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Różycki-Ausgrabung und Tschaikowsky unter Zombies

Warner Classics, 0190295191702; EAN: 1 90295 19170 2

Als „Phoenix Concerto“ hat nun ein teils aus Fragmenten rekonstruiertes Violinkonzert des polnischen Komponisten Ludomir Różycki von 1944 das Licht der Welt erblickt. Als „Füllstück“ enthält die Warner CD des Geigenvirtuosen Janusz Wawrowski und dem Royal Philharmonic Orchestra unter Grzegorz Nowak dann allerdings einmal mehr das Tschaikowsky-Konzert.

Mit relativ hohem Werbeaufwand und von etlichen – zumeist polnischen – Institutionen gesponsert, hat der Violinist Janusz Wawrowski (*1982) auf Warner nun die Einspielung eines bisher größtenteils als verschollen angesehenen Violinkonzerts von Ludomir Różycki (1883–1953) vorgelegt. Różycki, mit den etwa gleichaltrigen Komponisten Karłowicz und Szymanowski eine der Hauptfiguren des Jungen Polen in der Musik, studierte zunächst in Warschau, später dann noch bei Humperdinck in Berlin, wo er sich mit seinem großen Vorbild Richard Strauss anfreundete. Vor allem mit Opern und symphonischen Dichtungen feierte er nicht nur in Polen beachtliche Erfolge. 1944 verlor er jedoch während des Warschauer Aufstands einen Großteil seiner Manuskripte in den Flammen seines Hauses. Bis zu seinem Tod versuchte er mit unbändiger Energie, die vernichteten Werke zu rekonstruieren, was nur zum kleineren Teil gelang.

Für das im Sommer 1944 entstandene Violinkonzert lag zwar bereits ein Klavierauszug und ein unvollständiger Orchestersatz vor, Rekonstruktionen von Jan Fotek und Zygmunt Rychert blieben allerdings erfolglos. Erst durch Wawrowskis Entdeckung des Manuskripts des Klavierauszugs sowie vor allem von 87 Takten eines eigenhändigen Partiturfragments des Komponisten, gelang es Ryszard Bryła nun, eine konsistente Aufführungsversion des – wie bereits das 2. Klavierkonzert von 1941/42 – nur zweisätzigen Werkes zu erstellen. Wawrowski kümmerte sich dabei um eine spielbare – Różycki war von Hause aus Pianist und mit virtuoser Geigentechnik recht wenig vertraut – Fassung des Soloparts. Das viersprachige Booklet gibt darüber angemessen Auskunft, ohne in Details zu gehen.

Das 7-minütige Andante lebt vom über weite Strecken dem Solisten übertragenen elegischen Gesang. Ob die mehr oder weniger direkten Anspielungen an den für Paweł Kochański typischen Stil bei dessen Ausarbeitung des Soloparts von Szymanowskis 1. Violinkonzert so bereits von Różycki intendiert sind oder doch mehr Wawrowskis Idee, lässt sich natürlich ohne Kenntnis der originalen Quellen nicht entscheiden. Daneben erinnert das Violinkonzert öfters an Korngolds Gattungsbeitrag: Im zweiten Satz (16 Minuten) finden sich gewisse Annäherungen sowohl an amerikanische Unterhaltungsmusik als auch Instrumentationsideen, die später dauerhaft in die Filmmusik eingegangen sind. Insgesamt ist das Stück – besonders durch seine stellenweise arg bunte, aufgedonnerte Orchestrierung – für ein Konzert fast etwas zu „operettig“ und im Grunde nur brillanter Edelkitsch; als Entdeckung hingegen nicht uninteressant. Die Interpreten – Wawrowski wird vom Royal Philharmonic Orchestra unter Grzegorz Nowak begleitet – geben hier ihr Bestes. Aufnahmetechnisch vertritt die Veröffentlichung die Position, den Solisten nicht bewusst in den Vordergrund zu setzen; ein eigentlich natürliches Klangbild, das der Rezensent in aller Regel goutiert, welches sich beim folgenden Stück aber als Fehlgriff erweist.

Völlig enttäuschend gerät leider die Darbietung des Tschaikowsky-Konzerts: Selbstverständlich beherrscht Wawrowski den Solopart technisch und klanglich perfekt, doch derart emotional flach und – vor allem durch Nowaks völlig teilnahmsloses, ohne jedwede Agogik stattfindendes Heruntergenudle des Orchesterparts – langweilig habe ich dieses Werk tatsächlich von Profis noch nie gehört. Man kennt zwar solche äußerst tempokonstanten Tschaikowsky-Lesarten von manchen russischen Dirigenten, namentlich Jewgeni Mrawinski – die damit bewusst auf Konfrotationskurs zu verbreiteten, überromantisierenden westlichen Deutungen gingen; aber hier passiert gerade im Kopfsatz zwanzig Minuten lang praktisch überhaupt nichts – nicht mal in der Kadenz. Die Canzonetta ist zumindest klanglich sensibel, jedoch selbst die große Kantilene des Soloparts bleibt verhangen und blutleer – man fühlt sich quasi wie unter Zombies. Wenigstens im Finale nehmen Violinist und Dirigent ein straffes Tempo; alles erscheint da engagierter und wird immerhin eine ganz brauchbare Show.

Fazit: Eine bemerkenswerte Wiedererweckung – freilich keine Sensation – eines nicht allzu substanzreichen Violinkonzerts in der Nachfolge der Spätromantik und eine wirklich überflüssige Tschaikowsky-Wiedergabe, die den Hörer völlig kalt lassen dürfte.

[Martin Blaumeiser, September 2021]

Auf der Geige nach Böhmen

Warner Classics; EAN: 1 90295 27476 4

Augustin Hadelich spielt Violinmusik aus Böhmen. Das Programm beginnt mit dem Violinkonzert Antonín Dvořáks, das Hadelich gemeinsam mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Jakub Hrůša präsentiert. Daraufhin folgen Stücke für Violine und Klavier gemeinsam mit dem Pianisten Charles Owen. Von Dvořák hören wir noch das Romantische Stück op. 75/4, eines der „Lieder, die meine Mutter mir beibrachte“ op. 5/4 und die Humoresque op. 101/7 in der Bearbeitung von Fritz Kreisler. Zudem erklingen die viersätzige Violinsonate von Leoš Janáček und die Vier Stücke op. 17 von Josef Suk.

Obwohl erst 36 Jahre alt, blickt Augustin Hadelich bereits auf eine lange Karriere zurück, die ihn schon zwölfjährig als sogenanntes Wunderkind an die Öffentlichkeit brachte. Mittlerweile zählt der in Italien geborene Sohn deutscher Eltern zu den international gefragten Solisten und spielte bereits über ein Dutzend CDs ein. Seine neueste Aufnahme bringt ihn in die Tschechei, zum Kreis um Antonín Dvořák.

Von diesem stammt auch das Kernstück der CD, das Violinkonzert op. 53 – im Gegensatz zu dessen Cello- und dessen Klavierkonzert ein vielgespieltes Stück. Im Rahmen von Konzerten im Münchner Gasteig nahm der Violinist das Stück gemeinsam mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter dem Dirigenten Jakub Hrůša auf. Hrůša, selbst noch unter 40, darf bereits jetzt zu den feinfühligsten lebenden Dirigenten zählen, was er auch in dieser Aufnahme unter Beweis stellt: innig, intensiv und leidenschaftlich gestaltet er den Orchesterpart aus, lässt die Instrumente singen und die Musik in aller Natürlichkeit ungezwungen frei entstehen. Der große Affekt entsteht als Nebenprodukt, er wurde weder intendiert, noch erzwungen. Hadelich passt sich hier stimmig ein, bleibt stets Teil des Orchesterapparats und mischt seinen Klang mit dem Streicherkorpus des Symphonieorchesters. Wir erleben eine von allen Beteiligten tief erspürte und lebendige Aufnahme dieses Meisterwerks.

Mit dem Pianisten Charles Owen greift Hadelich ebenso wieder zu Antonín Dvořák, wobei ebenso leidenschaftliche, aber eben unprätentiöse Aufnahmen entstehen. Akustisch wirkt das Klavier leider weniger präsent als die Violine, wurde also wohl aktiv tontechnisch in den Hintergrund gerückt, was die Gleichwertigkeit der Partner unterminiert.

Nicht ganz beglücken kann die Violinsonate Leoš Janáčeks, die leider noch immer viel zu selten gespielt wird, doch erst kürzlich vom Duo Maiss-You eingespielt wurde [zur Rezension]. Die ersten beiden Sätze wirken zu unruhig, gar hektisch. Ihnen fehlt es an Robustheit, aus welcher erst die gleißenden Kontraste genährt werden können, von welchen die Sonate lebt. Im Kopfsatz geht Charles Owen zu wenig Risiko ein (besonders in den Blitz-Oktaven) und verharmlost so die eigentlich überbordende Wirkung; im dritten Satz geschieht Hadelich das Selbe mit den dazwischengeworfenen Läufen: diese müssen wir Lawinen herabsausen, die konkreten Tonhöhen sind unwichtig gegenüber dem Affekt. Am gelungensten erscheint das Finale.

Mehr zuhause sind die beiden Musiker bei Josek Suk, dessen Vier Stücke sie voluminös und voll gestalten, wieder die notwendige Bodenständigkeit erreichen. Auf dieser soliden Basis erwachsen die Themen, besonders die folkloristisch anmutenden, und Kontraste; so erst kommen die Harmonien vollständig zum Tragen.

Zwei beschauliche Miniaturen Dvořáks beschließen die CD: Die „Lieder, die meine Mutter mir beibrachte“ zeigen sich dabei als durchaus entdeckungswert, die siebte der Humoresken op. 101 zählt ohnehin zu den bekanntesten Weisen des Komponisten und wurde spätestens durch die Comedian Harmonists zum internationalen Hit.

[Oliver Fraenzke, August 2020]

Zu Recht legendär? Gieseking spielt Debussy

Claude Debussy – The Piano Works; Walter Gieseking (Klavier)
Label: Warner Classics

Das, was die einstigen „Majorlabels“ wie EMI/Warner, RCA/Sony oder Deutsche Grammophon/Decca/Universal heute noch können, ist das eifrige Polieren der Schätze von gestern, respektive vorgestern. Während aktuelle Releases der zuvor genannten Labels immer belangloser und austauschbarer werden, verkaufen sich die Wiederveröffentlichungen aus dem Archiv offenbar bestens und anscheinend auch stetig und nachhaltig. Sonst würden wohl kaum immer mehr und mehr alte historische Aufnahmen in preisgünstigen bis direkt gesagt billigen Boxen von den „Majors“ serviert.
Warner Classics (der heutige Rechte-Inhaber des riesigen Katalogs der verblichenen EMI) hat nun eine ganze Reihe von sehr uneinheitlichen Aufnahmezyklen in Boxen zum fast schon unangenehm billigen Preis auf den Markt geworfen. Und so kommt man schon für um die neun oder zehn Euro neuerdings auch in den Besitz von Debussys mehr oder weniger vollständigem Klavierwerk in der legendären Gesamtaufnahme (bzw. was man damals dafür hielt) von Walter Gieseking aus den frühen bis mittleren 1950er-Jahren.

Auf 5 CDs ist der Pianist zu hören, dem man zu Lebzeiten (und auch heute noch) nachsagte, er habe wie kein Zweiter die Seele Debussys wiedergegeben, was so weit ging, dass Zeitgenossen Giesekings meinten, er sei ein so unvergleichlicher Debussy-Pianist, dass er einer pianistischen Reinkarnation des Komponisten gleichkäme. Dies ist insofern von Bedeutung, weil es zu Giesekings Lebzeiten durchaus noch Hörer gegeben haben mag, die imstande gewesen sein könnten, einen Vergleich mit dem eigenen Spiel des gut 30 Jahre älteren Komponisten Debussy anzustellen.

Wir Nachgeborenen können uns nur noch anhand von Tondokumenten orientieren: Dabei zeigen Debussys eigene „Aufnahmen“ für die Welte-Mignon-Selbstspiel-Klaviere in der Tat gewisse Parallelen zum Stil Giesekings: Eine gewissermaßen „trockenere“, weniger lyrische Herangehensweise an Debussys Kompositionen, als man das heute meistens gewohnt ist. Es ist außerdem sehr interessant zu hören, wie in diesen Interpretationen (sowohl in denen des Komponisten als auch in jenen Giesekings) doch häufig die deutsche Schule durchzuschimmern scheint, als deren eigentliche Antithese Debussy heute nicht selten gesehen wird (was man so schwarz-weiß-malerisch aber eben auch nicht sehen kann).

Witzigerweise sind Debussys eigene Lochstreifen-Aufnahmen für Welte-Mignon aus den 1910er-Jahren bis heute in makelloser Qualität reproduzier- und aufnehmbar, während Giesekings Einspielungen merklich und hörbar ihr Alter vermitteln (was vielleicht vermeidbar gewesen wäre, aber dazu kommen wir noch). Einst erschienen sie auf mehreren Labels zeitgleich: Angel Records in UK, Columbia in US und in vielen anderen Ländern, später wechselten sie einheitlich zum EMI-Label, heute bekommen wir sie von Warner Classics. Der kongeniale Plattenproduzent Walter Legge hatte Walter Gieseking, dem sein Ruf als „unvergleichlicher“ Debussy-Interpret vorauseilte, ab 1951 ins Studio gebeten, um mit ihm unvergängliche Referenzaufnahmen anzufertigen.

In gewisser Weise hat das auch geklappt: Jedenfalls sind die Gieseking-Einspielungen bis zum heutigen Tag in fast jeder „Referenz“-Liste zu finden, die sich mit Debussy auseinandersetzt. Und es hat auch wieder nicht geklappt, denn erstens setzte sich schon wenige Jahre nach den Aufnahmesessions mit Gieseking die Stereo-Technik durch, und die Mono-Einspielungen Giesekings wurden damit (in den Augen vieler Technikbegeisterter) für lange Zeit obsolet. Zweitens ist in dem beeindruckenden Debussy-Konvolut Giesekings eben auch einfach nicht alles „Referenz“, mal ganz abgesehen davon, ob man sich mit Giesekings vergleichsweise nüchternem Stil überhaupt anfreunden mag: Das fordert manchem heutzutage vielleicht etwas Eingewöhnung ab, wo wir es doch allzu oft gewohnt sind, Debussy anders, schwelgerischer, grenzgängerischer, avantgardistischer und ja, vielleicht auch kitschiger serviert zu bekommen.

Geht man objektiv an die Sache heran, fällt zunächst auf, dass Gieseking zwar ein fabelhafter Pianist mit wunderbaren Klangfarben und einem grandiosen Anschlag gewesen sein muss (die Tontechnik lässt allerdings nicht immer einwandfreie Schlüsse zu), dass es aber auch zu seiner Zeit schon bessere Techniker gegeben hat. Besonders fällt dies natürlich bei Debussys Études auf, die man definitiv anderswo nicht nur sauberer, sondern auch gehaltvoller gespielt bekommt als von Gieseking. Und so zeigt sich eigentlich der gesamte Zyklus der Aufnahmen Giesekings von uneinheitlicher Größe: Bei den Images, Estampes, Préludes und Children’s Corner in Giesekings Interpretation würde auch ich bei der Einstufung „Referenz“ nicht lange zögern, unter der Voraussetzung, dass es eine Referenz unter mehreren möglichen ist. Die Suite bergamasque, einige der einzelnen Solostücke, Pour le Piano und vor allem die 12 Études muss man meiner Meinung aber nicht unbedingt von Gieseking haben. Da gibt es genügend modernere Alternativen, die mindestens gleichwertig, wenn nicht überlegen sind. Ich finde vor allem Giesekings Pedalarbeit manchmal geradezu schludrig, was dann doch überrascht.

Kommen wir abschließend zum Ärgerlichsten an dieser Box: Dem Klang. Dieser mag bereits ab Original limitiert gewesen sein, aber die vielgelobten Restaurateure der Abbey Road-Studios haben sich hier auch nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Die hier angewandte „Methode Holzhammer“, bei der einfach die Höhen rausgedreht werden, um wahlweise Bandrauschen oder Plattenknacksen zu eliminieren, war auch 2011, als dieses „Remastering“ entstand, eigentlich ein „No Go“. Wie fantastisch selbst deutlich frühere Mono-Aufnahmen bis in die 1930er-Jahre hinein klingen können, wenn man sich mit einem gewissen „Grundrauschen“ zufrieden gibt (was meistens wesentlich besser ist, als zu versuchen, jegliche Nebengeräusche, vor allem statische Nebengeräusche wie Bandrauschen oder Plattenknacksen, ganz auszuschalten), zeigen Archivveröffentlichungen anderer Labels oder auf die Restaurierung historischer Aufnahmen spezialisierter Firmen. Hier hätte definitiv mehr herausgeholt werden können und müssen: Der flache, dumpfe Klang dieser Box ist meiner Vermutung zufolge wohl eher eine Verschlechterung gegenüber den originalen LPs, was einen auch zum Preis von neun Euro einfach ärgert.

Fazit: Zweifellos interessante Aufnahmen von hohem Wert, die aber qualitativ durchaus Untiefen aufweisen, kommen hier zum Billigstpreis und in einem eher drittklassigen Remastering ins Haus. Ob man das braucht oder doch lieber zu moderneren Alternativen greift (selbst, wenn auf diesen dann nicht der Name Gieseking prangt), ist auf jeden Fall eine kritische Überlegung wert.

[Grete Catus, Januar 2018]

„Wie es alle machen“? Oh nein! – Mozarts Da-Ponte-Oper als makellose Interpretation von subtiler Schönheit

Erato, LC 04281; EAN: 8 25646 82306 2

Bekanntermaßen ist die Zahl der Mozart-Operneinspielungen gerade im Bereich der Da-Ponte-Opern äußerst vielfältig, ja man möchte sagen: unüberschaubar. Man denke nur an die diversen Aufnahmen des eingefleischten Mozart-Dirigenten Karl Böhm, sowohl unter dem EMI- und Decca- als auch dem Deutsche Grammophon-Label. Darunter finden sich mindestens jeweils drei Einspielungen und Mitschnitte einer jeden dieser Opern. Selbiges gilt beispielsweise auch in ähnlichem Ausmaß für die Aufnahmen von Sir Georg Solti oder Herbert von Karajan.

Die vorliegende Aufnahme nun, beheimatet unter dem Label Erato (heute ein Unterlabel von Warner Classics) versprüht einen ganz besonderen und einzigartigen Zauber. Es ist der nostalgische Flair einer vermutlich untergegangenen Welt, einer „aurea aetas“, der goldenen Zeit des karajanesken Musiktheaters. Beheimatet ist diese in einer der schaffensfreudigsten Perioden des Stereozeitalters. Es war eine Zeit unsterblicher Dirigenten und vergöttert-umjubelter Sänger, primadonnenhafter Diven und hinreißender, italienischer Tenöre. Außerhalb dieses elitären soziokulturellen Rahmens ist es auch eine Zeit politischer Veränderungen, die Zeit des Brusthaar-Toupets, die Zeit von LSD sowie noch von Led Zeppelin und Pink Floyd.
Wir schreiben das Jahr 1977. Der Frühling ist eingezogen, es ist Mai. Auch um den Palais de la Musique zu Strasbourg beginnt es zu diesem Zeitpunkt rundherum zu blühen, in welchem sich gerade eine herausragende Sängertruppe um den französischen Dirigenten Alain Lombard versammelt hat. Ihr gemeinsames Projekt: Mozarts schillernde Ensemble-Oper „Così fan tutte“.

Die Maori-stämmige Sopranistin Kiri Te Kanawa hatte ihr Platten-Debüt bereits 6 Jahre zuvor mit der kleinen Nebenrolle der Contessa Ceprano in Verdis „Rigoletto“ (EAN: 028941426925) neben Luciano Pavarotti und Joan Sutherland gegeben. Ihre warme, leicht dunkel timbrierte und wandlungsfähige Stimme war es vor allem, die sie zu einer der Lieblingssopranistinnen Sir Georg Soltis machte und für die Rolle der Fiordiligi geradezu prädestinierte. In den jungen Jahren ihrer Karriere verfügte Te Kanawa über ungeahnte lyrische Qualitäten sowie über genügend Flexibilität in den koloristischen Passagen, was für die großen Mozart-Partien nahezu unabdingbar ist – anders als in den mittleren und späten Jahren ihres Schaffens, welche sich durch eine dunklere Nachfärbung ihres Timbres und infolge der verbreiterten und schwereren Stimme auch durch weniger Agilität kennzeichnen. An ihrer Seite steht der glanzvolle und sinnliche Mezzosopran von Frederica von Stade, welche ihr Platten-Debüt gerade einmal zwei Jahre vor dieser Einspielung gab. Bekannt wurde die in New Jersey geborene Mezzosopranistin zumal durch die Interpretation von Mozart- und Rossini-Rollen sowie durch diverse Aufnahmen unter Herbert von Karajan (wie vor allem „Pelléas & Mélisande“ von Claude Debussy; EAN: 5099996672327). In der vorliegenden Aufnahme gestaltet sie die Rolle von Fiordiligis Schwester Dorabella. Interessant ist dabei auch, dass sowohl Kiri Te Kanawa als auch Frederica von Stade ihr gemeinsames US-Bühnendebüt am 30. Juli 1971 in Mozarts „Le Nozze di Figaro“ im Opernhaus Santa Fe in New Mexico begingen, Te Kanawa als Contessa und von Stade in der Rolle des Cherubino. Insofern verwundert es wenig, dass es sich in dieser Aufnahme bei beiden bereits um ein eingespieltes Team handelt.

Beider Stimmen verschmelzen in den Ensemble-Nummern, insbesondere aber in den intimen Duetten, zu einer derart harmonischen Einheit, dass man meinen könnte, es müsse sich dabei um eine einzige Stimme handeln. Phrasierungen und Atempausen sind bis ins letzte wohllautende Sechzehntel exakt aufeinander abgestimmt, Legati, Portamenti und Koloraturen bis ins kleinste Detail ausgearbeitet. Gerade wenn man denken mag, eine so klangschöne Einheit rechtfertige den Verdacht des Langweiligen, ja Emotionslosen, wird man eines Besseren belehrt. Beide Diven gestalten ihre Rollen mit der idealistischen Frische ihrer blühenden Jugendlichkeit und größter Expressivität, denn auch in ihrer vollkommenen Einheit, ihrer geschlossenen Paarung spiegeln sich Kontrast und gegensätzliche Leidenschaften wider. Ein scheinbares Paradox, eine sprichwörtliche Quadratur des Kreises, möchte man meinen. Selten verspürt man eine dermaßen ausdrucksstarke mentale Einheit wie bei Te Kanawa und von Stade. Man höre sich nur die gänsehautverdächtigen Nummern „Ah guarda, sorella“ zu Beginn des ersten Aktes sowie mehr noch das „Ah che tutta in un momento“ am Schluss desselbigen an! Erst da wird einem bewusst, wie Mozart klingen kann. Allein wegen diesen beiden Ausnahme-Sängerinnen würde sich die Anschaffung dieser Aufnahme allemal lohnen, doch des Lobes ist an dieser Stelle bei Weitem noch nicht genug getan.

Als weitere Stars dieser Aufnahme müssen auch der Dirigent und sein Orchester genannt werden. Noch fern den Bewegungen der historischen Aufführungspraxis dirigiert Lombard einen äußerst feinsinnigen und gefühlvollen Mozart. Er lässt die Partitur atmen, gestattet jeder Phrase die Zeit, welche sie braucht, um sich zu entwickeln. Lombard ist der eigentliche Klangmagier dieser Aufnahme, denn mittels seiner kundigen Hände lotet er die filigrane Balance zwischen Sängerkorpus und Instrumentarium aus, wählt jeweils instinktiv immer das angemessene Tempo und gibt den Sängern stets den größtmöglichen Entfaltungsraum und die Sicherheit, um der subtilen Schönheit der Partitur zu größtmöglichem Glanz und Wohllaut zu verhelfen. Große dynamische Bögen werden auf überzeugende Art und Weise gestaltet, von zarten, melancholischen Tönen bis hin zu feurig-leidenschaftlichen Sequenzen, welche mitunter, wenn passend, auch ein komödiantisches Kolorit nicht vermissen lassen. In dem elsässischen Orchestre Philharmonique de Strasbourg hat der Dirigent einen höchst emphatischen und einheitlichen Klangkörper gefunden, der es aufs Beste versteht, besagte Balance mit der nötigen Transparenz und Differenziertheit auszustatten. Auch der engagierte Choeur de l’Opéra du Rhin verdient an dieser Stelle großes Lob.

Von den übrigen Sängern sind noch David Rendalls Ferrando und Teresa Stratas Despina hervor zu heben. David Rendalls Tenor ist von lyrischer Kraft und kerniger Agilität. Technisch weiß er durch ein samtenes Messa di voce, ausdrucksstarke Pianissimi und geschickte Verzierungen zu überzeugen. Aufgrund dieser versierten Eigenschaften ist es nicht allzu verwunderlich, dass Ferrando das Herz Fiordiligis, der Dame seines Wettkonkurrenten, in Null-Komma-Nichts zum Schmelzen bringt. Ein eindrückliches Zeugnis ist in dieser Hinsicht das Duett „Fra gli amplessi“ im zweiten Akt.

Die griechische Sängerin Teresa Stratas vermag mit ihren schauspielerischen Fähigkeiten eine äußerst kokette und komödiantische Despina zu zeichnen. In der Rolle des anstiftenden Naivchens und der Verbündeten Don Alfonsos bringt sie ihren neckischen Soubretten-Sopran zu voller Geltung.

Als nicht unwesentlicher Rest der Sängertruppe um Lombard seien darüberhinaus noch der stattliche Bariton Philippe Huttenlochers in der Rolle des Guglielmo und der voluminöse belgische Bass von Jules Bastin in der Rolle des Don Alfonso gewürdigt.

Das Zusammenspiel all dieser Partien erweckt den Eindruck eines eingespielten und perfekt aufeinander abgestimmten Ensembles, wie man es vielleicht noch am ehesten von Wiener Mozart-Ensembles der Nachkriegszeit um Dirigenten wie Josef Krips in Erinnerung behalten hat. Die großartige Aufnahme-Akustik und Räumlichkeit des Klanges setzt der vorangegangenen Liste des Lobes ein weiteres i-Tüpfelchen auf. Eine Aufnahme, die den Glanz dieses goldenen Zeitalters wieder heraufbeschwört und durch ihren nostalgischen Zauber sowie ihre absolute Einzigartigkeit besticht. Così fan tutte? Mitnichten!

So liegt hier meines Erachtens eine der besten „Così fan tutte“-Darbietungen der Plattengeschichte vor.

[Georg Glas, Juni 2016]

Neue Welten

Warner Classics, LC 02822; EAN: 8 25646 13201 0

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Das gesamte Symphonieschaffen Antonín Leopold Dvořáks, seine Legenden und andere Orchesterwerke wie Auszüge aus den Slawischen Tänzen spielte der in Uruguay geborene und in New York lebende Komponist und Dirigent José Serebrier mit dem Bournemouth Symphony Orchestra auf sieben CDs ein. Die Box erschien bei Warner Classics.

Eines der meistgespielten und bekanntesten Werke der klassischen Musik ist die „Symphonie aus der neuen Welt“, die 9. Symphonie des böhmischen Komponisten Antonín Dvořák, ein jeder wird zumindest eine Auswahl ihrer Themen im Kopf haben und sie sofort wieder erkennen. Umso eigenartiger eigentlich, dass nur sie so zu Weltruhm kam. Neben dem überragenden Cellokonzert und dem Violinkonzert werden die Symphonien Nummer sieben und acht auch noch recht häufig gespielt, doch was ist mit deren sechs fantastischen Vorgängern, die in den Archiven verstauben? Bereits in der ersten Symphonie, „Die Glocken von Zlonice“ von 1865, ist der typische Dvořák-Stil unverkennbar und manifestiert sich in jedem weiteren seiner symphonischen Werke. Das ausgiebige Exzerzieren und Steigern von so prägnanten wie einprägsamen Themen darf als eines der zentralen Charakteristika von Dvořáks Musik angesehen werden und zieht sich von seinen frühen Kompositionen bis hin zu den fünf späten Tondichtungen, die nach den Symphonien entstanden sind. Obgleich der Komponist Anfangs wenig Glück mit der Symphonie zu haben schien – die erste galt als verschollen und wurde erst 1936 als Antiquariatsfundstück uraufgeführt, und auch die zweite war lange Zeit verloren –, schrieb er weiter und schenkte so der Welt noch sieben weitere Symphonien, jede für sich ein wahrhaft bedeutendes Werk.

Dieses bedeutsame Schaffen fiel nun in die Hände von José Serebrier, der sowohl als Dirigent wie auch als Komponist nicht zufällig einen großen Namen hat. In beiden Bereichen sind seine Leistungen auf einer großen Anzahl an CD-Veröffentlichungen für verschiedenste Labels belegt. Immer wieder spielt Serebrier auch unbekanntere Werke ein und schenkt uns somit Referenzaufnahmen in Vergessenheit geratenen Repertoires. Nach seiner letzten Warner-Box mit sämtlichen Symphonien und Konzerten von Alexander Glazunov 2012 lautete also das nächste große Projekt: Dvořák.

Auch hier gelangen einmal wieder absolute Referenzaufnahmen. José Serebrier entlockt dem Bournemouth Symphony Orchestra einen vielseitigen und farbenreichen Klang, es entsteht eine unvergleichlich dichte Struktur, und Serebrier besticht mit einem Gespür für lange Steigerungen bis hin zur unfassbar berstenden Spannung. Gerade auch Wiederholungen, die viel zu oft lediglich als simple und stur gleiche Abfolgen dargeboten werden, erhalten hier einen musikalischen Sinn und dienen dem Aufbau. So wird beispielsweise die Expositionswiederholung der Neunten ein wahres Erlebnis, aus dem vernebelten ersten Vortrag entsteht eine viel aufgeladenere und drängendere Wiederholung, welche unweigerlich auf den Höhepunkt in der Durchführung hinführt. Bei all dem legt der Dirigent zudem feinstes Rhythmusgefühl an den Tag, welches der Musik eine gewaltige Prägnanz verleiht. Unweigerlich wird ersichtlich, wie viele eigene Gedanken sich Serebrier über diese Musik gemacht, wie lange er mit seinem Orchester geprobt hat und wie frei er doch die Musik aus sich heraus entstehen lässt – nichts wirkt gekünstelt oder gewollt, alles erfüllt seinen eigenen musikalischen Zweck und entgleist zu keiner Zeit in falsche Übertreibungen. Auch der interessante Booklettext entstammt der Feder des Dirigenten und lässt den Leser wissenswerte Details über die Werke und im Falle der ersten Symphonie auch über die Korrekturen (sowie das lange Hadern mit den offensichtlichen Fehlern) erfahren.

Doch ist kein Musiker etwas ohne sein Instrument und kein Dirigent ohne sein Orchester. Und auch das „Instrument“ von José Serebrier ist auf Hochglanz poliert und makellos rein. Das Bournemouth Symphony Orchestra brilliert durch technisch einwandfreie Leistung und außergewöhnliche musikalische Darstellungsgabe. Sämtliche Soli passen sich in den Gesamtklang ein und sind frei von mechanischem Vibrato oder Eigenzurschaustellung. Mir persönlich besonders im Kopf geblieben sind die herrlichen Solopassagen der großen Flöte, die so unberührt rau und hauchig ertönten, dass direkt das Schwingen des Materials Kern des Klanges zu sein schien.

Einmal wieder gelingt es José Serebrier, mit einer Gesamtaufnahme vollkommen zu begeistern. Mit jugendlicher Frische und gereifter Auffassungsgabe gelingt es ihm, den Symphonien eine unverbrauchte Vitalität in größter Natürlichkeit zurückzugeben – eine absolut uneingeschränkte Empfehlung wert!

[Oliver Fraenzke, März 2016]