen, der Alte Peter. Große Zustimmung zu einem unerwartet kurzweiligen Werk.

Obwohl sie eigentlich „klassische“ Setups lieber meidet, hat sich die schon lange in Berlin lebende Koreanerin Unsuk Chin, Trägerin des diesjährigen Ernst von Siemens Musikpreises, gerade mit ihren Instrumentalkonzerten einen Namen gemacht. Ihr zweites Violinkonzert „Scherben der Stille“ – Anfang 2022 vom Widmungsträger und Solisten des Abends, Leonidas Kavakos, mit dem LSO unter Simon Rattle aus der Taufe gehoben – beginnt mit absichtsvoll brüchigen Flageoletts der Geige. Der praktisch über die gesamten 29 Minuten hochaktive Solopart steht in seinem technisch-musikalischen Anspruch fraglos auf dem Niveau des Berg- oder des großen Pettersson-Konzerts. Chin sieht das Stück als Porträt Kavakos‘, ihn sogar als „Hausherr“ des Geschehens, dessen Emotionalität dabei immer in einen Dialog mit dem Orchester tritt, dort durchaus nicht ohne Konflikte weiterentwickelt wird. Oft berückend schön sind die feinen, unaufdringlichen Schlagzeugfarben, aber etwa ebenso ein Zwischenspiel von vier Solo-Violinen des BRSO, das schließlich zu einem intensiven Flautando von Kavakos mit allen hohen Streichern führt. Robertson bleibt immer glasklar, ohne Mätzchen, kann jedoch, wo nötig, abrupt körperlich ganz energische Impulse geben. Das Orchester bewältigt alles mustergültig. Der unerwartet dramatische Schluss wirkt fast wie eine Erlösung von gewaltiger Anspannung. Dieses Konzert hat offenkundig das Zeug, zu einem Klassiker zu werden – langanhaltender Beifall und Bravos, insbesondere für die Komponistin.

Philippe Manourys (*1952) großbesetzte Anticipations (2019) wirken von Beginn an überwältigend: fasslich dichte, geradezu wuchtige Dramatik. Um es mit Hans Werner Henze zu sagen: wilder, schöner – allerdings weniger neuer – Klang. Wie Langs Live-Elektronik arbeitet Manoury geschickt mit gelenkter Aleatorik und dem Raum: Hier in Gestalt von zwei Bläsergruppen, die als „Whistleblower“ mit einem „Choral“ – als Gegenentwurf zum Geschehen auf der Bühne – von der Rückseite des Herkulessaals aus in mehreren Etappen das Podium entern und schließlich im Orchester zwar die angestammten Plätze einnehmen, aber ihre manipulativen Eingriffe fortsetzen. Das übrige Orchester muss sich damit auseinandersetzen: Das geht, bildlich gesprochen, von Verschmelzung über Konfrontation bis zu Ablehnung. Manoury kann hinreißend für Orchester schreiben: Trotz ungeheurer Intensität wird letztlich alles zu modernem „Schönklang“. Man staunt nicht schlecht, wie sein Schluss – ebenfalls mit einem Tam-Tam-Schlag, hier noch gefolgt von zaghaften Zuckungen der Streicher – dem von Chins Konzert ähnelt. David Robertson führt mit seiner Lockerheit und Konzentration das BRSO zu einem geradezu symbiotischen Musizieren. Alle Mitwirkenden und das Publikum sind anscheinend für derartige, fast konventionelle Formate, die für eine gelungene Realisation zwingend die Qualitäten eines Weltklasse-Klangkörpers benötigen, gleichzeitig dessen Höchstleistung noch zu beflügeln scheinen, sehr dankbar.

[Martin Blaumeiser, 22. Dezember 2024]

Ansprechend Bildhaftes aus Australien und Großbritannien

Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks spielte in seinem ersten musica viva Konzert der neuen Saison am 25. Oktober 2024 im Münchner Herkulessaal unter Edward Gardner zwei Orchesterwerke des Briten Oliver Knussen: „Flourish with Fireworks“ und die „Cleveland Pictures“. Von Knussens Schüler Mark-Anthony Turnage erklang „Three Screaming Popes“. Die größte Aufmerksamkeit erregte jedoch die Australierin Liza Lim mit der bejubelten Uraufführung von „A Sutured World“, eine Art Cellokonzert für den Solisten des Abends, Nicolas Altstaedt.

Nicolas Altstaedt, Edward Gardner, Liza Lim, BRSO ©BR/Astrid Ackermann

Nach Meinung des Rezensenten erklingen ja Werke britischer Herkunft, gemessen an ihrer Bedeutung, generell zu wenig auf deutschen Konzertpodien. Nun hatte das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks für diesen Abend nicht nur Edward Gardner, den derzeitigen Chef des London Philharmonic Orchestra zur musica viva eingeladen, sondern auch Musik zweier kompositorischer Schwergewichte der letzten Jahrzehnte programmiert, die gerade in München zuletzt nicht oft zu hören waren. Oliver Knussen (1952–2018) war eine eminente, frühreife Doppelbegabung, dirigierte schon mit 15 die Premiere seiner 1. Symphonie beim London Symphony Orchestra. Als Dirigent ein kongenialer Interpret komplexer zeitgenössischer Musik, – etwa der Werke Elliott Carters – bezog sich seine eigene Musik stark auf Strawinsky, knüpfte gerade an dessen Spätwerk an. Seine Instrumentationskunst war immer exzeptionell. Dies beweist das BRSO gleich in Flourish with Fireworks (1993): Zwar nur eine Gelegenheitskomposition für das Antrittskonzert von Michael Tilson Thomas als Chefdirigent des LSO, leitet Gardner den 4-Minüter präzis, ohne mit der linken Hand allzu viel anzuzeigen und kreiert einen mitreißenden Klang, der sich offenkundig an Strawinskys frühem Feu d’artifice orientiert –immerhin ein positiv einstimmendes Warm-up.

Die Australierin Liza Lim (Jahrgang 1966) braucht man in München nicht mehr vorzustellen. Sie erhielt den Happy New Ears Preis der Hans und Gertrud Zender Stiftung für 2021, und ihre Musik erklang mehrfach im Herkulessaal. Vieles davon zeugt von starkem politischem Engagement und Umweltbewusstsein. A Sutured World, dem deutsch-französischen Solisten Nicolas Altstaedt quasi auf den Leib geschrieben, darf das Publikum neben allem philosophischen Über- und Unterbau inklusive Begrifflichkeiten wie Wundheilung, Riss, Sutra oder Narbe schlicht als ein grandioses Cellokonzert genießen. Die für den Hörer klar strukturierte, vierteilige Anlage sowie Altstaedts hochengagierter, zudem von einer enormen emotionalen Spannweite geprägter Vortrag können durchgehend überzeugen: von mystischer Versenkung über Halluzination bis zu ekstatischer Spielfreude – der letzte Abschnitt ist mit Simon says: Alle Vögel fliegen hoch betitelt. Natürlich werden alle spiel- und klangtechnischen Möglichkeiten des Instruments genutzt: So beginnt Altstaedt sein erstes Solo mit einem Barockbogen. Für den wieder intimen Schluss nutzt er gar zwei Bögen gleichzeitig, darf auch mal in durchaus tonal gedachten Kantilenen schwelgen. Das mit nur 2-fachen Bläsern besetzte Orchester tritt oft mit Einzelinstrumenten (Harfe) oder kleineren Gruppen in interessante Dialoge mit dem Solisten und verzaubert mit schlüssiger, fein austarierter Farbigkeit, wird vom Dirigenten mit größter Übersicht und klarer Dynamik so geleitet, dass Altstaedt mit seinem Cello stets durchkommt. Selten hat das musica viva Publikum mit derart ungeteiltem, begeistertem Applaus ein Solistenkonzert bejubelt wie Liza Lims staunenswertes Stück; da verbot sich jede Zugabe.

Nach der Pause gibt es dann zwei Orchesterwerke, die sehr konkret von bildender Kunst inspiriert wurden. Mark-Anthony Turnage (*1960) studierte u. a. bei Oliver Knussen und bezeichnete den Lehrer als Vaterfigur, zu der er eine geradezu familiäre Beziehung unterhielt. Zu Weltruhm gelangte der junge Komponist auf einen Schlag bei der ersten Münchner Biennale 1988 mit seiner Oper Greek. Auch Three Screaming Popes – nach Francis Bacons berühmten Studien über Papstporträts von Velázquez – aus der gleichen Zeit ist eigentlich mittlerweile ein Klassiker. So wie Bacon die alten Gemälde verzerrt, benutzt Turnage historische spanische Tänze als Grundlage. Es ist jedoch weniger die elaborierte Umformung musikalischen Materials als pure Ausdrucksintensität, die sofort unter die Haut geht. Turnage konnte immer mittels Elementen aus Jazz und Pop zusätzliche Härten in seine Musik einbringen, was hier voll aufgeht. Gardner – jetzt mit noch mehr Detailkontrolle als vor der Pause – und das BRSO, die eine unglaubliche Spannung aufrechterhalten, erzielen nebenbei eine bessere Durchsichtigkeit als Simon Rattle in seiner 1992er Aufnahme mit dem City of Birmingham Symphony Orchestra, mit dem Turnage seinerzeit assoziiert war: faszinierend. Der Komponist freut sich sichtlich über diese Darbietung und die Ovationen der Zuhörer.

Zuletzt erklingen Knussens Cleveland Pictures: Sieben geplante Stücke, entstanden zwischen 2003 und 2009, die bereits die letzten Orchesterwerke des Briten darstellen, leider teils unvollendet geblieben sind und erst vor zwei Jahren uraufgeführt wurden. Tatsächlich wollte er quasi neue Bilder einer Ausstellung – nach Exponaten aus dem Cleveland Museum of Art – erschaffen, die freilich weit mehr als pittoreske, mimetische Umsetzungen einzelner Kunstwerke sein sollten. Im ersten Satz mit Bezug auf Rodin wird ein völlig tonaler Streichersatz mit aufmüpfigem Blech konfrontiert, im zweiten (Velázquez) gibt es kurze Renaissance-Anklänge, im dritten (Gauguin) eine knappe, sehr effektiv energiegeladene Streicherlinie. Im freundlichen, fast Tschaikowsky-nahen vierten (Two Clocks) findet sich ein unüberhörbares Zitat aus Mussorgskys Boris Godunow. Der Goya-Satz (St. Ambrose) mit äußerst delikater Harmonik – Mark-Anthony Turnage gewidmet – richtet seinen Blick gebetsartig nach oben, aber wohl, allein durch die verwendeten spanischen Tanzrhythmen, ebenso auf die Three Screaming Popes. Wäre es fertiggestellt worden, hätte man im letzten Bild (Turners The Burning of the Houses of Lords and Commons) mit Sicherheit die Entwicklung einer gewaltigen Feuersbrunst hören können. So bricht das Werk nach einer unglaublich starken, düster-bedrohlichen und unheilschwanger initiierten Atmosphäre schnell ab. Knussen zeigt bei all diesem fast schon unverschämten Schönklang nochmals seine ganze Instrumentationskunst, die Bewunderung verdient. Das Publikum findet großen Gefallen an dieser durch und durch verständlichen Musik. Dirigent und Orchester können mit einem gelungenen, mal überhaupt nicht verkopftem musica viva Abend mehr als zufrieden sein.

[Martin Blaumeiser, 27.10.2024]

Das Orquestra Sinfónica do Porto Casa da Música brilliert beim „räsonanz“ Stifterkonzert der musica viva

Für das erste räsonanz Stifterkonzert der neuen Münchner musica viva Saison – es folgt noch ein zweites im Januar – hatte die Ernst von Siemens Musikstiftung am 28. 9. 2024 das Orquestra Sinfónica do Porto Casa da Música mit seinem Chefdirigenten Stefan Blunier ins Münchner Prinzregententheater eingeladen. Zunächst erklang das großangelegte Orchesterwerk „Ruf“ des portugiesischen Komponisten Emmanuel Nunes. Helmut Lachenmanns „Tanzsuite mit Deutschlandlied“ benötigt zusätzlich als Solisten ein Streichquartett: hier spielte kein Geringeres als das weltberühmte Arditti Quartet. Wie gewohnt ein staunenswertes Programm.

Orquestra Sinfónica do Porto Casa da Música; StefanBlunier – © BR-Astrid Ackermann

Die räsonanz Stifterkonzerte der Ernst von Siemens Musikstiftung bleiben ihrem Prinzip treu, einerseits höchst aufwändige Werke zu programmieren, die bereits historische Relevanz haben, ohne allzu oft aufgeführt worden zu sein, andererseits dem Münchner Publikum Klangkörper vorzustellen, die bislang selten oder gar nie hier zu Gast waren. Letzten Samstag brillierte im „Prinze“ das Orquestra Sinfónica do Porto Casa da Música, 1947 zunächst als Konservatoriumsorchester gegründet, nun nach dem 2001 für den Auftritt Portos als eine Kulturhauptstadt Europas neu errichteten musikalischen Zentrum Casa da Música benannt und dort ab 2006 beheimatet. Der Schweizer Stefan Blunier – in Deutschland u. a. von 2008-2016 GMD in Bonn – ist seit 2021 Chef des 94-köpfigen Ensembles. Leider hatten wohl selbst Teile des geladenen Publikums wegen der bereits grassierenden Erkältungswelle absagen müssen: Etliche Plätze blieben frei.

Nach anfänglichen Studien in seiner Heimat bei Fernando Lopes-Graça war Emmanuel Nunes (1941–2012) Schüler von Boulez, Pousseur und Stockhausen, gehört somit bereits zur zweiten Komponistengeneration, die man mit den Darmstädter Ferienkursen verbindet. Seine großangelegten Vokal- und Orchesterwerke führten bald zu internationalen Erfolgen. Später unterrichtete der Portugiese selbst in Lissabon, Freiburg und Paris. Ruf – für Orchester und Tonband (1977, revidiert 1982) – verwendet nicht einmal einen Riesenapparat: 28 Streicher, nur doppelt besetzte Bläser, 2 Schlagzeuger, Klavier (+ Celesta) und Harfe. Der 45-Minüter besteht aus sechs verbundenen Abschnitten. Bei vier davon wird der zeitliche Ablauf unerbittlich durch das Zuspielband vorgegeben. Das Orchester spielt seine Parts hochdifferenziert – jeder Spieler quasi als Solist – und der Dirigent muss trotz des engen Korsetts einerseits präzises Zusammenspiel, andererseits ein gehöriges Maß an kontrolliert aleatorischen Ereignissen koordinieren. Stefan Bluniers Schlagtechnik ist von makelloser Klarheit, dabei zum Glück nie mechanisch. Er formt den Klang der einzelnen Orchestergruppen immer gestisch äußerst dynamisch mit, agiert zugleich als emotionaler Katalysator dieses sich anfangs als recht chaotisch darstellenden, jedoch mit feinst austariertem Innenleben gestalteten musikalischen Stromes. Die elektronischen Klänge erscheinen als echte – gerade auch räumliche – Erweiterung, wirken streckenweise mit ihrem Gewobbel wie aus zeitgenössischen Science-Fiction-Filmen dem doch recht natürlichen Geschehen im Orchester dialektisch entgegen. Am Schluss wird es sehr leise, mit ganz unterschwelligen Zitaten aus spätromantischer Musik – Wagner und Mahler: ein überwältigendes Erlebnis. Hier ist bereits klar, dass man das tolle Orchester aus Porto einfach liebgewinnen muss.

Ganz anders nach der Pause Helmut Lachenmanns „Tanzsuite mit Deutschlandlied“ von 1979/80. Hier ist alles bis ins letzte Detail ausnotiert, mit schwäbisch-protestantischer Gründlichkeit. Dabei ist dies ein perfektes Beispiel der vom bald 89-jährigen Komponisten selbst so benannten Verweigerungsästhetik, die er über Jahrzehnte gepflegt und Teile des Publikums damit häufig ziemlich provoziert hat. So bleibt also hier das „Unerhörte“, lediglich Mitzudenkende, zentrales Element des großbesetzten Stücks, wohingegen das tatsächlich Erklingende konsequent so gut wie jede Hörerwartung enttäuscht. Nicht nur das Orchester, sondern ebenso das solistische, kaum merklich verstärkte Streichquartett, das anfangs die Führung übernimmt, spielen fast nur geräuschhafte Maskierungen. Der Prozentsatz „normal“ herausgebrachter „Töne“ ist minimal, dann jedoch meist verstörend. Das Arditti Quartet kennt das Stück genau; die vier Streicher schütteln die komplexen Spielanweisungen locker aus den Ärmeln. Die den 17 Abschnitten zugrunde liegenden Tanzrhythmen werden noch am ehesten erkennbar, wenn man optisch (!) dem wieder absolut souveränen Dirigenten folgt. Nach und nach wird klar, mit welch subversiver Energie und tiefgründigem Humor hier Altbekanntes komplett dekonstruiert wird. Selbstverständlich kommt auch das Deutschlandlied in der letzten der fünf Abteilungen – Mahler lässt grüßen – nur als „leeres Gerüst“: Nicht mal ansatzweise erscheinen Text oder Ton verbatim. Lediglich in der Partitur sind Stimmen mit den Silben der ersten (!) Strophe unterlegt, bereits zu Tode geritten (Galopp), bevor diese überhaupt anklingen könnte. Trotz des anstrengenden Appells von Lachenmanns Musique concrète instrumentale ans Publikum, hier zu versuchen, ständig zwischen den Zeilen zu hören, wird diese von Blunier und seinen fabelhaften portugiesischen Musikern sorgfältigst erarbeitete Darbietung keinen Moment langweilig. Und irgendwie passt Lachenmanns Werk auch zum 50. Jahrestag der Nelkenrevolution. Provozieren kann das heutzutage kaum mehr – und Musik wie Ausführende, die hier wirklich alles gegeben haben, erhalten verdient langen Applaus. Das Stifterkonzert ist einmal mehr seinen hohen Ansprüchen gerecht geworden.

[Martin Blaumeiser, 30. 9. 2024]

Jörg Widmann überzeugt bei der musica viva in Dreifachfunktion

Beim Konzert der musica viva am 28. Juni 2024 im Münchner Herkulessaal präsentierte sich Jörg Widmann mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks einmal mehr in gleich dreifacher Funktion: als Klarinettist, Dirigent und natürlich als Komponist. Mal abgesehen von Wolfgang Amadeus Mozarts „Adagio für Glasharmonika“, KV 356/617a, mit dem Christa Schönfeldinger Widmanns Schlüsselerlebnis mit diesem Instrument in Erinnerung rief, gab es ausschließlich Widmann-Werke: „Armonica, „Drei Schattentänze“, „Danse macabre“ und das gewaltige Trompetenkonzert „Towards Paradise“ (Labyrinth VI) mit dem Solisten Håkan Hardenberger.

Håkan Hardenberger und Jörg Widmann mit dem BRSO © BR musica viva/Astrid Ackermann

Im letzten Konzert der musica viva Saison am 28. 6. 2024 durfte sich der Münchner Jörg Widmann gleich dreifach in Szene setzen: als Komponist von vier eigenen Werken, mit einem Solostück für sein Instrument: die Klarinette, sowie als Dirigent des Abends – und konnte diesmal in allen Belangen überzeugen. Vor knapp sieben Jahren versuchte sich Widmann hier bereits in dieser Mehrfachfunktion – wir berichteten. Damals rief zumindest sein Dirigat Stirnrunzeln beim Rezensenten hervor. Seitdem hat Widmann ziemlich viel mit Orchestern gearbeitet, nicht nur an eigenen Stücken, mittlerweile auch als Erster Gastdirigent bei der NDR Radiophilharmonie (Hannover). Widmann ist am Pult sicht- und spürbar deutlich souveräner geworden: Er gibt nicht nur hochengagiert und klar alle wichtigen Impulse, sondern steuert den Klang insgesamt viel differenzierter als früher. Natürlich darf man von einem Komponisten erwarten, dass er seine eigene Musik wahrscheinlich besser kennen dürfte als die meisten Dirigierkollegen. Dennoch hat seine Ausstrahlung auf das BRSO heute einen unvergleichlich positiveren Effekt und unmittelbarere Wirkung als etwa in besagtem Konzert von 2017.

An diesem Abend gibt es vier Widmann-Stücke, allerdings keine Uraufführung. In Armonica (2006) versucht der Komponist, die fast jenseitigen klanglichen Sphären der Glasharmonika – diese steht nicht etwa als Soloinstrument ganz vorne, sondern weil dynamisch sonst chancenlos – mittels delikatester Orchestrierung quasi auf den gesamten Apparat zu erweitern. Dabei gelingen ausladende, organische Spannungsbögen mit nur einem absichtsvoll verstörenden „Abbruch“. Christa Schönfeldinger, mit den komplexen Anforderungen von Widmanns Partitur seit nunmehr über 60 Aufführungen bestens vertraut, beweist anschließend – als offizieller Programmpunkt bei der musica viva höchst ungewohnt – mit dem Standardwerk für die Glasharmonika, Wolfgang Amadeus Mozarts Adagio KV 356/617a, die wundervolle Zerbrechlichkeit und Klangschönheit ihres besonderen Instruments. Die Begegnung mit diesem Stück war für Widmann das anregende Schlüsselerlebnis für Armonica.

Wenn der Komponist ein Solo auf der Klarinette darbietet, ist dies immer hochspannend. Die eigenen Drei Schattentänze von 2013 beleuchten höchst kontrastierende Aspekte der Klangerzeugung: Im Echo-Tanz geht es um extreme Techniken des Überblasens, damit erzeugte Mehrstimmigkeit und Mikro-Tonalität. Die übrigen beiden benötigen elektro-akustische Unterstützung: Der (Under) Water Dance vermittelt die beabsichtigte Illusion mittels eines künstlichen Hallraums, der Danse africaine benutzt die Klarinette als imaginäres Schlagzeugensemble – mit Verstärkung. All dies stößt beim Publikum auf helle Begeisterung.

Der Danse macabre (2022) steht natürlich in der großen Tradition des Totentanzes, die nicht erst mit Saint-Saëns beginnt. Der Tod als einschmeichelnder, aber zugleich sarkastischer Werber für den letzten Weg alles Lebendigen, ist naturgemäß eine Steilvorlage für einen Instrumentationskünstler von Rang. Das verwendete Orchester ist noch nicht einmal überdimensioniert, enthält aber erwartungsgemäß Exoten wie Flexaton oder Waterphone – dessen Name verweist sowohl auf seinen wassergefüllten Korpus als auch den Erfinder Richard Waters, und das Instrument machte insbesondere in Filmmusiken des Horror-Genres Karriere. Für die Gattung ist Widmanns Beitrag mit 17 Minuten schon recht lang – mehr echte Tondichtung als nur netter Lärm wie z. B. Helmut Lachenmanns Marche fatale – und verwurstet verschiedene vertraute Tanzmodelle bis zur Groteske bzw. zum nackten Gerippe. Das hemmungslos tonale Hauptmotiv geht fast so ins Ohr wie Klaus Badelts Filmmusik zu Fluch der Karibik. Trotzdem ist das Publikum ob der leichten Zugänglichkeit des Werkes einigermaßen überrascht.

Das mit knapp 40 Minuten äußerst ausladende Konzert Towards Paradise für den nach wie vor phänomenal tonschön agierenden Trompeten-Weltstar Håkan Hardenberger gehört zur Gruppe der Labyrinth-Stücke, in denen Widmann immer auch seine momentane Befindlichkeit als Komponist reflektiert. 2021 prägte diese freilich die Corona-Situation, und so dreht sich der Weg ins Paradiesische nicht zuletzt um das Thema Einsamkeit, was durch den halbszenischen Gang des Solisten von außerhalb des Podiums durch die einzelnen Orchestergruppen, wo er mit unterschiedlichem Erfolg Anschluss sucht, bis zum Entschwinden in die „Katakomben“ des Herkulessaals am Ende überdeutlich wird. Anders als im 2002 für Sergei Nakariakov geschriebenen Konzertstück, das mit seinem Hochgeschwindigkeitswahnsinn Virtuosität ganz wörtlich ad absurdum führte, steht im Labyrinth VI Lyrik und Nachdenklichkeit im Vordergrund. Das Werk ist aber – trotz eindringlicher Choral-Andeutungen – keineswegs nur langsam.

Hardenberger nimmt vom ersten Augenblick die Zuhörer gefangen. Die exquisite Schönheit der Melodik seines riesigen Parts ist von geradezu erstaunlicher Einprägsamkeit, verlangt dafür eine unglaubliche Sicherheit in der Höhe, aber noch mehr Flexibilität im Ausdruck bei den großartigen Interaktionen mit einzelnen Teilen des Orchesters. In der Mitte gibt es zudem auch Jazz-Momente – die jedoch mit etwas zu wenig Synkopen nicht die Authentizität etwa von B. A. Zimmermanns Nobody knows de trouble I see erreichen. Die Innigkeit gerade an Stellen, wo die Trompete mit Dämpfern spielen muss, scheint bei Hardenberger unübertrefflich. Widmann ist hier meilenweit entfernt von der bis ins Extreme ausdifferenzierten Geräuschhaftigkeit seines Dritten Labyrinths, setzt auf Klangkombinationen, die stets aufhorchen lassen und emotional unterstützend wirken – so etwa Akkordeon oder gestrichene Crotales als schärfste Waffen im Diskant. Symbolisiert gegen Schluss Bachsche Kontrapunktik das Erreichen eines paradiesischen Zustands? Dunkles Blech und geheimnisvolles Schlagzeug stellen dies zumindest infrage, während Hardenberger als letztes Statement einsam ein dreigestrichenes Es verhaucht.

Selten einmütiger Applaus für eines der besten Werke Widmanns überhaupt, für ein in jeder Sekunde aufmerksam und empathisch mitgehendes BRSO und selbstverständlich die musikalische Glanzleistung des dann sehr glücklich wieder aus dem Off erscheinenden Solisten. Widmann wird zu Recht für die Erfüllung der hohen Erwartungen in allen drei Funktionen bejubelt – das soll ihm erst mal jemand nachmachen!

[Martin Blaumeiser, 1. Juli 2024]

Verleihung des Ernst von Siemens Musikpreises 2024 im Herkulessaal

Am Samstag, 18. Mai 2024 um 19 Uhr, fand – erneut im Münchner Herkulessaal – die Verleihung des Ernst von Siemens Musikpreises 2024 an die koreanische Komponistin Unsuk Chin statt. Die diesjährigen Förderpreise für Komposition und Ensembles gingen an Daniele Ghisi, Bára Ghísladóttir, Yiquing Zhu bzw. das Broken Frames Syndicate sowie Frames Percussion. Neben zwei Werken Chins – Gran Cadenza und das Doppelkonzertwurden auch die drei jungen Komponisten mit Live-Beiträgen vorgestellt.

Die Preisträger der Ernst-von-Siemens-Musikpreise 2024: Yiqing Zhu,
Unsuk Chin, Bára Ghísladóttir und Daniele Ghisi. Photo © Ernst-von-Siemens-Musikstiftung/Astrid Ackermann

Deutlich schlechter besucht als in den Vorjahren schien dem Rezensenten die diesjährige Preisverleihung der Ernst von Siemens Musikstiftung im Münchner Herkulessaal. Ebenso war die „Promi-Dichte“ heuer recht überschaubar. Vielleicht lag es an den bevorstehenden Pfingstferien. Man muss allerdings kritisieren, dass das Publikum das sehr lange Programm – gute 160 Minuten – ohne Pause absitzen musste und das Foyer für den anschließenden Empfang der Stiftung einfach unangenehm überakustisch wirkt. Annekatrin Hentschel vom Bayerischen Rundfunk moderierte die Veranstaltung, die übrigens am 18. und 20. Juni auf BR Klassik gesendet werden wird. Nach einem Grußwort durch die Bratschistin Tabea Zimmermann, Vorsitzende des Stiftungsrats, gab es die mit Spannung erwarteten Porträtfilme über die Förderpreisträger Komposition bzw. Ensemble von Johannes List. Leider fielen diese diesmal erheblich uninspirierter aus als in den letzten Jahren; geradezu nichtssagend die kurzen Filmclips zu den Ensembles: Broken Frames Syndicate aus Frankfurt am Main sowie Frames Percussion aus Barcelona. Umso erfreulicher, dass sich die jungen Komponisten auch mit jeweils einer Live-Aufführung vorstellen durften – hier gebührt Zoro Babel schon mal Dank für die gelungene Klangregie.

Wir hatten hier bereits kurz die diesjährigen Stiftungspreisträger vorgestellt. Daniele Ghisis drei Stücke aus Weltliche (2020) – für Klavier und Elektronik – mochten, trotz der engagierten Darbietung durch den britischen Pianisten Joseph Houston, nicht so recht überzeugen: Ghisi verarbeitet darin u. a. Material aus drei weltlichen Bach-Kantaten. In seiner Live-Elektronik, die akustisch ebenso auf den Korpus des Konzertflügels übertragen wird, verwendet der stark mathematisch orientierte Italiener zudem musique concrète. Das Ganze wirkte dann doch sehr verkopft; da halfen die teils sensiblen Klänge kaum weiter.

Einen völlig anderen Weg geht die isländische Komponistin und Kontrabassistin Bára Ghísladóttir. Wie in den meisten ihrer Kompositionen macht sie auch in RÓL (2023) – für Tuba und Elektronik – aus ihrer besonderen Liebe zum Tieffrequenten keinen Hehl: Was Jack Adler-McKean hier an bedrohlich Geräuschhaftem aus dem Instrument des Jahres herausholte, war wirklich beeindruckend, erschien geradezu wie ein Hurrikan in der Tuba. Und die intensive Live-Elektronik – endlich hatte man ein paar Lautsprecher im Herkulessaal aufgebaut, die tatsächlich satte Bässe hergeben – traktierte die Zuhörer gleichermaßen enorm körperlich, entsprechend Ghísladóttirs grundsätzlichem Bekenntnis zum Animalischen.

Am tiefgründigsten erschien jedoch The Aether and Nether des stilistisch sehr breit aufgestellten Chinesen Yiqing Zhu, der selbst auf dem Podium dirigierend die Live-Elektronik – mit vielen verfremdeten Echo- bzw. Loop-Effekten – bediente und gemeinsam mit Liyi Lu an der Pipa (chinesische Laute) und dem Flötisten Rafał Zolkos mit einem erstaunlichen Wechselbad von expressiver Hochspannung und chillig-lässigem Jazz faszinierte. Große Zustimmung für die jungen Tonkünstler bei der Preisverleihung durch den nach 36 Jahren im Kuratorium nun ausscheidenden Vorsitzenden Thomas Angyan.

Nun folgte endlich Musik der Hauptpreisträgerin Unsuk Chin: Dazu hatte man das Ensemble intercontemporain aus Paris eingeladen, mit dem Chin durch eine bald 30-jährige Zusammenarbeit eng verbunden ist. In der für Anne Sophie Mutter und ihre Geigen-Eleven 2018 geschriebenen Gran Cadenza für zwei Violinen – selbst schon ein kleines Doppelkonzert – durften Hae-Sun Kang und Diégo Tosi alle Register ihres Könnens ziehen: eine technisch wie musikalisch ungemein wirksame, zweifellos phänomenale Wiedergabe. Die Laudatio für Chin, die mittlerweile in Berlin lebt, jedoch bereits als Schülerin von György Ligeti in Hamburg entscheidende musikalische Impulse bekam, hielt der langjährige Intendant der Kölner Philharmonie, Louwrens Langevoort. Er betonte insbesondere den außergewöhnlichen Klangsinn der aus Korea stammenden Komponistin, für Orchester zu schreiben sowie die konsequente Umsetzung ihres vielzitierten Leitspruchs „Meine Musik ist die Abbildung meiner Träume“, die vielleicht in der 2007 in München uraufgeführten Oper Alice in Wonderland einen ersten Kulminationspunkt erreichte.

Nach der Preisübergabe und der ein wenig selbstgefälligen Danksagung der Geehrten gab es als krönenden Abschluss das Doppelkonzert, 2002 als drittes Auftragswerk für das Ensemble intercontemporain entstanden. Hier spielten nun dieselben Solisten wie bei der Uraufführung: Samuel Favre (Schlagzeug) und Dimitri Vassilakis, der am geschickt teilweise präparierten Steinway eine vielschichtige, aber nie vordergründig virtuose Klangwelt hinzauberte. Wirklich virtuos war jedoch das hochdifferenzierte, dabei dicht verschmelzende Zusammenspiel mit dem Ensemble – unter dem kongenialen, präzisen und nie aufdringlichen Dirigat seines seit letztem Jahr neuen Leiters: Pierre Bleuse. Dank eines etwas ungewöhnlichen Gewandes sah der agile, kraftstrotzende Herr beim Dirigieren von hinten ein wenig aus wie eine Fledermaus, beherrschte die herausfordernde Partitur dafür absolut souverän. Hier bewahrheitete sich nun offenkundig, mit welchem musikalischen Kaliber man es bei Unsuk Chin zu tun hat: Tosender Applaus im Saal – und sicher nicht die letzte Komponistin, die diesen Preis völlig zu Recht erhält.

[Martin Blaumeiser, 20. Mai 2024]

Patrick Hahn mit Zemlinsky beim Münchner Rundfunkorchester

Nur einen Tag nach Arnold Schönbergs „Gurre-Liedern“ besuchte unser Rezensent im Münchner Prinzregententheater das Sonntagskonzert des Münchner Rundfunkorchesters vom 21. April 2024 unter Patrick Hahn. Auf dem Programm standen zwei Kompositionen Alexander Zemlinskys: Die Sinfonietta op. 23 sowie die fabelhafte „Lyrische Symphonie“ op. 18, in der Johanni van Oostrum und Milan Siljanov die beiden Gesangspartien gestalteten.

Münchner Rundfunkorchester, Patrick Hahn, Johanni van Oostrum, Milan Siljanov
© BR/Markus Konvalin

Wenn man unmittelbar nach den Jubiläumskonzerten zum 75-jährigen Bestehens des BRSO als zweiter Klangkörper des Bayerischen Rundfunks nicht nur gratulieren, sondern ein Zeichen für die Leistungsfähigkeit des kleineren Münchner Rundfunkorchesters setzen wollte, war es vielleicht nicht unbedingt die klügste Idee, sein Sonntagskonzert ausschließlich dem Wiener Komponisten Alexander Zemlinsky (1871–1942) zu widmen. Nur eingefleischte Fans – der Rezensent gehört freilich dazu – gerade dieser musikalischen Stilepoche werden die Gelegenheit ergriffen haben, quasi im Tagesabstand zwei so hochbedeutende, dazu äußerst selten gespielte Werke wie Arnold Schönbergs „Gurre-Lieder“ und Zemlinskys „Lyrische Symphonie“ anhören zu wollen. So war das Prinzregententheater an diesem Sonntagabend kaum zu zwei Dritteln gefüllt. Widmete die alte MGG (Musik in Geschichte und Gegenwart) von 1968 dem Lehrer Schönbergs noch weniger als eine Textspalte und wurde Zemlinskys Musik bis zu Beginn der 1980er Jahre so gut wie nicht gespielt, sind dessen ausgezeichnete Opern und Streichquartette, vor allem jedoch seine offenkundig an Mahlers Lied von der Erde anknüpfende Lyrische Symphonie, in der sieben Gedichte des bengalischen Literaturnobelpreisträgers Rabindranath Tagore vertont werden, mittlerweile sicher im Repertoire verankert und auch auf Tonträgern gut zugänglich.

Patrick Hahn, der sympathische Erste Gastdirigent des Rundfunkorchesters, beginnt den Abend mit der dreisätzigen Sinfonietta von 1934, in der Zemlinsky von seiner Verwurzelung in der Spätromantik längst abgerückt ist – und selbst die Roaring Twenties allenfalls noch als Nachklang wirken. Das Stück ist heterogen, hochartifiziell, schwankt zwischen brillantem Humor, virtuosem Aberwitz und durchaus depressiven Vorahnungen. Hahn dirigiert dies alles kraftvoll und souverän – die linke Hand könnte dabei noch mehr gestalten als nur Dynamik und Einsätze zu verwalten. Das Orchester hat sichtbar Spaß an dieser diffizilen Musik, klingt gerade in den knackigen Tuttis des Kopfsatzes prächtig, bleibt in dessen komplexer Polyphonie und den eher kammermusikalischen Phrasen gleichermaßen durchsichtig. In der düsteren Ballade des zweiten Satzes werden die grundierenden Ostinati flexibel aufgefasst, die gut geführte Dynamik führt zu einem Höhepunkt ohne Pathos mit ebenso organischem Abbau. Die hervorragende Leistung der Holzbläser (Klarinettensolo!) ist besonders hervorzuheben. Das Finale beginnt fein, wird im Forte dann leicht lärmend, gegen Schluss regelrecht wild, ohne seinen Humor zu verlieren und wird dabei von Hahn umsichtig kontrolliert: eine beachtliche Leistung des Orchesters.

Noch vor der Pause wird dann von Moderatorin Anna Greiter mit dem Dirigenten und live demonstrierten Klangbeispielen die Lyrische Symphonie – die heuer ihren 100. Geburtstag feiert – vor allem wohl für die zugeschalteten Rundfunkhörer erklärt. Natürlich soll hier eben nicht in erster Linie ein Fachpublikum angesprochen werden, jedoch gerät das Vorhaben durch unsagbar dümmliche Fragen fast zur Farce. Nein – in dem Stück geht es nie um plumpe Erotik, vielmehr um geschlechterspezifische Stereotypen und die darin begründeten Schwierigkeiten von Beziehungen überhaupt. Und wenn die musikgeschichtliche Nachwirkung von Zemlinskys Stück – von Alban Bergs Lyrischer Suite bis etwa zu Michael Gielens Un Vieux Souvenir – komplett unterschlagen wird, ist das schon traurig. Der Programmhefttext von Wolfgang Stähr hingegen ist völlig adäquat.

Das Rundfunkorchester hatte bei der Vorbereitung doppeltes Pech mit gleich zwei Absagen für die Sopranpartie hintereinander (Marlis Petersen bzw. Vera-Lotte Boecker), so dass die Südafrikanerin Johanni van Oostrum äußerst kurzfristig eingesprungen sein muss. Sie singt stimmlich schön und gestaltet differenziert – die Stimme ist aber leider selbst für diese in den Streichern klar unterdimensionierte Besetzung zu klein. Zemlinsky hat kongenial aus den 85 unzusammenhängenden Gedichten aus Tagores Band Der Gärtner zwar keinen wirklichen „Plot“ exzerpiert. Aber die ausgewählten Texte zeichnen teleologisch, dabei kreisförmig eine Beziehungsentwicklung nach: von der Sehnsucht des Mannes und der mädchenhaften Schwärmerei für den „Märchenprinzen“ über Eroberung, gegenseitiges Unverständnis in Ekstase, Loslassen bzw. Verlassen bis hin zum erneuten Alleinsein. Beim Sopran hat der Komponist dies viel deutlicher in die Gesangsstimme integriert als beim Bariton. Der extremen Spannweite von jugendlichem Überschwang im 2. Gesang bis zur Eiseskälte mit nicht mehr tonalen Intervallgängen im 6. Gesang wird van Oostrum noch nicht wirklich gerecht, erwischt manchmal auch nicht alle Töne korrekt. Perfekt hat dies nach Meinung des Rezensenten bisher vielleicht nur Julia Varady in der Aufnahme mit ihrem Gatten Dietrich Fischer-Dieskau hinbekommen. Bei Milan Siljanov spürt man dagegen sofort, dass er sich eingehend mit Text und Musik auseinandergesetzt hat: Textverständlichkeit, Diktion, Emotion – alles wirklich überzeugend. Seine auffallend einnehmende Stimme kommt ohne Mühe über das Orchester und seine Darbietung erfasst die Vielschichtigkeit der Partie gut, vermeidet dabei bewusst Übertreibungen, gerade im 3. Lied, und überlässt dies dem Orchester.

Das Münchner Rundfunkorchester stellt die enorme Farbigkeit – hier übertrifft der erfahrene Zemlinsky sogar die „Gurre-Lieder“ seines Schülers Schönberg – ganz hervorragend zur Schau. Die vielen Effekte – namentlich Glissandi – in allen Instrumentengruppen wirken daher eher schmerzlich, emotional überwältigt oder einfach als tonmalerische Natur-Mimesis: grandios z. B. die Stelle im 4. Gesang bei „der Wind seufzt durch die Blätter“. Den großen symphonischen Zusammenhang kann Patrick Hahn allerdings nicht überall herstellen. Bei den echten Höhepunkten bzw. Zwischenspielen, wo Zemlinsky dann tatsächlich mal ein dreifaches Forte bemüht, fehlen hier schlicht mindestens ein Dutzend Streicher. Ebenso gibt es Stellen, wo das Holz zugedeckt wird oder sogar die Hörner [Ziffer 104] nicht mehr durchkommen, was dann eher der Platzierung auf der Bühne des Prinzregententheaters geschuldet ist. Die Ausgestaltung sämtlicher Solostellen – vorzüglich das Violinsolo im 4. Satz – braucht sich keinesfalls hinter dem BRSO zu verstecken. Bei der Wahl der Tempi fällt auf, dass Hahn im ersten Satz schon ab dem Baritoneinsatz ein wenig zu zäh agiert und das Stück noch größere Flexibilität verdienen würde. Der gesamte 6. Gesang gerät viel zu langsam und die ein wenig unsichere Sopranistin bräuchte da bessere Führung durch den Dirigenten. So zerfällt hier jegliche Spannung. Insgesamt zweifellos ein mutiger und durchaus gelungener Abend, zu dem man dem Rundfunkorchester gratulieren darf. Das Publikum im Saal reagierte auf diesen Vorstoß in offensichtliches Neuland gar enthusiastisch.

[Martin Blaumeiser, 22. April 2024]

Das BRSO feiert sein 75-jähriges Bestehen mit Schönbergs „Gurre-Liedern“

Mit einem Galakonzert feierte das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks am 19. April in der Münchner Isarphilharmonie sein 75-jähriges Bestehen. Wie schon zum 60. Jubiläum 2009 spielte man zu diesem Anlass Arnold Schönbergs (18741951) „Gurre-Lieder“, diesmal freilich unter Leitung von Sir Simon Rattle. Zum immensen Aufgebot im Orchester gesellten sich dazu noch der Chor des Bayerischen Rundfunks, der MDR-Rundfunkchor sowie sechs Solisten – insgesamt ca. 280 Mitwirkende. Unser Rezensent besuchte die zweite Aufführung – nun ein „normales“ Abo-Konzert – am 20. April.

Applaus für die Mitwirkenden der Aufführung vom 19. April 2024 © BR Astrid Ackermann

„Wie sich die Bilder gleichen“, stellt man zunächst verwundert fest, weil das BRSO anlässlich seines 75. Geburtstags dasselbe Stück ausgewählt hat wie bereits zum 60. Jubiläum – damals unter der Leitung von Mariss Jansons in der Gasteig-Philharmonie. Doch erstens rechtfertigt dies der anstehende 150. Geburtstag des Komponisten Arnold Schönberg am 13. September – dieses Jahr häufen sich die runden Klassik-Events, da ist Bruckner nur einer von vielen. Und natürlich benötigt der immense Aufwand für dessen Gurre-Lieder eigentlich immer einen besonderen Aufhänger, um überhaupt eine Aufführung zu realisieren. Diese Besprechung soll auch keinen direkten Vergleich von Jansons‘ und Sir Simon Rattles Darbietungen liefern, obwohl sich ihre Auffassungen von dieser gewaltigen Kantate nicht unerheblich unterscheiden.

Nicht nur die Bühne – die für das gigantische Orchesteraufgebot mit beispielsweise 8 Flöten, 7 Klarinetten, 10 Hörnern usw. sogar vorne noch einen „Anbau“ erfordert – ist an diesem Abend rappelvoll, sondern ebenso der Zuschauerraum: Beide Vorstellungen waren seit Wochen restlos ausverkauft. Und das Münchner Abo-Publikum muss man für sein Vertrauen loben, sich 110 Minuten reinen Schönberg anzutun, der hier über weite Strecken entgegen sicher mancher Befürchtungen unerfahrenerer Hörer noch ganz wie Wagner oder Richard Strauss klingt. Der Aufwand, in jeder Instrumentenfamilie quasi über den kompletten Tonumfang und entsprechendes Klangvolumen zu verfügen, dient im ersten Teil dazu, den üblichen spätromantischen Mischklängen – Musterbeispiel etwa Brahms – sehr reine Klänge selbst bei komplexeren Akkorden entgegenzusetzen. Durch das dichte, polyphone Stimmengeflecht entstehen so einerseits unglaublich neuartige Klangflächen, andererseits enorm individuelle Mischungen, wie man sie 1900 – da begann Schönberg bereits mit der Instrumentation – noch nicht mal von R. Strauss gehört hatte.

Gerade bei den Naturstimmungen evozierenden Klangflächen gleich zu Beginn agiert Rattle an diesem Abend ein wenig tranig, was rhythmischer Klarheit nicht unbedingt förderlich, vielleicht jedoch bewusst so gewollt ist. Dem Rezensenten schien die Aufnahme vom Vortag, die gleich nach dem zweiten Konzert im BR-Fernsehen zu sehen war, im gesamten Ersten Teil der Kantate spürbar flüssiger. Möglicherweise kann der Dirigent durch die ruhigeren Tempi dadurch den Sängern – an zwei aufeinander folgenden Tagen sind solche Partien eine echte tour de force – stellenweise helfen, ihre Stimmen ein wenig zu schonen. So bleibt jedoch ein wichtiger Aspekt dieser Musik, der schon in Alban Bergs umfänglicher Analyse zur Sprache kommt, auf der Strecke. Zwar gelingt es Rattle über das ganze Stück, die leitmotivische Bedeutung der zahlreichen Themen adäquat mit dem nötigen Wiedererkennungswert zu gestalten; dass es sich aber bei den neun Wechselgesängen zwischen Waldemar (Simon O’Neill) und Tove (Dorothea Röschmann) formal um echte Lieder handelt, geht schon dadurch etwas verloren, weil Rattle die spezifische Charakteristik der einzelnen Melodien nicht genug herausarbeitet und zu rasch im allgemeinen Stimmengewirr untergehen lässt. Dass Schönberg die jeweiligen Hauptmelodien in den Zwischenspielen zudem – in der Informatik würde man das Morphing nennen – ineinander verwandelt, bleibt unklar. Das wird im – freilich eindeutig symphonischeren – Lied der Waldtaube (Jamie Barton) dann zum Glück viel besser.

Röschmanns Stimme kann die naturverbundene Jugendlichkeit Toves berührend herüberbringen, kommt jedoch nur in der Höhe wirklich übers Orchester. Ihre empathische Ausdrucksstärke ist dafür Weltklasse. O’Neill artikuliert klangschön und stilvoll, in tieferer Lage wirkt er ein wenig knödelig. Seine Darstellung der sich ständig wandelnden psychischen Befindlichkeiten Waldemars überzeugt gleichermaßen. Gegen das Orchester hat er allerdings – wie wohl alle Heldentenöre, die sich an diese Partie herangewagt haben – oft keine Chance. Er teilt sich seine Kraft gut ein und vermag gerade im zweiten („Herrgott, weißt du, was du tatest [?]“) und dritten Teil („Du strenger Richter droben“) das Publikum zu Recht zu begeistern – und: Höhe hat der Mann! Barton verfügt über eine untadelige Diktion und Wärme. Auch ihre Stimme erscheint im HP8 bei dieser Mezzo-Paraderolle etwas dünn, wird erst ab „Den Sarg sah ich auf des Königs Schultern“ glaubwürdig unheimlich, gerät später („Wollt ein Mönch…“) zu brustig. Das ginge sicher in anderen Sälen besser.

Bei diesem Riesenwerk wird einmal mehr deutlich, dass der HP8 zwar eine ordentliche Interimslösung ist, jedoch seine Schwächen nicht wegzudiskutieren sind. Simon Rattle wird auch an den lauten Stellen niemals knallig, jedoch haben wichtige Höhepunkte – namentlich der im Orchester prägnant dargestellte Todesstoß für Tove [Ziffer 95] – zu wenig Durchschlagskraft, einzig der Akustik geschuldet. Und die Eisenketten während des Männerchors von Waldemars Mannen sind kaum zu hören.

Nach der Pause kommen dann zusätzlich der Chor des Bayerischen Rundfunks und der MDR-Rundfunkchor auf die Bühne – gut 70 Herren und ca. 40 Damen; letztere werden nur im Schlusschor benötigt. Einstudiert von Peter Dijkstra liefern insbesondere die Herrenchöre – in der brutalen „Zombie“-Szene „Gegrüßt, o König“ sind sie dreigeteilt, also zwölfstimmig (!) – wahre Glanzleistungen ab. Besonderes Lob gilt der wunderbaren, intonatorisch perfekten Realisierung des intrikat schweren Chores „Der Hahn erhebt den Kopf zur Kraht“. Die Damen setzen dem Ganzen später die Krone auf.

Der Bauer von Josef Wagner ist mir anfangs zu unbeteiligt, dann ab dem lyrischeren Abschnitt „Ich schlage drei heilige Kreuze“ beseelter. Wirklich den Vogel ab („Ein seltsamer Vogel ist so’n Aal“) schießt bei den Solisten der Charaktertenor Peter Hoare. Wie so mancher Fachkollege mit einem speziellen Timbre begünstigt, braucht er bei der scherzomäßigen Arie des Klaus-Narr nicht gegen das Orchester zu kämpfen, das den hierbei kurz aufblitzenden Strauss’schen Humor ebenfalls besonders zu mögen scheint – herrlich. Im letzten Abschnitt – hier merkt man, dass sich Schönbergs Orchestersprache und sein harmonisches Verständnis in den zehn Jahren bis zur endgültigen Fertigstellung der Gurre-Lieder spürbar gewandelt hat – benötigt man einen Sprecher mit beinahe prophetischer Überzeugungskraft: Die hat der fabelhafte Thomas Quasthoff bei Des Sommerwindes wilde Jagd zweifellos. Absolut faszinierend, wie er – nicht ganz ohne Ironie, aber die gegen Schluss arg blumige Sprache komplett ernstnehmend – das vorherige symbolistische Drama in ein selbstverständliches Naturereignis umzumünzen versteht, wo die Sonne für stetige Erneuerung sorgt. Rattle und sein Orchester blühen in der zweiten Hälfte nun völlig auf: Die gewaltigen Chorszenen genau wie der viel kammermusikalischer geprägte Schlussteil gelingen überaus differenziert und anrührend, werden so den hohen Ansprüchen von Publikum und Musikern gleichermaßen gerecht – grandioser Beifall und schließlich Standing Ovations.

[Martin Blaumeiser, 21. April 2024]

Beglückender Abend des BRSO unter François-Xavier Roth bei der musica viva

Antoine Tamestit und François-Xavier Roth © Severin Vogl

Im Konzert der musica viva am 12. April 2024 im Münchner Herkulessaal spielte das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter François-Xavier Roth die Uraufführung des Bratschenkonzerts von Francesco Filidei (Solist: Antoine Tamestit), „Cloudline“ der US-Amerikanerin Elizabeth Ogonek sowie Iannis Xenakis‘ unglaublich herausforderndes Werk „Aïs“ – mit dem Bariton Georg Nigl und dem Schlagzeuger Dirk Rothbrust. Zu Ehren des kürzlich verstorbenen Komponisten und Dirigenten Peter Eötvös hatte man dessen Stück „Sirens’ Song“ zusätzlich aufs Programm gesetzt.

Im März 2024 haben wir innerhalb von nur elf Tagen gleich drei echte Weltstars der Neuen Musik verloren: Aribert Reimann, Maurizio Pollini, und am 24. 3. den Ungarn Peter Eötvös (Jahrgang 1944). Der war als Komponist bereits 1980 mit einem Kammermusikwerk bei der musica viva vertreten, hat dann ab 1989 regelmäßig das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks für dieses Format geleitet und dabei Musiker wie Publikum stets begeistert. 2019 war ein komplettes Programm Eötvös‘ eigener Musik gewidmet (wir berichteten). Grund genug, nach einer empathischen Würdigung durch Winrich Hopp und einer Schweigeminute eines seiner letzten Orchesterwerke – Sirens‘ Song von 2020 – erklingen zu lassen.

Schon hier spürt man, dass François-Xavier Roth und das BRSO einen großen Abend haben. Tatsächlich ist das Stück für mittelgroßes Orchester, in dem der Komponist versucht „hörbar zu machen, was Odysseus niemals zu Gehör bekommen hat“ (Eötvös) rhythmisch relativ simpel gestrickt. Harmonisch bilden zunächst Quint- und Tritonus-Schichten die Basis für liebreizende, zugleich ungreifbare Glissandi und wunderbare Bläser-Klangmischungen. Später kommen – von den Bässen ausgehend – Quartschichtungen hinzu; da wird’s schon gefährlicher – und die Bläser mutieren zu „Killervögeln mit Frauenköpfen“. Die Streicher ziehen die Zuhörer jedoch nach und nach in den Abgrund – fast unmerklich, ohne dass es laut würde. In einer kurzen Coda – quasi Dur – bleibt nur das sonnendurchflutete, ruhige Meer: hübsche, völlig nachvollziehbare Musik, die mit ihrer Schönheit auch das Publikum betört.

Francesco Filidei (*1973), der gerade an einer Oper nach Umberto Ecos Der Name der Rose arbeitet, hat die drei Sätze seines gut halbstündigen Konzerts für Viola und Orchester so ziemlich mit allen technisch-klanglichen Möglichkeiten gespickt, die sich für das – verglichen mit der Violine – solistisch immer noch etwas unterbelichtete Instrument anbieten. Der lange erste Satz Die Gärten von Vilnius ist eine Umarbeitung von Filideis gleichnamigem Cellokonzert. Hierbei bezieht sich der Komponist ausdrücklich beispielsweise auf die Tradition von Ottorino Respighis Tondichtungen. Die Verbindung von struktureller Klarheit – hier u. a. symmetrische bzw. „kreisförmige“, fraktale Motivbildungen – und beeindruckender Instrumentationskunst, etwa der konsequenten Auffächerung von Geräuschen über das totale Klangspektrum, sind wie immer bei ihm völlig faszinierend; ebenso, wie er die Solo-Viola dramaturgisch einsetzt. Der Mittelsatz ist rein humoristisch, sozusagen ein einziger, comic-artig vertonter Bratschenwitz. Antoine Tamestit muss hier auf „metronomische“ Vorgaben der Schlagzeuger Skalen, Flageolets usw. „üben“ – was natürlich schiefläuft. Die halbszenische Solistenpose wird dadurch völlig dekonstruiert: zur Posse. Dasselbe geschieht mit dem Material im Orchester, deutlich erkennbar etwa der C-Dur-Schlussfuge von Verdis Falstaff entnommen; die Einleitungstakte dazu werden – mittendrin – gar wörtlich zitiert. Aberwitzig ironisch erinnert dieses gut getimte Intermezzo den Rezensenten an den Mittelsatz TSIAJ („This Scherzo Is A Joke“) von Charles Ives‘ Klaviertrio. Das melancholische Finale – gegen Schluss erklingen nochmals Fragmente aus den Sätzen zuvor – bietet schließlich Tamestit die Gelegenheit, auf seiner Stradivari zu singen. Hinreißend, wie sich diese erfüllte Präsenz seiner Persönlichkeit auf den fast ausverkauften Herkulessaal überträgt: großer Beifall für ein musikalisch vielschichtiges Konzert.

Obwohl viel kürzer, kann Cloudline (2021) der jungen Amerikanerin Elizabeth Ogonek (*1989) – wie Filidei persönlich anwesend – Publikum wie Rezensent fast noch mehr begeistern. Selten hat man ein derartig natürliches, offenkundiges Gespür erlebt, für Orchester zu schreiben. Einerseits ausgehend von Wolken als Naturphänomen, andererseits dem Wunsch – und für die Uraufführung in der gigantischen Londoner Royal Albert Hall absolute Notwendigkeit –, mikrotonale Multiphonics der Klarinetten für einen größeren Klangkörper regelrecht zu instrumentieren, überzeugt dieses Werk auf ganzer Linie – bis ins Detail sensibelst austariert und im wohlklingenden Ergebnis einfach staunenswert.

Im krassen Gegensatz zu solcher Ästhetik steht Iannis Xenakis‘Aïs“ (= Hades), ein Auftragswerk für die musica viva von 1980 (UA 1981). Diese Auseinandersetzung mit dem Tod verlangt neben dem üblichen Riesenorchester einen Solo-Schlagzeuger – vor dem Orchester platziert und ganz vortrefflich: Dirk Rothbrust. Hauptprotagonist ist allerdings der Bariton, mit einer Partie, die – wie eigentlich das gesamte Stück – eine bewusste Zumutung darstellt. Über weite Strecken in höchster Lage der Kopfstimme, später in unglaublich schnellen Wechseln zwischen extrem tiefer – nur da hat man eine Chance, Textfragmente zu verstehen – und wiederum exponierter Falsettlage, muss sich der Solist sichtbar nicht nur gesangstechnisch, sondern ebenso emotional total verausgaben. Georg Nigl gelingt das einmal mehr überragend. Ob singend, schreiend oder deklamierend: Nigls Gestaltung geht an die Nieren, und er ist wohl der erste Sänger, der hier nicht wie ein unfreiwilliger Kastrat klingt, sondern von Beginn an dunkelste Ernsthaftigkeit zu transportieren vermag. Die leichte, leider suboptimale, da durch die benutzten Monitore zu sehr in die Breite gezogene Verstärkung, ist eher ein notwendiges Übel. Vor solch einem Künstler, der ja mit gleicher Energie einen Eisenstein (Fledermaus) gibt, kann man sich nur verneigen.

Das BRSO, von jeher mit einem verblüffend guten Zugang zur kompakten Musik Xenakis‘, legt diesmal wieder eine echte Glanzleistung hin. Man spürt förmlich die Begeisterung für diese alles andere als leichte Kost. Und Roth leitet das gesamte Konzert – auch er dirigiert ohne Taktstock – handwerklich präzise, hat zudem die unglaubliche Vielfalt verschiedenster Klänge mit klarer Vorstellung verinnerlicht und sie in den Proben seinen Musikern offensichtlich kongenial sehr nahegebracht. Trotz aller Herausforderungen wirkt er auf dem Podium völlig entspannt. In allen vier Werken zeigt das BRSO sich in Bestform, ist wirklich zu 100% souverän bei der Sache. Der Saal belohnt Solisten, Dirigent und Orchester schließlich mit Bravos und ungewohnt langanhaltendem Applaus. Wie gesagt: ein ganz besonderer Abend.

[Martin Blaumeiser, 13. April 2024]

Wirkungsvoller Adès, problematischer Beethoven – Simon Rattle im Herkulessaal

Auch bei den Abo-Konzerten am 14. und 15. März 2024 im Münchner Herkulessaal erlebte das Publikum die Uraufführung eines Auftragswerks für das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks: Thomas Adès‘ „Aquifer“. Zuvor dirigierte Sir Simon Rattle „Vorspiel und Liebestod“ aus Richard Wagners „Tristan und Isolde“, nach der Pause dann Beethovens Symphonie Nr. 6. Der Rezensent besuchte die Aufführung am Donnerstag, 14. 3.

Thomas Adés und Sir Simon Rattle mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks © BR/Astrid Ackermann

Auf dem ziemlich engen Podium des Herkulessaals wirkt bereits die volle Orchesterbesetzung einer Wagner-Oper – in diesem Fall noch nicht mal des Rings – respekteinflößend, zumal wenn zusätzlich schon der ganze Schlagzeugapparat plus Konzertflügel etc. für eine Uraufführung bereitstehen. Und der Saal ist augenscheinlich komplett ausverkauft. Beim Programm dieses Abends scheint sich vieles um den Topos „Wasser“ zu drehen: In Wagners Tristan und Isolde spielt ja der komplette erste Aufzug auf dem Meer, und im dritten Akt beherrscht dessen Nähe psychologisch vor allem den unglücklichen Helden. In Beethovens Pastorale gibt es das anmutige Bächlein, aber ebenso ein beängstigendes Gewitter, und Aquifer, der Titel von Thomas Adès‘ neuem Orchesterwerk, bezeichnet in der Geologie eine Grundwasser führende Gesteinsschicht.

Simon Rattle beginnt beim Vorspiel und Liebestod aus Wagners Oper sehr langsam, steigert sukzessive mit der zunehmenden Komplexität der sich ineinander verzahnenden Motivik wohldosiert das Tempo, ist dann am Höhepunkt des Vorspiels – da vermisst man leider die zu verhalten gespielten Hörner, Bassklarinette und Violoncelli als echte Gegenstimme – angenehm flüssig. Zwingend gelingt auch der Aufbau von Isoldes Liebestod, jedoch mit britischem Understatement, das Wagners musikalischen Strukturen vertraut und nicht versucht, diese ohnehin dichte Gefühlswelt noch künstlich hochzupushen. Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks überzeugt hier klanglich in jedem Detail, mit der genau richtigen Balance für den Saal.

Thomas Adès (Jahrgang 1971) dirigierte im Herkulessaal zuletzt – Anfang 2020 – selbst sein Klavierkonzert, längst ein Erfolgsstück trotz einiger Eklektizismen. Sein viertelstündiges Auftragswerk fürs BRSO – mit Unterstützung der Carnegie Hall und des Wiener Musikvereins – knüpft qualitativ an die besten Orchesterwerke an, die er bislang geschrieben hat. Die Idee des Aquifers wird so vielmehr allgemeines Sinnbild für Werden und Vergehen als nur eine pittoreske Darstellung von fließendem Wasser, das mit Widerständen zu kämpfen hat. Adès kann hierbei einmal mehr seiner ganz besonderen Begabung gerade für dunkle Klangfarben frönen. Zu Beginn bewegt sich der junge Grundwasserlauf allerdings als quicklebendiger Schwall, mit glänzenden Bläser- und Schlagzeugeinwürfen, bevor er – Streicher auf Blech-Untergrund – bald ins Stocken gerät: ein, zwei Minuten ziemlicher Leerlauf mit eintönigen, chromatischen Abwärtsbewegungen meist nur innerhalb kleiner Terzen. Adès‘ Harmonik bleibt in weitgehend tonalen Rahmen, verzichtet zunächst völlig auf Mikrointervalle. Später – im Lauf einer grandiosen, wirkungsvollen Steigerung – erscheinen dann teils unisono bedrohlichere Wendungen in den Streichern, die mittels Glissandi auch mal um einen Viertelton „verrutschen“. Die rhythmischen Schichten werkeln dafür wie gewohnt komplexer: Erstaunlicherweise erhalten sie dabei für den Hörer ihren geradezu unwiderstehlich natürlichen Fluss, sind jedoch für den Dirigenten eine enorme Herausforderung, die Sir Simon selbstverständlich souverän meistert. Zuletzt scheint der Wasserlauf – mit recht traditionell anmutenden Fanfaren im Blech – seine Freiheit bis ans Tageslicht gefunden zu haben; was passt besser zu frischem Wasser als strahlendes C-Dur? Ganz am Schluss muss der einstige Schlagzeuger Rattle mit einer großen Ratsche (rattle) in der Rechten den gewaltigen Strom abwinken – netter Gag britischen Humors. Sicher kein Werk für die musica viva, aber einfach großartig, was vom Publikum ebenfalls begeistert honoriert wird.

Problematischer gerät dem BRSO diesmal Beethovens Pastorale. Rattle bleibt seinem Konzept, das u. a. auf extrem flexiblen, zugleich immer äußerst flüssigen Tempi basiert, und welches er seit seinen Aufnahmen mit den Wiener oder den Berliner Philharmonikern konsequent verinnerlicht hat, treu. Leider folgt ihm das Orchester von Beginn an nicht aufmerksam genug. So viel Geklappere, mangelnde Präzision im Zusammenspiel und stellenweise klangliche Mattigkeit bei einer Beethoven-Symphonie habe ich hier lange nicht mehr gehört. Liegt es daran, dass am Abend nach einer sicher anstrengenden Generalprobe leichte Ermüdungserscheinungen auftreten? Kaum ein Übergang gelingt perfekt – gerade im Kopfsatz. Schon beim minimalen Ritardando vor der Fermate im vierten Takt ist man sich uneins. Natürlich möchte Rattle das eigentliche Hauptzeitmaß erst im Tutti Takt 37 erreichen; dass er die Musiker zuvor jedoch regelrecht antreiben muss, ist vermutlich so nicht geplant. Dennoch bezaubern durchweg ordentliche Klangfarben; auch die im ersten Satz (Durchführung) mittels Ostinati erzeugten quasi Klangflächen sowie die des „Bächleins“ im Andante molto mosso stiften Atmosphäre und werden nie langweilig. Dort ist die synkopierte Holzbläsergrundierung erneut hörbar ungenau.

Richtig bei der Sache ist man dann erst im Lustigen Zusammensein der Landleute: Besonders stimmig wird es ab dem derberen Mittelteil im Zweier-Takt, und schon der Übergang zum Gewitter wirkt unheimlich. Das folgende Naturschauspiel ist an Intensität kaum zu überbieten, ohne an Klangkultur einzubüßen. Dem Finale fehlt es ein wenig an Aufrichtigkeit: Innige Dankbarkeit kann man hier jedenfalls nicht spüren. An einigen Stellen nimmt der Dirigent das eigentliche Hauptthema zugunsten des Hirtenmotivs zurück – unklar, warum. Immerhin endet das Ganze zumindest nachdenklich. Der Eindruck dieser Darbietung bleibt für den Rezensenten jedoch zwiespältig, obwohl sie im Saal wahre Beifallsstürme auslöst.

[Martin Blaumeiser, 16. März 2024]

Musica viva: Bewegendes Bratschenkonzert von Gubaidulina und eine überzeugende Borboudakis-Uraufführung

Neben drei neuen Werken – „Mali svitac“ und „Čvor“ von Milica Djordjević sowie „sparks, waves and horizons“ von Minas Borboudakis als Uraufführung – spielte das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter der Leitung von Duncan Ward am 23. Februar 2024 im Münchner Herkulessaal noch Charles Ives‘ Klassiker „Central Park in the Dark“. Als eigentliches Hauptwerk erwies sich allerdings Sofia Gubaidulinas Konzert für Viola und Orchester mit dem überragenden Solisten Lawrence Power.

Lawrence Power spielt mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Leitung von Duncan Ward, Photo © Astrid Ackermann/BR

Wohl um das 150. Geburtsjahr – 2024 gibt es noch weit mehr Jubiläen als Bruckner und Schönberg – des Vaters der amerikanischen Neuen Musik zu feiern, hatte man an den Anfang des musica viva Konzerts letzten Freitag Charles Ives‘ (1874‒1954) Klassiker Central Park in the Dark von 1906 gesetzt: immer noch erstaunlich aktuell mit seiner Collage von zunächst Naturlauten (Streicher), die nach und nach von menschlichen Klängen überlagert werden. Schon hierbei zeigte der junge britische Dirigent Duncan Ward, dass er einen komplexen Apparat – mit Fernorchester – absolut im Griff halten und klanglich subtil steuern kann.

Hatte die aus Serbien stammende Komponistin Milica Djordjević (*1984) vor 1½ Jahren den Rezensenten noch mit Mit o ptici überzeugen können, war die Wirkung der beiden jeweils unter 6-minütigen nun dargebotenen Stücke eher blass. Mali svitac, žestoko ozaren i prestravljen nesnošljivom lepotom [Kleines Glühwürmchen, grell beleuchtet und erschrocken von unerträglicher Schönheit], 2023 für die Berliner Philharmoniker komponiert, bezieht sich neben Naturerfahrungen der Kindheit auch wieder auf Dichtung Miroslav Antićs. Die Streicher sind hochdifferenziert geteilt, flirrend bis ins Geräuschhafte; Schlagzeug, Kontrafagott etc. machen unten Dampf. Leider wurde es dann ganz schnell langweilig; über die Bedeutung der chromatischen, offenkundigen Mahler-Allusion im Blech [Trauermarsch der 5. Symphonie, Zif. 18] hätte man gerne mehr erfahren. Farbigkeit und Dichte täuschten nicht darüber hinweg, dass mangels Zeit für zwingende Entwicklung – maximal 5 Minuten waren hier Vorgabe – vieles arg gewollt erschien: trotzdem starker Beifall.

Obwohl durch einen schmerzlichen Krankenhausaufenthalt geprägt, ist Djordjevićs Knoten [Čvor] bei vielen Zuhörern überhaupt nicht geplatzt. Das streicherlose Ensemble erzeugt von Beginn an unentwegt vor allem Schalldruck: lautes Gerappel in Klavier und Schlagwerk. Das sollte sicher absichtsvoll nervig sein, gewissermaßen zeitlichen Stillstand symbolisieren; eine existentielle Bedrohung wurde dadurch jedoch keinesfalls erfahrbar – schwach.

Ganz andere Dimensionen eröffnete der schon lange in München tätige kretische Komponist Minas Borboudakis (*1974) in seinem 26-minütigen Stück sparks, waves and horizons. Mit nur 3-facher Bläserbesetzung, aber gewaltigem Schlagzeugapparat wurde hier die Figur der Welle formgebend. Plumpen Naturalismus vermeidet der ehemalige Schüler u. a. Wilfried Hillers dabei konsequent. Im Orchester hörte man sehr vielschichtige Klänge: spektral geprägte Klangflächen neben distinkten Einzelereignissen und sehr individuellen Instrumentationsideen an den Höhepunkten. Schöne, klare Effekte – besonders im Klavier und melodischem Schlagwerk –, nie zu viel gleichzeitig, sogar mal tonale Akkorde im Blech, vermittelten teils echte Dramatik. Dort, wo die Musik quasi „steht“, wurde es leider auch wieder ziemlich uninteressant – eher Flaute statt Funken. Das mit komplexen Mitteln – Loops, Polyrhythmik, „Morphing“ – bewirkte Auf und Ab schien letztlich doch recht vorhersehbar. Duncan Ward pinselte dies anfangs ziemlich trocken und steif, fast so eckig wie Stop-Motion-Animationen à la Ray Harryhausen, zeigte mit der linken Hand nur wenig. Vieles lief bei ihm über Grimassen – was indes erstaunlich präzise funktionierte. Dafür hörte er genau hin und reagierte extrem vorausschauend und umsichtig – das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks spielte erneut hochengagiert und in Top-Form. Insgesamt zweifellos eine gelungene Uraufführung, die entsprechend honoriert wurde.

Der Höhepunkt des Abends war allerdings dann ganz klar das über eine halbe Stunde währende Bratschenkonzert (1996) von Altmeisterin Sofia Gubaidulina (*1931), sensationell vorgetragen vom Briten Lawrence Power, der von Beginn an nicht nur mit enormer Klangfülle, sondern zudem mit einem schon akustisch ungewöhnlich tragfähigen Instrument aufwarten konnte. Gubaidulina hat den Solopart 2015 gründlich revidiert; vieles ist nun nochmals differenzierter, teils zugleich roher als in der Fassung für Yuri Bashmet. Power – der in der anstrengenden Partie viele Soli zu gestalten hat – agierte sowohl sensibel als auch äußerst kratzbürstig, oft unzähmbar wie ein Wespennest, wo es die Partitur fordert. Solist und Orchester finden in diesem Werk kaum das Miteinander – zwei Welten stehen sich unvereinbar gegenüber, höchstens mal vermittelt durch ein um einen Halbton tiefer gestimmtes Streichquartett innerhalb des Ensembles. Und wie unheimlich wirkten hier die nach einem Drittel zum Einsatz kommenden Wagner-Tuben, gerade im Unisono! Derartige musikalische Zeichen klappen emotional halt punktgenau. Ward dirigierte nun weitaus elastischer als zuvor. Das zutiefst beeindruckende Konzert lag offensichtlich allen Beteiligten – am Schluss nicht enden wollender Applaus, jedoch keine Zugabe. Was soll man solchen Gänsehaut-Momenten auch noch hinzufügen?

[Martin Blaumeiser, 25. Februar 2024]

Simon Rattle präsentiert mit dem BLJO ein Jahrhunderttalent: Tsotne Zedginidze

Am Sonntag, 28. Januar 2024, dirigierte Sir Simon Rattle im Münchner Herkulessaal das Bayerische Landesjugendorchester. Bei dieser Gelegenheit wurde die Patenschaft zwischen dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks und dem BLJO, die bereits seit rund 20 Jahren besteht, offiziell besiegelt. Auf dem Programm standen Paul Hindemiths „Ragtime (wohltemperiert)“, Gustav Mahlers 1. Symphonie und Arnold Schönbergs Klavierkonzert op. 42 – gespielt vom gerade mal 14-jährigen georgischen Pianisten Tsotne Zedginidze, für dessen unglaubliche Leistung und Musikalität kein Superlativ zu hoch gegriffen scheint.

Das Bayerische Landesjugendorchester begleitet unter Sir Simon Rattle den 14-jährigen Pianisten Tsotne Zedginidze © BR-Astrid Ackermann

Sir Simon Rattle ist bekannt dafür, sich für Jugendarbeit besonders einzusetzen. So verwunderte es nicht, dass es ihm offenkundig große Freude bereitete, nach wenigen, umso intensiveren Proben mit den zwischen 13 und 20 Jahren jungen Musikern des Bayerischen Landesjugendorchesters ein derart hörens- und sehenswertes, höchst anspruchsvolles Programm im ausverkauften Herkulessaal zu präsentieren. Vor den musikalischen Darbietungen wurde die langjährige Patenschaft zwischen dem BLJO und dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks in einer feierlichen Zeremonie nun offiziell als Teil der bundesweiten Initiative Tutti pro besiegelt. Einzelheiten darüber konnte man bereits der Tagespresse entnehmen.

Paul Hindemiths gerade mal 3½-minütiger Ragtime (wohltemperiert) gehört ohne Frage zu den Werken des gerne humorvollen Meisters, in denen er Musikgeschichte genüsslich aufs Korn nimmt – hier die c-Moll Fuge aus Bachs Wohltemperiertem Klavier, Teil I. Der aus dem Thema entwickelte Ragtime – oder vielmehr das, was man sich 1921 in Deutschland darunter vorstellte – wird so schnell zu einem brachialen Marsch. Durch die riesige Orchesterbesetzung kann das ganz schön penetrant wirken – vielleicht soll es das ja. Ob dies dann allein deshalb tatsächlich in die Kategorie „musikalischer Spaß“ gehört, sei mal dahingestellt. Immerhin könnte das Stück Helmut Lachenmann zu seinem Marche fatale inspiriert haben. Für das BLJO dient diese wenig differenzierte Randale so eher zum Aufwärmen. Egal – denn was danach kommt, erweist sich als eine echte Sensation.

Allein die Tatsache, dass ein gerade erst 14-Jähriger sich ausgerechnet das zwölftönige, allgemein als sperrig geltende Klavierkonzert Arnold Schönbergs von 1942 vornimmt, dürfte ohne Vorbild sein. Der georgische Pianist Tsotne Zedginidze, der ebenfalls schon seit seinem sechsten Lebensjahr komponiert, spielt zwar das Stück auch nicht auswendig – das tat selbst Alfred Brendel nie. Mit welch ungeheurem Verständnis der junge Mann dann nicht nur strukturell, sondern vor allem emotional die Tiefen dieses immer noch unterschätzten Klavierkonzerts durchdringt und seine Schönheiten zutage fördert, ist allerdings kaum angemessen zu beschreiben. Vergleicht man diese Aufführung mit der letzten Münchner Darbietung von Kirill Gerstein mit dem BRSO unter François-Xavier Roth – der Rezensent sah sich seinerzeit zu einem wahren Verriss genötigt –, zeigt Zedginidze genau all das, was bei Gerstein schmerzlich vermisst wurde: klangliche Sensibilität bis ins kleinste Detail des an Noten nicht gerade armen Klaviersatzes – das fängt schon beim großartig gestalteten Thema an. Vor allem aber eine derart vorausschauende, poetische Darstellung der dem Werk innewohnenden Teleologie, die man nach anfänglicher Unbeschwertheit mit per aspera ad astra beschreiben könnte.

Die graduelle Entwicklung vom desolaten Adagio-Abschnitt bis zum hoffnungsvollen, puren Optimismus ausstrahlenden Schluss des Giocoso habe ich noch nie emotional derart überzeugend gehört. Und Zedginidze traut sich selbst bei diesem Stück sogar, manche Stellen quasi gegen den Strich zu bürsten. Betrachtet man – nur als ein Beispiel – den Beginn der relativ kurzen, überhaupt nicht auf äußerliche Virtuosität angelegten Kadenz am Ende des Adagios: zweimal Akkordtremoli mit Fermaten, jeweils gefolgt von nervösen, gegenläufigen 32stel-Figuren, über die Schönberg „(presto)“ schreibt. Die klingen normalerweise so, als ob ein traumatisierter Irrer an den Wänden seiner Gummizelle kratzt. Zedginidze spielt die Tremoli überirdisch zart, ignoriert bei den nachfolgenden Figuren das Presto, interpretiert sie als Vorboten wiederaufkeimenden Lebensmuts – eine keineswegs abwegige, interessante Lesart.

Über den Pianisten wird gesagt, er verfüge über absurd gute Blattspielfähigkeiten. Das führt bei ihm jedoch keinesfalls zu oberflächlichem Darüberhinwegspielen, sondern – ganz im Gegenteil – zu noch genauerem Hinterfragen des Notentexts. Während des ganzen Konzerts werfen sich Pianist und Dirigent präzise die Bälle zu, hören genauestens aufeinander. Oft muss Rattle die Dynamik im Orchester ungewohnt stark zurücknehmen. An einigen Stellen fehlt dem recht knabenhaft wirkenden Ausnahmetalent schlicht noch die Kraft, sich mit dem Orchesterklang im Fortissimo-Bereich messen zu können – und so geraten die wenigen Spitzen, an denen es im Schönberg-Konzert wirklich mal unangenehm hart klingen soll, etwas blass. Gerade dort übertrieb Gerstein freilich grotesk; insgesamt tut dem Stück Zedginidzes Betonung dessen lyrischer Qualitäten sehr gut. Das Orchester begreift die Bedeutung von Schönbergs Reihentechnik, die immer mit thematischen „Gestalten“ verbunden ist, glasklar und es passieren allenfalls ein paar Kleinigkeiten: Das können Profis kaum besser. Nach dieser phänomenalen Aufführung kann man eigentlich nur noch Tränen der Begeisterung in den Augen haben. Bei der Zugabe – Debussys erstem Prelude aus Band I …Danseuses de Delphes – merkt man sofort an der souveränen Lösung des nicht-trivialen Pedalisierungsproblems, über welch ungeheures Potential Tsotne Zedginidze schon heute verfügt. Rattle ließ sich gar zu folgender Bemerkung hinreißen: „Wir sind privilegiert, mit Tsotne zur gleichen Zeit auf diesem Planeten zu sein. Es ist ein historischer Moment.“

Bei Teilen des Publikums stößt die Musik der Zweiten Wiener Schule jedoch nach wie vor auf Unverständnis. Da hat es Gustav Mahlers 1. Symphonie zweifellos leichter. Erstaunlich, wie ein Jugendorchester dieses spieltechnisch enorm schwere, dabei agogisch sich ständig von einem Extrem ins andere bewegende Stück bewältigt. Das über 100 Mitspieler starke Ensemble wird zusätzlich noch durch zehn Streicher des BRSO unterstützt. Vor allem ist es hier nötig, dem Dirigenten exakt zu folgen und absolut zu vertrauen. Simon Rattle ist bei Mahler in München offensichtlich momentan im Flow. Wie er diese Energie auf die jungen Musiker überträgt und klanglich nun ungemein differenziert zum Leben erweckt, macht schon beim Zuschauen Freude. Von den zahlreichen Soloeinsätzen – bis hin zum „Fernorchester“ – gelingt eigentlich alles. Rattle – auswendig dirigierend – zeigt dabei noch deutlich mehr an als bei seinen Profis: ein hartes Stück Arbeit. Dass die Gruppen ebenso gespannt wie ein Flitzebogen reagieren, zeigt sich u. a. an der berühmten Bratschenstelle, die gegen Schluss des Finales nochmal einen großen Wendepunkt einleitet. Nach dem triumphalen Ende der Symphonie sind alle – Beteiligte wie Zuhörer – zu Recht glücklich. Solch einen fantastischen Abend erlebt man selten.

[Martin Blaumeiser, 30. Januar 2024]

Gelungene Uraufführung von Johannes Kalitzke und ein bemerkenswertes Orchesterwerk Luc Ferraris

Das zweite Saisonkonzert der musica viva mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks fand am Freitag, 10. November 2023, wieder im üblichen Herkulessaal statt. Johannes Kalitzke dirigierte neben einer eigenen Uraufführung („Zeitkapsel“) noch Lisa Streichs„Jubelhemd“ und Luc Ferraris „Histoire du Plaisir et de la Désolation“. Die Solisten in Streichs Komposition waren Marco Blaauw (Trompete), Dirk Rothbrust (Schlagzeug), Maria Stange (Harfe) und Axel Porath (Viola).

Als Dirigent seit vielen Jahren regelmäßiger Gast bei der musica viva, leitete Johannes Kalitzke (*1959) im Konzert am 10. 11. 2023 das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks zunächst bei der Uraufführung einer eigenen Komposition mit dem Titel Zeitkapsel. Das 25-minütige Stück hat äußerlich die Form eines Totentanzes, besteht aus mehreren, recht klar getrennten „Sätzen“, die durch eine Art Concertino – hier sechs Fagotte und zwei Saxophone mit herrlich dunklem Klang – wie im Concerto Grosso zusammengehalten werden. Stilisierte, dysfunktionalisierte Tanzrhythmen im Orchester wurden durch elektronisch zugespielte Samples ergänzt – entsprechend den persönlichen Fundstücken (Zeitkapseln), die Erbauer in alten Gemäuern oder eigene Vorfahren etwa auf Dachböden hinterlassen haben; darunter so divergente Klänge wie Flammenwerfer oder am Schluss die älteste Tonaufnahme auf Wachspapier von 1860: das Kinderlied Au Claire de la Lune. Dass diese durchgängigen elektronischen Einsprengsel – die erkennen lassen, dass Kalitzke u. a. Schüler von York Höller war – nicht wie Fremdkörper, sondern als echte Erweiterungen des Orchesterklangs wirkten, war nicht zuletzt der exzellenten, unaufdringlichen Klangregie von Sebastian Schottke zu verdanken. Kalitzke dirigierte wie gewohnt stets präzise, glasklar, engagiert, suggestiv und ohne Mätzchen, hörte den Musikern genau zu und griff zuvorkommend ein, wenn nötig. Seine wirkungsvolle, sehr virtuose Musik – am Ende spooky – kam auch beim Publikum gut an.

Die schwedischstämmige, aber vor allem im deutschsprachigen Raum ausgebildete Lisa Streich (Jahrgang 1985) wurde bereits mit Preisen überhäuft – u. a. dem Ernst von Siemens Förderpreis (2017) – und nennt ihr Stück Jubelhemd (2021) ausdrücklich Concerto Grosso. Die ungewöhnliche Instrumentenkombination des Concertinos – Trompete, Schlagzeug, Harfe und Viola – sollte wohl als Projektion des recht großen, enorm farbig gesetzten Orchesters auf kammermusikalische Ebene fungieren. Dabei wird die für die Komponistin leicht zwanghafte Vorgabe einer jubilierenden Musik – ein Auftrag schwedischer Orchester inmitten der Pandemie – derart konterkariert, dass sich die Solisten trotz höchster virtuoser Anforderungen – besonders hervorzuheben der Trompeter Marco Blaauw – nicht wirklich entfalten können. Jubelgesten, von Anklängen an Bach-Trompete bis zu U-Musik – „Mutantenstadl“ mit Zitaten von Offenbach oder Johann Strauss – werden im Keim erstickt. Streichs regelmäßig genutzte, detonierte, aus der tonalen (Chor-)musik stammenden Akkorde, wirkten hingegen erstaunlich fein und schön – und regten die Zuhörer offensichtlich ähnlich an wie die berühmte Madeleine in Prousts Recherche. Die vielen tollen Ansätze in dieser sensiblen Musik wurden leider dadurch zunichte gemacht, dass der monorhythmische Beginn nie wirklich verlassen wird, bis auf einen hilflosen Ausbruchsversuch mit merkwürdiger Kirmesmusik kurz vor Schluss. Insgesamt erhielt die doch über Strecken ziemlich fade Komposition dann auch lediglich freundlichen Beifall.

Den Pariser Luc Ferrari (1929–2005) dürfte man vor allem mit musique concrète in Form von Tonbandkompositionen in Verbindung bringen. Abgesehen von seinem rein instrumentalen Frühwerk – als Pianist war er z. B. noch Schüler des berühmten Alfred Cortot – sind Stücke ohne Tonbänder oder Elektronik eine Seltenheit, Histoire du Plaisir et de la Désolation (1982 uraufgeführt) somit ein echtes Unikum. Die 35-minütige, gewaltig besetzte Komposition besteht aus drei attacca aufeinanderfolgenden Sätzen mit klar unterscheidbarem Material. Grundidee dabei ist laut Kalitzke die sogenannte Bandschleife. Obwohl hier also ständig Repetitionsmuster werkelten und der kurze erste Satz über gleichmäßigen Fundamentalbässen des Schlagzeugs – fast wie ein Auftritt Godzillas – höllische Klänge entwickelte, wurde das Stück nie langweilig. Ferraris Musik, opulent und voller Lebensenergie, beschäftigte sich allerdings, offenkundig geprägt vom französischen Existenzialismus, sehr ernsthaft mit dem Gegensatz von Lust und Verzweiflung – letztlich wie Kalitzkes Totentanz mit Vergänglichkeit. Im zweiten Abschnitt dominierten hellere Farben, teils mit Becken-Grundierung und man wurde eingeschobener, bestimmten Frauen gewidmeter Zitate gewahr. Die Désolation des langen dritten Satzes manifestierte sich u. a. mit dem x-maligen Ansetzen einer a-Moll Kadenz, auf deren Auflösung man jedoch vergeblich wartete. Ein eindrucksvolles Stück, bei dem Kalitzke auch effektiv die Langstrecken-Dynamik des einmal mehr großartig aufgelegten BRSO führte und den Herkulessaal in einen wahren Klangrausch versetzte, der dann mit langanhaltendem Applaus bedacht wurde.

[Martin Blaumeiser, November 2023]

Evgeny Kissin und Krzysztof Urbański brillieren mit Rachmaninow und Schostakowitsch

Evgeny Kissin spielte am 2. und 3. November 2023 erstmals in der Isarphilharmonie zusammen mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks ein Klavierkonzert: Rachmaninows Konzert Nr. 3 d-Moll op. 30. Krzysztof Urbański debütierte damit beim BRSO und dirigierte nach der Pause Schostakowitschs 10. Symphonie e-Moll op. 93. Unser Rezensent besuchte das zweite Konzert am Freitag, 3. 11. 2023.

Photo vom 2.11.2023 – © BR / Astrid Ackermann

Auf den Tag genau vor einem Jahr hatte das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks an gleichem Ort Rachmaninows berühmtes drittes Klavierkonzert mit dem Sieger des Warschauer Chopin-Wettbewerbs 2015, Seong-Jin Cho, unter Leitung von James Gaffigan aufgeführt, der kurzfristig für Zubin Mehta eingesprungen war. Der Rezensent zeigte sich von dieser Darbietung wenig begeistert und kritisierte insbesondere ein völlig unausgegorenes, überhetztes Finale und eine generell schwache Leistung des Dirigenten. Beim Konzert am Freitag war dies zum Glück ganz anders: Evgeny Kissin hat den ganzen Saal inspiriert, und insbesondere das BRSO lief unter dem Debütanten Krzysztof Urbański zu absoluter Höchstform auf – verglichen mit letztem November nicht wiederzuerkennen.

Das Thema des Kopfsatzes wird von Kissin vom Tempo her bewusst zurückgenommen, sofort äußerst gesanglich und elegisch, im Gegensatz zum quasi neutralen Beginn der meisten Interpreten – einschließlich des Komponisten selbst; direkt beim zweiten Auftreten zieht der Apparat dann mächtig an, genau der Partitur folgend. Gleichermaßen verfährt Kissin mit den Parallelstellen, wo das Hauptthema schlicht im Oktavabstand erscheint, also zu Beginn der Durchführung und in der Coda – gewöhnungsbedürftig, jedoch konsequent. Was dann über fast 50 Minuten geschieht, ist eine echte Offenbarung: Der Pianist gibt noch der kleinsten Begleitfigur motivische Bedeutung, alles erhält Linie und Tiefe. Rachmaninows maßlose Virtuosität steht keinen Augenblick im Vordergrund, nicht einmal in der gewaltigen Kadenz, die nur zwischen zwei Aggregatzuständen zu vermitteln scheint: der Dramatik zuvor und den folgenden, fast schwebenden Dialogen mit den fantastischen Holzbläsern inklusive Horn. Kissins Anschlag bleibt immer schön, differenziert und ausdrucksstark, auch wenn er mal beherzt mit fundamentalen Bässen zupacken muss. Von seiner legendären, traumwandlerischen Sicherheit hat er nichts verloren, kontrolliert und gestaltet den Klavierklang dieses Gipfelwerks der Konzertliteratur subtil wie kaum jemand sonst.

Urbański ist schon technisch eine Augenweide: Die linke Hand formt unentwegt die Feindynamik, zeigt jeden Akzent, jedes Pizzicato – alles atmet ganz natürlich. Sehr konzentriert geht er auf Kissins ausgefeilte, flexible und oft schwierig zu verfolgende Agogik ein; nur kurz vor Schluss des Finales klappert es für einen Moment. Dafür deckt das Orchester an diesem Abend den Pianisten wirklich niemals zu und geht doch emotional total mit – die Höhepunkte kommen auf den Punkt. Den Bläsern gelingen traumhaft schöne Passagen, rhythmisch ist alles hochpräzise, ohne jede Unruhe. Die Streicher spielen ungemein samtig, mit der für Rachmaninow angemessenen, fast dekadenten Zartheit und Wärme. Wie im Vorjahr überzeugt gerade der zweite Satz, aber selbst die kompositorisch weniger starken Einfälle im Finale – diesmal im genau richtigen Tempo – werden nun sinnvoll in einen größeren Zusammenhang eingebettet, ebenso der flirrende, jedoch keinesfalls überdrehte Scherzando-Abschnitt oder die wehmütige Reminiszenz des Hauptthemas. So zerfällt keiner der Sätze ins Episodische. Kissin beseelt und überhöht diese romantische Welt, ohne in Kitsch zu verfallen – reine Poesie. Der Applaus nach dieser musikalischen Großtat ist riesig und wird durch vier vermeintlich leichte, unwiderstehlich gespielte Zugaben – Chopin und Brahms – vom Pianisten auf bald 25 Minuten ausgedehnt.

Wenn man schon beim BRSO debütiert, dann richtig: Der mit seinen 41 Jahren immer noch jugendlich, fast spitzbübisch wirkende Krzysztof Urbański wagt sich gleich an Schostakowitschs 10. Symphonie und dirigiert das lange Stück souverän auswendig. Die Symphonie gehört seit 40 Jahren zum Standardrepertoire des BRSO, stand noch in einem der letzten Konzerte Mariss Jansons‘ auf dem Programm. Für dieses Stück – das unmittelbar nach Stalins Tod 1953 entstand und sowohl eine Auseinandersetzung mit dessen Barbarei als auch der Symphonik Tschaikowskys darstellt – bedarf es also großer Überzeugungskraft. Den hohen Erwartungen wird Urbański in jeder Hinsicht gerecht. Wie oben bemerkt, verfügt der polnische Dirigent, der bereits die bedeutendsten Klangkörper geleitet hat und kürzlich zum Chef des Berner Sinfonieorchesters berufen wurde, über erstaunliches Handwerk. Dies bringt er hier auf erfrischend lockere Art zur Geltung. Selten klar modelliert er sämtliche Details und behält dabei die großen Zusammenhänge im Auge, besonders im sehr langen Kopfsatz. Der blutige Rausch des kurzen Allegros („Stalin-Scherzo“) wird vom Orchester furios in sagenhaftem Tempo vermittelt: präzise, nicht übertrieben. Dmitri Schostakowitschs eigenes „Ich“, durch die Tonfolge D-S (Es)-C-H repräsentiert, im teils wieder an Mahler erinnernden Allegretto zunächst noch deformiert, übersteht die Wiederkehr des Stalin-Motivs im Finale und gewinnt schließlich eindrucksvoll die Oberhand. Die Dramaturgie dieser Entwicklung kann Urbański mit Überblick perfekt auf Orchester wie Publikum übertragen. Dieses spürt, dass hier ein Dirigent mit Leidenschaft und Können musiziert, honoriert auch diese Glanzleistung mit Bravos und langanhaltendem Beifall. Ein durch und durch beglückender Abend – und Herrn Urbański darf man bitte noch öfter einladen!

[Martin Blaumeiser, 4. November 2023]

Simon Rattle eröffnet mit Žuraj und Berio die neue Saison der musica viva

Chor und Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks starteten die neue musica viva Saison am Freitag, 13. Oktober 2023, erstmals in der Münchner Isarphilharmonie und unter der Leitung ihres neuen Chefdirigenten Sir Simon Rattle. Auf dem Programm standen die Uraufführung von Automatones des slowenischen Komponisten Vito Žuraj sowie Luciano Berios großangelegtes Meisterwerk „Coro“.

Sir Simon Rattle, Photo © Astrid Ackermann/BR

Nachdem sich der vor knapp vier Jahren verstorbene Mariss Jansons von den Symphoniekonzerten der musica viva erstaunlich zurückgehalten hatte, ließ es sich Sir Simon Rattle nicht nehmen, auch hierbei die Saison höchstpersönlich zu eröffnen. Damit bekundete er zudem seinen Willen, eine alte Tradition der Chefdirigenten beim Bayerischen Rundfunk weiterzuführen und sich für diese in der Neue-Musik-Szene nach wie vor einmalige Veranstaltungsreihe weiterhin ganz besonders zu engagieren. Dafür hatte man letzten Freitag – wohl nicht nur wegen der offenkundigen Unmöglichkeit, im gewohnten Herkulessaal die von Berios „Coro“ geforderte, besondere Sitzordnung zu realisieren – gewagt, erstmals die Isarphilharmonie zu bespielen. Was die Besucherzahlen betrifft, ging dies voll auf: Der HP8 war zwar nicht ausverkauft, jedoch kam schätzungsweise mehr Publikum als der Herkulessaal überhaupt hätte fassen können.

Vor dem eigentlichen Konzert, um 19:20 Uhr, durften im Foyer 24 Zwölftklässlerinnen des Münchner Max-Josef-Stifts unter der Leitung von Dietmar Wiesner ihre kollaborative Komposition Coro 2.0 zu Gehör bringen, Ergebnis eines u. a. von Cathy Milliken und Lucie Wohlgenannt aufwändig vorbereiteten musica viva-Education-Projektes. Hierbei entstand ein knapp 12-minütiges Stück, das sich zwar an Methoden und Prozesse von Berios Coro anlehnt, etwa ebenso Volksliedmaterialien einbezieht, aber als Musik- und Textcollage ganz eigenständig erarbeitet wurde. Schade, dass diese ansprechende Darbietung von Teilen des gerade hereinströmenden Publikums quasi ignoriert wurde und im Umgebungslärm beinahe unterging. Zeitpunkt und Ort waren somit leider ziemlich unvorteilhaft gewählt.

Die Anregung zu Vito Žurajs (*1979) großbesetzter, 25-minütiger Auftragskomposition Automatones findet sich in der aus der griechischen Mythologie weniger bekannten Geschichte über von Hephaistos und Dädalus erschaffene, belebte Metallstatuen von Tieren, Menschen und Monstern, die angeblich sogar fühlen und denken konnten. Unabhängig davon, wie diese antiken Illusionen im Detail gedacht gewesen sein mögen, bedient sich der Slowene Žuraj geschickt ausgeklügeltster Klangillusionen, sowohl aus harmonischer wie rhythmischer Sicht: Melodisch-harmonisch werkelt da etwa die berühmte Shepard-Skala, die dem Hörer eine unendlich auf- oder absteigende Linie vorgaukelt, und gleichermaßen trifft man auf rhythmische Strukturen, die nur scheinbar immer weiter beschleunigen bzw. ritardieren. Ein passender Vergleich aus der bildenden Kunst wären da Maurits C. Eschers bekannte Grafiken von „unmöglichen“ Geometrien. Dazu kommt eine enorm abwechslungsreiche, zugleich divergente Orchestrierung, selbstbewusst irgendwie zusammengehalten von Klavier, Akkordeon, Horn und Harfe – letztere durch Skordatur schon verfremdet.

Žuraj, der auch Musikinformatik studiert hat, nutzt bei der detaillierten Ausarbeitung seiner komplexen Klangwelten durchaus die Unterstützung eigener Computeralgorithmen, gibt aber nie das Heft menschlicher Entscheidung aus der Hand. Schmunzeln durfte man über witzige Seitenhiebe in Richtung der derzeit allgegenwärtigen Diskussion um künstliche Intelligenz, so in zwei Passagen, wo die Blechbläser nur ihre Mundstücke benutzten. Rattle und das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks spielten diese instrumental höchst virtuose Musik mit Präzision und sichtlichem Vergnügen. Freilich wurde hier keine Geschichte wie z. B. in Paul Dukas‘ Vertonung von Goethes Zauberlehrling erzählt, und die genannten wiedererkennbaren Effekte ermüdeten auf Dauer, wo substanzielle musikalische Aussagen fehlten. Das Publikum nahm diese Uraufführung dann auch eher erheitert zur Kenntnis.

Von ganz anderem Kaliber erwies sich naturgemäß Luciano Berios (1925–2003) Coro von 1975–77, neben der berühmteren Sinfonia eines der Hauptwerke des großen Italieners. Das Stück für 40 Sänger und 44 Instrumentalisten verlangt eine exakt festgelegte, gemischte Sitzordnung, so dass jedem Sänger des Chors des Bayerischen Rundfunks (Einstudierung: Peter Dijkstra und Max Hanft) ein bestimmtes Instrument zugeordnet ist, und sich diese bereits lokal sehr kommunikativen Paarungen als echte Duos bald bis ins Tutti erweitern. Dies geht also von solistisch tätigen Einzelstimmen – das Riesenwerk beginnt relativ harmlos wie ein schlichtes Kunstlied mit reiner Klavierbegleitung (sensibel und ausdrucksstark: Lukas Maria Kuen) – über Ensemblegruppen bis hin zur oft in gewaltigen, tatsächlich 40-stimmigen Clustern ausbrechenden Klangtotalen, insbesondere bei den immer wieder eingestreuten Zeilen Venid a ver… („Kommt zu sehen das Blut auf den Straßen“) des chilenischen Dichters Pablo Neruda.

Kontrastierend zur gewaltigen Anklage Nerudas stammen die übrigen Texte („documenti populari“, Berio) aus über den gesamten Globus verteilten Volksdichtungen, allerdings – abgesehen vom Hebräischen – jeweils in die fünf wichtigsten westeuropäischen Sprachen übersetzt. Diese handeln ganz elementar und mit fast ritueller Kraft von Liebe, Arbeit und Bedrohung. Den rituellen Bezug schöpfte Berio nicht zuletzt aus besonderen Techniken musikalischen Zusammenspiels („Klangmaschine“) der zentralafrikanischen Banda Linda – und gerade diese bildeten in der Interpretation Simon Rattles den Kitt, der verhinderte, dass das Ganze auch nur für einen Moment ins Episodische zu zerfallen drohte.

Bei der letzten Münchner Aufführung von „Coro“ – 2017 mit dem MusicÆterna Choir und dem Mahler Chamber Orchestra – hatte Teodor Currentzis ganz auf die Schockwirkung großer Gegensätze vertraut, wohingegen Rattles Sichtweise erfolgreich versuchte, die unterschiedlichen Ebenen zu verbinden – für Berio alles Aspekte menschlicher Existenz. Chor – mit meist hervorragender Textverständlichkeit – und Orchester formten dabei berührende, stimmungsvolle Mischklänge, die sich kontinuierlich transformierten. Ebenso agierten die Chorsolisten klangschön, temperamentvoll, aber emotional nie überhitzt, und die Tutti-Ausbrüche gingen umso mehr unter die Haut. Bei Rattle – der das nun 52-minütige Stück deutlich schneller dirigierte als noch 2010 in Berlin – hatte dann selbst der Schluss (Neruda!) wenig Desolates, eher betroffene Erhabenheit, bei allem Ernst immer noch mit einem Funken Hoffnung. Für die fabelhafte Leistung aller Beteiligten gab es verdient langanhaltenden Beifall. Rattles Fähigkeit, wirklich schwieriges Repertoire dem Publikum ohne Überforderung zu vermitteln, bleibt bewundernswert.

[Martin Blaumeiser, Oktober 2023]