Archiv für den Monat: Juni 2016

„Wie es alle machen“? Oh nein! – Mozarts Da-Ponte-Oper als makellose Interpretation von subtiler Schönheit

Erato, LC 04281; EAN: 8 25646 82306 2

Bekanntermaßen ist die Zahl der Mozart-Operneinspielungen gerade im Bereich der Da-Ponte-Opern äußerst vielfältig, ja man möchte sagen: unüberschaubar. Man denke nur an die diversen Aufnahmen des eingefleischten Mozart-Dirigenten Karl Böhm, sowohl unter dem EMI- und Decca- als auch dem Deutsche Grammophon-Label. Darunter finden sich mindestens jeweils drei Einspielungen und Mitschnitte einer jeden dieser Opern. Selbiges gilt beispielsweise auch in ähnlichem Ausmaß für die Aufnahmen von Sir Georg Solti oder Herbert von Karajan.

Die vorliegende Aufnahme nun, beheimatet unter dem Label Erato (heute ein Unterlabel von Warner Classics) versprüht einen ganz besonderen und einzigartigen Zauber. Es ist der nostalgische Flair einer vermutlich untergegangenen Welt, einer „aurea aetas“, der goldenen Zeit des karajanesken Musiktheaters. Beheimatet ist diese in einer der schaffensfreudigsten Perioden des Stereozeitalters. Es war eine Zeit unsterblicher Dirigenten und vergöttert-umjubelter Sänger, primadonnenhafter Diven und hinreißender, italienischer Tenöre. Außerhalb dieses elitären soziokulturellen Rahmens ist es auch eine Zeit politischer Veränderungen, die Zeit des Brusthaar-Toupets, die Zeit von LSD sowie noch von Led Zeppelin und Pink Floyd.
Wir schreiben das Jahr 1977. Der Frühling ist eingezogen, es ist Mai. Auch um den Palais de la Musique zu Strasbourg beginnt es zu diesem Zeitpunkt rundherum zu blühen, in welchem sich gerade eine herausragende Sängertruppe um den französischen Dirigenten Alain Lombard versammelt hat. Ihr gemeinsames Projekt: Mozarts schillernde Ensemble-Oper „Così fan tutte“.

Die Maori-stämmige Sopranistin Kiri Te Kanawa hatte ihr Platten-Debüt bereits 6 Jahre zuvor mit der kleinen Nebenrolle der Contessa Ceprano in Verdis „Rigoletto“ (EAN: 028941426925) neben Luciano Pavarotti und Joan Sutherland gegeben. Ihre warme, leicht dunkel timbrierte und wandlungsfähige Stimme war es vor allem, die sie zu einer der Lieblingssopranistinnen Sir Georg Soltis machte und für die Rolle der Fiordiligi geradezu prädestinierte. In den jungen Jahren ihrer Karriere verfügte Te Kanawa über ungeahnte lyrische Qualitäten sowie über genügend Flexibilität in den koloristischen Passagen, was für die großen Mozart-Partien nahezu unabdingbar ist – anders als in den mittleren und späten Jahren ihres Schaffens, welche sich durch eine dunklere Nachfärbung ihres Timbres und infolge der verbreiterten und schwereren Stimme auch durch weniger Agilität kennzeichnen. An ihrer Seite steht der glanzvolle und sinnliche Mezzosopran von Frederica von Stade, welche ihr Platten-Debüt gerade einmal zwei Jahre vor dieser Einspielung gab. Bekannt wurde die in New Jersey geborene Mezzosopranistin zumal durch die Interpretation von Mozart- und Rossini-Rollen sowie durch diverse Aufnahmen unter Herbert von Karajan (wie vor allem „Pelléas & Mélisande“ von Claude Debussy; EAN: 5099996672327). In der vorliegenden Aufnahme gestaltet sie die Rolle von Fiordiligis Schwester Dorabella. Interessant ist dabei auch, dass sowohl Kiri Te Kanawa als auch Frederica von Stade ihr gemeinsames US-Bühnendebüt am 30. Juli 1971 in Mozarts „Le Nozze di Figaro“ im Opernhaus Santa Fe in New Mexico begingen, Te Kanawa als Contessa und von Stade in der Rolle des Cherubino. Insofern verwundert es wenig, dass es sich in dieser Aufnahme bei beiden bereits um ein eingespieltes Team handelt.

Beider Stimmen verschmelzen in den Ensemble-Nummern, insbesondere aber in den intimen Duetten, zu einer derart harmonischen Einheit, dass man meinen könnte, es müsse sich dabei um eine einzige Stimme handeln. Phrasierungen und Atempausen sind bis ins letzte wohllautende Sechzehntel exakt aufeinander abgestimmt, Legati, Portamenti und Koloraturen bis ins kleinste Detail ausgearbeitet. Gerade wenn man denken mag, eine so klangschöne Einheit rechtfertige den Verdacht des Langweiligen, ja Emotionslosen, wird man eines Besseren belehrt. Beide Diven gestalten ihre Rollen mit der idealistischen Frische ihrer blühenden Jugendlichkeit und größter Expressivität, denn auch in ihrer vollkommenen Einheit, ihrer geschlossenen Paarung spiegeln sich Kontrast und gegensätzliche Leidenschaften wider. Ein scheinbares Paradox, eine sprichwörtliche Quadratur des Kreises, möchte man meinen. Selten verspürt man eine dermaßen ausdrucksstarke mentale Einheit wie bei Te Kanawa und von Stade. Man höre sich nur die gänsehautverdächtigen Nummern „Ah guarda, sorella“ zu Beginn des ersten Aktes sowie mehr noch das „Ah che tutta in un momento“ am Schluss desselbigen an! Erst da wird einem bewusst, wie Mozart klingen kann. Allein wegen diesen beiden Ausnahme-Sängerinnen würde sich die Anschaffung dieser Aufnahme allemal lohnen, doch des Lobes ist an dieser Stelle bei Weitem noch nicht genug getan.

Als weitere Stars dieser Aufnahme müssen auch der Dirigent und sein Orchester genannt werden. Noch fern den Bewegungen der historischen Aufführungspraxis dirigiert Lombard einen äußerst feinsinnigen und gefühlvollen Mozart. Er lässt die Partitur atmen, gestattet jeder Phrase die Zeit, welche sie braucht, um sich zu entwickeln. Lombard ist der eigentliche Klangmagier dieser Aufnahme, denn mittels seiner kundigen Hände lotet er die filigrane Balance zwischen Sängerkorpus und Instrumentarium aus, wählt jeweils instinktiv immer das angemessene Tempo und gibt den Sängern stets den größtmöglichen Entfaltungsraum und die Sicherheit, um der subtilen Schönheit der Partitur zu größtmöglichem Glanz und Wohllaut zu verhelfen. Große dynamische Bögen werden auf überzeugende Art und Weise gestaltet, von zarten, melancholischen Tönen bis hin zu feurig-leidenschaftlichen Sequenzen, welche mitunter, wenn passend, auch ein komödiantisches Kolorit nicht vermissen lassen. In dem elsässischen Orchestre Philharmonique de Strasbourg hat der Dirigent einen höchst emphatischen und einheitlichen Klangkörper gefunden, der es aufs Beste versteht, besagte Balance mit der nötigen Transparenz und Differenziertheit auszustatten. Auch der engagierte Choeur de l’Opéra du Rhin verdient an dieser Stelle großes Lob.

Von den übrigen Sängern sind noch David Rendalls Ferrando und Teresa Stratas Despina hervor zu heben. David Rendalls Tenor ist von lyrischer Kraft und kerniger Agilität. Technisch weiß er durch ein samtenes Messa di voce, ausdrucksstarke Pianissimi und geschickte Verzierungen zu überzeugen. Aufgrund dieser versierten Eigenschaften ist es nicht allzu verwunderlich, dass Ferrando das Herz Fiordiligis, der Dame seines Wettkonkurrenten, in Null-Komma-Nichts zum Schmelzen bringt. Ein eindrückliches Zeugnis ist in dieser Hinsicht das Duett „Fra gli amplessi“ im zweiten Akt.

Die griechische Sängerin Teresa Stratas vermag mit ihren schauspielerischen Fähigkeiten eine äußerst kokette und komödiantische Despina zu zeichnen. In der Rolle des anstiftenden Naivchens und der Verbündeten Don Alfonsos bringt sie ihren neckischen Soubretten-Sopran zu voller Geltung.

Als nicht unwesentlicher Rest der Sängertruppe um Lombard seien darüberhinaus noch der stattliche Bariton Philippe Huttenlochers in der Rolle des Guglielmo und der voluminöse belgische Bass von Jules Bastin in der Rolle des Don Alfonso gewürdigt.

Das Zusammenspiel all dieser Partien erweckt den Eindruck eines eingespielten und perfekt aufeinander abgestimmten Ensembles, wie man es vielleicht noch am ehesten von Wiener Mozart-Ensembles der Nachkriegszeit um Dirigenten wie Josef Krips in Erinnerung behalten hat. Die großartige Aufnahme-Akustik und Räumlichkeit des Klanges setzt der vorangegangenen Liste des Lobes ein weiteres i-Tüpfelchen auf. Eine Aufnahme, die den Glanz dieses goldenen Zeitalters wieder heraufbeschwört und durch ihren nostalgischen Zauber sowie ihre absolute Einzigartigkeit besticht. Così fan tutte? Mitnichten!

So liegt hier meines Erachtens eine der besten „Così fan tutte“-Darbietungen der Plattengeschichte vor.

[Georg Glas, Juni 2016]

Maximale Vitalität in den Sphären der Transzendenz

Die italienische Meisterpianistin Ottavia Maria Maceratini gab am 26. Juni im von Säulen durchzogenen Gewölbesaal der Mohr-Villa in München-Freimann ein Solo-Recital mit Ludwig van Beethovens ‚Mondschein’-Sonate, den jeweils ersten beiden Balladen von Johannes Brahms und Frédéric Chopin, der Sonatine von Maurice Ravel und der großen Phantasie ‚Guerrero Andino’ von Juan José Chuquisengo, die sie in diesem Jahr in der Zürcher Tonhalle uraufgeführt hatte.

Was für ein Ereignis! Ich bin kein Freund von Schwärmereien, doch hier fällt es mir schwer, einen nüchternen Tonfall anzuschlagen. Ottavia Maria Maceratini, die aus den Marche stammende, bei Lorenzo di Bella, Elisso Virsaladze und Christoph Schlüren ausgebildete Pianistin, soeben 30 Jahre alt geworden, hat zum wiederholten Male in München gespielt, nachdem sie als Solistin mit dem Deutschen Symphonieorchester in der Berliner Philharmonie und bei ihrem Debüt in der Zürcher Tonhalle bemerkenswerte Erfolge feiern konnte. Ich kannte bislang ihre beiden vorzüglichen, bei Aldilà Records erschienenen Solo-CDs, und so bedurfte es keinen großen Zuredens besser informierter Freunde, um sie mir endlich einmal live anzuhören.

Ich möchte es angemessen direkt angehen: Hier tritt eine der beeindruckendsten Musiker-Erscheinungen der jungen Generation vor uns, mit einer spürbaren, respektgebietenden Reife und Selbstbewusstheit, und vollkommen jenseits virtuosen und philosophierendes Beeindrucken-Wollens. Dieser jungen Künstlerin geht es überhaupt nicht um eine Karriere, sie schert sich nicht um das, was fast alle wollen, und sie versucht gar nicht erst, angepasst zu gefallen. Das Adagio von Beethovens Mondschein-Sonate ist in seiner durchlässigen Introspektion ein sehr heikler Einstieg, und sie ließ es so langsam angehen, dass der Kosmos geradezu herausgefordert wurde, mit Mut und Unerschrockenheit, und dabei mit einer sensitiven Gegenwärtigkeit, die Ehrfurcht einflößen kann. Das Finale dann hat das Publikum in ungeheurer Weise aufgeschreckt und erschüttert: was für eine Dichte, geballt dunkle Energie, gebündelte Wildheit. Sie spielt mit einer unglaublichen Kraft aus dem ganzen Körper, aus der Hüfte scheinen alle Klänge direkt übertragen, und egal wie wuchtig es klingt, ist es doch nie gefühllos geschlagen, der Klang wird nicht hart, sondern machtvoll kernig. Danach die beiden Brahms-Balladen, von wunderbarer Wärme und Empfindsamkeit, dabei herrlich klar strukturiert, so ganz organisch zusammenhängend verstanden, und mit einem ‚siebten Sinn’ für die hier so wichtigen tiefen Register. Ganz menschlich durchfühlt, und doch auf Transzendenz gerichtet. Chopin entfaltete eine überwältigende Kraft, vor allem in der g-moll-Ballade, die fast wie aus einem Guss entstand. Das Wunder ist, wie es zugleich aufs feinstrukturell Präziseste erarbeitet ist und doch mitreißend spontan wirkt. Und Ottavia Maria Maceratini ist das Gegenteil von einem Oberstimmen-Häschen! Sie hat stets den ganzen Umfang, die ganze Bandbreite des Tonsatzes im Blick, und selbst die Begleitfiguren sprühen vor Leben und – Wesentlichkeit!

Nicht weniger gelang die Zauberwelt Maurice Ravels, wobei man sich besonders hier eine besseren Flügel gewünscht hätte als das recht bescheidene Hohner-Modell, das kaum ein leises Spektrum zulässt, zumal in einer so halligen Akustik. Aber es sind ja auch die besonderen Herausforderungen, in denen sich wahre Qualität erweisen muss, und zweifellos hat sie eigentlich mehr daraus gemacht als „das Beste“ – sie hat uns völlig vergessen lassen, wie unzulänglich die zur Verfügung stehende Materie war. Dies gilt auch für den gut 20minütigen ‚Guerrero Andino’, den ‚Andenkrieger’ von Juan José Chuquisengo, der sich anschickt, nicht nur der substanziellste Komponist seiner peruanischen Heimat zu sein, sondern der lateinamerikanischen Musik eine neue kompositorische Klasse erschließt, die hoffentlich noch viele Früchte tragen wird. Ohne den geringsten Zweifel dürfen wir annehmen, dass dieses Stück bald ein Klassiker unserer Zeit sein wird. Und die Hypervirtuosität des Klaviersatzes ist in diesem Fall nicht abschreckend, sondern in völliger Übereinstimmung mit dem inneren Reichtum des Komponisten und dem weiten Spektrum instrumentalen Ausdrucks, der einfach notwendig ist, um diesen Reichtum einzufangen. Als Zugaben folgten danach noch Chopins Nocturne Opus 48. Nr. 2 in fis-Moll und Schumanns Arabeske, ein bisschen sehr geschwind, aber faszinierend organisch erarbeitet. Glücklich, wer hier dabei sein konnte. Und wir beobachten mit großer Spannung, wohin sich Ottavia Maria Maceratini noch bewegen und entwickeln wird. Schon jetzt ist sie ein leuchtendes Beispiel für junge Musiker, die Orientierung suchen in einer Klassikwelt, die immer mehr zum Business der Stars und Exoten degeneriert ist. Sie ist auf einem Weg, der Musik als spirituelle Erfahrung möglich macht, ohne dass dies irgendwie den Lustfaktor beeinträchtigen würde – tatsächlich ein Wunder: maximale Vitalität mitzunehmen in die Sphären der Transzendenz.

[Ernst Richter, Juni 2016]

Blechbläser im Glück!

Robin Walker
Orchestral Music

Great Rock is Dead – Funeral March
The Stone Maker – Symphonic Poem
The Stone King – Symphonic Poem
Odysseus on Ogygia – Prelude

Novaya Rossiya Smphony Orchestra
Leitung: Alexander Walker

 

Toccata Classics, TOCC 0283; EAN: 5 060113 442833

Freunde an Dominanz der Blechblasabteilung im orchestralen Gefüge werden sich hier rundum wohlfühlen!

Robin Walker, geboren 1953 in York, U.K., studierte laut Selbstauskunft jahrelang die Musik Wagners. Das war und ist immer eine gute Idee!
Wagner bindet das Blech in ein Gespinst sich fortwährend wandelnder Entwicklung ein, wo es nur an wenigen, exponierten Stellen dominiert. Alle anderen Passagen gestalten die Streicher und Holzbläser, die mit mehr Farben zu zaubern vermögen – und dann dient das Blech nur – oder schweigt.

Robin Walker schlägt das Buch sozusagen von hinten auf: was wäre, spräche primär das Blech? Sicher, auch Streicher und Holzbläser dürften teilnehmen, aber die Hauptlast müssten die Ritter (und Ritterinnen) des Messings stemmen?

Die vier Stücke der Portrait-CD entstanden im Zeitraum von 1995 bis 2011. Erstaunlich, wie Walker in all den Jahren seiner gewählten Klangsprache treu bleibt. Diese, tief verwurzelt in spätromantischem Gestus, nie sentimental oder pastoral, macht es dem Hörer leicht – warum auch nicht? Das Schwere ist ja nicht per se das Bessere!

Entgegen der Bezeichnung „Symphonische Dichtung“ folgen die Stücke keinem literarischen Vorbild, sondern stets ausschließlich einer ideellen Konzeption des Komponisten. Titel wie „Funeral March“ und „Prelude“ stellen nur Ausgangspunkte der Inspiration dar, konzeptionell und konstitutiv wirken beide nicht verschieden.
Walker spricht von organisch gewachsenem Material, das konstruktiv gefasst wird. Dieser Vorgabe nachzufolgen, stellt eine Herausforderung dar.
Mächtige, nie massive Äußerungen im Blech, nein: hervorragend, wie Walker es erreicht, diese klangmächtigste Sektion des Orchesters transparent und sogar, an einigen Stellen, anrührend schön(!) in Szene zu setzen. Er öffnet seinen Bläsern weiteste Räume zur Entfaltung – ein großes Tor, alle Farben, um Geschicklichkeit, Sicherheit und Schönheit des Tones – und vor allem: Kraft – zu offerieren.
Allein: die dramaturgische Gleichartigkeit der Stücke, das Außerachtlassen weiterer verfügbaren Orchesterfarben, das permanente Auf und Ab, das nahezu nur vom Blech vorgetragen wird, das wenig Bezwingende der Form – lässt den Hörer am Ende eher erschöpft als erfrischt zurück. Die Stücke entbehren bei allem Können und Wollen des unverwechselbaren Charakters.

Das Novaya Rossiya Orchestra bereitet Freude: die Blechbläser haben hörbar Spaß daran, so richtig klotzen zu können. Alexander Walker (nicht verwandt) kontrolliert sicher und lässt seinen Musikern die Freuden, die diese voll auskosten.
Der Tontechnik großen Respekt, alle Opulenz durchsichtig und in der Wucht klar abzubilden.
Mein Rat: beim Hören der CD vorher alle Nachbarn warnen und die Fundamente des Hauses prüfen – so feurig in der Tiefe erlebt man Bass-Posaunen sonst kaum! Jericho ante portas!

Bei weitergehendem Interesse: www.robinwalker.org

[Stefan Reik, Juni 2016]

Halbgar: Trios des 19. Jahrhunderts

bmn 20162; EAN: 7 629999 019119

 

Das Smetana Trio, bestehend aus Jitka Čechová am Klavier, der Violinistin Jiři Vodička und Jan Páleníček am Violoncello, spielte im März 2016 im Hans Huber-Saal in Basel ein Konzert mit Klaviertrios von Anton Reicha, Felix Mendelssohn Bartholdy und Bedřich Smetana. Für bmn wurde dieses aufgezeichnet und erschien nun in der Reihe „Chamber Music Live“ auf CD und Blue-Ray, wobei auf der CD das Mendelssohn-Trio nicht enthalten ist.

Sein zweiundachtzigjähriges Bestehen kann das Smetana Trio mittlerweile feiern, 1934 wurde es vom Pianisten und Vater des heutigen Cellisten Josef Páleníček gegründet. Zeitweise auch als „Tschechisches Trio“ bekannt, führt es seit 1978 wieder den ursprünglichen Namen. Im März diesen Jahres spielte das Smetana Trio ein Konzert in Basel, in welchem neben dem Trio op. 15 g-Moll seines Namensgebers auch die 1800 entstandene Triosonate C-Dur op. 47 von Anton Reicha und das Trio op. 49 d-Moll von Felix Mendelssohn Bartholdy erklangen. Nun erschien die Liveaufnahme in Bild und Ton bei bmn.

Während Smetana und Mendelssohn Bartholdy große Bekanntheit gesichert ist, bleibt Anton Reicha nach wie vor an der Peripherie der öffentlichen Wahrnehmung; Hin und wieder tauchen einmal Einspielungen auf, aber meist ohne große Resonanz, und auf den Konzertprogrammen ist er beinahe nie zu finden. Warum, ist ein absolutes Rätsel, war der 1770 in Prag geborene Komponist (im Tschechischen heißt er Antonín Rejcha) doch sein Leben lang von großen Namen umgeben, war Schüler von Salieri und Albrechtsberger, langjähriger Freund von Beethoven und Lehrer von Liszt, Franck, Gounod, Berlioz und anderen Größen. Sein umfangreiches Œuvre umfasst Symphonien, Konzerte, eine Messe, ein Te Deum, eine Oper „Leonore“, Klaviermusik und unzählige Kammermusikwerke, von denen viele für reine oder gemischte Bläserbesetzung geschrieben sind – schließlich war er selbst Flötist. („Musique pour célébrer la mémoire des grands hommes“ ist ein Werk mit interessanter Besetzung, hier spielt ein großes Bläserorchester in größtenteils sechsfacher Besetzung unterstützt von drei Kontrabässen, sechs Trommeln und – Tschaikowsky lässt grüßen – vier kleinen Feldkanonen.)

In der Darbietung des Smetana Trios wirkt der lebendige und seine Frische nie verlierende Reicha jedoch recht kurzatmig und strukturlos. Dies liegt wohl hauptsächlich daran, dass Phrasierung beinahe überhaupt nicht zu existieren scheint und die Dynamik nur stufenweise und nicht in einem flexiblen Kontinuum variiert. Somit wirkt das ganze Trio recht steril und ohne belebende Menschlichkeit, nur die Noten bleiben.

In der Musik von Smetana fühlen sich die Musiker – der Name verrät es bereits – mehr zu Hause. Im Hauptsatz ist alles noch ziemlich statisch und gleichförmig, doch in den beiden folgenden Sätzen wachen die Musiker auf und demonstrieren virtuos-präzises Spiel mit einem beträchtlich größeren Spektrum an Klangschattierungen und Dynamikabstufungen als bei Reicha. Hier macht das Hören endlich wieder Spaß, manche Phrasierung wird erkennbar. Gerade in den schnellen Tempi kann das Smetana Trio seine Vorzüge präsentieren.

Die beiden Streicher Jiři Vodička und Jan Páleníček haben einen markigen Ton von deutlicher Präsenz. Jiři Vodička nutzt diesen für rasante Violin-Höhenflüge und ein akzentuiertes Spiel, das auch die Härte nicht scheut. Etwas lyrischer geht Jan Páleníček am Cello an die Musik heran, er kann sich gegebenenfalls auch einmal im Hintergrund halten, ebenso auch fast geigenhaft singende hohe Töne anstimmen. An den Tasten zeigt Jitka Čechová ein klares und durchsichtig-perlendes Spiel mit glasklarem Anschlag, der das Non-Legato bevorzugt – gerade bei ihr wäre allerdings ein intensiveres Gespür für Dynamik und für die musikalische Linie wünschenswert, das Hören auf ihre Kollegen würde da schon viel Gutes bringen.

So hinterlässt diese Platte leider nur einen halbgaren Eindruck und ich werde das Gefühl nicht los, den Musikern gehe es in erster Linie nur um pefektes und virtuoses Spiel, um die reine Handwerklichkeit, und nicht um musikalisches Arbeiten, um Freude an und Liebe zu der großartigen Musik dieser exzellenten Werke. Ob es an mangelnder Probenzeit lag oder an einer unvollständigen, nur auf die Technik bezogenen Arbeitsweise, ist schwerlich zu sagen. Die Musiker können ja durchaus, dies haben sie an einigen Stellen (vor allem am Beginn des zweiten Satzes von Smetanas Trio) nachdrücklich bewiesen – sie sollten es nur auch bedingungsloser wollen.

[Oliver Fraenzke, Juni 2016]

 

Voll und ganz ein Musiker des 20. Jahrhunderts

Neos 10945; EAN: 4 260063 109454

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Kammerensemble-Werke finden sich auf der Portrait-CD von Silvestre Revueltas, gespielt vom Ensemble KNM Berlin unter Roland Kluttig: Caminando, Ocho por Radio, Planos, Two Little Serious Pieces, Toccata (sin fuga), Tres Sonetos, „No sé por que piensas tú…“, Homanaje a Federico García Lorca und Sensemayá des mexikanischen Komponisten sind hier zu hören. Rezitator  in den Sonetos und Bariton in „No sé por que piensas tú…“ ist Gabriel Urrutia.

Geboren am letzten Tag des 19. Jahrhunderts, war Silvestre Revueltas anscheinend direkt dazu vorbestimmt, zusammen mit dem kurz darauf geborenen Carlos Chávez Ramírez das 20. Jahrhundert in Mexiko musikalisch einzuläuten, und genau dies machte sich der bereits 1940 (vermutlich an einer Alkoholvergiftung) verstorbene Komponist, Violinist und Dirigent zur Lebensaufgabe. Die meisten seiner Werke entstanden erst in den 1930er Jahren, jedoch findet sich hier ein reiches Oeuvre vielseitiger Musik. Eine bunte Auswahl der Jahre 1933 bis 1940 an Ensemblewerken präsentiert vorliegende CD aus dem Hause Neos. Es ist eigentlich unmöglich, die Musik auf einen gemeinsamen Nenner herunterzubrechen, so divergierend geben sich die einzelnen Werke. Manche sind von mexikanischem Lebensgefühl durchzogen und bilden dieses auf prägnante Weise ab (Caminando, Ocho por Radio), andere weisen eine kubistisch-modernistische Struktur voller Dissonanzen auf (Planos), dann gibt es dicht polyphone (First Little Serious Piece) wie auch ganz schlicht gebaute (Second Little Serious Piece) Stücke und ebenso solche, die diese Stile additiv reihen (Toccata [sin fuga]). Alle haben sie eine absolute Präsenz gemeinsam, einen alles durchwehenden wachen Geist und aufrüttelnde rhythmische Prägnanz. Trotz aller Verschiedenheiten trägt aber doch alles die unverkennbare Handschrift Revueltas‘. Ein typisches Merkmal wird besonders deutlich in Homenaje a Federico García Lorca bemerkbar, nämlich das stetige Insistieren auf dem einmal gefundenen musikalischen Gedanken, der sich als Melodiefetzen oder Bassmodell überall durchzieht und in verschiedenstem Licht aus immer neuen Perspektiven beleuchtet wird. Amüsant erweist sich besonders der dritte Satz, Son (Ton), der immer wieder ein Ende vortäuscht und dann doch weitergeht. Modernes Fortschrittsdenken und nationale Identifikation sind gleichermaßen Elemente des Stils von Silvestre Revueltas. Eine große Affinität wies er zu Lyrik auf, die er immer wieder als Anregung zu Vertonungen nutzte, wie hier durch die rezitierten Tres Sonetos und „No sé por que piensas tú…“ vertreten.

Das Ensemble KNM Berlin unter Roland Kluttig traf eine interessante und vielgestalte Auswahl an Werken des Mexikaners, die sein Schaffensspektrum recht repräsentativ abzubilden vermag. Das Ensemble spielt mit großer Anteilnahme und sichtlicher Freude an der Musik, alles ist rhythmisch exakt und die Musiker vermögen dank der trennscharfen Instrumentation einen passend heterogenen Klang zu erzeugen, der auch in den polyphonsten Passagen durchhörbar bleibt. Der Klang zeichnet sich durch eine Schärfe aus, die stets etwas Bestimmtes und Selbstbewusstes ausstrahlt. Teils fehlt etwas der durchlaufende Bogen durch die Werke, wobei hier meines Erachtens fraglich ist, inwieweit dieser überhaupt realisierbar ist bei solch brüchigen Kontrasten wie in der Musik Silvestre Revueltas‘. Wenig einzupassen vermag sich die Stimme von Gabriel Urrutia, die bei den Tres Sonetos zu sehr im „Sing-Sang“ befindlich ist (vor allem im ersten Soneto, „Vuelvo a ti, soledad, agua vacía“), zu dominant im Vordergrund steht und in „No sé por que piensas tú…“ einen allzu prätentiös-opernhaften Ton anstimmt, anstatt sich dem begleitenden Ensemble und auch dem Lied an sich angemessen etwas mehr zurückzuhalten. Hingegen kann die instrumentale Leistung des KNM Berlin wesentlich mehr hervorstechen und der leider nach wie vor viel zu unbekannten Musik dieses großartigen Komponisten durchaus gerecht werden.

[Oliver Fraenzke, Juni 2016]

Schöner als eine Gitarre!

A Tribute To The Mighty Handful
The Russian Guitar Quartet

César Cui (1835-1918)
Cherkess Dances
Cossack Dances

Modest Mussorsky (1839-1881)
Potpourri from „Boris Godunov“

Mily Balakirev (1836-1910)
Mazurka No. 3
Polka
Balakireviana

Alexander Borodin  (1833-1887)
Polovetsian Dances

Nikolay Rimsky-Korsakov (1844-1908)
Sheherazade In Spain

Delos; EAN: 0 13491 35182 7

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Natürlich blühte auch in Russland die Musik für Gitarre, besonders im 19. Jahrhundert. Und die sogenannte Russische Gitarre hatte nicht wie die „normale“ klassische spanische Gitarre sechs Saiten, sondern sieben, oder sogar noch mehrere Basssaiten wie etwa die Wiener Schrammel-Gitarre.

So  spielt auf dieser CD mit Adaptionen ursprünglich für Klavier oder für Orchester geschriebener Musik das Russische Gitarren-Quartett, bestehend aus den Herren Dan Caraway, Alexej Stepanov, Vladimir Sumin und Oleg Timofeyev, zwei Gitarren mit Bass-Saiten und dazu zwei Quart-Gitarren. Und der Musik des „Mächtigen Häufleins“ ist diese CD gewidmet, den fünf prominenten russischen Komponisten, die sich 1862 in Sankt Petersburg zusammenschlossen, um eine neue nationalrussische Musik zu schaffen.

Alle Stücke sind Bearbeitungen, teils von Oleg Timofeyev, teils von Alexej Stepanov, teils auch von Victor Sobolenko (http://vk.com/id4007255), über den sich das Booklet ausschweigt. Alles über die Kompositionen und über das Russische Gitarren-Quartett kann man aber gut informierend nachlesen.

Das Besondere an dieser CD ist nun allerdings vor allem die Art und Weise, wie die vier diese Musik zum Klingen bringen. Dass alle Spieler eben wissen, was eine Melodie ist, und wie man sie auf der Gitarre spielt, dass sie das eben mit Gefühl und enormer Musikalität tun, wobei die Rhythmik überhaupt nicht zu kurz kommt, das ist etwas ganz Besonderes. Und macht das Zuhören zu einem – leider bei vielen Gitarren-CDs so gar nicht eintretenden – Genuss (siehe meine Besprechung des Gitarren-Quartetts „Gala Night“ hier bei The-New-Listener vor einiger Zeit).

Nun denn, diese vier Herren lassen die Stücke des „Mächtigen Häufleins“ so schön und gelassen erklingen – fernab von jeder technischen Selbstdarstellung oder Schnelligkeits-Vergötterung –, dass die Musik erscheint, als wäre sie für die vier Gitarren original komponiert. Das Zusammenspiel ist fabelhaft, der Klang der Instrumente auch, so dass man getrost sagen kann: Was ist schöner als eine Gitarre? Vier Gitarren!

Natürlich haben sich die Musiker über ihr Repertoire Gedanken gemacht und hinreißende Stücke ausgewählt wie zum Beispiel die Tänze von César Cui oder die berühmten Polowetzer Tänze von Alexander Borodin aus der Oper „Fürst Igor“, aber auch alle anderen Bearbeitungen klingen wunderschön und hinterlassen nur einen Wunsch: den nach mehr.

[Ulrich Hermann, Juni 2016]

Im Kreise der Ahnen – „The Listener“ wieder erreichbar

Als ich im Juli 2015 die Rezensionsplattform www.the-new-listener.de gründete, errichtete ich sie nicht komplett aus dem Nichts. Die Ursprünge, auf die ich aufbaute, gehen bereits auf das Jahr 2003 zurück, als Dr. Rainer Aschemeier seinen Blog „www.the-listener.de“ ins Leben rief. Elf Jahre lang führte er The Listener mit größter Hinwendung und Liebe zur Musik, bis er schließlich im Dezember 2014 aus beruflichen Gründen die Pforten schließen musste. Dr. Rainer Aschemeier erhielt eine Stelle als Pressesprecher in der Musikbranche, was mit der Aufgabe eines Rezensenten unvereinbar ist, schließlich könnten Gerüchte der Befangenheit entstehen, wenn er Erscheinungen des eigenen Labels lobt oder welche der „Konkurrenz“ kritisiert. Ich selber lernte den Blog erst während der letzten Monate seiner aktiven Zeit kennen und war sichtlich betrübt, als er kurz darauf schon schliessen musste. Viele hofften hiernach, jemand würde The Listener wieder ins Leben rufen und die lange Arbeit weiterführen, doch wusste niemand, wer dies denn machen solle. Inzwischen war die ehemalige Listener-Seite bereits nicht mehr aufrufbar und die Klänge verhallten.

Im Sommer 2015 schließlich schloss ich den Plan, nachdem ich bereits einige Erfahrungen als Rezensent für verschiedene Plattformen gesammelt hatte, es selbst in die Hand zu nehmen und den Blog neu zu eröffnen – die Idee von „The New Listener“ war geboren. Über mehrer Ecken erhielt ich Kontakt zu Dr. Rainer Aschemeier, um seine Erlaubnis zur Fortführung zu erbitten, die er mir gerne erteilte. Die technische Realisierung gewährte mir der Popularmusiker Julius Reich, der neben einer ausgeprägten musikalischen und lyrischen auch eine technische Ader besitzt und kurzerhand die Programmierung übernahm. Am 28. Juli 2015 erschienen die ersten beiden Rezension auf www.the-new-listener.de. Die Werte von The Listener wurden übernommen: Kritische Ausführlichkeit, Fairness ohne „Erkaufen guter Bewertungen“ und Genauigkeit des Hörens sind nur drei der zentralen Leitbilder für The New Listener, an die ich mich stets halte. Mittlerweile gibt es sogar eine recht neue Facebookseite für The New Listener, auf welcher über alle neuen Publikationen informiert wird.

Doch nach wie vor blieb die Seite, ohne die es The New Listener in dieser Form sicherlich nicht geben würde, unerreichbar, die URL lief ins Leere. Umso mehr freudig überraschte es mich, als ich vor einigen Tagen erfuhr, dass aus ungeklärten Gründen der Link zu „www.the-listener.de“ wieder funktioniert. Alle Rezensionen aus 11 Jahren sind wieder abrufbar und laden zum Erforschen und Entdecken ein.
So ist es meine wärmste Empfehlung, auch einmal in die „Ahnen von The New Listener“ einzutauchen, dabei informative Texte zu erhalten über Veröffentlichungen und Konzerte von 2003 bis 2014 ebenso wie über zu Unrecht vernachlässigte Komponisten. Es ist wahrlich lehrreich und ich konnte viele Erfahrungen sammeln in den letzten Tagen, in welchen ich etliche Artikel studierte.

www.the-listener.de

Umso mehr Anreiz ist es natürlich auch für mich, wo ich nun wieder vollen Zugriff auf die Ursprünge habe, The New Listener noch weiter zu entwickeln und auszubauen, die Texte noch präziser zu formulieren und immer zu lauschen und zu lernen – denn die Reise zur Musik endet nie. Und auf The New Listener wird sie definitiv weitergeführt!

[Oliver Fraenzke, Juni 2016]

Abfolgen wechselnder Zustände

Samuel Adler
Symphony No. 6
Concerto for Cello and Orchestra
Drifting on Winds and Currents

Royal Scottish National Orchestra
Maximilian Hornung, Cello
Dirigent: José Serebrier

Linn Records (2015) CKD 545
6 91062 05452 2

 September 2015, Royal National Orchestra Centre, Glasgow

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Der amerikanische Komponist Samuel Hans Adler wird hierzulande kaum bekannt sein. Geboren 1928 in Mannheim, gelang der Familie 1939 die Übersiedlung in die USA – unter Umständen, die schrecklich und wechselvoll waren. Dazu finden Interessierte ein bewegendes Gespräch mit Adler auf Youtube.

In den USA angekommen, erfuhr er eine ausführliche musikalische Ausbildung. Seine Lehrer waren unter anderen Walter Piston, Paul Hindemith, Aaron Copland und Serge Koussevitzky.

Er lehrte von 1997 bis 2014 an der Juilliard School. Das soll nur eine kleine Ahnung vermitteln von all seinen Tätigkeiten und Verpflichtungen. Neben diesen ist er bis heute ein produktiver Komponist, orchestral, kammermusikalisch und vokal. Über 400 Werke wurden bislang veröffentlicht.

Die vorliegende Einspielung umfasst drei seiner Werke, zuerst die dreisätzige sechste Sinfonie aus den 1980er Jahren und das Cello-Konzert.
Samuel Adler instrumentiert vorbildlich durchhörbar, dabei Polyphones meidend. Trotz massiver Ausbrüche immer luzide und tonal basiert.

Die Musik tritt unmittelbar auf! Große Gesten eröffnen die Sinfonie – heftige Akkorde im Blech, pulsierend vom Schlagwerk getragen. Alternierend eingeschoben werden Passagen, die Ruhepole bilden. Tatsächlich wirken die mosaikhaft wechselnden Abfolgen von Erregungen und beruhigenden Abschnitten auf Dauer eher ermüdend, denn es bildet sich keine mitvollziehbare Architektur, ein durchgehender Spannungsbogen fehlt, nichts zwingend Zusammenhängendes. Sequenzen von interessanten und hörenswerten Momenten, die willkürlich wirken. Diese Beliebigkeit ermattet die geweckte Gespanntheit.
Ein Bogen: vom Beginn zum Schluss, mit klarer musikalischer Argumentation, die sinnhaft das Erste mit dem Letzten verbindet – fehlt.

Gleiches gilt auch für das Cello-Konzert, das mit großer Bravour, Engagement und Detailfreude von Maximilian Hornung vorgetragen wird.

Das letzte Stück, die knapp neunminütige Skizze für Orchester “Drifting on Winds and Currents“ – verläuft ebenso.

In Adlers Musik klingen Vorbilder nach: seine Lehrer. Und sein Kollege von der Juilliard School: Peter Mennin (1923-1983), dessen Energie und Beherrschung der sinfonischen Form in der US-amerikanischen Musik unübertroffen sind.

Großartig: die Leistung des Orchesters, die gelungene Tontechnik. Und das, wie so oft, umwerfende Dirigat von José Serebrier, der alles gibt, dieser Musik den funkelnden Mantel umzuwerfen, dessen sie bedarf.

[Stefan Reik, Juni 2016]

Lieder zweier Unbekannter

Cornelia Hübsch, Sopran
Charles Spencer, Klavier

Erich Wolfgang Korngold (1897-1957)
Unvergänglichkeit op. 27

Karl Goldmark (1830-1915)
12 Gesänge op. 18
4 Lieder op. 21
4 Lieder op. 34

Capriccio 3004
8 45221 03004 3

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Erich Wolfgang Korngold ist vor allem durch seine Oper „Die tote Stadt“ bekannt geworden. Als jüdischer Komponist musste er in die USA emigrieren und hatte dort große Erfolge als Komponist von Film-Musik. Seine Lieder op. 27 mit dem Titel „Unvergänglichkeit“ sind Teil eines Vokalœuvres, das neben den anderen Kompositionen durchaus seinen Raum einnimmt. Die Texte stammen von einer gewissen Eleonore van der Straten-Sternberg und sind für einen heutigen Hörer eher schwer erträglich, mögen aber damals durchaus zu Vertonungen angeregt haben.

Die Lieder von Karl Goldmark gehören einer anderen Zeit und natürlich auch einem anderen Stil an. Sie hören sich teilweise an wie in Schuberts Nachfolge, ohne sonderlich epigonal zu sein, und sind durchaus eine Bereicherung  des Liedrepertoires.

Allerdings haftet dieser CD – wie vielen anderen, wenn es um Gesang, speziell um Kunstlieder geht – ein erschreckendes Manko an: Man versteht von den gesungenen Texten kein Wort. Nun fehlen auch im beiliegenden „Booklet“, wenn man die beiden einliegenden Seiten überhaupt als solches bezeichnen möchte, sowohl etwas Biographisches über die beiden Tondichter als auch die vertonten Texte. Ein Nachteil, dem die beiden Musiker, Cornelia Hübsch, Sopran und ihr Begleiter am Klavier, Charles Spencer – er wenigstens kein Unbekannter –, zum Opfer fallen, denn das sollte bei einem heutigen vernünftigen CD-Label doch eine Selbstverständlichkeit sein, dass das Booklet über die wichtigsten Inhalte Auskunft gibt.

So bleibt wieder einmal zu beklagen, dass der heutige Gesangsunterricht eben nur Wert zu legen scheint auf die Stimme und ihre Größe bzw. auf das Timbre, dass aber Textgehalt und Wortverständlichkeit völlig zu kurz kommen, was bei dieser CD doppelt ins Gewicht fällt. (Wie gut, dass man wenigstens im Internet die Texte teilweise nachlesen kann, denn in Goldmarks Fall kommen sie wenigstens bei op. 21 vom schottischen Dichter Robert Burns [1759-1796], immerhin!)

Dabei hat doch Hans Gál (1890-1987) in seinem Buch „Franz Schubert oder die Melodie“ so wunderbar beschrieben, was einen wirklich guten Liedvortrag ausmacht: „…und man hat das Recht, bei der Erwägung einer solchen Frage an den vornehmsten Typ eines Interpreten, eines Hörers und an die vollkommenste Wortdeutlichkeit zu denken – , so wird für ihn eine Meistervertonung eines Gedichts von höchster Vollendung ein Erlebnis sein wie kein anderes.“ (S. 86)

Davon ist nun bei dieser CD – wie bei vielen anderen auch, wenn es um den heutigen Liedgesang geht – nicht einmal die Andeutung eines Anscheins zu vernehmen.

[Ulrich Herman Mai 2016]

Variationen über ein Thema – Jesús Villa-Rojo

Die deutsche Erstveröffentlichung des Textes „Variationen über ein Thema“ des spanischen Komponisten Jesús Villa-Rojo anlässlich des Konzerts und Komponistenportraits am 16. Juni 2016 mit dem Cuarteto Quiroga im Salón de Actos des „Instituto Cervantes“ in der Alfons-Goppel-Straße 7.  Mit freundlicher Genehmigung.
[Weitere Informationen]

Die Krise jenes tonalen Systems, dessen sich unsere Komponisten während vieler Jahrhunderte bedient haben, und vielleicht eine Art von Übersättigung damit, zeitigte Ende des 19. Jahrhunderts Zeichen der Ermüdung. Seine Dauerhaftigkeit in der kompositorischen Vorstellung als schöpferisches Element eines ästhetischen, künstlerischen und musikalischen Gedankens hatte es ermöglicht, dass die Organisationsmaterialien der Partitur als Synthese der Ideen die bewunderungswürdigsten Schöpfungen der Menschheit hervorbrachte und die westliche Welt mit herrlicher und herausragender Musik erfüllte.

Sicherlich hat das elatische Wesen dieses Systems seine vollständige Erschöpfung fast verunmöglicht, obwohl die an es herangebrachten Qualitätsansprüche und Interessen mittel- oder langfristig für die Notwendigkeit von Reformen verantwortlich zeichneten.

Diese rein künstlerische und kreative Tatsache begann sich zuerst in den technischen Verfahren bemerkbar zu machen. Die Erweiterungen von Tonalität und Konsonanzempfinden begannen, diese aufzuweichen, und stellten schließlich das Gleichgewicht in Frage, das einst so wundervolle Wirkungen hervorgebracht hatte. Denn nun machten sich antithetische Kräfte bemerkbar, die den natürlichen Ausdruck der Verfahren verschwimmen ließen. Die Zunahme der Lust an größeren Spannungen zum Nachteil der Freude an der Sanftheit und Ruhe, die man vorher sich gegönnt hatte, eroberte sich nach und nach die Bühne.

Die gesellschaftlichen Bewegungen am Ende des 19. Jahrhunderts wurden immer fordernder und vermischten sich mit künstlerischen und kulturellen Bewegungen, die –von der nicht mehr einzudämmenden industriellen Revolution angeführt – ob ihrer Mechanismen aller Welt die zunehmende Verdinglichung aufzwangen. Alles suchte danach, die neuen Produktionsmittel (letztendlich original und kreativ!) einzubeziehen. Die Welt von Schöpfung und Produktion trat in eine Phase nur schwer zu kontrollierender Evolution ein. Verständlich, dass die Welt der Kultur sich nicht gerade empfänglich für das zeigte, was sich da ankündigte. Hatte sie doch so lange Jahre in einer selbstzufriedenen Gesellschaft gelebt, auf dem riesigen Erbe von großen Männern einst erbaut, und es fiel ihr schwer, diese neue Welt zu verstehen. Doch die kulturelle Zukunft, und die der Musik im besonderen, blieb nicht unberührt von den Erfindungen der Zeit. Wenn auch oft zweifelhaft und wenig kohärent, konnte John Cage doch später darauf hinweisen: „Der klangorganisative Verstand bedient sich unterschiedslos des Klanges wie des Geräusches, der Stille wie der instrumentalen Schwingungen, mechanisch-elektrisch, perkussiv…“ Der Organisationsprozess kann sich aleatorisch gestalten, mit dem Zufall arbeiten – wie so oft bei Cage –, er kann sich unterschiedliche Varianten bei jeder Aufführung vorstellen oder konventionelle Darstellungsarten benutzen, die unvorhergesehene Resultate zeitigen, legt man die traditionellen Codes der musikalischen Notation zugrunde. Für Cage gehörte dies alles schon der Vergangenheit an, und er bediente sich gleichermaßen einer strikt traditionellen Symbolik, die auch Zeichen und Grapheme einschloss, die nie vorher benutzt worden waren, wie Texten, mit denen er Einfluss auf das interpretative Verhalten oder ganz einfach auf die Beschaffenheit der Instrumente nahm.

Der Idee der Konsonanz in ihrer sinnlichen Verankerung, welche die ästhetischen Prozesse zu polyphoner wie harmonischer Vollendung geführt hatte, zur bewundernswerten westlichen, mit keiner anderen damals wie heute vergleichbaren musikalischen Kultur, konnte sich unmöglich materialiter auflösen, konzeptionell hingegen schon. Deshalb war es die Tonalität, die harmonische Struktur, welche zuerst betroffen wurde und den neuen Varianten den Weg freimachte. Hatte die Konsonanz als Garant unitonaler Lösungen der ästhetischen und klanglichen Evolution einen durchgehenden Zusammenhang ermöglicht, so eröffneten sich nun über sie hinaus polytonale oder multitonale Lösungen.

Die ersten Veränderungen manifestierten sich aufgrund dieser neuen Strukturen. Sie behielten also noch immer ihre historische Zweckmäßigkeit, wurden gar oft auf ihre elementare technische Basis hin ausgerichtet, und es konnten so – vormals undenkbar – eine oder mehrere andere Tonalitäten miteinander kombiniert werden. Dieses Streben nach Erneuerung griff auch auf die Rhythmik über. Man kombinierte nun auch verstärkt binäre mit ternären Figuren, erschloss damit eine ganz neue Ära und ermöglichte eine enorme Vielfalt erweiterter Möglichkeiten.

In dieser kreativen Dynamik verschmolzen Techniken und neue Fragestellungen zu dem, was man vielleicht als Atonalität bezeichnen könnte. Mit ihr wird kein System benannt, das ein klaren Bruch mit der Vergangenheit anzeigt oder gar einen originären, systematischen Neubeginn. Was die harmonisch-rhythmischen Strukturen an Neuem boten, fand zunächst kaum ein Echo im Instrumentalen oder Interpretatorischen. Im Allgemeinen veränderten sie kaum die individuelle Instrumentaltechnik. Wohl wurde von Fall zu Fall das eine oder andere mehr oder weniger kuriose neue Instrument akzeptiert, wie im Falle der asiatischen oder afrikanischen Instrumente, die mehr Farbe und Rhythmus in den Orchesterklang hinein brachten, und es gab auch einige Neuerungen durch Komponisten wie Mahler, Bartók, Stravinsky u. a. Stravinsky war es denn auch, dem die orginiellste Erweiterung mit seinem Le sacre du printemps zu verdanken ist, dem wohl wichtigsten Werk auf der Suche nach einem neuen Instrumentalklang.

„Das Zusammenleben der Kulturen seit der Pariser Weltausstellung 1889, durch die eine Periode mit repräsentativen Darbietungen außereuropäischer Musiktradition angestoßen wurde, veränderte dank der Integration von bis dato im Westen unbekannten Klängen nachhaltig den instrumentalen Wortschatz.“

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Edgard Varèse: „Ionisation“. Ed. Cofrane Music, Nueva York

Die Entwicklung von Industrie und Technik hat die Produktion zum Ziel und provoziert oft durch reinen Zufall neue Apparate und Maschinen, von denen man sich das ein oder andere Element auch als Bereicherung für den damaligen musikalischen Klang vorstellen konnte. Neben vielen unauffälligen Neuerungen war es vor allem der italienische Futurist Luigi Russolo, der die Konstruktion von Maschineninstrumenten vorantrieb. Von der Industrie ausgehend begann er, einen der Idee des Orchesters analogen, artifiziellen Klangkörper zu schaffen. Er nannte diesen die intonarumori, und die konkreten Bezeichnungen der Instrumente lauteten frusciatori, graciadatori, gorgoliatori, ronzatori etc.

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Luigi Russolo und Ugo Piatti mit ihren “intonarumori”

Das Amalgam von Alt und Neu, und besonders die Impulse aus der Elektronik, zeitigten viele neue Effekte. Die magnetophonische Aufnahme von Klängen und Geräuschen ermöglichte eine konzeptionelle und technische Neubestimmung und die daraus resultierende musique concrète. Ihre wissenschaftlichen Mittel ließen die Schöpfungen von Luigi Russolo und seiner intonarumori schnell weit hinter sich.

„Es ist gut möglich, dass die wissenschaftlichen Ansprüche des Musikers nur den zweiten Platz hinter seinen kreativen Interessen einnahmen. Er suchte nach direkter Mitteilung, auch wenn die musikalischen Mittel ihm dies nicht immer leicht machten.“

Die Erfahrungen der neuen Klangwelten führten zu gesteigerter Neugierde nach weiteren unverbrauchten Ideen der Klangproduktion und dem Erkunden technischer und sensitiver Parameter zu ihrer Hervorbringung. Eine in Klang verwandelte Frequenz kann unendlich viele Timbres erzeugen, die unser traditionelles Klangverständnis weit übersteigen. Die spezifische Instrumentaltechnik kann zu höchst differenzierten, unterschiedlichen klanglichen Ergebnissen führen. So resultiert bei einem Streichinstrument zum Beispiel der Aufstrich oder Abstrich, die Art des Bogenstrich oder die Position der Kontaktstelle des Bogens auf der Saite, z. B. in Stegnähe oder auf dem Griffbrett, zu deutlich unterschiedlichen Tonqualitäten. Das verschiedenartige Einschwingen oder z. B. die Springbogentechniken (Spiccato) modifizieren den Klang erheblich. Die Komponisten stellten nun erhöhte technische Ansprüche an die Instrumentalisten wie an den zeitgenössischen Hörer. Immer tiefer wurde in die neuen Klangwelten eingedrungen, die Spieltechniken erweitert, stets in Kenntnis des technologischen Fortschritts und der bisher unerschlossenen Möglichkeiten zugleich.

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Karlheinz Stockhausen: „Studio II“. Universaledition, Wien

Die Suche nach neuen Instrumentalklängen begleitete mein eigenes musikalisches Schaffen von Beginn an auf Schritt und Tritt. „Gerade die Suche nach neuen Klangformen lehrte mich, die beschränkten Instrumentaltechniken zu schätzen. Deshalb habe ich auch in den letzten Jahren auf die fortwährende Erneuerung jener Techniken geachtet. Die ursprüngliche Öffnung des Klangraumes durch die musique concrète und die elektronische Musik verhalf auch der Instrumentalmusik zur Entdeckung eigener neuer Mittel.“ Die sogenannte extended technique verleiht dem heutigen Instrumentalspiel einen distinkten Charakter. Neben dem, was die elektronische Musik versprach – und dabei ging es nicht allein um den Gebrauch des Materials dieser Instrumente, sondern auch um die Verzerrung eines jeden Instrumentes oder von Aufnahmen –, war, was uns vor allem beschäftigte, die Suche nach der Erweiterung des traditionellen Instrumentalklangs. Die Ergebnisse unserer Forschungen erscheinen systematisiert in meinem Buch El clarinete y sus posibilidades (Die Klarinette und ihre Möglichkeiten), einer Arbeit, die entsprechend für alle Holzblasinstrumente gilt. Es geht darum, die Ausdrucksmöglichkeiten dieser Instrumente zu steigern, sie für Klangfarben zu nutzen, die es in der westlichen Musik bisher nicht gab.

Im Folgenden finden sie eine kurze Zusammenfassung dieser Möglichkeiten: zwei oder mehr Simultan-Klänge auf einem Instrument. Darunter die realen Klänge-sonidos reales des Instrumentes, welche die Möglichkeit von zwei realen Tönen anbieten mit dem Fundament in der tiefen Lage (grave) und in der unteren Mittellage (medio-inferior), indem man die Fingerstellung des unteren mit einer mittleren Stellung der Lippen zwischen oberem (superior) und unterem (inferior) Ton kombiniert.

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Der reale Klang und der simultan abgeleitete Klang (sonido resultante) erschließt die Möglichkeit von gleichzeitig erscheinenden unterschiedlichen Tonfarben, indem der Obertonbereich manipuliert wird.

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Die sonidos rotos-gebrochenen Klänge sind eines der interessantesten Phänomene der Klarinette. Sie bestehen aus einem realen Klang und seinen Obertönen mit minimalem Intervallabstand zwischen jenen, fast auf dem gesamten Instrument – in der tiefen Lage wie der unteren und oberen Mittellage -, machbar, indem man den Fingersatz des realen Klanges anwendet.

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Der reale Klang und die Obertöne gleichzeitig sind in der tiefen Lage (grave) möglich, in der unteren Mittellage (medio-inferior) mit dem Fingersatz des realen Tones.

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Stimme und Klang können jeden Klang des Instrumentes auf seiner gesamten Skala simultan bereichern, ohne dass ein spezieller Fingersatz nötig wäre.

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Dies so unterschiedlich beschaffene und erzeugte polyphone Material kann ohne weiteres – mit Ausnahme der Stimme – auf dem Instrument alleine hervorgebracht werden. Innerhalb der Einstimmigkeit gibt es viele mehr oder weniger bekannte, oder ganz und gar unbekannte Möglichkeiten, alle jedoch dienen der Erweiterung des Klangraumes. Je nach Technik haben diese Klänge eine große Klangfarbenvielfalt, können gar vollständig aus den gewohnten Klängen ausbrechen, bis hin zum Bruch mit dem temperierten System selbst. Der sonido real-reale Klang ist jener, der normalerweise auf dem Instrument hervorgebracht wird.

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Das Material des sonido resultante-abgeleiteter Klang, verschieden vom realen Klang, besteht aus Obertönen, hinzutretender Stimme, Atem, Flatterzunge, und stellt die Möglichkeiten der Ergänzung des Monodischen dar. Mit Ausnahme von Stimme und Atem erzielt man die Klänge auf dem Instrument mit mehr oder weniger traditionellen technischen Mitteln.

Die Ausarbeitung des Klanges und seine Artikulation sind Parameter von großer Bedeutung für die Instrumentalpartitur. Das Vibrato und seine Kontrolle, winzige Trübungen oder Verstimmungen einer bestimmten Frequenz, die trockenen oder schwachen Einsätze, eingeschoben zwischen Bindungen, sind Elemente, die eine genaue Herausarbeitung nötig machen.

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Jesús Villa-Rojo: „Acordar“. Ed. Edi-Pan, Rom

Ausgehend von diesen neuen Ideen, haben die Bewertung und das Konzept der Höhen in meinen Arbeiten sehr unterschiedliche Ergebnisse gezeitigt. Vom traditionellen Gebrauch in Cuatro movimientos, sonata, Música sobre un tema, in denen es keinen unkonventionellen Gebrauch der Klangmanipulation gibt, führt der Weg zu Rupturas, continuo, Eglogas, Divertimento I, II, III, Tiempos… und auch Temples, 6 pinceladas, Espirales, Líneas convergentes, Sexteto, Septeto, Lamento, Trío, etc., wo die Klänge mit definierten Tonhöhen produziert und wiedergegeben werden, aber Modifikationen erfahren, welche die Tonhöhe, besonders jedoch die Tonqualität verändern. Die größten Veränderungen findet man jedoch in Hombre aterrorizado-dor, Dimensiones, Eclipse, Antilogía, Concerto grosso I, II, III 4+…, Tonalidad dominante (b-moll), Cartas a Génica, Formas planas, Música para obtener equis resultados, wo die tatsächlich erklingenden Tonhöhen das Ergebnis sind von: a) Klängen ohne exakte Tonhöhen, die der Entscheidung des Interpreten anheim gestellt sind, b) komplexen Klängen mit exakter oder nicht exakt bestimmter Tonhöhe, immer aber mit auf einen vorherrschenden Klangkomplex gerichteter Aufmerksamkeit, c) Klängen bzw. Geräuschen, die ob ihrer Natur oder Qualität nicht dem Kriterium der exakten Tonhöhe entsprechen (Luft, Klanglöcher, Nasale, gebrochene Klänge, nicht tonale elektronische Klänge) wie in Obtener variantes, Variaciones sin tema, Acordar, Apuntes para una realización abierta, ellos oder den Serien Juegos gráfico-musicales und Material sonoro, wo (außer einigen wenigen Beispielen in der Serie Juegos gráfico-musicales) der Klangparameter vollständig unbestimmt bleibt, und es nur vage Hinweise von Registern, Bereichen bzw. Stimmlagen gibt.“

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Jesús Villa-Rojo: „Juegos gráfico-musicales“. Ed. Alpuerto, Madrid

Diese Kompositionslandschaft bezeugt die Komplexität bei der Auswahl der besten Möglichkeit für jeden Moment. Bei der Auswahl, der Absicht und der Niederschrift stellten sich immer wieder Momente des Zweifels am Projekt ein. Alles, was ins Gedächtnis Eingang fand und es bereicherte, verkomplizierte den Prozess und entpersonalisierte das Denken. Die Anfänge wurden ebenfalls nicht leichter. Als ich mir 1971 Formas y Fases vornahm, konnte ich mir nicht vorstellen, ein Stück zu schreiben, in dem das von der Klarinette angebotene Klangmaterial wenn nicht der herausragende Parameter, so doch der rote Faden des Ausgleichs und der Überbrückung zwischen unterschiedlichen Elementen der Kompostion sein würde. Die Klarinette hatte mir schon in vorherigen Werken ausgezeichnete Dienste geleistet, bei all meinen Studien der Klangerweiterung, das Hörbarmachen der Obertöne neben den Grundtönen, durch Stimme und Klang gleichzeitig oder unabhängig voneinander, die unendlich große Anzahl der Anblasmöglichkeiten, der Tonproduktion, der Dynamiken… Ich hätte leicht ein Stück für einen Solisten mit einfacher Begleitung schreiben können, aber bei alldem, und auch angesichts eines denkbaren Solostücks, war die Vorgabe, ein Klarinettenstück mit Begleitung zu schreiben, reiner Vorwand. Die Kraft und Lebendigkeit dieser Klarinettentechnik kann zu der irrigen Annahme verführen, dass das Instrument mit einer Solistenmentalität eingesetzt worden wäre; in Wahrheit beschränkt es sich jedoch darauf, Module auf der Basis von Verbindung und Konzentration von Gruppen, zwischen denen es eine korrespondierende Logik der Kontinuität und des Bruches mit dem Vorhergehenden gibt, vorzustellen und auszuarbeiten.

Formas y Fases war ein resoluter Beginn, 1970 mit dem Ziel verfasst, dieses Werk beim Béla Bartók-Preis – anlässlich des 90. Geburtstags des Komponisten – in Ungarn vorzustellen. Strukturelle Strenge und aleatorische Freiheit der Interpretation sind hier zusammengeführt.

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Jesús Villa-Rojo: „Tiempos“. Ed. Editio Musica Budapest

„Die Freiheit erlaubt eine Klangestaltung, welche sich mittels des Klangexperiments der musikalischen Phantasie bemächtigt, die sich ihrerseits in erweiterter Spieltechnik manifestiert und somit neue Kommunikationsmöglichkeiten schafft. Tremolo-Flatterbogen, unregelmäßige Vibrati, col legno (Spiel mit dem Holz des Bogens), sul ponticello, Pizzicati usw. schaffen ein Klima der Kontraste und erweitern die Idee des Instruments.“

Meine Interessen für Nationales haben mich dies alles nie als etwas Persönliches erleben lassen – bis zu meinem Cantar con Federico. Die kommunikative Kraft der Abstraktion, die über die Zeiten und Kulturen hinweg tragen kann, ohne in diese einzutauchen, war mir immer bewusst. Als die Welt sich jedoch 1986, anlässlich des fünfzigsten Todesjahres, Federico García Lorcas erinnerte, begann ich, die Musikalität seiner Gedichte – die einen populär, die anderen konzeptionell und surrealistisch – zu studieren, und ich glaube, dass dieses Studium meine Haltung und mein Verantwortungsgefühl unseren eigenen Wurzeln gegenüber verändert hat.

„Passacaglia y Cante verfolgt einen offenen Weg, auf welchem der imaginäre paso-Schritt von beschwörenden zeremoniellen oder phantastischen Mythen gelenkt wird. Es handelt sich um ein Fortschreiten, eine Evolution oder Transformation, die aus einer rein metaphysischen Perspektive heraus versucht, sich von der Materie zu lösen. Ein Fortschreiten des menschlichen Geistes in sich selbst.
„Progression – Prozession, Passacaglia, wandernd – Wanderer.
Gibt es einen Weg…?
Ein Wandern durch den Klang. Luigi Nono wanderte. Die Leidenschaften Lorcas erscheinen im „cante-Gesang“. Er liebt die Leidenschaften mit ihrem menschlichen Angesicht.

Lorca – Nono.

Prozession – wandernd, singend der Weg, sich entwickelnd die Leidenschaften.
Der Weg wandert.
Der „cante-Gesang“ entwickelt sich. Es gibt keinen Weg!
Der Weg wird erwandert, Wanderer!
Der Klang wandert, entwickelt sich.
Lorca – Nono – wanderten. Sie erwanderten einen Weg.
Damals… Ja, es gibt einen Weg!
Sie schufen einen Weg.
Der Weg wird erwandert, Wanderer!“

Passacaglia y Cante wurde vom CDMC für das internationale Festival zeitgenössischer Musik in Alicante in Auftrag gegeben und dem Andenken Federico García Lorcas und Luigi Nonos gewidmet.

Die wohlgemeinten und ehrgeizigen Versuche des musikalischen Schaffens im 20. Jahrhunderts kombinierten Instrumente und kleine Kammermusikgruppen. Sie beabsichtigten damit, das historische Format des Quartetts mit attraktiven und originellen Ideen, welche die Möglichkeiten eines Großteils der konventionellen Instrumente bereicherten, zu assimilieren. In Wahrheit jedoch behauptete die Jahrhunderte alte Form des Quartetts ihre technische und ästhetische Leistungsfähigkeit und ihre Wesensart, die dem Komponisten alle nur erdenklichen, dem Hörer alle nur möglichen aktuellen und originellen Perspektiven und Erfindungen zu erleben und zu erschaffen erlaubt.

Béla Bartók wusste das und schuf so die beste Serie von Streichquartetten des 20. Jahrhunderts. Auch Antonio Moral, Direktor des Centro Nacional de Música de Madrid, verstand dies und initiierte eine Streichquartett-Konzertreihe, genau wie jetzt das Instituto Cervantes de Múnich mit den hervorragendsten Ensembles, auch Bartok’scher Provenienz als Grundlage, jedoch bereichert und weitergeführt mit Aufträgen für den Konzertzyklus an weitere Komponisten.

Auch mein III Cuarteto-III. Streichquartett ist in dieses interessante Projekt einbezogen.  Es ist eine Auftragsarbeit für das CNDM und besteht aus drei Sätzen: Allegro impetuoso – Lento e misterioso – Allegro vivace. Ausgehend von der Verschmelzung der Elemente im ständigen dynamischen und rhythmischen Kontrast, eröffnen sich räumliche Perspektiven, die auf seine verborgene Harmonie hinweisen. Die Verräumlichung lässt weitere Nuancen hervortreten, wie die Fragmentierung der Tonabstände in die Mikrointervallik der Vierteltöne. Dies wiederum erlaubt, auf Tonalität anzuspielen, ohne jedoch wirklich tonal zu werden. Wir befinden uns also eher in der Nähe der Tonalität, oder besser des Wohlklanges, denn in einer freitonalen Gestaltung. Die erwünschte Nähe zum Bartók’schen Idiom erlaubt das Zusammenwirken von modernen, zeitgenössischen Verfahren, frei von Anforderungen seriellen oder strukturellen Denkens. Die Möglichkeiten der Entfaltung 1+1 (1=4), 4+4 (4=1), vervielfältigt die räumlichen und expressiven Potentiale des Instruments.

Das Quartett als „Instrument“ stellt sich ganz natürlich in den Dienst der Schaffung heller und dunkler Farben, ohne dass dadurch die leuchtende Expressivität der schönsten Panoramen in Gefahr geriete. Gleiches gilt für die Dramatik, welche sich ebenso natürlich mit dem Witzigen und Lustigen verbinden lässt. Diese Qualitäten haben Eingang in meine Kompositionsidee gefunden. Dadurch ist es nötig, dass in der Erinnerung eine Art von Fern-Nähe in aktuelle Wirklichkeit verwandelt wird. Dies gibt uns Ausblick auf einen künstlerischen Horizont, der das Gestern und das Heute zugleich umschließt. Wir müssen nicht immer Ort, Tag und Uhrzeit kennen. Es geht vor allem um das Heute und dessen Chancen. Mein drittes Streichquartett mit seinen drei Sätzen ist – metaphysisch gesprochen – jenseits aller Gebrauchswerte. Was es zu sein oder wem es zu ähneln scheint, sollte uns deshalb nicht interessieren. Wir sollten unsere Phantasie eher auf seine natürlichen Qualitäten lenken, denn sie sind es schließlich, die das Zusammentreffen in der Zeit und über die Zeiten sinnlich und geistig ermöglicht haben.

[Jesús Villa-Rojo: aus dem Spanischen von Manfred Bös]

München, Juni 2016
ARTIKEL FÜR DAS INSTITUTO CERVANTES MÜNCHEN

Stilvolle Stilkopien

Toccata Classics, Tocc 0346; EAN: 5 060113 443465

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Drei „After-Concertos“ von David Deboor Canfield sind bei Toccata Classics eingespielt. Der amerikanische Komponist schrieb 2007 sein Concerto nach Glière für Altsaxophon und Orchester, 2013 folgte eines für Sopransaxophon nach Tschaikowsky und vergangenes Jahr legte er noch eine Rhapsody nach Gershwin nach, wo die Violine den Solopart erhält. Hayrapet Arakelyan am Saxophon und Rachel Patrick an der Violine übernehmen die Solostimmen, es spielt die Sinfonia Varsovia unter Ian Hobson.

Es ist bedauerlich, dass uns weder Reinhold Moritzewisch Glière noch Pjotr Iljitsch Tschaikowsky ein Saxophonkonzert geschenkt haben (Glasunow hingegen hat in späten Jahren noch eines nachgereicht), sind doch schließlich sämtliche von ihnen erhaltenen Solokonzerte (inklusive des nicht vollendeten Violinkonzerts Glières) wahre Meisterwerke. Und auch, dass George Gershwin nur sein eigenes Instrument, das Klavier, mit Konzert- und Konzertstückliteratur bedacht hat, ist für die anderen Instrumentalisten reichlich ungerecht. So dürfte sich das vielleicht David BeBoor Canfield gedacht haben, als er seine drei „After-  Concertos“ plante. Hier bekommt ein Saxophon endlich einmal die Gelegenheit, auch romantische Literatur im verblüffend originalgetreuen Stil von Glière und Tschaikowsky zu spielen und ein Violinist darf sich über eine gershwineske Solorhapsodie freuen. Nicht auf der CD erschienen sind eine Elegy nach Brahms für Altsaxophon oder Klarinette und Klavier, ein Quintett nach Schumann für Saxophonquartett und Klavier sowie eine Ragtime-Sonate nach Scott Joplin für Altsaxophon und Klavier. Auch Werke ohne „Vorlage“ gibt es aus der Feder des 1950 in Florida geborenen Komponisten, immer in einem zum Heiteren tendierenden, beschwingt-eingängigen Stil, der durchaus auch eine individuelle Note aufweist.

Die drei hier zu hörenden „After-Concertos“ waren eine wirkliche Überraschung für mich. Statt den erwarteten flachen und vermeintlich witzigen Aufgriffen einiger weniger Floskeln des jeweiligen Vorbilds in standardisiert übertriebener Scherzparaphrasierung erhält der Hörer hier drei vollwertige Solokonzerte, die tatsächlich eine ernst gemeinte Musik präsentieren. Es sind auch keine direkten Musikzitate zu finden (jedenfalls fielen mir keine auf), sondern es handelt sich um eigenständige Werke, welche lediglich einem bestimmten Stil huldigen. Oft entsteht der Eindruck, als wenn wirklich gerade ein Stück von Glière, Tschaikowsky oder Gershwin vorgetragen würde, so genau hat sich Canfield den jeweiligen Stil angeeignet. Natürlich gibt es einige Details, welche den „Betrug“ bei genauerem Hinhören sichtbar erscheinen lassen, wie etwa unübliche Instrumentierungen an einer bestimmten Stelle oder alleine schon die Tatsache, dass ein Tschaikowsky-Konzert wesentlich länger als 20 Minuten dauert. Doch das ist unwichtig, schließlich geht es nicht darum, dem Nachgeahmten ein Werk unterzujubeln, sondern vielmehr, eine eigene und unabhängige Stilkopie zu schaffen. Und diese ist, in dreifacher Ausführung, wahrlich gelungen. Canfield schuf drei vielseitige, farbenreiche und für den eingeweihten Hörer oft durchaus amüsante Werke (wobei angemerkt werden sollte: es ist zu keiner Zeit intendiert lustig, dieser Effekt stellt sich eher automatisch ein bei einer gut gemachten Stilkopie), die den nachgeahmten Komponisten eine besondere Würdigung angedeihen lassen und ihrem Genie in der Qualität der Hommage auch gerecht werden.

Beide Solisten, Hayrapet Arakelyan und Rachel Patrick, bieten ihre anspruchsvolle Stimme mit Bravour, sicherer Intonation und reinem Spiel dar. Bei Patrick erscheint es manchmal so, als wäre ihr Spiel vor allem auf äußeren Effekt angelegt und nicht innerlich mitempfunden, wenngleich Phrasierung und Linienführung solide sind. Hayrapet Arakelyan hingegen spielt hörbar mit voller Leidenschaft und Hingabe, ist vollkommen in die Stücke involviert und integriert sich aktiv in den Orchesterapparat. Seinem Instrument entlockt er ungeahnt feine Klangnuancen und lässt lange Dialoge mit dem Orchester, aber auch Monologe in eigenen verschiedenen Stimmlagen ausdrucksvoll entstehen. Die Sinfonia Varsovia unter Ian Hobson hält sich dezent im Hintergrund, bildet aber eine untadelige Klanggrundlage, über der sich die Solisten entfalten können. In mancher Tuttipassage fehlt es manchmal etwas an Klangfülle und -Dichte – doch dies zu kompensieren, sind die Solisten stets schnell wieder zur Stelle.

[Oliver Fraenzke, Juni 2016]

Die Gitarre? Ein noch sehr junges Instrument!

Smaro Gregoriandou
EL ALEPH
20th and 21th Century Guitar Music

Open source Guitars
Helmut Oesterreich, conductor

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Fernande Peyrot (1888-1978)
Préludes pour Guitare

Agustin Barrios (1885-1945)
Prélude in C-moll
Las Abejas
Aire de Zamba
Danza Paraguaya

Manuel Ponce (1882-1942)
Thème varié et Finale

Hans Werner Henze (1926-2012)
Drei Tientos

Nikita Koshkin (* 1956)
Toccata

Sean Hickey (*1970)
Tango Grotesco

René Eespere (*1953)
Tactus Spiritus

Stepan Rak (*1945)
Temptation Of The Renaissance

Smaro Gregoriadou (* ?)
El Aleph (for Guitar Ensemble)

Delos 4390
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Dass die Gitarre ein noch sehr junges – und damit relativ unausgereiftes – Instrument ist, verglichen mit Geige, Flöte oder ähnlichen „alten“ Instrumenten, ist bekannt und oft beklagt worden. Daher ist es kein Wunder, dass sich unzählige Neuentwicklungen, Erfindungen und Prototypen finden, die diesem „Miss-Stand“ abhelfen sollen. So auch die griechische Gitarristin Smaro Gregoriadou, die mit den von Kertsopoulos entwickelten Instrumenten diese CD mit Musik des 20. und 21. Jahrhunderts einspielt. Was das im Einzelnen für Instrumente sind, beschreibt das Booklet, allerdings nur auf englisch – vor allem aber Youtube, wo man diese Gitarren auch hören und sehen kann.

Recht zwiespältig bleibt die Scheibe trotzdem. Der Klang der verschiedenen Gitarren ist bei den meisten Stücken sehr faszinierend und beeindruckend. Über die französische Komponistin Fernande Peyret (1888-1978) erfuhr ich hier zum allerersten Mal etwas. Auch zu den nach 1945 geborenen Komponisten, die mit ihren Stücken vertreten sind, gibt das Booklet erschöpfend Auskunft. Besonders gelungen sind die Stücke von Agustin Barrios, denen die neuen Klänge sehr entgegenkommen. Auch die drei Tientos des damals noch jungen Hans Werner Henze (1926-2012) gewinnen sehr. Die eigene Komposition der Gitarristin, die sie 2013 für ein Gitarren-Ensemble der Staatlichen Musikhochschule Trossingen komponierte, gefällt mir leider nicht, denn das geht über ein merkwürdiges Konglomerat an Geräuschen und Klängen nicht erkennbar hinaus.

Ob dieser neue Weg der verschiedensten Gitarren hin zu einer neuen Musik und einer neuen Beurteilung führt – ein Werbetext spricht in dem Zusammenhang von Glen Gould oder Wanda Landowska und Vladimir Horowitz –, das bleibt abzuwarten.

Jedenfalls eine sehr interessante, wenn auch nicht rundum zu empfehlende Neuerscheinung.

[Ulrich Hermann Mai 2016]

Lustig war gestern

GIUDITTA
Musikalische Komödie von Franz Lehár
Christiane Libor, Sopran
Laura Scherwitzl, Sopran
Nikolai Schukoff, Tenor
Chor des Bayerischen Rundfunks
Münchner Rundfunkorchester
Ulf Schirmer
cpo 777 749-2
EAN: 761203774920

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Niemand sollte das Unterfangen wagen, ein Musikdrama nur anhand eines Tondokumentes zu besprechen. Viele Stimmen klingen auf Platte prächtig, bewegen sich aber als Person im Theater kaum und entbehren da jeder Ausstrahlung. Die Stimme allein macht keinen Künstler auf der Bühne aus – Präsenz, Bewegung, Charisma und Musik – werden erst zusammen ein: Gesamtkunstwerk.

Lehár, einer der produktivsten und erfolgreichsten Komponisten des 20. Jahrhunderts, verschrieb sich fast gänzlich dem Genre der Operette. Zu ihrer frühen Zeit – der Frechdachs der musikalischen Bühne! Hier wurden Konventionen der Gesellschaft auf komödiantische Weise unterminiert – die Ständegesellschaft, die heuchlerische Moral. Und das allpräsente Pathos der Kaiserzeiten – Militarismus, nationaler Wahn:  Alles versank heiter im Walzer- und Polka-Schwung.

Lehár nennt seine finale Operette GIUDITTA eine „musikalische Komödie“. Also nicht mehr Operette. Das ist eine bewusste Irreführung. Komische Handlung keineswegs – oder was ist lustig daran: ein (sorry) ziemliches männliches Weichei, aber offenbar fesch, verliebt sich in eine Frau, die selbstbestimmt und ihrer Wirkung bewusst nur den Auslöser sucht, der es ihr erlaubt, ihrer erstarrten Beziehung zu entfliehen. Protagonistin GIUDITTA : eine nicht-mehr LULU. Kein Wesen mehr, das, ohne Willen, Begierde und Leid erzeugt. Ganz sicher ihrer Wirkung auf Männer und eigener erotischen Bedürfnisse bewusst. Ihren langweiligen Ehemann verlässt sie schleunigst für einen (vermeintlich) schneidigen Offizier, der in Afrika in der kurzen, wenig glücklichen, italienischen Kolonialzeit reüssieren will.

Und ihn ruft der Krieg. Sie will ihn ganz und halten und rät zur Desertion. Aber er geht. GIUDITTA  muss sich abwenden, zieht weiter und wird von begehrenden Bewunderern umringt.

„Meine Lippen die küssen so heiß“, die bekannteste Nummer des Stücks. Die Melodie stellt ihre Opfer-Täterrolle klar: Begehrte und Begehrende. Zu Lehárs Zeiten ein Wagnis auf der Bühne. Eine moderne Frau.

Das hat mit Romantik nichts mehr zu tun. GIUDITTA dokumentiert eine Zeitenwende: „vom wissend-würde-ein-Weib“ hin zur Frau, die von vornherein ganz weiß, was sie will. Die Tragik dabei, die aber keine ist: ihr Geliebter verfällt ihr, aber seine Liebe ertrinkt in Selbstzweifel und Unfähigkeit. Ihren Lebenshunger vermag er, gefangen in Konvention, nicht zu erfüllen. Er versagt angesichts ihres Anspruchs auf umfassende und körperliche Liebe und sein vermeintlich zwingendes Pflichtgefühl gibt ihm die Gelegenheit, ihr zu entfliehen. Um im Selbstmitleid sein eigenes Scheitern sich als eine fatale Verstrickung widriger Umstände zu erklären.

Am Ende des Werkes klimpert er ihr auf einem Hotelpiano noch wenige sentimentale Akkorde hinterher, während sie mit ihrem neuen Liebhaber soupieren will.

GIUDITTA dekonstruiert bereits in den 1930er Jahren, was heute längst entsorgt ist: die „romantische“ Vorstellung von Liebe, die alle Widerstände überwindet und in vollendeter Zweisamkeit Glück und Erfüllung findet. Und das möglichst auf ewig.

Franz Lehárs Musik: Die Operette ist welk geworden. Lustig war gestern. Er vermag jedoch durch seine überströmende sinnliche Erfindung, mit der (für „Operette“ etwas dicklich) schimmernden Instrumentation, schmelzenden, sangbaren Linien von Beginn an zu fesseln. Und zu verzaubern. Puccini klingt nach, Huppertz, der Komponist des Films „Metropolis“ ist ein überraschender Genosse im Duktus. Bernsteins „West Side Story“ – nicht weit hinterm noch dunklen Horizont.

Das Münchener Rundfunkorchester, der Chor des Bayerischen Rundfunks unter Ulf Schirmer – und die vielen Vokal-Solisten: Frau Libor ZUERST und Frau Scherwitzl für ALLE genannt:

Die Textverständlichkeit ist vorbildlich. Alle Mitwirkenden sind mit hörbarer Freude dabei. Durchsichtiger Klang. Großartige Leistung. Ein rundum-sorglos Glück!

GIUDITTA gehört auf die Bühne. Nicht auf eine CD – aber wenn es so schön und spannend gerät, wie in dieser Einspielung: diese muss in die CD-Regale all jener, die Musik lieben!

Nur einen Beckmesser-Tafelstrich: kein Textbuch im Booklet! Zumindest einen Link auf eine Webseite, wo das Fehlende verfügbar ist, sollte sein. Gibt es nicht auch Menschen, die mitlesen wollen? Jene zuerst, die deutscher Sprache nicht mächtig sind, aber es anhand von etwas Schönem rascher zu lernen wünschten?

[Stefan Reik, Juni 2016]

Bilder und Zeichnungen

Die letzte der „Stationen der Musikgeschichte“, des diesjährigen Konzertzyklus der Reihe Klavierspielkunst von und mit Jürgen Plich, beschäftigt sich mit „Mussorgsky plus“, wobei das Plus am Nachmittag des 5. Juni 2016 im Johannissaal des Schloss Nymphenburg in München für Claude Debussy steht. Von Debussy erklingen die Estampes aus dem Jahre 1903 (Pagodes, La Soirée dans Grenade und Jardins sous la pluie). Aus der Feder von Mussorgsky werden die unverwüstlichen Bilder einer Ausstellung (Erinnerungen an Viktor Hartmann, 1874) dargeboten sowie mit der Mezzosopranistin Dorothee Labusch der Liederzyklus Kinderstube von 1870-72 in deutscher Übersetzung (Mit der Njanja, Im Winkel, Der Käfer, Mit der Puppe, Abendgebet, Kater Prinz, Steckenpferdreiter).

„Er war einst mein Schüler, nun ist er mein Kollege“, so lobte der gefragte Pädagoge und Pianist Professor Gregor Weichert den heute zu hörenden Jürgen Plich bei seinem Konzert im April diesen Jahres, welches ich ebenfalls für The New Listener besprach. Bei solchen auf distinguierte Art anerkennenden Worten konnte ich es mir natürlich nicht nehmen lassen, das heutige Konzert zu besuchen, welches den Abschluss dieser Saison von Klavierspielkunst darstellt. (Doch keine Angst, die Termine für die kommende Saison sind bereits bekanntgegeben, im November gibt es Schubert und im kommenden Jahr sechs Konzerte mit allen Klaviersonaten von Mozart.)

Das Saisonfinale führt den Hörer zu zwei absoluten Nationalisten, deren Musik meist ganz und gar im Zeichen ihrer Heimat steht: Claude Debussy und Modest Mussorgsky. Den Beginn macht Debussy mit seinen Estampes, drei kurzen „Zeichnungen“, bestehend aus den von der Gamelanmusik beeinflussten Pagodes, den flüchtigen Impressionen spanischer Musik in Le Soirée dans Grenade und dem perlig-verregneten Jardins sous la pluie. In diesen kurzen Stücken liegen ganze Welten voll prächtiger Farbenspiele, innovativer Zusammenklänge und stets dem auf den Punkt gebrachten „lyrischen Moment“.

Die Verbindung zum folgenden Liederzyklus Kinderstube von Modest Mussorgsky schafft Jürgen Plich durch seine höchst informative Werkeinführunge, lobte doch Debussy alias Monsieur Croche die Lieder des Russen in einer Zeitungsrezension als absolutes Meisterwerk. Und auch heute noch, weit mehr als 100 Jahre später, kann man Debussy nur zustimmen. Die sieben Lieder glänzen in ihrer leicht-beschwingten Art in erhabener Zurückgenommenheit, welche jeder Akkordwendung Bedeutung schenkt und nicht eine Note überflüssig erscheinen lässt. Die ebenfalls von Mussorgsky stammenden Texte sind in der Singstimme wie in der Klavierbegleitung unmittelbar ausgedeutet, geben immer wieder zum Grinsen Anlass, können aber auch einmal einen kurzen Schauer über die Rücken der Hörer gleiten lassen. Gerade die (teils nur vermeintliche, teils aber auch tatsächliche) Unschuld aus den Mündern der hier sprechenden Kinderfiguren zeugt durchweg inspirierte und phänomenal beschworene Momente.

Nach der Pause folgt der große Klavierzyklus Bilder einer Ausstellung, Erinnerungen an Viktor Hartmann. Zehn Bilder des großen russischen Malers und engen Freundes vertonte Mussorgsky, ging dabei allerdings weit über die bildliche Vorlage hinaus und schuf eine ganze Geschichte, die dadurch gegeben ist, dass der Ausstellungsbesucher (wohl Mussorgsky selbst) mit abgebildet ist, wie er von einem Kunstwerk zum nächsten schreitet – in den Promenaden. Warum die Promenade nach den Katakomben nicht mehr als eigener Abschnitt betitelt ist, sondern mit „Con mortuis in lingua mortua“ einen neuen Titel erhält sowie im Großen Tor (dem Heldentor) direkt eingebunden erscheint, wird dabei allen Erbsenzählern wohl immer ein Rätsel bleiben. Ob der Besucher nun so von den Bildern in den Bann gezogen wird, dass das Gehen als unbewusste Aktion geschieht, oder ob doch die Toten in der Grabstätte den Besucher in die Kunstwerke selbst gebannt haben, dass er Teil von ihnen wird, werden wir nicht belegen können.

Jürgen Plich erweist sich als ein exzellenter Pianist, der die Musik durchdringen, auffassen und mit spielerischer Leichtigkeit glaubhaft vermitteln kann. Tatsächlich lässt sich vom technischen Aspekt her eine Parallele zu Gregor Weichert ziehen, was seinen gesamten Armeinsatz betrifft, der jedoch von Plich auch modifiziert und abgewandelt wurde. Besonders auffällig dabei ist sein federndes Handgelenk, welches die Energie vom Körper direkt in die Fingerkuppen bringt, der Arm dient vor allem als reiner, federleichter Vermittler, der absolut keinen Widerstand darstellt, sich auf alle geforderten Umstände einstellen kann. Dies hat einen sehr feinen, sensiblen Ton zur Folge, der eine Leichtigkeit und unmittelbare Wirkung beinhaltet, der man sich schwerlich entziehen kann. Durch eine vollkommen natürlich erscheinende Phrasierung wird der Hörer sogleich in den Bann gezogen und es herrscht durchweg eine beeindruckende Aufmerksamkeit im (leider zu wenig gefüllten) Saal, wie sie selten zu finden ist.

Besonders interessant ist Jürgen Plichs Vorgehen in Mussorgskys Bildern einer Ausstellung, denn hier wird auch er noch einmal schöpferisch tätig. Er vollzieht einige durchaus merkliche Änderungen gegenüber der üblichen Auslegung der Spielanweisungen, was Dynamik und auch Tempo betrifft. Ein Großteil dieser Änderungen funktioniert einwandfrei und unterstreicht einige Aspekte, die ihm besonders wichtig sind wie die zauberhaft-verschleierte Melodievariation im Alten Schloss, der fast aufständisch wirkende Gesang in der Mitte des Bydło, die markanten Unterschiede zwischen den beiden Juden Samuel Goldenberg und Schmuÿle oder das pittoreske Markttreiben in Limoges. Auch das Heldentor in der Hauptstadt Kiew erhält durch feiner gewählte Dynamik einen wesentlich größeren Aufbau zum Schluss hin. Lediglich der Gnomus erklingt etwas „harmlos“, da die aufbegehrende Anfangsfloskel häufig unscheinbar leise und zu schnell, somit schwer verständlich, herüberkommt. Im Gegensatz dazu wirken die unausgeschlüpften Küken etwas zu erwachsen, da aus dem piepsenden Pianissimo (bis ppp sogar) ein gesundes Mezzoforte wurde, wodurch sie stellenweise etwas plump tanzen. Interessant gestalten sich die Harmonien in den Katakomben, dem Umbruchstück des Zyklus‘. Die vollen Akkorde bilden sich gut abgestimmt aus mit der vielseitig unterlegten Dynamik zu einem stimmungsvollen Gemälde voll innerer Schrecken, die in die diesmal besonders düster flirrenden Stimmen der Toten übergehen. In die Promenade, so erscheint es mir, kann sich Jürgen Plich als Individuum gut hineinversetzen, hier bringt er am deutlichsten sich selbst ein und geht authentisch durch Hartmanns Ausstellung. So wird auch der Zuhörer hineingezogen in die Magie der Bilder, denn die Geschichte passiert unmittelbar vor ihnen und nicht irgendwo in weiter Ferne durch einen nicht anwesenden Dritten.

In der „Kinderstube“ begleitet Plich seine Sängerin als gleichwertiger und gut abgestimmter Widerpart, der nie ihre Stimme verdeckt und doch ein vollwertiger Partner mit präsenter musikalischer Aussage ist. Dorothee Labusch, extra aus der Schweiz angereist, präsentiert die sieben Lieder in einer hinreißenden Darstellung, in welcher sie direkt bildlich die Kinder und ihre Njanja verkörpert. Die Rollen kauft man ihr vorbehaltlos ab, so natürlich und ungekünstelt stellt sie diese dar. Mit reiner Intonation und zumeist problemloser Textverständlichkeit fliegt sie förmlich über der Klavierbegleitung dahin und bezieht den Zuhörer mit ein in die so charmant dargestellten Kinderwelt, die eigentlich niemanden unberührt lassen kann.

Auch die Welt von Debussy eröffnet sich dem Hörer in den einfühlsamen Darbietungen von Jürgen Plich, denn die der Natur lauschende Musik scheint eine besondere Stärke des Pianisten zu sein, und so fesselt er die Konzertbesucher direkt vom ersten abgerundeten Ton an und dringt tief in das Wesen dieser Musik ein.

[Oliver Fraenzke, Juni 2016]

Bloß nie mehr aufhören!

Debütkonzert der Latin-Gruppe Magma Tirquaz
in der Münchner Seidl-Villa am 4. Juni 2016

OLYMPUS DIGITAL CAMERAFoto: Yamilé Cruz Montero

Die armenisch-stämmige argentinische Sängerin Sandra Nahabian ist den Kennern der Münchner Szene schon lange ein Begriff für ihre modulationsfähige, ausdrucksvolle, intonationsreine Stimme und ihre von Charme, Witz und doppelbödiger Ernsthaftigkeit sprühenden Auftritte. Nun endlich ist es ihr gelungen, die richtige Band um sich zu scharen. Am Samstag in der idyllischen Schwabinger Seidl-Villa war es, nach langen, intensiven Proben, endlich soweit: das Latin World Music-Quintett Magma Tirquaz feierte vor ausverkauftem Haus sein Konzertdebüt, dem hoffentlich bald nicht nur viele weitere Konzerte, sondern auch ein Debütalbum bei einem guten Label folgt. Der Erfolg war gigantisch, das begeisterte Publikum erklatschte seine Zugaben weit über das Vorgesehene hinaus, und auch dann sank die Qualität nicht ab, sondern steigerte sich weiter, indem der Fluss und die Präzision noch zuzunehmen schienen.

Es ist Sandra Nahabian gelungen, ein auf allen Positionen exzellent besetztes Ensemble zusammen zu bekommen: als ruhenden, allen Situation mit Wärme und Gelassenheit sich anpassenden Pol den mexikanischen Gitarristen David Bermudez, der besonders da hinreißend ist, wo er ganz Einfaches mit unprätentiöser Innigkeit zum Singen bringt – und nicht nur mit seiner Gitarre singt, sondern auch ganz authentisch mit seiner Stimme; sodann sozusagen als diametrales Element den peruanischen Pianisten Oswaldo Cruz, ein ausgesprochen spritziger Humorist, mit einer wunderbaren Neigung zum Verrückten, Kapriziösen, Zirkushaften – von Cruz stammte dann auch, in Uraufführung, als erste Zugabe das einzige rein instrumentale Stück, in welchem die vier Musiker – innerhalb der Struktur – so richtig „außer Rand und Band“ agieren durften. Sehr erfrischend! Ein ganz außergewöhnlicher Musiker ist der deutsch-chilenische Bassist Sven Holscher, diesmal ausschließlich mit seiner Bassgitarre, und sowohl in seiner Funktion in der Band von so schöner Klarheit wie alchimistischer Subtilität, wie auch ganz besonders in den Nummern, wo nur er alleine (oder zusammen mit dezentem Schlagzeug) die Sängerin begleitete beziehungsweise mit ihr dialogisierte, ein Barde im ursprünglichen Sinne des Wortes, ein Geschichten- und Märchenerzähler, gleichermaßen zuhause im Ekstatischen, Nostalgischen, Schauerlichen oder Absurden, und auch: ein echter Sänger auf seinem Instrument; und nicht hinter ihm zurück steht der griechische Schlagzeuger Christos Asonitis, längst eine feste Größe in der süddeutschen Jazz- und Fusionszene, ein Mann, der nicht nur im steten Permutations-, Metamorphose- und Variationsdrang niemals Monotonie aufkommen lässt, jedoch auch die Hörer nur bis an ihre Grenzen und eben nicht sinnlos darüber hinaus herausfordert, ein kreativer Geist, der in jedem Moment etwas Neues ersinnt und nicht nur uns, sondern auch sich selbst oft damit zu überraschen scheint; Asonitis’ Soli sind kompakt, klar und dabei unkonventionell aufgebaut, sie wirken eigentlich wie Kompositionen. Wenn ich jetzt sage, dass er einen fantastischen Groove und Drive hat, so riskiere ich, damit die anderen Beteiligten zu beleidigen, was ich zwar gelegentlich gerne mache, jedoch hier völlig unangebracht wäre. Alle haben sie Groove und Drive, und nur so konnte es zu einer derart kulminierenden zweiten Konzerthälfte kommen, nachdem das Publikum schon nach der ersten Hälfte „aus dem Häuschen“ war. Ja, und nicht zu vergessen die Hauptdarstellerin, Sandra Nahabian, die auch so wunderbar lasziv und mit so vielen Gesichtern Georg Kreislers ‚Vergessen’ vortrug, worin sie „zu vergessen vergaß“. Hier ist eine Meisterin der Stimme und der Stimmungen am Werk, und eine feinnervige, vielgestaltig faszinierende Kommunikatorin. Sandra Nahabian verfügt über die seltene Fähigkeit, ein Publikum einen ganzen Abend mit ihrer Stimme und Erscheinung zu beglücken, ohne dass man merkt, wie die Zeit vergeht, und dass man sauer zu werden droht, wenn sie aufhören will. Aber auch das gilt an diesem Abend für alle Beteiligten. Magma Tirquaz hat das Zeug, ganz schnell und nachhaltig eine der führenden Latin-Gruppen des europäischen Kontinents zu werden. Und eigentlich erwarten wir nicht weniger als das nach diesem Debütkonzert.

[Lucien-Efflam Queyras de Flonzaley, Juni 2016]