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“Vertrauen in Musik und das gemeinsame Musizieren“

Ein Interview mit Andrea Chudak zu ihrem außergewöhnlichen „Ave Maria“-Projekt

Die Sopranistin Andrea Chudak ist eine Vollblutsängerin! Ihre gesangliche Ausbildung begann noch im Kindesalter, und bereits vor dem eigentlichen Studium wirkte sie schon in professionellen Opernproduktionen mit. Nach ihrem Studium an der Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ in Berlin sang an vielen renommierten Häusern, u.a. Deutsche Staatsoper „Unter den Linden“, Theater an der Wien, Badisches Staatstheater Karlsruhe, Landestheater Detmold, u.v.w. Daneben verfolgt sie ihre Karriere als Konzertsolistin und Liedsängerin. Besondere Schwerpunkte ihres äußerst vielseitigen Repertoires liegen unter anderem im Œuvre Giacomo Meyerbeers. Ihre besondere Leidenschaft sind Vertonungen des „Ave Maria“-Gebets: Inzwischen sind hat Andrea Chudak mehr als 300 verschiedene „Ave Maria“-Vertonungen gesammelt und viele davon erstmals aufgeführt. Namhafte Komponisten haben eigens für sie „Ave Maria“-Vertonungen komponiert. Beim Label ANTES Edition ist im Mai 2020 eine Kollektion von 68 „Ave Maria“-Vertonungen auf 5 CDs erschienen. Andrea Chudak erläutert im folgenden Interview einige Hintergründe zu dem ungewöhnlichen Projekt.

The-new-listener.de: Frau Chudak, am Beginn eines Gesprächs über „68 Ave Maria aus sieben Epochen“ – man könnte noch ergänzen: von mehr als 50 verschiedenen Urhebern und auf fünf CDs – stellt sich natürlich unweigerlich erst einmal die Frage: Wie kommt man auf so eine Idee?

Andrea Chudak: Es gab einfach den Punkt, an dem ich bemerkte, dass das Gebet an die Jungfrau Maria weitaus mehr Vertonungen hat, als im üblichen Musikbetrieb zum Einsatz kommen. Es ist eine zutiefst religiöse und gleichzeitig sehr persönliche Ansprache, die auch oft meditativ genutzt wird. Ich fing an, eben diese Vertonungen zu suchen, recherchierte in Bibliotheken, Notenhandlungen, suchte in Antiquariaten, durchforstete diverse Internetdatenbanken und beschäftigte mich mit den Werkverzeichnissen von Komponisten. Ohnehin würde ich mich als eine sehr neugierige Künstlerin beschreiben, die, wenn sie einmal Feuer in einem Thema gefangen hat, versucht, in immer tieferen Schichten nach verborgenen und vergessenen Schätzen zu graben. Es gibt einfach so unglaublich viel gute Musik von fantastischen Komponisten auf dieser Welt durch alle Epochen hindurch, die es zu entdecken lohnt und die unbedingt gehört werden sollte. Deshalb war die Idee sehr schnell geboren, eine Auswahl dieser musikalischen Sammlung mit CD-Aufnahmen hörbar zu machen. Es war ein großes Glück für mich, dass das Label ANTES mir für meine Aufnahmeidee zur Seite stand, sich von meinem Feuer für das Projekt anstecken ließ und diese anderthalb Jahrzehnte tatsächlich mit mir am Ball blieb.

Sie haben in einem Interview für den WDR erzählt, dass Sie inzwischen über 300 „Ave Maria“-Vertonungen gesammelt haben, viele Komponistinnen und Komponisten haben sogar eigens für Sie neue Vertonungen geschrieben. Für mich klingt das rekordverdächtig oder gibt es irgendwo eine größere Sammlung von „Ave Maria“-Vertonungen?

Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht. Meine „Ave Maria“-Sammlung entstand ja nicht, weil ich eine begeisterte Sammlerin wäre, sondern weil ich Musik machen möchte. Deshalb befinden sich in meinem wunderbar großen Notenregal auch ausschließlich Ave Maria-Vertonungen, die für Solostimmen gedacht sind, also alles Stücke,  denen ich meine Stimme geben kann und könnte. Ich kann mir schon vorstellen, dass Klosterbibliotheken da über größere Sammlungen – auch mit Chorsätzen – verfügen.

© Alex Adler

Wer sich mit Ihrem Aufnahmeprojekt weiter beschäftigt, stellt als nächstes fest: Das ist ein ganz kunterbuntes Programm, also nicht chronologisch oder stilistisch angelegt, sondern ganz bunt durcheinander. Wie kam es zu dieser besonderen Titelkonstellation?

Ja, in der Tat: ich habe mich ganz bewusst gegen eine chronologische Ordnung der Stücke entschieden. Ich wollte eine Reihenfolge, die die Ohren  auch für Musikstile öffnet, in denen sich mancher Hörer vielleicht nicht heimisch fühlt. Ich finde, dass auf diese Weise sehr gut erlebbar ist, wie viel „Altes“ in „Neuem“ und auch umgekehrt steckt. Ein Stück bedingt das nächste und wer sich darauf einlässt, kann sich sehr emotional durch die komplette Musikgeschichte tragen lassen. Man ist bei so vielen Musikstücken, die sich nur diesem einen Thema widmen auch ganz schnell versucht, sich anhand einer chronologischen Reihenfolge eine Art Lexikon zuzulegen – damit würde man den Schöpfern der Werke aber unbedingt Unrecht tun.

Unter den vielen Vertonungen gibt es natürlich die „üblichen Verdächtigen“, also z.B. Schubert, Bach/Gounod, Saint-Saëns, aber auch einige, zum Teil große Überraschungen. Der womöglich größte „Hingucker“ (zumindest auf den ersten Blick) ist der Winnetou-Schriftsteller Karl May mit seiner „Ave Maria“-Vertonung. War Karl May musikalisch ausgebildet oder war er Autodidakt?

Karl May war (in Glauchau) Klavierlehrer und Chorleiter, was für die damalige Zeit unbedingt heißt, dass er eine sehr gute musikalische Bildung hatte. Sein Ave Maria (im Original ja für 4-stimmigen Männerchor geschrieben) ist auch nicht seine einzige Vertonung. Ich weiß von vielen Vertonungen für Chor aus seiner Hand, wobei es auch einige 8-stimmige Sätze gibt, die für Laienchöre nicht ohne weiteres umsetzbar wären. Karl May verfügte definitiv über musikalisches Handwerk, mit dem er meisterhaft umgehen konnte.

Bei anderen Stücken stellte sich heraus, dass sie, bevor Sie sich damit beschäftigt haben, nicht nur dem falschen Komponisten zugeschrieben worden waren, sondern es handelt sich richtiggehend um Fälschungen. So stellte sich ein angebliches Barockstück von Caccini als Fälschung aus der Hand eines Gitarristen aus der Sowjetrussland-Zeit heraus – ein Kuriosum! Wie sind Sie diesen Repertoire-Fälschungen auf die Schliche gekommen? Das genannte Beispiel ist ja nicht das einzige auf dem Album.

Das mit den Fälschungen ist in der Tat ein Kuriosum. Und das Merkwürdigste für mich daran ist fast nicht die Tatsache, dass ein Stück dem falschen Namen zugeordnet wurde oder dass man aufdecken konnte, dass jemand versucht hat, mit einer Fälschung zu Ansehen und vielleicht auch zu Reichtum zu kommen, sondern, wie lange sich diese falschen Behauptungen halten. Zum Beispiel schrillten schon bei der Ankündigung des großen Fundes durch den Franzosen Pierre-Louis Dietsch zur Erstaufführung des vierstimmigen Ave Maria von Jakob Arcadelt sämtliche Glocken der Musikwelt. Und selbst als man nachweisen konnte, dass dieser Ave-Maria-Satz nicht der Feder Arcadelts entstammte, wurde es unter diesem Namen weitergespielt – so hörte es ja eben auch zwei Jahrzehnte später Franz Liszt während eines langen Rom-Aufenthaltes und transkribierte das Stück.

Diese Dinge sind schon lange musikwissenschaftlich erforscht und bekannt, sie stehen nur nicht im gedruckten Notenmaterial, sondern in begleitender Literatur.

Was man ja wenig bedenkt, wenn man sich das Album anhört, ist, dass da Musik aus Hunderten von Jahren zusammenkommt, und somit auch jeweils ganz unterschiedliche Anforderungen an Sie und die anderen beteiligten Musiker gestellt werden. Das alles in einer achttägigen Aufnahmesession in der Potsdamer Friedenskirche nicht nur organisatorisch, sondern auch aufführungspraktisch zu bewältigen, stelle ich mir als eine Mammutaufgabe vor. Wie haben wir uns einen typischen Aufnahmetag im Zuge dieses Projekts vorzustellen?

Dadurch, dass wir an jedem Tag ganz unterschiedliche Besetzungen hatten, gab es sowas, wie den typischen Aufnahmetag nicht. Die Vorbereitungen der einzelnen Tage liefen ja schon einige Zeit vorher ab. Da wir uns auch nach den Abläufen in dem Gotteshaus richten mussten, begann auch nicht jeder Aufnahmetag zur gleichen Zeit mit dem Aufbau der Tontechnik; parallel wurden die Instrumente gestimmt, die Mikros eingerichtet und die Verpflegung inklusive des wirklich wichtigen heißen Tees für die vielen Stunden im hohen, großen Kirchenraum vorbereitet. Ich habe die Musiker gestaffelt mit ihren Stücken zu den Aufnahmen bestellt und mir pro Tag eine bestimmte Anzahl an Stücken zur Einspielung vorgenommen. Und dann ging es sehr konzentriert an die Aufnahmen der in den Wochen vorher intensiv geprobten Stücke. Natürlich hatten wir auch mit Unvorhersehbarem zu kämpfen: Laubbläser im Park Sanssouci, Bauarbeiten vor der Kirchentür, nachmittägliche Flugzeuge über der Kirche und vor allem die vielen Touristen, die trotz der sehr auffälligen Schilder mit dem Hinweis auf die Aufnahme an den großen hölzernen Kirchentüren rüttelten, um vielleicht doch noch hineinzukommen. Die wunderbare geschichtsträchtige Kirche am Park Sanssouci hatte dann doch ein paar Überraschungen für uns. Bei den meisten für uns/ für mich komponierten Stücken hatten wir auch die Komponisten bei uns auf der Orgelempore sitzen. Sie konnten ihr Stück bis zur Einspielung begleiten.

Was bedeutete dieses Aufnahmeprojekt für Sie abseits von Ihrem künstlerischen Engagement organisatorisch für Sie als Projektkoordinatorin?

Diese 5-CD-Box ist in der Tat ein riesiger Kraftakt gewesen, den ich ohne die vielen Mitstreiter nicht hätte bewältigen können.

Als Ideengeberin, Sängerin und Produzentin der CD war da nicht nur unglaublich viel Organisatorisches zu bewältigen sondern es liefen bei mir ja sämtliche Fäden zusammen, die die Musik, das Booklet, die Aufnahmen, Fragen zu den Komponisten und Notenmaterialien betrafen. Ich hatte sehr viel Glück, dass ich fantastische Mitwirkende finden konnte, die sich mit mir auf dieses waghalsige Unterfangen eingelassen haben. Es ist nicht selbstverständlich, dass Musiker sich auf diese sehr unterschiedlichen Musikstile einlassen. Das erfordert ein großes Vertrauen in die Musik und das miteinander Musizieren. Ich bin auch wirklich dankbar, dass ich mit den Damen und Herren der Friedenskirche Potsdam, dem Tonstudio P4 und den Unterstützern im Hintergrund  Menschen gefunden habe, die genauso bedingungslos mit mir an dieses Projekt geglaubt haben und mit mir auf Entdeckungsreise gegangen sind.

Welche Vertonung ist eigentlich die älteste bekannte „Ave Maria“-Vertonung, die es gibt? Kann man das sagen?

Die ältesten Ave Maria-Vertonungen sind ganz sicher die gregorianischen Gesänge. Soweit ich weiß, gab es davor keine belegten Kirchengesänge dieser Art.

Ein unerwarteter „Bonus“, den man auch erwähnen sollte, ist, dass für Ihr Album eigens Grafiken von der renommierten Künstlerin Doris Kollmann gestaltet worden sind. Wie kam es zu der Zusammenarbeit mit ihr, die sich nicht nur in einem wunderbaren Cover-Artwork niedergeschlagen hat, sondern auch in begleitenden Grafiken, die man im Booklet wiederfindet?

Doris Kollmann bearbeitet dieses Thema tatsächlich gemeinsam mit mir seit 15 Jahren. Wir haben uns auf eine Empfehlung eines gemeinsamen Bekannten zu dem Thema das erste Mal in ihrem Atelier getroffen und bereits bei dieser ersten Begegnung verschiedene Betrachtungsweisen des Gebetes an die Maria und die Darstellung der Marienfigur durchgesprochen. Die bildende Kunst und die Musik haben in diesem Fall tatsächlich einige weitere Türen zum Thema geöffnet. In der Mitte des Booklets findet sich eine Bleistiftzeichnung der „Maria am Wasser“. Ich persönlich finde dieses Bild unglaublich eindrucksvoll: es zeigt Maria als eine einfache, arbeitende Frau; zeigt eine Art Alltag, der bestimmt nicht leicht zu bewältigen war und trotzdem strahlt das Bild eine Ruhe und diese gewisse Besonderheit aus. Auch die Federzeichnungen von Marianischen Pflanzen beeindrucken mich tief… ganz schlichte Blumen, die eine ungeheure Symbolkraft haben.

Vielleicht darf ich auch anmerken, dass mir auch gerade das Zusammenspiel der Fotografien von Alex Adler (dessen Kunst ich übrigens genauso sehr schätze) und der Bilder von Doris Kollmann wirklich imponiert.  …in diesem visuellen Teil der CD-Box steckt die gleiche liebevolle Detailarbeit wie in dem akustischen Part, der ja mit dem begleitenden Text von Michael Pauser mit wirklich lesenswerten Informationen bestückt ist.

© Doris Kollmann

Die meisten „Ave Maria“-Vertonungen stammen von Männern, was wohl dem Umstand geschuldet ist, dass bis ins 20. Jahrhundert hinein der Beruf des Komponisten männlich dominiert war. Einige Komponistinnen haben sich dem Gebet aber auch angenommen. Erkennen weibliche Tonsetzerinnen in dem „Ave Maria“-Gebet womöglich etwas anderes als ihre männlichen Kollegen? Haben Sie den Eindruck, dass da ein anderer Blickwinkel zum Vorschein kommt?

Einen solchen Eindruck hatte ich nicht. Aber da ich mich ohnehin jeder einzelnen Vertonung ganz für sich genommen als Sängerin gewidmet habe, ist diese Frage für mich fast nicht zu beantworten. Ich habe die Werke ja nicht wegen eines Vergleiches ins Repertoire genommen. Jede Vertonung des Gebetes ist eine sehr persönliche Ansprache und auch die drei Vertonungen von Hildegard von Bingen, Fanny Hensel und Regina Wittemeier haben da sehr verschiedene Ansätze.

Einige Komponisten entwickelten eine regelrechte „Ave Maria“-Leidenschaft: Bruckner komponierte drei Vertonungen des Gebets, Saint-Saëns offenbar sogar 10. Ist bekannt, ob diese Komponisten eine besondere Beziehung zur Marienverehrung hatten?

Zumindest für Anton Bruckner ist diese Frömmigkeit belegt. Er betete täglich u.a. mehrere ‚Vaterunser‘ oder ‚Ave Maria‘ – und das nicht selten kniend.  Für die anderen Komponisten müsste ich jetzt spekulieren, aber ich gehe davon aus, dass jeder Komponist, der sich musikalisch dem Thema widmet, auch ein Vertrauen in die Anrufung der Mutter Gottes hatte oder hat.

Erschienen pünktlich zum Marienmonat Mai hat Ihnen sicherlich die Coronakrise, die sich zu dem Zeitpunkt auf einem Höhepunkt befand, einen Strich durch die Rechnung gemacht, was z.B. Präsentationen des Repertoires im Konzert angeht. Nun sind aber doch noch CD-Release-Konzerte möglich geworden. Erzählen Sie mal: Wo können wir einige der „Ave Maria“-Vertonungen demnächst live hören und mit welchen Ihrer musikalischen Mitstreiter?

Ja, das Virus hat uns in eine extrem unangenehme Lage gebracht. Einige Konzerttermine mussten in das Jahr 2021 verschoben werden, aber ich bin wirklich sehr glücklich, dass wir die Möglichkeit bekommen haben, einige Termine schon für dieses Jahr 2020 – ab August – ankündigen zu können:

Am 15.08.20 um 20:00 Uhr in der Marienkirche Berlin-Friedenau, Bergheimer Platz 1, 14197 Berlin u.a. mit Andrea Chudak (Sopran), Julian Rohde (Tenor), Prof. Dr. Robert Knappe (Orgel), Michael Schepp (Violine), Stefan R. Kelber (Viola), Ekaterina Gorynina (Violoncello), Lidiya Naumova (Gitarre), Olaf Neun (Erzlaute), Almute Zwiener (Oboe/ Englisch Horn)

Am 16.08.20 um 18:00 Uhr in der Friedenskirche Berlin-Grünau, Don-Ugoletti-Platz, 12527 Berlin mit Andrea Chudak (Sopran), Julian Rohde (Tenor) und Dr. Jakub Sawicki (Orgel)

Am 17.08.20 um 19:30 Uhr im Rahmen des Reichenbacher Orgelsommers in der Marienkirche Reichenbach, Elisabethstraße 6, 08468 Reichenbach (Vogtland) mit Andrea Chudak (Sopran) und Dr. Jakub Sawicki (Orgel)

Am 29.08.20 um 19:00 Uhr in der Evangelischen Kirche Storkow, Altstadt 24, 15859 Storkow (Mark) mit Andrea Chudak (Sopran), Lidiya Naumova (Gitarre) und Prof. Dr. Robert Knappe (Orgel)

Die Konzertorganisationen laufen gerade erst an, aber ich hoffe sehr, dass sich für dieses vielfältige Programm in den sehr unterschiedlichen Besetzungen noch weitere tolle Konzertmöglichkeiten ergeben.

[René Brinkmann, Juni 2020]

Ein Mixtape voll Ave Maria

Antes Edition, BM179001; EAN: 4 014513035950

Auf fünf CDs stellt die Sopranistin Andrea Chudak insgesamt 68 Ave Maria-Vertonungen aus sieben Epochen vor. Die vielfältige Sammlung umfasst Musik von anonymen Vertonungen aus der Gregorianik und klingenden klösterlichen Gebeten bis hin zu mehreren extra für die Sammlung komponierten Liedern. Besetzt sind die Stücke für ein bis drei Stimmen entweder a cappella oder mit kammermusikalischer Begleitung. Wir hören Andrea Chudak (Sopran), Ekaterina Gorynina (Cello), Matthias Jacob (Orgel), Matthias Jahrmärker (Bariton), Stefan R. Kelber (Viola), Robert Knappe (Orgel), Lidiya Naumova (Gitarre), Olaf Neun (Erzlaute), Julian Rohde (Tenor), Jakub Sawicki (Orgel), Michael Schepp (Violine), Andreas Schulz (Klavier), Susanne Walter ([Solo-]Violine) und Almute Zwiener (Englisch Horn, Oboe).

In diesem Mammutprojekt erleben wir ein Streiflicht durch die diversen Vertonungen eines der berühmtesten Gebete der katholischen Kirche: Ave Maria. Wie die gesamte Geschichte aufgeschriebener Musik in Europa begann auch die Geschichte der musikalischen Marienanrufung in den Klöstern. Durch Gottesdienste kam auch die Gemeinde in Berührung mit den Melodien und begann, diese zu rezipieren. Der musikalische Nachklang der Gottesdienste verselbstständigte sich, und so traten nach und nach auch häusliche Kompositionen hinzu, um der Liebe zu Gott und der Musik zeitgleich zu frönen. Spätestens im 19. Jahrhundert standen nun hausmusikalische und kirchliche Werke in gleichem Umfang nebeneinander, auch für die Salonkultur nahm das Ave Maria eine wichtige Rolle ein. Verantwortlich dafür war zunächst Schubert mit seinem Klavierlied, welches schnell Anklang fand und regelmäßig gesungen wurde, gewissermaßen auch zu neuen Kompositionen inspirierte. Heute erfreut sich Gounods Meditation über Bachs Präludium in C-Dur aus dem ersten Teil des Wohltemperierten Klaviers beinahe noch größere Beliebtheit, dem Stück wurde später der Text von Ave Maria untergelegt – so avancierte der kirchliche Text bis heute zum Lieblingsstück für avancierte Laien wie für professionelle Musiker.

Auf den ersten Blick irritiert die vorliegende Box mit den 68 Ave Marias: Denn auf der Außenseite findet sich keine namentliche Erwähnung der Musiker, die zu hören sind, Auch spezifiziert nichts die dargebotenen Stücke näher: auf der Rückseite der Box finden sich jeweils die Namen der Komponisten, nirgends aber eine Opusnummer, Besetzung oder ähnliches, so dass man bei manchen mehrfach vertretenen Komponisten glauben könnte, es handle sich um das gleiche Stück in verschiedenen Aufnahmen. Aufschluss über all das gibt erst das ausführliche Booklet, welches wohl niemand vor einem potentiellen Kauf dieser Kollektion erst studieren wird. Weiter verwundert mich die Aufteilung der 68 Titel auf fünf CDs, ließe sich die Gesamtspielzeit von unter vier Stunden auch problemlos auf drei Scheiben pressen. Ich würde die mehrfache Aufspaltung durchaus verstehen, wenn sie thematische, epochale, stilistische oder sonstige Sinnverwandtschaften offenlegen würde; doch von solchen Gruppierungen distanzierte sich Projektleiterin Andrea Chudak. Die ursprüngliche Planung nach chronologischer Ordnung verwarf sie, als sie merkte, dass es im Gesamteindruck kontrastlos und teils eintönig wirkt, und warf nun die Stücke mixtapeartig durcheinander. Dieses Vorgehen birgt natürlich den Nachteil, dass man sich als Hörer etwas orientierungslos verläuft, weder die musikgeschichtliche Entwicklung nachvollziehen, noch gezielt Zusammenhänge erkennen kann, offenbart dafür hinreißende Überraschungen und öffnet das Ohr für die Unterschiedlichkeit der einzelnen Stücke; durch die Ordnungslosigkeit stechen manche Stücke noch brillanter aus dem Umfeld hervor.

Bei solch einer umfangreichen Kollektion überrascht es wenig, dass sowohl die Qualität der einzelnen Stücke wie auch die der Darbietungen variiert. Im Großen und Ganzen jedoch überzeugt die Box durch stilistisch flexible und musikalisch empfundene Aufnahmen. Eine genaue Aufschlüsselung der einzelnen Stücke würde an dieser Stelle ihren Sinn verfehlen, darum gehe ich streiflichtartig vor: Besonders überraschen die ganz frühen Vertonungen, zwei anonyme gregorianische Werke, und je eines von Adam Gumpelzheimer – am eindrücklichsten wohl das Sopransolo von Hildegard von Bingen. Die Purität und Klarheit dieser Stücke bei innigst religiösem Gefühl wirkt bis heute unverfälscht und zeigt, dass diese beinahe überhaupt nicht beachtete Epoche doch ihre Schätze birgt. Gleiches gilt für die drei Vertonungen eines Franziskanermönchs aus dem 18. Jahrhundert, die zwar auf Kenntnis der aktuellen Musikszene schließen lassen, aber doch wie aus einer fernen Welt herüberklingen. (Bei den Vertonungen der alten Meister Giulio Caccini und Jakob Arcadelt handelt es sich um Fälschungen aus dem 19. Jahrhundert, was nur aus dem Begleittext ersichtlich wird.) Aus der Epoche der Klassik überzeugt neben Mozarts Stück, das eigentlich seiner Oper Così fan tutte entstammt, vor allem das Ave Maria von Luigi Cherubini, einem heute unterschätzten Genie von unvorstellbarer Gabe und Inspiration.  Für eine Auswahl an Komponisten aus dem 19. Jahrhundert suchte Chudak mit ihrem Team durchaus abseits des Mainstreams, entdeckte allerdings auch keine Komponisten, die mir kein Begriff wären. Hier schlägt auch die große Stunde der Opernkomponisten, beginnend mit den Werken vom 1803 geborenen Adolphe Adam, der gleich mit mehreren gehaltvollen Beiträgen vertreten ist, die mit Oper wenig zu tun haben, sondern noch als sakrale Werke gelten dürfen. Anders die Ave Marias besonders von Verdi, Bizet, Rossini und Donizetti, wohlklingende Arien mit weltlicher Passion. Spannend finde ich die Vertonung von Joseph Rheinberger, Anton Bruckner (der als tiefgläubiger Christ eine ungeheure Menge sakraler Musik komponierte), Gabriel Fauré und die beiden Beiträge des bedeutenden Italieners Marco Enrico Bossi, dessen Musik eine Renaissance verdient hätte: bis jetzt kennt man hauptsächlich seine Orgelwerke. Eine Sonderstellung nimmt Karl May mit seinem Ave Maria aus Winnetou ein, bei dem er tatsächlich auch die Musik schrieb, mit welcher der Protagonist schließlich auch sein Leben aushaucht: die Version von Arnold Fritsch für Gitarre und Sopran vermittelt glaubhaft das Cowboy-Flair. Aus dem frühen 20. Jahrhundert begeistern vor allem die Beiträge von Marcel Dupré, dem Brasilianer Heitor Villa-Lobos (besonders das in seiner Muttersprache gehaltene Ave Maria besticht durch seine Eindrücklichkeit), und Leoš Janáček, ein kantables wie zeitgleich raues Werk mit einer himmlischen Soloviolinstimme. Die meisten der späteren Vertonungen bleiben recht traditionell und werfen zumeist nur die herkömmlichen Herangehensweisen an den Text wieder und wieder auf. Bemerkenswert hier lediglich Bertold Hummel und José Bragato. Von den Zeitgenossen sei besonders Bo Wiget genannt, der es als einziger wagte, vollkommen unbefangen und erfinderisch an das Sujet heranzutreten: textlich reduzierte er alle Konsonanten auf den Laut „m“, was die Perspektive des Jesuskindes vermittelt, musikalisch fächerte er die Phrasen auf, seziert die Melodien und fügt alles in ein stimmiges, unter die Haut gehendes Resultat zusammen.

Musikalisch können die meisten der hier zu hörenden Vertonungen überzeugen, wobei es natürlich kein Wunder ist, dass bei knappen vier Stunden Spielzeit innerhalb von zwei Mal vier Tagen Drehzeit irgendwann auch die Luft ausgeht. Besondere Liebe zum Detail brachten die Musiker bei den frühen Stücken dieser Kollektion ein sowie bei den eigenständigeren, ausgefalleneren Werken wie eben Villa-Lobos, Janáček, Bragato oder Wiget. Die romantischen wie post-romantischen Beiträge, die oft doch das immer Gleiche aussagen und mit teils oberflächlicherem Effekt arbeiten, geraten hingegen etwas blasser. Besonders die berühmtesten der Beiträge wurden sängerisch mehr pflichtbewusst als inspiriert dargeboten, wovon sich gerade der Pianist anstecken ließ. Eine wandelbare Stimme präsentiert Sopranistin und Projektleiterin Andrea Chudak, die sowohl die Schlichtheit der vorbarocken Musik, die Volltönigkeit der Romantik wie die Tiefgründigkeit der Moderne in der Stimme trägt. Auch die beiden Männerstimmen, Matthias Jahrmärker und Julian Rohde, besitzen charakteristische Timbres, mischen sich gut mit den Instrumenten und anderen Stimmen, bringen luzide Tonqualität in die verschiedenen Stile. Die Instrumentalisten folgen allesamt klar, präzise und einfühlsam, ohne sich jemals in den Vordergrund zu drängen oder sich klanglich von den Sängern abzukoppeln. Besonders die Streichersektion erreicht teils orchestral anmutende Effekte in dichter Struktur bei klarer Durchhörbarkeit der Mehrstimmigkeit.

[Oliver Fraenzke, Mai 2020]