Archiv für den Monat: Mai 2020

Vom “bad boy” zum “good boy”

Avi-music, 8553239; EAN: 4 260085 532391

Alessandro Fagiuoli und Alessia Toffanin vollziehen die Wandlung des “Bad boy of music“, George Antheil, zu einem der Tradition zugewandten Komponisten anhand seiner vier Violinsonaten nach. Chronologisch beginnen sie mit der viersätzigen Ersten Sonate, die Olga Rudge gewidmet ist, und der Ezra Pound „best of friends“ zugeeigneten einsätzigen Zweiten Sonate je von 1923. Ein Jahr später entstand die Dritte Sonate, welche auf vorliegender CD erstmalig eingespielt wurde, und uns mit ganz anderen Klängen verdutzt. Nach einer Pause von über 20 Jahren schrieb Antheil seine Vierte Sonate 1947/48 als „New Second Violin Sonata“, nachdem er die ursprünglich zweite aberkannte.

Bevor George Antheil zum anerkannten Filmmusikkomponisten wurde und mit seinen freudestrahlenden wie eingängigen letzten Symphonien zum Publikumsliebling avancierte, intendierte er genau das Gegenteil: als Vorreiter des Futurismus wollte er sich einen Namen machen, provozieren und aufreiben, das Instrument zur Maschine verstümmeln. Heute kann man sich kaum vorstellen, dass das Ballet mécanique und A jazz symphony (2. Version) vom gleichen Autor stammen.

Als Antheil 1923 seine Erste Violinsonate schrieb, gelang ihm direkt der große Wurf hin zu einer eigenständigen, provokanten und doch durch ihren aberwitzigen Schwung mitreißenden Sonate. Ein gleichbleibendes Motto durchzieht die vier Sätze, in denen jeweils wenig Entwicklung stattfindet zugunsten von kubistischer Aneinanderreihung verschiedenartiger Elemente, die in sich höchstens rhythmisch fortgesponnen werden. Dabei verlangt Antheil dem Streichinstrument barbarische Vortragsarten ab, dass es gar dem Klang einer Säge gleichkommen soll. Die beiden langsameren, aber nicht weniger intensiven Mittelsätze entführen uns in den Orient, bevor mit dem Presto-Finale der Kopfsatz noch weiter in die Höhe getrieben wird. Im gleichen Jahr entstand die Zweite Sonate, in welcher die Mechanisierung des Klaviers ihr Maximum erreicht, wenn der Pianist am Ende die Tasten gegen zwei Trommeln eintauscht. Darüber hinaus adaptiert Antheil alle möglichen damals populären Melodien, indem er sie ihren Genres entreißt, verzerrt und schließlich verstümmelt in seine Sonate integriert. Stilistisch erscheint sie wie aus einem Guss mit dem Erstlingswerk, jazzige bis vertrackte Rhythmen, Klangtrauben am Klavier und brutale Strichweisen auf der Geige.

Merkwürdig zurückgehalten und reduziert wirkt dagegen die ein Jahr später entstandene Dritte Violinsonate. Entweder darf sie als glühende Verehrung für oder aber als kühner Raubzug gegen Strawinsky angesehen werden darf: So ziemlich alles in dem etwa 18 Minuten langen Satz lässt sich in deutliche Verbindung mit dem Russen bringen. Am offenkundigsten ist der Bezug zu Petruschka, die Antheil inspirierte mitsamt ihrer Bitonalität, den Melodien des Jahrmarkts (Antheil zeigte natürlich besonderes Interesse an der Drehleier), den wuselnden Klangflächen und den hemmungslosen Überlagerungen scheinbar nicht zusammenpassenden Materials; aber auch Sacre du printemps erhält einen Ehrenplatz in diesem Werk. Von den vier Sonaten mag dies die sperrigste und undankbarste sein, aber nur auf den ersten Blick, denn unter der Oberfläche verblüfft die meisterlichen Setzkunst, der formalen Konzeption und die klangliche Differenzierung.

Als Antheil 1933 nach New York zurückkehrte, hinterließ er eine klaffende Lücke im Verzeichnis seiner ‚ernsten‘ Werke und finanzierte sich mit Filmmusiken seinen Lebensunterhalt, erst 1945 entstand eine Sonatine für Violine und Klavier, die nun aber nichts mehr vom „Bad boy of music“ aufwies, sondern ganz im Gegenteil traditionsbewusst und weitgehend verständlich war. Die Vierte Violinsonate entstand genau in der Zeit dieses Umschwungs mit klassisch-dreisätziger Form und nachvollziehbaren Entwicklungen. Da Antheil seine ursprünglich zweite Sonate nun verleumdete, sollte dieses Werk als „New second violin sonata“ den Platz des 25 Jahre früheren Werks einnehmen.

Aufgrund ihrer horrenden technischen Schwierigkeiten wurden diese Sonaten wie allgemein ein Großteil des Solo- und Kammermusikwerk Antheils nur selten aufgeführt – die Dritte der Violinsonaten wurde auf dieser CD gar erstmalig eingespielt. Alessandro Fagiuoli und Alessia Toffanin stellen sich in dieser Aufnahme gleich allen vier dieser Sonaten und liefern ein nicht nur mechanisch einwandfreies Ergebnis ab. Flexibel finden sich die beiden Musiker in allen Stilwelten zurecht, die Antheil erschließt, bleiben schwungvoll und gewitzt, ohne die notwendige Strenge zu bewahren. Sie genießen förmlich die Skurrilität und Entrücktheit dieser Werke, gehen in den abenteuerlichen Klangeffekten auf. Dabei bewahren sich Fagiuoli und Toffanin davor, sich nur auf das reine Geräusch zu konzentrieren: es gelingt ihnen auch, die einzelnen Teile in Bezug zu setzen. In den frühen Sonaten blicken sie unter die triumphierende Oberfläche und erkennen die wahre Substanz. Wie gestaltungsfähig die beiden Musiker tatsächlich sind, merkt der Hörer spätestens in der späten Vierten Sonate, die durch ihre innere Ausgewogenheit und formale Stimmigkeit noch feineres Gespür von den Darbietenden verlangt. Hier trumpfen die Musiker dieser Aufnahme mit großen Bögen, harmonischem Verständnis und formaler Stringenz auf, kontrastieren durch vielseitige Tonfärbung und präzise abgestufte Artikulation. Eine rundum gelungene Aufnahme, die mitreißt und die Spannung die gesamten 80 Minuten Spieldauer aufrechterhält.

[Oliver Fraenzke, Mai 2020]

Ein Mixtape voll Ave Maria

Antes Edition, BM179001; EAN: 4 014513035950

Auf fünf CDs stellt die Sopranistin Andrea Chudak insgesamt 68 Ave Maria-Vertonungen aus sieben Epochen vor. Die vielfältige Sammlung umfasst Musik von anonymen Vertonungen aus der Gregorianik und klingenden klösterlichen Gebeten bis hin zu mehreren extra für die Sammlung komponierten Liedern. Besetzt sind die Stücke für ein bis drei Stimmen entweder a cappella oder mit kammermusikalischer Begleitung. Wir hören Andrea Chudak (Sopran), Ekaterina Gorynina (Cello), Matthias Jacob (Orgel), Matthias Jahrmärker (Bariton), Stefan R. Kelber (Viola), Robert Knappe (Orgel), Lidiya Naumova (Gitarre), Olaf Neun (Erzlaute), Julian Rohde (Tenor), Jakub Sawicki (Orgel), Michael Schepp (Violine), Andreas Schulz (Klavier), Susanne Walter ([Solo-]Violine) und Almute Zwiener (Englisch Horn, Oboe).

In diesem Mammutprojekt erleben wir ein Streiflicht durch die diversen Vertonungen eines der berühmtesten Gebete der katholischen Kirche: Ave Maria. Wie die gesamte Geschichte aufgeschriebener Musik in Europa begann auch die Geschichte der musikalischen Marienanrufung in den Klöstern. Durch Gottesdienste kam auch die Gemeinde in Berührung mit den Melodien und begann, diese zu rezipieren. Der musikalische Nachklang der Gottesdienste verselbstständigte sich, und so traten nach und nach auch häusliche Kompositionen hinzu, um der Liebe zu Gott und der Musik zeitgleich zu frönen. Spätestens im 19. Jahrhundert standen nun hausmusikalische und kirchliche Werke in gleichem Umfang nebeneinander, auch für die Salonkultur nahm das Ave Maria eine wichtige Rolle ein. Verantwortlich dafür war zunächst Schubert mit seinem Klavierlied, welches schnell Anklang fand und regelmäßig gesungen wurde, gewissermaßen auch zu neuen Kompositionen inspirierte. Heute erfreut sich Gounods Meditation über Bachs Präludium in C-Dur aus dem ersten Teil des Wohltemperierten Klaviers beinahe noch größere Beliebtheit, dem Stück wurde später der Text von Ave Maria untergelegt – so avancierte der kirchliche Text bis heute zum Lieblingsstück für avancierte Laien wie für professionelle Musiker.

Auf den ersten Blick irritiert die vorliegende Box mit den 68 Ave Marias: Denn auf der Außenseite findet sich keine namentliche Erwähnung der Musiker, die zu hören sind, Auch spezifiziert nichts die dargebotenen Stücke näher: auf der Rückseite der Box finden sich jeweils die Namen der Komponisten, nirgends aber eine Opusnummer, Besetzung oder ähnliches, so dass man bei manchen mehrfach vertretenen Komponisten glauben könnte, es handle sich um das gleiche Stück in verschiedenen Aufnahmen. Aufschluss über all das gibt erst das ausführliche Booklet, welches wohl niemand vor einem potentiellen Kauf dieser Kollektion erst studieren wird. Weiter verwundert mich die Aufteilung der 68 Titel auf fünf CDs, ließe sich die Gesamtspielzeit von unter vier Stunden auch problemlos auf drei Scheiben pressen. Ich würde die mehrfache Aufspaltung durchaus verstehen, wenn sie thematische, epochale, stilistische oder sonstige Sinnverwandtschaften offenlegen würde; doch von solchen Gruppierungen distanzierte sich Projektleiterin Andrea Chudak. Die ursprüngliche Planung nach chronologischer Ordnung verwarf sie, als sie merkte, dass es im Gesamteindruck kontrastlos und teils eintönig wirkt, und warf nun die Stücke mixtapeartig durcheinander. Dieses Vorgehen birgt natürlich den Nachteil, dass man sich als Hörer etwas orientierungslos verläuft, weder die musikgeschichtliche Entwicklung nachvollziehen, noch gezielt Zusammenhänge erkennen kann, offenbart dafür hinreißende Überraschungen und öffnet das Ohr für die Unterschiedlichkeit der einzelnen Stücke; durch die Ordnungslosigkeit stechen manche Stücke noch brillanter aus dem Umfeld hervor.

Bei solch einer umfangreichen Kollektion überrascht es wenig, dass sowohl die Qualität der einzelnen Stücke wie auch die der Darbietungen variiert. Im Großen und Ganzen jedoch überzeugt die Box durch stilistisch flexible und musikalisch empfundene Aufnahmen. Eine genaue Aufschlüsselung der einzelnen Stücke würde an dieser Stelle ihren Sinn verfehlen, darum gehe ich streiflichtartig vor: Besonders überraschen die ganz frühen Vertonungen, zwei anonyme gregorianische Werke, und je eines von Adam Gumpelzheimer – am eindrücklichsten wohl das Sopransolo von Hildegard von Bingen. Die Purität und Klarheit dieser Stücke bei innigst religiösem Gefühl wirkt bis heute unverfälscht und zeigt, dass diese beinahe überhaupt nicht beachtete Epoche doch ihre Schätze birgt. Gleiches gilt für die drei Vertonungen eines Franziskanermönchs aus dem 18. Jahrhundert, die zwar auf Kenntnis der aktuellen Musikszene schließen lassen, aber doch wie aus einer fernen Welt herüberklingen. (Bei den Vertonungen der alten Meister Giulio Caccini und Jakob Arcadelt handelt es sich um Fälschungen aus dem 19. Jahrhundert, was nur aus dem Begleittext ersichtlich wird.) Aus der Epoche der Klassik überzeugt neben Mozarts Stück, das eigentlich seiner Oper Così fan tutte entstammt, vor allem das Ave Maria von Luigi Cherubini, einem heute unterschätzten Genie von unvorstellbarer Gabe und Inspiration.  Für eine Auswahl an Komponisten aus dem 19. Jahrhundert suchte Chudak mit ihrem Team durchaus abseits des Mainstreams, entdeckte allerdings auch keine Komponisten, die mir kein Begriff wären. Hier schlägt auch die große Stunde der Opernkomponisten, beginnend mit den Werken vom 1803 geborenen Adolphe Adam, der gleich mit mehreren gehaltvollen Beiträgen vertreten ist, die mit Oper wenig zu tun haben, sondern noch als sakrale Werke gelten dürfen. Anders die Ave Marias besonders von Verdi, Bizet, Rossini und Donizetti, wohlklingende Arien mit weltlicher Passion. Spannend finde ich die Vertonung von Joseph Rheinberger, Anton Bruckner (der als tiefgläubiger Christ eine ungeheure Menge sakraler Musik komponierte), Gabriel Fauré und die beiden Beiträge des bedeutenden Italieners Marco Enrico Bossi, dessen Musik eine Renaissance verdient hätte: bis jetzt kennt man hauptsächlich seine Orgelwerke. Eine Sonderstellung nimmt Karl May mit seinem Ave Maria aus Winnetou ein, bei dem er tatsächlich auch die Musik schrieb, mit welcher der Protagonist schließlich auch sein Leben aushaucht: die Version von Arnold Fritsch für Gitarre und Sopran vermittelt glaubhaft das Cowboy-Flair. Aus dem frühen 20. Jahrhundert begeistern vor allem die Beiträge von Marcel Dupré, dem Brasilianer Heitor Villa-Lobos (besonders das in seiner Muttersprache gehaltene Ave Maria besticht durch seine Eindrücklichkeit), und Leoš Janáček, ein kantables wie zeitgleich raues Werk mit einer himmlischen Soloviolinstimme. Die meisten der späteren Vertonungen bleiben recht traditionell und werfen zumeist nur die herkömmlichen Herangehensweisen an den Text wieder und wieder auf. Bemerkenswert hier lediglich Bertold Hummel und José Bragato. Von den Zeitgenossen sei besonders Bo Wiget genannt, der es als einziger wagte, vollkommen unbefangen und erfinderisch an das Sujet heranzutreten: textlich reduzierte er alle Konsonanten auf den Laut „m“, was die Perspektive des Jesuskindes vermittelt, musikalisch fächerte er die Phrasen auf, seziert die Melodien und fügt alles in ein stimmiges, unter die Haut gehendes Resultat zusammen.

Musikalisch können die meisten der hier zu hörenden Vertonungen überzeugen, wobei es natürlich kein Wunder ist, dass bei knappen vier Stunden Spielzeit innerhalb von zwei Mal vier Tagen Drehzeit irgendwann auch die Luft ausgeht. Besondere Liebe zum Detail brachten die Musiker bei den frühen Stücken dieser Kollektion ein sowie bei den eigenständigeren, ausgefalleneren Werken wie eben Villa-Lobos, Janáček, Bragato oder Wiget. Die romantischen wie post-romantischen Beiträge, die oft doch das immer Gleiche aussagen und mit teils oberflächlicherem Effekt arbeiten, geraten hingegen etwas blasser. Besonders die berühmtesten der Beiträge wurden sängerisch mehr pflichtbewusst als inspiriert dargeboten, wovon sich gerade der Pianist anstecken ließ. Eine wandelbare Stimme präsentiert Sopranistin und Projektleiterin Andrea Chudak, die sowohl die Schlichtheit der vorbarocken Musik, die Volltönigkeit der Romantik wie die Tiefgründigkeit der Moderne in der Stimme trägt. Auch die beiden Männerstimmen, Matthias Jahrmärker und Julian Rohde, besitzen charakteristische Timbres, mischen sich gut mit den Instrumenten und anderen Stimmen, bringen luzide Tonqualität in die verschiedenen Stile. Die Instrumentalisten folgen allesamt klar, präzise und einfühlsam, ohne sich jemals in den Vordergrund zu drängen oder sich klanglich von den Sängern abzukoppeln. Besonders die Streichersektion erreicht teils orchestral anmutende Effekte in dichter Struktur bei klarer Durchhörbarkeit der Mehrstimmigkeit.

[Oliver Fraenzke, Mai 2020]

Aus China und nach China

Ars Produktion Schumacher, ARS 38 566; EAN: 4 260052 385661

„Chinese Dreams“ heißt die neue CD mit der Pianistin Lydia Maria Bader. Sie spielt Werke chinesischer Komponisten sowie Musik, die durch dieses Land inspiriert wurde. Wang Luobins „In that place wholly faraway“ (arr. Zhang Zhao) eröffnet die Platte, es folgt die Ballett-Suite “Die Meerjungfrau“ (arr. Wu Zuquiang) und „Sonnenblume“ aus der Feder Wang Yu Shis (arr. Lin Eryao). Nach diesen originär chinesischen Beiträgen kommen drei „Chinesische Stücke“ von Abram Chasins, „Lotus Land“ von Cyril Scott und „Alt-China, Fünf Traumdichtungen“ von Walter Niemann.  Ren Guang schrieb „Silberwolken jagen den Mond“ (arr. Wang Jianzholng), was uns wieder zurück nach China führt. Volksliedbearbeitungen von Chu Wanghua und Wang Jianzhong beschließen das Programm.

Vor zehn Jahren tourte Lydia Maria Bader erstmals nach China. Das dortige Konzertleben steckte zu dieser Zeit noch in den Kinderschuhen und in manchen Gegenden nahmen die Zuhörer lange Strecken auf sich, um die deutsche Pianistin zu hören. Auch wenn sich in den letzten zehn Jahren das Konzertleben vollständig veränderte und der Klavierabend zum festen Bestandteil des Kulturlebens etablierte, blieb der Kontakt bestehen. Lydia Maria Bader nahm nicht nur einmalige Erfahrungen von ihren Reisen mit, sondern auch zahlreiche musikalische Impressionen.

Das Klavier setzte sich erst spät in China durch, doch dann umso mehr: als Europa im 20. Jahrhundert von Diktaturen und Kriegen gebeutelt wurde, emigrierten zahllose Musiker nach Asien und errichteten eigene Hochburgen klassischer Ausbildung. So kommt es auch, dass alle Komponisten dieser CD im 20. Jahrhundert wirkten und die meisten der chinesischen Tonsetzer noch unter uns weilen.

Hier zulande kennt man kaum welche der chinesischen Kompositionen, vor Ort scheinen diese Werke sich hingegen größter Beliebtheit zu erfreuen. Man kann mit Recht sogar behaupten, sie feiern Erfolge wie Popmusik: denn in China unterscheidet man nicht wie in Europa zwischen E- und U-Musik, sondern feiert gelungene Melodien gleich welcher Ausarbeitung. Die melodische Komponente ist auch diejenige, die am deutlichsten ausgeprägt erscheint und mit „typischer“ chinesischer Pentatonik tonaler oder modaler Ausprägung sogleich ein asiatisches Flair verbreitet. Harmonisch bleibt die Musik tonal verankert; manche Wendungen erinnern an französischen Impressionismus, doch kamen eben diese Klänge umgekehrt durch die Weltausstellung von China nach Frankreich. Von den Stücken begeistern mich vor allem die „Sonnenblume“ von Wang Yu Shi und das mittlerweile als traditionell geltenden „Silberwolken jagen den Mond“ aus der Feder von Ren Guang, das ursprünglich für traditionelles Ensemble geschrieben wurde, durch seine Klavierfassung von Wang Jianzhong zum Welterfolg wurde.

Während Abram Chasins zu Lebzeiten durchaus zu den gefragten Komponisten zählte, verblasste sein Ruhm bedauerlicherweise nun gut dreißig Jahre nach seinem Tod. Die Orchestration des mittleren der „Drei Chinesischen Stücke“, „Flirtation in a Chinese Garden“, wurde durch Toscanini mit den New York Philharmonic aufgeführt, was zu einem seiner größten Erfolge wurde (höchstens überboten durch die Uraufführung des 2. Klavierkonzerts unter Leopold Stokowski). Walter Niemann – der eine Ausbildung bei Moscheles, Reinecke und Humperdinck genoss – war einer der wenigen deutschen Komponisten, die sich dem Impressionismus annäherten und auch regelmäßig exotische Sujets für seine Kompositionen nutzte. Im Vorwort von Alt-China heißt es: „Er fordert nicht: Du mußt mir glauben, denn ich bin ein Chinese, sondern er bittet: glaube mir, wenn ich, ein Deutscher, mich mit Dir einmal nach China träume.“ – was schließlich zum Motto der CD wurde. Einen ebenso starken Drang zur Exotik verspürte der australische Pianistenkomponist Cyril Scott, der vor allem durch seine legendären Grieginterpretationen bis heute beliebt ist. Er sah sich jedoch im gleichen Maße als Komponist, platzierte sich gar selbst unter den Top 10 seiner Liste der besten Komponisten aller Zeiten.

Mit klarem, perlendem und wohlklingendem Ton brilliert die Pianistin Lydia Maria Bader in diesen aus Asian kommenden sowie den dorthin verweisenden Miniaturen. Ohne sich übermäßige Freiheiten zu nehmen, schafft sie dabei ein Gefühl von Ungezwungenheit und grenzenloser Leichtigkeit, was besonders bei den rauschhaften, dem Impressionismus nahen Stücken einen steten Sog evoziert hin zu mitreißenden Expansionen. In vielen dieser dankbaren kleinen Klavierstücke schafft sie subtile Gegensätze in der vom Komponisten oft wenig differenzierten Dynamik, lässt die Musik auf diese Weise plastisch vor uns entstehen.

[Oliver Fraenzke, Mai 2020]

Die Schminke abgelegt

Steinway & Sons, 30161; EAN: 0 34062 30161 4

Katie Mahan spielt Werke Ludwig van Beethovens in umgekehrt chronologischer Reihenfolge, beginnt mit den Bagatellen op. 126 und geht über die Sonate Nr. 30 E-Dur op. 109 hin zu der titelgebenden „Appassionata“, der Sonate Nr. 23 f-Moll op. 57.

Nach ihrem letzten Album mit Musik des „Classical Gershwin“ [zur Rezension] widmet sich Katie Mahan nun Beethoven. Bei Gershwin überwog die parfümierte und geschminkte Oberflächlichkeit, frei von jeglichem Verständnis für diese Musik ließ der musikalische Gehalt die Pianistin vollkommen kalt und unberührt, so dass lediglich virtuose Tonkaskaden übrigblieben. Entsprechend überrascht nun, dass Mahan bei Beethoven ganz andere Töne anschlägt und beginnt, in der Musik zu suchen und zu forschen, um unter der Oberfläche etwas zu erspüren.

Die raschen Sätze rumoren von innen heraus und glimmen bedrohlich, stets zum Ausbruch bereit: Diese Spannung hält Mahan teils über lange Strecken und verpulvert die Energie nicht frühzeitig. Gerade die Appassionata kommt durch ihre Flächigkeit und großen Dimensionen der Pianistin gelegen, die herben Kontraste und wilden Eruptionen wirken wie gemacht für Mahan. Handwerklich ist sie eh über alle Zweifel erhaben, doch hier gelingt es ihr auch, auf musikalisch-emotionaler Ebene zu wirken und – ohne dies zu forcieren – ihre Persönlichkeit im Spiegel der Musik zu vermitteln.

Teils nimmt sich Katie Mahan allerdings zu viele Freiheiten, macht es sich besonders auf dynamischer Ebene teils recht bequem: gerade hier aber sollte Beethovens detailverliebt ausgeklügelten Anweisungen Folge geleistet werden, denn nirgends ist er so präzise wie hier. Im Finale der E-Dur-Sonate op. 109 kämpft die Pianistin noch gegen die Korrelation der einzelnen Tempobezeichnungen und wagt nicht die auf den ersten Blick waghalsigen Extrema, die Beethoven vorgibt: entsprechend schwanken die Tempi teils willkürlich und gegen Ende versucht sich die Pianistin mit einem deutlichen Accelerando aus der Affäre zu ziehen, was aber gewollt wirkt und nicht dem eigentlichen Sinn der Schlussvariation entspricht. Aus dem Stil fallen manche Pedaleffekte besonders in der Appassionata, die mehr an Debussy als an Beethoven gemahnen. Allgemein klingt einiges recht hochromantisch, was doch noch kerniger und klarer hätte zum Vorschein treten können, wie die robusten und in der Tiefe engen Akkord-Entladungen, die für Beethoven so charakteristisch sind.

Wenngleich also auf vorliegender CD doch einiges störend wirkt und die unausgereifte Oberflächlichkeit hin und wieder hervorbricht, präsentiert Katie Mahan doch ein erstaunlich tiefgründiges Album, das ihre persönliche Sicht auf den großen Jubilar des Jahres illustriert und auf emotionaler Ebene einige spannende Facetten zum Vorschein bringt, die durchaus eine lohnenswerte Erweiterung zum landläufigen Bild Beethovens darstellen.

[Oliver Fraenzke, Mai 2020]

Zwölftonmusik mit überbordender Intensität

Paladino Music pmr 0106; EAN: 9120040732042

Beim kleinen, hochengagierten Wiener Label Paladino Music hat der belgische Pianist Daan Vandewalle das ausufernde 3. Klavierkonzert des griechischen Schönberg-Schülers Nikos Skalkottas eingespielt. Seine Partner in Gent waren das dortige Bläserensemble „Blattwerk“ unter der Leitung von Johannes Kalitzke. Diese nunmehr dritte Einspielung des gewaltigen Zwölftonwerks kann vor allem durch seine fast hemmungslose Emotionalität überzeugen.

Nikos Skalkottas (1904-1949) kam nach frühem Geigenexamen über ein Stipendium 1920 zu Willy Hess nach Berlin, wo er sich jedoch bald ganz der Komposition widmete. Nach Studien bei Robert Kahn, Jarnach und Weill landete er schließlich 1927 in Arnold Schönbergs berühmter Meisterklasse und war dort einer seiner Lieblingsschüler. Psychisch immer ein wenig labil, verließ Skalkottas 1931 aus finanziellen Gründen Deutschland, konnte – zurück in Athen – dort als Komponist allerdings nicht Fuß fassen. Dennoch schrieb er in Griechenland den Großteil seines recht umfangreichen Schaffens. Bemerkenswert ist, dass Nikos Skalkottas neben dodekaphonischen Meisterwerken immer auch weitgehend tonale Musik verfasste, oft zeitgleich; dies nicht etwa nur, um leichter Einkünfte zu generieren wie Schönberg ab und zu im amerikanischen Exil, sondern mit Überzeugung und auf gleichem technisch-musikalischen Niveau. Bekanntestes Zeugnis sind hier die 36 griechischen Tänze.

Blieben die meisten Kompositionen Skalkottas‘ zu Lebzeiten ungedruckt, nicht zuletzt durch seinen frühen Tod, geriet seine Musik erst ab den 1960er-Jahren nach und nach in den Fokus der Öffentlichkeit. Das schwedische BIS-Label bemüht sich seit über zwanzig Jahren um eine Renaissance dieses hochbedeutenden Neutöners. War sein Klavierkonzert Nr. 1 (1931) vielleicht der erste komplett 12-tönige Gattungsbeitrag überhaupt, folgt auf das ebenso meisterhafte 2. Klavierkonzert 1939 das hier vorgestellte Konzert für Klavier, 10 Bläser und Schlagzeug (welches nur äußerst sparsam eingesetzt wird). Lässt einen der Titel sofort an Alban Bergs Kammerkonzert denken, ist Skalkottas‘ fast einstündiges Stück jedoch eine wahre tour de force – nicht nur für den Pianisten. Der Solopart ist so herausfordernd, manuell und von der reinen Notenmasse her, dass man ihn bei der Erstaufführung des kompletten Werkes (London 1969) unter drei Pianisten aufteilte. Unter der Oberfläche der drei ausladenden Sätze, die sich äußerlich alle – gut nachvollziehbar – an die Sonatenform anlehnen, werkelt eine äußerst komplexe Zwölftonstruktur, wo aus drei Hauptreihen das Material für das gesamte Stück generiert wird. Erstaunlich, wie sich der Grieche selbständig neue Techniken erarbeitet hat, die man so etwa in Bergs Lulu antrifft, welche Skalkottas aber damals kaum gekannt haben durfte.  

Wie schon Geoffrey Douglas Madge in der Erstaufnahme (BIS, 2004), braucht der flämische Pianist Daan Vandewalle – seit Jahren auch Duo-Partner von Madge – die rein körperliche Anstrengung nicht zu fürchten: Beide spielten bereits das fast fünfstündige Opus Clavicembalisticum des britischen Exzentrikers Kaikhosru Sorabji – nochmal eine ganz andere Nummer. Ebenfalls von 2004 existiert noch eine dritte Einspielung – mittlerweile vergriffen – mit der griechischen Pianistin Danae Kara unter Friedemann Layer (Decca).

Die Neuaufnahme kommt leider in puncto Aufnahmetechnik nicht an die älteren Produktionen heran: Erreicht BIS eine geradezu phänomenale Transparenz und Räumlichkeit, erscheint die neue CD aus Gent matschig, zu bassbetont und dynamisch durchgehend zu fett. Decca kann ebenfalls mit besserer Durchsichtigkeit punkten. Dazu kommt noch, dass Madge und Kara auch beim Solopart – gerade unterhalb des Forte-Bereichs – nuancenreicher agieren als Vandewalle. Nach lauten Ausbrüchen bzw. Verdichtungen, die in der Partitur in der Tat ff notiert sind, wirken Piano-Passagen bei Vandewalle oft zu laut – insgesamt nimmt er sich bei der dynamischen Gestaltung viele Freiheiten, so etwa im Solo (T. 145 ff.) im 2. Satz cresc. statt dim. usw. Trotz dieses Mankos gelingt dem Solisten und den vorzüglichen Bläsern von Blattwerk aber etwas viel Wichtigeres: Sie machen spannende Musik – und das 55 Minuten lang! Mögen Zwölftonfetischisten – mit der Partitur in der Hand – bei Christodoulou (BIS) und Layer schneller irgendwelche Reihenoperationen erkennen können, läuft dabei die Musik oft ins Leere oder Beliebige. Über Strecken fehlt jegliche Zielgerichtetheit, es geht immer nur schön kompliziert weiter; und so bekommt dieses Mammutkonzert – keinesfalls himmlische – Längen. Ganz anders bei Kalitzke und Vandewalle: Hier verfolgt der Hörer ein echtes Drama in drei Akten – immer hochemotional und bewegend, die Höhepunkte meist schmerzhaft, aber mit beispielhafter innerer Konsequenz. Die gewählten Tempi sind goldrichtig. Der zweite Satz dauert bei Madge ganze sieben Minuten länger, ist zwar detailverliebt, aber verliert seine innere Geschlossenheit. Und die seltsam skurrile „Kirmesmusik“, mit der die Bläser das Finale einleiten, klingt bei aller Durchhörbarkeit lediglich schräg. Die Neuaufnahme wirkt hier sofort gefährlich: Dieser Truppe möchte man nicht nachts in einer dunklen Straße begegnen! Insgesamt verharren Madge und Kara bei ihren Darbietungen in der Kategorie großbesetzter Kammermusik – die Neuproduktion dagegen ist großes Theater für ein großes Publikum. Ja, das Stück ist auch für den Hörer anstrengend, aber hier wird es zum erfüllenden Erlebnis mit überbordender Intensität, einem dauernden Wechselbad zwischen unwirschen, harschen Momenten und solchen von magischer Schönheit: echte griechische Tragödie eben.  

Vergleichsaufnahmen: Geoffrey Douglas Madge – Caput Ensemble, Nikos Christodoulou (2004, BIS-CD-1364); Danae Kara – Orchestre National de Montpellier, Friedemann Layer (2004, Decca 00289 4762561)

[Martin Blaumeiser, Mai 2020]

Oktette aus Russland

Die acht jungen Musikerinnen und Musiker des Oberton String Octets präsentieren uns auf beeindruckende Weise das kaum gespielte Streichoktettrepertoire aus Russland. Auf dem Programm stehen Schostakowitschs frühe Zwei Stücke für Streichoktett op. 11, Reinhold Glières ebenfalls zum Beginn seiner Laufbahn komponierte Streichoktett D-Dur op. 5 sowie eine Rarität: Nikolai Afanassjew mit seinem Doppelquartett D-Dur, welches den Beinamen „Einzugsfest“ trägt.

Selten nur hört man Konzerte oder auch nur Aufnahmen von Streichoktetten, zumal in klassischer Besetzung für zwei Streichquartette. Die Gattung konnte sich zu wenig durchsetzen, um aktiven Anklang zu finden. Repertoire gäbe es durchaus genug, begonnen mit Mendelssohns Jugendwerk, dann einem unvollendeten Versuch von Andreas Romberg und gleich vier in Folge dessen komponierten Oktetten von Louis Spohr; später folgten Raff, Bruch und Bargiel, ein heute unterschätzter, zwar konservativer, aber doch inspirierter Komponist; Svendsen brachte die Gattung in den Norden, Respighi in den Süden und Enescu in den Osten. In jüngster Vergangenheit wurden Streichoktette gerne mit abweichenden Besetzungen komponiert, beliebt sind dabei vor allem die tiefen Besetzungen: Octopus Rex von Ketil Hvoslef beispielsweise verlangt nach acht Celli.

Schostakowitsch eröffnet das Programm dieser CD mit seinen beiden Stücken für Streichoktett op. 11, die er gegen Ende seines Studiums im Alter von 18 Jahren komponierte. Auf ein flirrendes Präludium, das er an Bach anlehnte, folgt ein wildes Scherzo, das bereits die experimentelle Phase einläutet, die er spätestens mit der Zweiten Symphonie zur Blüte brachte – voller doppelbödigem Witz und abgrundtiefem Sarkasmus überwältigt es den Hörer. Eine wirkliche Entdeckung stellt das Streichoktett in D-Dur von Nikolai Afanassjew dar, von dem die meisten Stücke bis heute ungedruckt blieben. Das „Einzugsfest“ betitelte Werk strahlt eine freundliche wie sanftmütige Energie aus, die es durch alle vier Sätze behält und so beim Hören eine innere Wärme schaffen. Melancholischer erweist sich das Glière-Oktett op. 5 ebenfalls in D-Dur. Das fein durchgearbeitete Werk spannt große Bögen und schafft gewaltige Kontraste, zeigt dabei schon beim frühen Glière höchste Meisterschaft in der Melodie- und Kontrapunktfindung.

Innig und natürlich besticht das Spiel der acht jungen Musikerinnen und Musiker des Oberton String Octets, alle in ihren 20er-Jahren. Gerade das junge Alter bringt eine Unverbrauchtheit und Frische, die bei vielen älteren Kollegen verloren scheint. Es gelingt ihnen durchgehend, den gemeinsamen Klang zu kontrollieren und nie übermütig zu werden, was gerade bei Schostakowitsch die Gefahr ist, sorgen aber dennoch für aufbegehrende und wilde Momente. Volles Volumen und runden Klang hören wir vor allem bei Afanassjew, der die Flexibilität und das Feingefühl des Strichs unter Beweis stellt. Glière stellt das formale Denken auf die Probe, was das Oberton String Octet ebenfalls meistert. Eine rundum gelungene und mitreißende Aufnahme, die bis zuletzt fesselt.

[Oliver Fraenzke, Mai 2020]

Unvollendeter Schubert

Linn Records, CKD 593; EAN: 6 91062 05932 9

Das Duo Pleyel, bestehend aus den Pianisten Alexandra Nepomnayashchaya und Richard Egarr, spielt vierhändige Klaviermusik von Franz Schubert für Linn Records ein. Auf dem Programm steht das Rondo D-Dur D. 608, die Sonate in B-Dur D. 617, die Fantasie in f-Moll D. 940, das Rondo in A-Dur D. 951 und das Allegro in a-Moll D. 947 mit dem Titel „Lebensstürme“, nach welchem das Duo Pleyel ihre CD benannte.

Als ich gesehen habe, dass auf der vorliegenden CD vierhändige Klavierwerke auf einem Pleyel-Flügel eingespielt werden, war mein Interesse sogleich geweckt. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts und im 19. Jahrhundert galten diese Flügel als marktführend durch ihren warmen, voluminösen und vielseitigen Klang. Als regelmäßigen Gast begrüßte der Vater Ignaz Pleyel unter anderem Beethoven, der sich begeistert über diese Klaviere aussprach – und für Schubert schließlich Vorbildfunktion hatte. Der Sohn Camille Pleyel hingegen führte intensiven Austausch mit Komponisten wie Frédéric Chopin, dessen Nocturnes op. 9 sogar Camilles Frau gewidmet sind. Hier hören wir einen Flügel aus dem Jahr 1848, also von Camille Pleyel, der dem romantischen, weichen und möglichst farbenreichen Stil angepasst ist, sonor in der Tiefe schnurrt und in den Höhen präzise, aber doch auch lieblich glänzt.

Doch all diese Vorzüge des Flügels nutzt das Duo Pleyel nicht aus. Im Gegenteil: die Aufnahme enttäuscht so sehr, dass ich mich fragen muss, ob die beiden Pianisten das Programm wirklich gründlich einstudiert haben. Selbst der Booklettext von Egarr wirkt wie im Affekt kurzfristig heruntergeschrieben.

Es beginnt bereits damit, dass Schuberts Piano und Pianissimo in der Aufnahme maximal als Mezzopiano, wenn nicht sogar als Mezzoforte zu bezeichnen ist und somit all die introvertiert-schattigen Gefühlswelten fehlen. Gerade das unheimliche Pianopianissimo in der f-Moll-Fantasie, das wie aus dem Nichts schwingen sollte, verfehlt so im deutlich hörbaren Mezzobereich jegliche Wirkung. Umso ruppiger und brutaler schmettert das Forte, dass man im eigentlich galanten D-Dur-Rondo teils beinahe hochschreckt. Die rhythmische Komponente scheint ebenso wenig erarbeitet worden zu sein: die triolischen Passagen wirken starr, gezählt und stellenweise gar errungen, die doppelten bis dreifachen Punktierungen gerade in der Fantasie schwächt das Duo Pleyel zu einfachen Punktierungen ab. Auf musikalischer Ebene herrscht ebenso Flaute, denn nicht eine Melodie wirkt wirklich gesungen, erspürt oder verstanden. Die Noten werden gleichwertig nebeneinandergereiht und manche in der Partitur geschriebene Dynamikänderung halbwegs nachvollzogen, doch abgesehen davon bemühen sich die Musiker nicht darum, die Melodien organisch entstehen zu lassen, was noch dazu für Schubert unentbehrlich sein sollte.

[Oliver Fraenzke, April 2020]