Archiv für den Monat: November 2017

Ein noch Unentdeckter

Martin Scherber (1907-1974): Erste Symphonie – Goethelieder – Kinderlieder – 6 Lieder

Bratislava Symphony Orchestra, Adriano (conductor); Thomas Heyer, Tenor; Lars Jönsson und Hedayet Djeddikar (Klavier) Laura Cromm (Violine)

 

Sterling,  CDS 1113-2

Wer sich heute bzw. während seines Lebens auf Bruckner oder Goethe oder gar Rudolf Steiner beruft, muss schon ein komischer Vogel oder Zeitgenosse sein: altmodisch, unmodern und ähnliche Schimpfworte dürften Martin Scherber (1907-74) zeitlebens begegnet sein. Allerdings war er ziemlich früh auf seinen eigensten Weg gelangt, eben auch mit Unterstützung der besagten drei Vorbilder und ihrer verschiedensten Anregungen. Als Komponist – ähnlich wie Jahrzehnte später der Schwede Anders Eliassohn – enthielt er sich der willentlichen Steuerung des Schöpfungsprozess, empfand er sich nur als Medium für das, was durch ihn Musik werden wollte, ein sehr ungewöhnlicher Standpunkt in einer Zeit des „Machens“ und all der gewalttätigen Auseinandersetzungen des 20. Jahrhunderts. Allein sein immer intensiverer Rückzug in sein eigentliches Innenleben – ohne sich dadurch sektiererisch abzukapseln – ermöglichte es ihm, sich ganz dem Werden der Musik zur Verfügung zu stellen. Seine drei Symphonie bezeichnete er nicht als „von“, sondern als „durch“ Martin Scherber entstanden! Tatsächlich sind diese drei jeweils einsätzigen, großdimentionierten Symphonien sein Lebenswerk, neben den auch andere Kompositionen wie Klavierstücke und auch Lieder überliefert sind, von denen eine gelungene Auswahl auf dieser CD zu hören und zu erleben ist – gesungen und gespielt vom Tenor Thomas Heyer und den Pianisten Lars Jönsson bzw. Hedayet Djeddikar sowie der Geigerin Laura Cromm. Und das sind keine Allerweltslieder, nein, musikalische Kostbarkeiten werden da hörbar, bei denen das Staunen und die Nichtselbstverständlichkeit in jedem Ton zu erleben sind. Das ist auch kein Wunder bei einem Komponisten, der die Eigenarten der deutschen Sprache in einigen musikalischen Werken in eine Form bringen wollte, die das Typische daran „zum Klingen“ bringt.

Seine Erste Symphonie ist – wie alle seine drei – einsätzig. Die Idee, dass eine ganze Symphonie – alle Bewegtheiten vom ersten Allegro über das Adagio und das Scherzo bis zum Finale – aus einer Grundidee, einem „Thema“ entstehen kann und soll, ist zwar schon älter, aber dennoch ein, besser d e r  Ausgangspunkt für sogenannte „Metamorphosen-Symphonik“, die natürlich auch Bruckners Symphonien als Ausgangspunkt hat, aber – wie Christoph Schlüren im sehr ausführlichen Booklet ausführt – auch Verbindungen zu Sibelius oder auch zu Heinz Tiessen, einem ebenfalls vom heutigen Musikbetrieb völlig vernachlässigten Komponisten, nahelegt. Überhaupt ist es Schlürens Verdienst, Martin Scherber in schlüssig argumentierender Weise in Verbindung zu bringen mit seiner Zeit, seinen Zeitgenossen, der symphonischen Tradition und auch seinen Nachfahren. Das ist eben nur mit umfassender Kenntnis möglich und auch ein Verdienst dieser CD-Produktion. Die nur noch über den Freundeskreis von Scherbers Musik erhältliche Aufnahme der Zweiten Symphonie aus Russland ist mit Abstand am besten gelungen, während die Dritte unter Elmar Lampson (col legno) eine – ehrlich gesagt – nackte Katastrophe ist und dem Komponisten einen entsetzlichen Bärendienst erwiesen hat. Um so besser, dass nun diese Erste Symphonie-Einspielung aus Bratislava wieder etwas besser gelungen ist, man hat eben doch den Eindruck, dass da eine Musik ans Licht gelangt, deren Weite und Tiefe, deren Wirklichkeit erst noch zu entdecken und zu erleben ist.

   Ganz anders seine Lieder, die mich sofort gefangen nehmen in ihrer Unmittelbarkeit und dem ureigenen Klang. Mich, der ich normalerweise dem klassischen Liedgesang sehr skeptisch gegenüberstehe – vor allem, wenn es um die Textunverständlichkeit der meisten klassischen Sänger und Sängerinnen geht. Allerdings ist im Fall von Thomas Heyer und seinen Begleitern da überhaupt keine Befremdung aufgekommen. Auch wenn der Tenor  über alle Nuancen – auch des Dramatischen – verfügt, höre ich doch, wie sehr auch ihn diese Lieder dazu bringen, sich als „hohles Bambusrohr“ zu spüren, wie die für mich allerbeste Definition eines Künstlers heißt, nach dem Motto: „Sei wie ein hohles Bambusrohr, durch das der Wind geht.“

[Ulrich Hermann, November 2017]

Chopin bei Nacht

Alpha Classics, ALPHA 359; EAN: 3 760014 193590

Auf zwei CDs spielte Nelson Goerner alle 21 Nocturnes von Frédéric Chopin ein (Opp. 9, 15, 27, 32, 37, 48, 55, 62, Op. 72 Nr. 1 sowie cis-Moll und c-Moll Op. Post.). Die Doppel-CD erschien bei Alpha Classics.

Der Begriff der Nocturne evoziert sogleich ein ganz bestimmtes Bild von einer ruhigen, verträumten Landschaft, von Mondenschein und vom Blick auf die funkelnden Sterne; unangetastete Ruhe und Zartheit, frei von all den weltlichen Problemen, und dem Schlafe nahe. Wie viel mehr sich doch tatsächlich hinter diesem Begriff verbirgt, beweist Chopin in seiner knapp zweistündigen Sammlung von 21 Nocturnes: Innerliches Aufbegehren, Trübung, Haltlosigkeit, Melancholie und Suche nach etwas Übergeordneten. Jede Nocturne steht für sich, eröffnet eine eigene Welt und definiert die Gattung auf eigene Weise.

Nelson Goerner stellte es sich zur Aufgabe, den gesamten Zyklus einzuspielen mit all den Unterschieden dieser Werke. Das charakteristisch Träumerische findet hier ebenso seinen Platz wie das Aufwühlende, die Ruhe Durchbrechende. Goerner verliert sich nicht in Sentimentalität, sondern findet die Konturen, Ecken und Kanten. Die ausgiebigen Ornamente, die bei Chopin eine Kunst für sich darstellen und sich gelegentlich zu umfangreichen Läufen oder diffizilen Figurationen ausweiten, behalten bei Goerner – was selten zu hören ist – auch tatsächlich den Ausschmückungscharakter, wobei der übergeordnete Gesamtkontext nicht unterbrochen oder verfälscht wird. Der einzelne Ton erhält Bedeutung, der Anschlag hat nicht das oft zu vernehmende Immaterielle, sondern eine gewisse Prägnanz. Trotzdem achtet Goerner größtenteils auf kantablen Fluss der melodischen Linie (Ausnahme ist die Nocturne Op. 15, Nr. 3, bei welcher der Fokus der Linie nicht über die langen Noten hinüberreicht) und auf das entspannende Streben hin zu einer Zieltonart. Zu wünschen wäre vielleicht teils noch eine genauere Betrachtung des harmonischen Geflechts, das so facettenreich und ergiebig ist in diesen kleinen Juwelen: die Wertigkeit der linken Hand sollte trotz der eigentlichen Begleitfunktion zu der singenden Oberstimme nicht vergessen werden, denn erst die dort enthaltenen, teils auf mehrere Oktaven verstreuten Akkorde bringen die Musik voran und verleihen den Werken die fest verankerte Struktur. Goerner erlaubt sich einige Freiheiten, gerade auch im Tempo, ist dabei aber stets darauf bedacht, dass das klangliche Resultat als Ganzes „funktioniert“. Nie lässt er sich zu übermäßigen oder überflüssigen Rubati verleiten, er gibt die Kontrolle über das Geschehen nicht aus der Hand; und er greift aktiv ein, statt sich nur treiben zu lassen.

[Oliver Fraenzke, November 2017]

Was ist schöner als ein Cello? Natürlich Zwei davon…

GINZELDUELLO – Reiner Ginzel & Hans Henning Ginzel Violoncello

Von Romberg bis Ginzel – verschiedene Komponisten

Solo Musica, SM 272;  EAN 4 260123642723

Nicht nur zwölf Cellisten, es genügen auch deren zwei, um eine wohltönende Steigerung der natürlichen Vorzüge dieses Instrument zu bewerkstelligen. Noch dazu, wenn sich Vater und Sohn am gleichen Instrument treffen, jeder ein Könner: Dann kann fast nichts mehr schiefgehen. Wie denn auch die Stücke vom Altmeister Bernhard Romberg (1767-1841) über das altbewährte „Greensleeves  to a Ground“, Stücke von Bach, Kummer usw. beweisen, bis hin zu Debussy und einer eigenen Komposition von Ginzel jr., genannt „ Ein Haydn-Spaß. Duell für zwei Cellisten“, ist vieles vertreten, was Rang und Namen hat und Spaß beim Spielen macht, und dazwischen gibt es Neues zu entdecken wie Dotzauers bezaubernde Mozart-Variationen. Dass hier Harmonie und Freude im Spiel waren, das hört man auch sehr deutlich auf dieser im großen Konzertsaal in der Münchner Hochschule für Musik und Theater hervorragend aufgenommenen Scheibe. Auch das informative Booklet gehört dazu, so dass ein rundherum zufriedener Hörgenuss garantiert ist, vor allem, wenn man dem Klang des Cellos sowieso zugeneigt ist. Die Bandbreite ist jedenfalls immer wieder überraschend und beeindruckend, zu der dieses Instrument fähig ist, besonders unter den Händen und mit der Hingabe gespielt wie auf dieser CD von Vater und Sohn Ginzel.

[Ulrich Hermann November 2107]

Requiem-Rarität trifft Requiem-Promi

Herbert Howells: Requiem (1936)
Maurice Duruflé: Requiem, Op. 9 (Fassung für Chor, Solisten, Orgel und Solo-Cello)
Saint Thomas Choir of Men & Boys, Fifth Avenue, New York
Leitung: John Scott
Mezzosopran: Kirsten Sollek, Bariton: Richard Lippold
Orgel: Frederick Teardo, Cello: Myron Lutzke

Label: Resonus / Vertrieb: Naxos
EAN: 5060262791059 / Art.-Nr.: RES10200

Eine ausgezeichnete CD ist beim für stabile Qualität bekannten britischen Label Resonus erschienen. Im Mittelpunkt des Interesses steht Maurice Duruflés herrliches Requiem, das der Komponist, inspiriert von gegrorianischen Gesängen, uns als post-impressionistisches Meisterwerk der französischen Sakralmusik überliefert hat. Es wird auf diesem Album nicht nur in der im Vergleich zur üppigen Orchesterfassung eher selten gehörten, intimeren Version für Chor, Solisten, Cello und Orgel dargeboten, sondern es wird – Überraschung! – ausnahmsweise einmal NICHT mit Faurés berühmtem Requiem gekoppelt, was ja auch einmal ganz erfrischend ist. Stattdessen (…und da lässt vermutlich die britische Provenienz des Labels dieser Aufnahme grüßen…) kommt man in den sehr seltenen Genuss des Requiems von Herbert Howells.

Howells war einer der produktivsten Komponisten geistlicher Musik im 20. Jahrhundert, ein enger Freund von Ralph Vaughan Williams. Die kreative Korrespondenz zwischen Vaughan Williams und Howells ist musikgeschichtlich durchaus bedeutend, denn beide regten sich gegenseitig immer wieder zur Komposition neuer Werke an, tauschten Ideen aus und kritisierten einander freundlich, wenn auch bestimmt.

Leider ist das sehr interessante Œuvre Herbert Howells‘ hierzulande praktisch unbekannt. Und da man auch Duruflés vergleichsweise berühmtem Requiem doch immer noch ein paar mehr Hörer wünschen möchte, gerade auch in dieser wunderbaren Partitur-Version, die ein Solo-Cello im Pie Jesu (wie vom Komponisten vorgeschlagen) mit einbezieht (was in dieser Form meines Wissens noch nie auf CD zu hören war), ist dieses Album einfach eine sehr interessante Sache.

Der „Saint Thomas Choir of Men & Boys, Fifth Avenue, New York“ ist nicht nur ein Chor, der gute Chancen auf den Rekord für den weltlängsten Ensemblenamen im Chorsektor für sich reklamieren darf, sondern er erweist sich auch als ein professioneller Klangkörper mit wunderbarer Ensembleklangkultur, die in der tontechnisch ausgezeichneten Aufnahme der Resonus-Toningenieure wirklich makellos eingefangen wurde. Zwar sind die hohen Männerstimmen technisch nicht immer ganz astrein, doch die ausgesprochen emotionale Hinwendung der Sänger zum Werk macht diese leichten Abstriche im technischen Bereich wieder wett.

Es ist dies nämlich eine Einspielung, die tatsächlich berührt. Es gibt in dieser Aufnahme so viele Momente, die einem im besten Sinne nahegehen und die ich so auch in Aufnahmen mit weitaus namhafterer Besetzung kaum einmal überzeugender gehört habe. Mezzosopran-Solistin Kirsten Sollek besitzt genau die stimmliche Natürlichkeit und Zurückhaltung, die zu Duruflés Musik passt, während Bariton Richard Lippold wesentlich kraftvoller tönt und mit auffallend opernhaftem, dominantem Vibrato manchmal eher wie ein Fremdkörper in dieser ansonsten außergewöhnlich stimmigen Interpretation erscheint.
Ein Sonderlob verdient Organist Frederick Teardo, der auf der herrlich warm und „holzig“ klingenden Orgel der New Yorker Saint Thomas Church ausgesprochen kantabel und rhythmisch stimmig phrasiert. Die musikalische Leitung von John Scott ist gleichfalls souverän und behutsam. Er verordnet seinem Chor ein unwiderstehlich „sahniges“ Legato, an dem man sich  natürlich auch leicht reiben kann. Das ist Geschmackssache.

Das Howells-Requiem ist ein A-Cappella-Stück und geht mit zum Teil ziemlich fordernden Intervallsprüngen einher. Hier muss der Chor wirklich bis an seine Grenzen gehen, und das hört man leider manchmal auch, vor allem bei den hohen Knabenstimmen. Insgesamt wirkt der Vortrag beim Howells-Requiem auch in punkto Dynamik etwas komprimierter, sodass dieses selten gehörte Requiem leider die etwas weniger überzeugende Hälfte eines alles in allem aber sehr hörenswerten Albums darstellt.

[Grete Catus, November 2017]

Fortsetzungsoratorien

MusikMuseum, CD13013; EAN: 9 079700 069502

MusikMuseum, CD13028; EAN: 9 079700 700153

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Chor und Orchester der Akademie St. Blasius spielen auf zwei voneinander unabhängig erschienenen CDs die beiden großen Oratorien des tirolischen Komponisten Franz Baur, „Genesis“ und „Amartema – Der Sündenfall“. Andreas Mattersberger übernimmt die Rolle des Bassbariton-Solos, in barocker Manier Erzähler des Bibeltextes, Susanna Langbein singt Sopran und in ”Amartema” kommt Bernhard Landauer als Altus hinzu. Das Orchester wird von seinem Chefdirigenten Karlheinz Siessl geleitet.

Es sind Oratorien vom Beginn der Welt und Ursprung unseres heutigen Bewusstseins, Oratorien des Aufkeimens und schlussendlich des Falls in den Zustand, der unsere jetzige Realität darstellt. Entstehung und Verstoßung, der in Tirol geborene Komponist und Philosoph rollt die Bibel von ihren Anfängen her auf und erfüllt die ersten Kapitel mit seinen Klängen und Gedanken. Durch das aufeinander aufbauende Geschehen gehören die beiden Musikwerke letztlich zusammen, aber Franz Baur gestaltet sie auf vollkommen unterschiedliche Weise.

Das betrifft schon die Besetzung, denn während Genesis das Orchester stark zurücknimmt und nur Streicher, Schlagwerk sowie zum Höhepunkt hin zwei Hörner verwendet, spannt Amartema das gesamte Orchester ein, macht zudem ausgiebigen Gebrauch von drei Solisten, wo Genesis mit einer Bassbaritonrolle und einer kleineren Sopranpartie auskommt. Die Schöpfung hat eine ganz klare Aufteilung in die sieben Tage, welche durch kurze Sprechpartien unterteilt und doch musikalisch eben dadurch auch zusammengehalten werden, während der Sündenfall zwar in fünf Teile plus Epilog (erste drei Teile: Paradies; vierter und fünfter Teil: Sündenfall) gegliedert ist, diese jedoch bruchlos ineinander übergehen. So stellt sich Baur vor unterschiedliche Herausforderungen: in Genesis verwendet er für jeden Tag eine andere Kompositionstechnik, die er über diese Kontraste hinaus sinnvoll korrelieren muss, in Amartema hat er die gesamte „himmlische Länge“ eines Oratoriums musikalisch zu erfüllen, ohne dass Gleichförmigkeit entsteht. Genesis zieht viel klanglichen Reiz aus additiven Prinzipien, indem zu einem etablierten Ton neue Klänge hinzutreten und sich eine Kon- oder auch eben Dissonanz bildet, die der Hörer beim Entstehen mitverfolgen kann – wenn man so will, eine Weiterführung der Idee, die Ligeti zu Beginn seines Lux aeterna verfolgte. Amartema hat aufgrund der größeren Besetzung mehr Möglichkeiten, auf den Text einzugehen und diesen subtil zu illustrieren. Baur schafft es dabei, niemals plakativ zu werden, wobei die Stimme stets im Vordergrund steht. Oft haben die Instrumentalisten kleine Patterns, über denen sich Soli oder Chor aufbauen, gerne nutzt Baur eine zentrierende Orgelpunkt-Wirkung.

Von zentraler Bedeutung ist hier die sängerische Leistung der Solisten. Stimmlich können sie alle drei voll überzeugen und befriedigen mit voller Textverständlichkeit. Beim Bassbariton Andreas Mattersberger geschieht dies zwar um den Preis einiger Konsonant-Überakzentuierungen – was man allerdings durch die heute herrschende Mode so gewöhnt ist, dass man es kaum mehr wahrnimmt -, doch seine sonore Stimme und musikalische und zugleich parlierende Phrasengestaltung lassen leicht darüber hinwegsehen. Geschickt war die Wahl, Bernhard Landauer als Altus für die Schlange einzusetzen: Die Stimme ist lupenrein in der Höhe und verleugnet doch nicht, dass es sich um eine Männerstimme handelt, was der Schlange gewissermaßen die „gespaltene Zunge“ verleiht und damit einen besonders überzeugenden Effekt einbringt. Das Verhältnis zwischen Vokalen und Konsonanten ist fein abgestimmt bei Susanne Langbein, deren golden schimmernder Stimmklang fast schon prädestiniert ist für die Partie als Gott.

Das Orchester agiert zwar größtenteils recht ruhig im Hintergrund, doch dabei weiß es um seine Wichtigkeit für die volle Entfaltung dieser Oratorien. Entsprechend ist jedes noch so unscheinbare Motiv und jede noch so hintergründige Stimme integriert und reflektiert. Es muss eine gewaltige Anzahl an Proben hinter diesen Aufnahmen stecken, um solch eine subtile und ausdrucksvolle Untermalung zu bieten, die vermutlich vielen nicht einmal bewusst auffallen dürfte. Karlheinz Siessl dirigiert mit Liebe zum Detail und überhaupt zur Musik, was sich unüberhörbar auf seine Musiker überträgt. Die Akademie St. Blasius setzt nicht auf profitable Programme oder raschen Erfolg, alle dienen der Musik und den Komponisten, die sie für unterstützenswert halten – und so wäre es wünschenswert, dass auch dieses Orchester einmal groß unterstützt und ihm der Platz in der heutigen Orchesterwelt gegeben werden würde, der ihm eigentlich rein qualitativ zusteht.

[Oliver Fraenzke, Oktober 2017]

Musikgeschichte der 1920er Jahre aus erster Hand

UE – Die ersten 37 ½ Jahre – Eine Chronik des Verlags von Hans W. Heinsheimer (1975)
erstmals herausgegeben von Eric Marinitsch
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Universal Edition, Wien 2017 (UE 26333)
ISBN: 9783-7024-75130
Die Universal Edition, der legendärste Verlag neuer Musik im 20. Jahrhundert und bis zur nationalsozialistischen Gleichschaltung und ‚Säuberung’ Österreichs das Mekka der fortschrittlichen und der substanziellen konservativen Komponisten gleichermaßen, wurde im Jahr 1900 in Wien als Aktiengesellschaft gegründet. Nach eher gewöhnlichem Beginnen setzte sich ein Mann durch, der als Musikverleger das 20. Jahrhundert prägen sollte wie kein anderer: der in Budapest gebürtige Emil Hertzka (1869-1932), der eine unvergleichliche Fähigkeit besaß, Originalität und Qualität von Derivativem und Oberflächlichem zu unterscheiden – und dies, obwohl er gar keine solide musikalische Ausbildung genossen hatte. Bis zu seinem Tode 1932 leitete Hertzka die Geschicke des illustren Hauses und musste die Verhöhnung und Verhinderung weiterer Pionierarbeit durch Hitlers eifrige Schergen nicht mehr erleben. 1923 trat Hans Walter Heinsheimer (1900-93) in den Verlag ein und wirkte bis 1938 als Leiter der Bühnenabteilung. Daher sollte er später der wichtigste Zeitzeuge der stürmisch kreativen Jahre sein und wurde 1975 – längst nach New York ausgewandert und seit 1972 Vizepräsident des dortigen Musikverlags Schirmer – von der UE (so das allgemein verwendete Kürzel für Universal Edition) gebeten, eine Chronik zu schreiben. Diese wurde aus nicht bekannten Gründen nie fertig, wodurch es auch zu keiner Veröffentlichung kam. Doch immerhin: bis zum Tode Hertzkas erzählt Heinsheimer seine Geschichte, mit vielen Vorausblicken auf weitere Ereignisse der dreißiger Jahre, und mit dem Rückblick auf die frühen Jahre, wo mit der Inverlagnahme von Symphonien Gustav Mahlers und – postum – sämtlicher Bruckner-Symphonien das Qualitätsmaß gesetzt und der Grundstein zum Welterfolg gelegt wurde.
Heinsheimer war ein vorzüglicher Erzähler, mit Intellekt, Beobachtungsgabe und der Häme, ohne die sich viele von uns einen reüssierenden Wiener (Heimsheimer war Karlsruher!) gar nicht vorstellen können. Heinsheimers Stärke war auf jeden Fall auch seine fachliche Beschlagenheit und seine ausgeprägte Geschäftstüchtigkeit. Seine Schwäche war ein nicht weniger ausgeprägter Zynismus, der sich darin niederschlug, dass er nicht die gleiche, erfolgsunabhängige Liebe zur Sache hatte wie sein legendärer Chef Hertzka – an welchem Heinsheimer den Riecher für das Richtige bewunderte, den er – aufgrund dessen nicht vorhandener Musikausbildung – als „instinktiv“ bezeichnete. Das würde ich dann doch eher als intuitiv und eben auch als Niederschlag eines hellwachen Bewusstseins beschreiben wollen! Natürlich konnte ein Heinsheimer Hertzkas zutiefste Schätzung für Heinrich Kaminski nicht verstehen, und entsprechend konnte er sich auch nicht aus Überzeugung dafür einsetzen. Ein Name wie Ottorino Respighi (immerhin ist das wunderschöne Concerto gregoriano bei der UE erschienen) kommt gar nicht vor, und auch der als Komponist gleichermaßen geniale Eduard Erdmann wird nur als Pianist Krenek’scher Werke erwähnt. Überhaupt schien Heinsheimer überall da die Überzeugung zu fehlen, wo es nicht wie am Schnürchen lief – aber das ist ja auch typisch für den Leiter einer Bühnen- (und eben nicht Konzert-) Abteilung.
Diese Chronik, von Herausgeber Eric Marinitsch liebevoll und sorgfältig mit vielen weiteren Zusatzdokumenten versehen, ist interessant und aufschlussreich für jeden, der sich mit der Musikgeschichte zwischen den beiden Weltkriegen befasst, und auch für alle, die mehr über die Menschen hinter den Komponisten wissen wollen – man erfährt vieles über Schönberg, Alban Berg, Schreker, Schillings, Bartók, Janácek, Krenek, Eisler, Szymanowski, Webern, aber auch heute so unbekannte Figuren wie Julius Bittner oder Erwin Stein, der eine Schlüsselfigur im Verlag war und hinter der Zeitschrift ‚Pult & Taktstock’ stand, werden hier pittoresk und eingehend beschrieben. Herausgekommen ist ein erstrangiges Zeitdokument, das ich jedem empfehlen möchte, der gerne hinter die Kulissen des Musiklebens in der stürmischsten und kreativsten Zeit des Umbruchs im vergangenen Jahrhundert schauen möchte. Natürlich feiert sich damit der Verlag auch selbst, aber dazu besteht unstrittig nach wie vor Anlass, denn welches vergleichbare Haus hätte schon solch künstlerisch goldene Jahre in einer solchen Vielfalt vorzuweisen wie die Universal Edition. Nein, das ist keine Eigenwerbung, das ist ein substanzieller Beitrag zur Musikgeschichtsschreibung vor allem jener wilden, unsicheren, revolutionär aufrüttelnden Jahre, die in Deutschland als ‚Weimarer Republik’ in die Geschichtsbücher eingegangen sind. Und es ist Musikgeschichte aus erster Hand, von einem, der sich, ohne sich selbst als Komponist, Aufführender oder Kritiker in der Öffentlichkeit behaupten zu müssen, mittendrin in dem Treiben befand und maßgeblichen Einfluss – insbesondere auch als Ratgeber in Libretto-Fragen – auf die Tonschaffenden ausübte. Zugleich ist es dadurch ein faszinierender, oftmals kaltschnäuziger, bei entsprechender Sympathie auch wieder liebevoll schildernder Blick hinter die Kulissen der mondän schillernden Musikwelt einer legendären Epoche.
[Christoph Schlüren, November 2017]

Was eben erwartet wird

TYX Art, TXA17096; EAN: 4 250702 800965

Der 1995 geborene Pianist Alexander Maria Wagner spielt für TYX Art das Erste Klavierkonzert b-Moll Op. 23 von Peter Ilyich Tschaikowsky ein, sekundiert vom RTV Symphony Orchestra Moscow unter Alexei Kornienko. Im Anschluss spielt das Orchester noch die Zweite Symphonie Alexander Maria Wagners, die nach einem Gedicht von Johanna Kapelari konzipiert wurde, welches inmitten der Symphonie auch von Bettina Schönenberg rezitiert wird.

Es ist ein Bild, das unsere heutigen Vorstellungen und Ansprüche an die „klassische Musik“ genauestens widerspiegelt. Ein Virtuose, Wunderkind, rauscht durch eines der gewaltigen und halsbrecherisch schwierigen Konzerte der romantischen Epoche, fingerfertig und brillant, ohne nur eine der Hürden schwierig oder widerhakig erscheinen zu lassen. Hiernach präsentiert sich der Pianist auch noch als Komponist und legt der Öffentlichkeit mit zweiundzwanzig Jahren bereits seine zweite Symphonie vor, auch ein Gigant wie Schostakowitsch war nicht früher dran mit der Komposition seines zweiten symphonischen Werks. Und am Ende bleibt das Publikum begeistert zurück angesichts solch eines jungen Talents.

Die Aufnahme präsentiert uns alles, was heute von einem Genie erwartet wird, eine glänzende Fassade. Und tatsächlich zeigt Alexander Maria Wagner brillante Fingermechanik, aufregende Emotionen und virtuose Fähigkeiten, die vielleicht erstaunen mögen. Doch leider bleibt es zum Großteil bei eben dieser Fassade, dahinter verbirgt sich sehr wenig, das auf musikalische Substanz hinweisen würde. Der Anschlag ist hart und rau, birgt weder Feinsinn noch Hintergründigkeit, ist auf bloßes Brillieren aus; die Lyrik wird nicht erspürt, sondern einfach konventionell ausgeführt; und die herrlichen Harmonien bleiben ziellos aneinandergereihte Akkordgebilde, die eben mehrere Finger zeitgleich erfordern. Dies ist bedauerlich gerade angesichts dessen, dass doch unverkennbar spürbar wird, dass ein Talent in dem jungen Pianisten steckt. Dieses sollte auf musikalischer Ebene gefördert werden und nicht noch weiter auf die Schiene eines rein oberflächlich agierenden „Notenfressers“ gebracht werden, der höchst komplexe Werke spielen, aber nicht verstehen kann.

Die Symphonie steht ganz im Zeichen der heute in Fachkreisen als alleingültig reklamierten Avantgarde, wilde Geräusche und durcheinandergeworfene Töne dominieren das Bild. Harsche Brüche und Kontraste legen manchen interessanten Moment frei, schneiden sich zugleich stets vom vorherigen ab. Doch der Avantgarde-gewohnte Hörer wird nicht mehr geschockt von derartigen Klängen, die seit nunmehr beinahe hundert Jahren in ähnlich brüsker und oft viel schrofferer Form existieren. Eine erneute Suche nach Struktur und Zusammenhang, nach musikalischem Sinn, wäre in jeder Hinsicht viel wertvoller. Und gerade dies ist in Wagners Zweiter Symphonie nicht einmal ansatzweise aufzuspüren, die einzelnen Ebenen überlagern und unterbrechen sich willkürlich, jeder eventuelle Aufbau einer vielversprechenden Entwicklung wird sogleich unterbrochen. Es gibt auch wenig Eigenes in dieser Musik, sie folgt vorhandenen Trends und sucht Halt in vertrauten Topoi unserer Zeit. Doch macht nicht gerade das „Eigene“ eine Symphonie aus? Man denke nur an Sibelius, an Schostakowitsch, Eliasson, Sæverud, Nørgård, Nordgren, Enescu, Lyatoshinsky oder auch den Tiroler Zeitgenossen Michael Franz Peter Huber, sie alle (und viele andere auch) haben sich in jeder Symphonie neu erfunden, haben Originäres geschaffen, sich von Strömungen nicht vereinnahmen lassen und nicht zuletzt die gesamte Form als bezwingenden Zusammenhang zu artikulieren verstanden. Das geräuschhafte, avantgardistische, findet bei den meisten der genannten Komponisten seinen festen Platz und wird doch schlüssig in den großen Kontext integriert.

Bei meinen Ausführungen geht es keineswegs darum, ein junges Talent an seinem Weg zu hindern, ihm einen Stein in den Weg zu legen oder es plump zu attackieren. Mein Anliegen ist vielmehr, Bewusstsein zu schaffen dafür, eigenständig in der Musik zu forschen und das Wissen um prinzipielle Zusammenhänge zu vertiefen – als Ausführender wie als schaffender Musiker. Wir haben reichlich hochbegabte Virtuosen, aber wir haben nicht genügend wirkliche „Musiker“, denen die Musik mehr bedeutet als der äußere Erfolg. Musik ist etwas so Unergründliches, jeder Zusammenhang ist einmalig, jede Konstellation unwiederholbar – wir sollten sie nicht als gegeben hinnehmen, sondern von Grund auf stetig neu zu erfahren suchen. Ich bin überzeugt, Alexander Maria Wagner hätte die Fähigkeit dazu, ein „Musiker“ zu werden, sofern er denn einen eigenen Weg gehen will und sich nicht leichtfertig der Oberflächlichkeit des Business und seiner Erwartungen unterwirft. So hoffe ich bei diesem Text vielleicht noch mehr als bei anderen, dass er von den richtigen Stellen gelesen und beachtet, nicht in kurzsichtigem Karrierewahn einfach nur als „negative Kritik“ beiseite gelegt wird.

[Oliver Fraenzke, November 2017]

Belebendes für Streichorchester

Matinee am 5.11. 2017 im Herkulessaal München
Kammerphilharmonie DACAPO München; Pavel Kaspar, Klavier; Thomas Albertus Irnberger, Violine; Dirigent: Franz Schottky

Nach „Air And Dance“ für Streichorchester von Frederick Delius (1862-1934) aus dem Jahr 1915 – das Stück beginnt mit einem berückenden Violinsolo der Konzertmeisterin und endet in einem rhythmischen Tanz, der in die Beine fährt – kam das erste Schwergewicht dieser Sonntagsmatinée: Felix Mendelssohn Bartholdys Konzert für Violine, Klavier und Streichorchester. Er schrieb es 1823 als Vierzehnjähriger für die Sonntags-Matineen im elterlichen Wohnhaus in Berlin und saß selber am Klavier. Natürlich ist es ein Jugendwerk, aber was für eins! Den beiden Solisten wird alles abverlangt, was Finger und musikalische Fertigkeit hergeben. Im ersten Satz – Allegro – wie auch in den anderen Sätzen ist das Orchester zumeist in diskret begleitender Rolle aktiv, was die DACAPO Kammerphilharmonie unter ihrem Dirigenten Franz Schottky – Schüler von Sergiu Celibidache und Begründer der Kammerphilharmonie im Jahr 2000 – auch besonders im Andante des zweiten Satzes hervorragend erfüllte. Die beiden Solisten überboten sich an melodiösem Zusammenspiel und ließen diesen zweiten Satz zu einem Höhepunkt werden. Der abschließende dritte schnelle Satz ist zwar rhythmisch raffiniert, kam aber für meine Begriffe ein wenig überhastest und kaum phrasiert, wenngleich sehr virtuos daher. Ein wenig Entdeckung der Langsamkeit hätte das Vergnügen gesteigert, aber vermutlich wollte der jugendliche Komponist einfach alles zeigen, was er schon damals „drauf“ hatte. Als Zugabe spielten die beiden Solisten nach rauschendem Beifall noch eines der Lieder ohne Worte in einem Duo-Arrangement. (Vielleicht könnte man das Publikum für die Zukunft noch sanft darauf hinweisen, dass in einem Konzert zwischen den Sätzen – aller Begeisterung eingedenk – nicht geklatscht wird, weil es den Zusammenhang doch allzu rüde unterbricht!)

Nach der Pause dann das Hauptstück des Konzerts: Anton Bruckners (1824-1896) Streichquintett von 1878/79 in einer Fassung für Streichorchester. Ist schon das Original in der Besetzung mit zwei Bratschen Bruckners einziges reifes Kammermusikwerk, so wird es in der Fassung für Streichorchester fast schon zu einer Symphonie. Nicht nur die bloße Länge der vier Sätze, auch die verwendeten musikalischen Themen und Harmonien, die Rhythmen und gewaltigen Übergänge weisen es als eines der Hauptwerke des Komponisten aus. Die Kammerphilharmonie DaCapo war dafür mit ihrem Dirigenten Franz Schottky sicher ein denkbar guter und kompetenter Sachwalter. Natürlich ist der Klang in allen Streichergruppen exzellent, die dynamischen Abstufungen sind in allen Dimensionen überzeugend vorhanden, die ganze „utopische“ Klanglichkeit des Bruckner’schen Kosmos entsteht vor uns. Die Orchesterfassung – besonders auch durch die Grundierung mit den Kontrabässen – ist dazu angetan, dieser Musik eine noch größere Überzeugung zuzuweisen. Jedenfalls war die Begegnung mit Bruckners Streichquintett am Sonntagvormittag ein besonderer Höhepunkt im Münchner Konzertleben. Begeisterter Beifall, den Franz Schottky selbstverständlich mit seinen Musiker-Kollegen gerne und liebevoll teilte. Man kann der neuen Konzert-Reihe nur an allen Sonntagen einen so fast vollständig gefüllten Herkulessaal wünschen und ein immer so aufmerksames Publikum.

[Ulrich Hermann, November 2017]

Todessehnsucht und Hoffnungsschimmer

Bach und Schubert stehen auf dem Programm des Bruckner Akademie Orchesters unter Leitung von Jordi Mora im KUBIZ Unterhaching am Abend des 5. November 2017. Der Contrapunctus I aus der „Kunst der Fuge“ BWV 1080 Johann Sebastian Bachs ist in einer Fassung für Orchester des Dirigenten zu hören, danach die Kantate Nr. 82 „Ich habe genug“ für Bass, Oboe, Streicher und Continuo BWV 82 mit dem Solisten Josep-Ramon Olivé. Nach der Pause gibt es als Hauptwerk Franz Schuberts Sinfonie C-Dur D 944 mit dem Beinamen „Die Große“.

Und wieder lässt Jordi Mora mit seinem Bruckner Akademie Orchester die Zeit stillstehen im KUBIZ Unterhaching nahe München. Das Programm ist gespalten wie Licht und Schatten, zwei düstere Werke Bachs und ein (auf den ersten Blick) strahlendes von Schubert. Doch die Seiten wechseln, als Bach seine Hoffnungsschimmer aufkeimen lässt und Schubert weit von seiner Ausgangstonart fortmoduliert und die Hörer sicher durch ohrenbetäubende Katastrophen lotst. Die Welt steht Kopf und das Publikum geht mit.

Der Beginn der Kunst der Fuge eröffnet das Programm des heutigen Abends, instrumentiert von Jordi Mora mit geschicktem Einbezug sorgfältig ausgewählter Bläserstimmen. In feiner Legatoqualität umspielen sich die vier Stimmen der Fuge, lassen sich gegenseitig zu Wort kommen. Die Musiker sind von Anfang an präsent und hören einander zu, eine immer seltener erfahrbare Eigenschaft im heutigen Konzertleben. Doch das Programm ist gründlich einstudiert und nicht nur auf technisch-mechanischer Seite ausgefeilt, was der Darbietung einen ganz besonderen Schliff verleiht.

Bach führt uns in die tiefsten Abgründe mit seiner Kantate „Ich habe genug“ BWV 82, Weltflucht und Todessehnsucht durchziehen die drei Arien und zwei Rezitative, der Vanitas-Gedanke in reinster Form. Nur wenige Musiker sind hierfür auf der Bühne, die Atmosphäre gewinnt die Intimität von Kammermusik und behält doch das Volumen des Orchesterklanges. In sich gekehrt und jedem äußeren Glanz abschwörend besticht die Stimme von Josep-Ramon Olivé auf ganz eigene Art. Fein sind seine Dynamiken abgestuft und sanft ist seine Couleur. Schade, dass die Halle einiges an Tragfähigkeit schluckt und er in den Arien teils nur undeutlich bis in den Rang zu hören ist. Außergewöhnlich feinfühlig und überzeugend ist die Solooboe, die so menschlich und natürlich klingt, dass man meinen müsste, bald hebe sie wirklich zu singen an. Auch die Rezitativ-Begleitung gelingt überwältigend.

Schubert durchkreuzt das intime Warten auf den Tod durch eine triumphierende C-Dur-Symphonie in gigantischem Ausmaß. Dass der Komponist sie selbst nie zu hören bekam, da sie erst 1839 postum unter Mendelssohn zur Aufführung kam, bringt einen Querverweis auf das Sujet von Bachs Kantate. Eine knappe Stunde dauert dieses Werk, „himmlische Länge“, und keine Minute zu lang erscheint sie uns heute – was in anderen Darbietungen beileibe nicht immer der Fall ist. Jordi Mora spannt einen einzigen Bogen um die Symphonie, ist sich immer bewusst des aktuellen Geschehens in der Musik. Das weit ausgreifende Modulieren wird erlebbar gemacht und ist gut mitzuverfolgen. Trotz der bis zum Rand gefüllten Bühne können die Musiker ihre Vertrautheit beweisen und sich gegenseitig zuhören. Selbst die großen Höhepunkte stehen zueinander in Beziehung und poltern nie ungezügelt drauf los. Besonders hinreißend gelingt der zweite Satz, welch ein feinsinniger Tanz in aller Doppelbödigkeit, so dass nie klar wird, ob man nun lachen oder weinen soll.

Nicht zum ersten Mal überzeugt und begeistert Jordi Mora mit seinem Orchester im KUBIZ Unterhaching. Die Spannung ist spürbar und treibt den Hörer auf die Stuhlkante, um immer noch intensiver zu hören.

[Oliver Fraenzke, November 2017]

Grandiose Klaviermusik aus dem Gulag

Hänssler Classic, 5CDs, LC 13287; EAN: 0881488170351

Nachdem letztes Jahr bereits die 24 Préludes sowie die 24 Präludien & Fugen gewissermaßen als Auskopplungen bei Hänssler veröffentlicht wurden, erscheint jetzt endlich auf 5 CDs eine größere Auswahl aus dem (erhaltenen) Klavierwerk des russischen Komponisten Vsevolod Zaderatsky (1891-1953), der einen Großteil seines Lebens unter politischer Verfolgung litt und sogar zwei Jahre im Gulag verbringen musste. Die Darbietung des als Spezialist für jüdische Musik geschätzten Jascha Nemtsov kann nur als phänomenal bezeichnet werden.

Diese Entdeckung ist eine echte musikalische Sensation! Nachdem die Fachwelt sich jahrzehntelang um eine erfolgreiche Rehabilitierung der im Dritten Reich verfolgten bzw. ermordeten Komponisten beispielsweise aus Theresienstadt (Krása, Ullmann, Haas…) bemüht hat, steckt eine entsprechende Aufarbeitung der unter den Sowjets bedrängten russischen Komponisten noch eher am Anfang.

Dem russischen Musikwissenschaftler und Pianisten Jascha Nemtsov ist es zu verdanken, dass im vergangenen Jahrzehnt das Klavierwerk des russischen Komponisten Vsevolod Zaderatsky, der zu Lebzeiten weder gedruckt noch aufgeführt wurde, ans Licht kam. Zaderatsky – gleichaltrig mit Prokofieff – studierte ab 1910 in Moskau erfolgreich bei Tanejew und Ippolitov-Ivanov. 1920 entging er nur knapp der Exekution durch die russische Geheimpolizei Felix Dserschinskis. Als Offizier der Weißen Armee und ehemaliger Musiklehrer der Zarenfamilie hatte Zaderatsky dabei ganz schlechte Karten. Bis auf vier Moskauer Jahre (1930-34) und die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg, in der er jedoch weiter vom Sowjetischen Komponistenverband diskreditiert wurde, lebte er in der Verbannung, von 1937-39 sogar im Gulag. Seine Werke bis 1926 wurden komplett vernichtet.

Die im sibirischen Gulag 1937-38 entstandenen 24 Präludien & Fugen sind – ganz abgesehen von ihrer unglaublichen Entstehungsgeschichte – ein musikalisches Wunderwerk. Es fällt zeitlich nicht nur vor Hindemiths Ludus tonalis, sondern insbesondere auch weit vor Schostakowitschs entsprechenden Zyklus (op. 87, 1951). Natürlich ist auch für Zaderatsky Johann Sebastian Bach das große Vorbild, aber hier begegnet uns weit mehr als eine bloße Hommage. Die stilistische wie auch emotionale Spannweite übertrifft Schostakowitsch deutlich: Ein einzigartiger musikalischer Kosmos wird hier aufgespannt. Die Verbindung des Materials von den Präludien zu den Fugen ist überzeugend; meist wirkt das Paar wie aus einem Guss. Generell bleibt Zaderatsky zwar der Tonalität verpflichtet und die Stücke des Zyklus folgen in ihrer Anordnung dem Quintenzirkel. Dennoch arbeitet der Komponist sehr charakteristisch mit vielen Dissonanzen, vor allem Mini-Clustern aus einer oder mehreren kleinen Sekunden, die ein völlig anderes Klangbild ergeben als bei Schostakowitsch – in seiner Wirkung zudem noch konzertanter. Der Zyklus wurde erst 2015 von Jascha Nemtsov uraufgeführt, die Entdeckung auch in Russland bejubelt.

Näher an Schostakowitschs gleichnamigem Zyklus (op. 34, 1933) liegen Zaderatskys 24 Préludes (1934), die trotz einiger experimenteller Elemente andererseits mehr auf Chopin verweisen. Von den drei Klaviersonaten sind die ersten beiden (1928) die interessanteren. Nach der Vernichtung seiner Werke, zwei Jahren Haft und einem Selbstmordversuch orientieren sie sich an den großen, einsätzigen Sonaten Skrjabins, Roslavez‘ und Feinbergs, sind aber depressiver und zerrissener. Die vielgliedrige, gewaltige zweite Sonate muss man mehrfach hören, bis sich ihre Teleologie erschließt. Dagegen wirkt die dritte, tonale Sonate von 1939 deutlich konventioneller, ohne jedoch typische Eigenheiten Zaderatskys zu verleugnen: Kompromiss an die Machthaber nach der Freilassung aus dem Gulag?

Die beiden Klavierzyklen Die Front (1944) und Die Heimat (1946) weisen schon von ihren Satztiteln her auf den sozialistischen Realismus: ein Trugschluss! Nur oberflächlich geben sie sich konziliant. Die Front bedient sich nicht einmal als Maske propagandistischer Kriegsrhetorik, ganz im Gegensatz zu manchen musikalischen Äußerungen einiger Avantgardisten (vgl. Mossolows E-Dur-Sinfonie), die sich in den Kriegsjahren aus Angst vor Stalin zu Konformität gezwungen sahen. Vielmehr zeigt der Zyklus ungeschminkt die Schrecken des Krieges, ganz ohne Agitation, vergleichbar vielleicht nur mit Leo Ornsteins anklagendem Klavierzyklus Poems of 1917. Ziemlich ironisch gibt sich dann auch Die Heimat. Pianistisch ist dies alles höchst virtuos; Zaderatsky beherrscht die Klangpalette des Instruments souverän. Ganz erstaunlich etwa Die Fabrik: Die mechanistische Lautmalerei erinnert einerseits an Mossolows Eisengießerei, greift aber bereits auf Stücke wie Frederic Rzewskis Winnsboro Cotton Mill Blues vor. Die kürzeren Zyklen aus gefälligeren Miniaturen, meist um 1930 entstanden, erreichen zumindest das Niveau bekannterer zeitgenössischer Russen wie Kabalewski oder Alexander Tscherepnin.

Jascha Nemtsovs Interpretationen sind nicht nur pianistisch makellos. Er erfasst sowohl die teilweise – für einen Tanejew-Schüler wenig überraschend – komplizierte Polyphonie der Präludien & Fugen als auch die Ironie der nur scheinbar dem sozialistischen Realismus verpflichteten Klavierzyklen und die tiefe Depression der beiden ersten Klaviersonaten. Die Stimmführung bleibt immer transparent, die gewählten Tempi sind goldrichtig und die musikalischen Charaktere werden mit einer staunenswerten Plastizität getroffen. Von lyrischem Schönklang bis zu ausgefransten Dissonanzen wird der Klavierklang orchestral ausgelotet. Und bei den 24 Préludes erkennt der Hörer sofort die musikhistorischen Bezüge. Kurz: Mit dieser Darbietung, die zudem auch aufnahmetechnisch überzeugt, darf man wunschlos glücklich sein. Nemtsov verfasste überdies den hochinformativen Booklettext. Den Namen Zaderatsky sollte man jetzt in einem Atemzug mit längst bekannten russischen Klaviermeistern nennen dürfen, zumal die Werke nun wohl endlich im Druck erscheinen werden. Wunderbar, dass diese CD-Box dazu als höchst gelungener Vorreiter dienen kann.

[Martin Blaumeiser, Oktober 2017, korrigiert Februar 2018]

Was die Welt im inneren zusammenhält

Chandos, CHSA 5209; EAN: 0 95115 52092 5

Vladimir Ashkenazy dirigiert Orchesterwerke von Nimrod Borenstein. Das Violinkonzert mit der Solistin Irmina Trynkos steht neben dem groß angelegten „The Big Bang and Creation of the Universe“ und dem vergleichsweise eher kürzeren „If You Will It, It is No Dream“.

„The Three pieces featured on this CD differ in size and character, but my humble hope is that whilst you listen to them your first thought will be ‚Borenstein‘, just as when you hear an unfamiliar piece by a composer you already know you think ‚Beethoven‘, ‚Chopin‘, or ‚Prokofiev‘ – because you recognise something unique to its creator. […] When I started to write my Violin Concerto, I was determined to create a large-scale piece for the violin repertoire, to continue in the line of imposing, ‚big‘ concertos by Brahms, Sibelius, or Shoshakovich – a challange particularly dear to me as a violinist.“, schreibt der Komponist im Begleitwort zu vorliegender CD.

Ja, lieber Herr Borenstein, wie Recht Sie doch haben und wie es mir nach nur wenigen Takten schon kam: Hier haben wir einen neuen Beethoven, einen Fortführer der jahrhundertealten Tradition westlicher Kunstmusik, der sich seinen Thron inmitten all der Giganten auch och selbst setzt. Wie unvergleichlich Ihr ureigener Ton, wie hinreißend jeder melodische Einfall und wie famos doch Ihre Erfindungsgabe ist, die mir als Hörer sogleich alles in neuem Licht erstrahlen ließ. Welch eine Entdeckung, die ab sofort ausschließlich neben Mozart, Schubert, Sibelius und dergleichen gehört zu werden beanspruchen darf.

Nein, lieber Herr Borenstein, verzeihen Sie meinen Ausflug ins Ironische. Doch müssen Sie selbst zugeben, dass es etwas anmaßend erscheinen kann, sich selbst neben einigen der unbestritten größten Komponisten zu platzieren. Zumal alle von Ihnen angeführten Komponisten Meister der Kontraste sind, die in jeder Miniatur und in jedem noch so langen Einzelsatz alle entgegenwirkenden Kräfte in Beziehung halten und aus dieser Spannkraft heraus in die jeweiligen Extrema führen können, um große Zusammenhänge zu erschaffen, während Sie selbst eingestehen, dass Ihnen das Schaffen solcher in einem einzigen Satzjenseits der Alternative, unterschiedliche Sätze aneinanderzureihen, schwerfällt („this length [of ten minutes] poses a specific challenge. In longer works like concertos or symphonies the composer has the advantage of being able to create contrasts by having a succession of movements of different speeds and atmosphere. Ten minutes is too short a time for such a luxury and a way of creating variety must be found.“ Nimrod Borenstein zu “ If You Will It, It is No Dream“).

Keineswegs soll damit gesagt sein, dass die Musik des 1969 geborenen Nimrod Borenstein minderwertig sei, lediglich die überhebliche Attitüde, die sich nicht zuletzt in seiner Themenwahl – The Big Bang and Creation of the Universe – äußert, verfehlt ihre prätendierte Durchschlagskraft und bietet Angriffsfläche für Spott. Tatsächlich gibt es Spurenelemente einer individuellen Note in den drei Kompositionen, wenngleich diese recht platt von bestimmten Klangeffekten wie dem exzessiven Gebrauch des Vibraphons herrührt. Und dies alleine macht keinen großen Komponisten aus. Ansprechend sind die wiedererkennbaren thematischen Gebilde, die sich durch die Werke ziehen und diesen eine gewisse Anmutung von Struktur verleihen – wobei sie noch etwas zu willkürlich verstreut erscheinen. Die Musik ist farbenfroh und angenehm anzuhören, jedoch nicht wirklich aufregend oder sonderlich spannungsgeladen. Ein übergeordneter Spannungsbogen stellt sich noch nicht ein.

Die Musiker spielen allesamt hoch routiniert und mechanisch einwandfrei, geben sich keine Blöße, musizieren allerdings in entsprechender Weise uninspiriert und ohne bemerkenswerte Konzentration auf musikalische Aussage, sondern produzieren unter dem berühmten Ashkenazy letztlich lediglich hochprofessionell-stumpfe Perfektion.

[Oliver Fraenzke, Oktober 2017]

Virtuosität am Violoncello

Naxos, 8.573737; EAN: 7 47313 37377 2

Camille Saint-Saëns‘ Werke für Cello und Orchester stehen auf dem Programm der neuen CD Gabriel Schwabes, diesmal zusammen mit dem Malmö Symphony Orchestra unter Marc Soustrot. Neben den beiden Cellokonzerten Op. 33 und Op. 119 sind dies die Suite d-Moll Op. 16bis – die ursprünglich für Klavier und Cello komponiert wurde, deren Scherzo allerdings gegen eine neukomponierte Gavotte und deren Finale gegen eine ebenfalls originale Tarantelle ausgetauscht wurden –, die Romanze F-Dur Op. 36, das Allegro appassionato h-Moll Op. 43 und der Schwan (Le Cygne) aus dem Karneval der Tiere in der Bearbeitung von Paul Vidal.

Wenn es etwas gibt, was man Camille Saint-Saëns unter keinen Umständen vorwerfen kann, so wäre dies, nicht virtuos für seine Solisten schreiben zu können. Werke für kleine Besetzungen oder mit einem im Mittelpunkt stehenden Solisten gestalten sich durchweg als virtuose Hürdenläufe und Gelegenheiten technischer Zurschaustellung. Für die ausführenden Musiker ist die Musik nicht immer dankbar, prägnante Themen und verträumte Lyrizität sind nicht unbedingt im Mittelpunkt der Kompositionen, doch ist es eine Art der olympionikische Verführung, die immer wieder dazu anreizt, Saint-Saëns zu hören und zu spielen.

So gehen auch Saint-Saëns’ Werke für Violoncello und Orchester an den Rand des Möglichen und verlangen dem Solisten alles ab. Für das Orchester besteht die Aufgabe entsprechend darin, dem Solisten Raum zur Entfaltung zu geben, auf ihn einzugehen und ihm einen schillernden Teppich aus Harmonie und Melodie zu bereiten. Dies wird hier allerdings nur mäßig umgesetzt, Marc Soustrot sieht seine Aufgabe eher als Taktgeber denn als musikalisch aktiver Widerpart zum Cellisten. Viele wichtige Stimmen gehen verloren, gerade im Zweiten Cellokonzert sind substanzielle Melodieelemente verdeckt, so dass Schwabes Stimme beinahe nackt erscheint. In der Sérénade aus der d-Moll-Suite bröckelt plötzlich der durchgehende 3/8-Rhythmus, der den Satz zusammenhält: Unmittelbar gehen die so wichtigen Streicher unter, die Partitur bietet jedoch keinen Grund dafür. Allgemein ist der Klang stumpf und wenig plastisch.

Klar und brillant ist die Stimme von Gabriel Schwabe, der die Musik von Saint-Saëns distanziert, aber nicht unemotional in Szene setzt. Der junge Cellist kommt spielend mit jeder Höchstleistungsforderung zurecht, die ihm der Komponist in den Weg legt. Er versucht weitestgehend auch, auf das Orchester zu hören. Im ersten Konzert nimmt Schwabe sich zwar einige übermäßige Rubato-Freiheiten und schlägt ein etwas zu schnelles Grundtempo an, was zu verschwimmenden und unpräzisen Triolen bei den Orchesterstreichern führt, doch legt sich dies in den anderen zu hörenden Kompositionen. Besonders reflektiert erklingen das Zweite Konzert sowie die langsamen Sätze aus der Suite, die innere Ruhe und Gesetztheit ausstrahlen.

[Oliver Fraenzke, Oktober 2017]

Bunt schillernde Reisen jenseits der Konventionen

„Passport“ heißt Omar Rahbanys erstes großes Album, zu welchem er die Musik komponierte und in welchem er selbst als Pianist mitwirkt. Von orchestralen Besetzungen bis hin zu Werken für lediglich eine Hand voll Beteiligte findet sich alles auf dieser stimmigen Zusammenstellung von Musik mit international changierendem Kolorit.

Omar Rahbany nimmt den Hörer mit auf eine musikalische Weltreise, reale und fiktive Plätze werden klanglich erkundet: eine eigenwillige und einzigartige Kollektion an Musik in unverkennbar eigenem Stil.

Der Versuch, die Musik von Omar Rahbany in eine Schublade zu ordnen, ist zum Scheitern verurteilt. Die Vielzahl der Einflüsse ist alleine auf dieser CD schon nicht zu überblicken: Die Ouvertüre präsentiert einen individuellen klassisch-modernen Stil mit Anleihen aus der bunten Welt des Musicals, während in anderen Stücken teils eher Jazz-Elemente charakteristisch werden, Tango ist ebenso zu finden wie Authentisches aus den arabischen Ländern, aus Irland, und Rhythmen aus fernöstlichen Regionen. Rahbany versteht es, all dies zu verschmelzen und in seinem brodelnden Individualstil auszudrücken. Die Musik besitzt eine unfassbare Energie, rhythmischen Drive und eine emotional fesselnde Note, was ein wahrhaft einmaliges Hörerlebnis zur Folge hat. Jedes Stück ist anders besetzt und zeigt vollkommen eigene Nuancen auf, wiederkehrende Stimmungen oder potentiell monotone Tendenzen werden dadurch von vornherein ausgehebelt. Und das, obgleich Rahbany seine Themen nicht immer nur einer Komposition angedeihen, sondern sie zwischen den Werken dieses Albums wandern lässt. Dabei erscheinen sie stets neu, teils gut erkennbar und teils nur schwerlich zu rekonstruieren, immer mit unerwarteter Ausdrucksqualität. Erstaunlich ist, wie souverän der Komponist für jede der angeführten Konstellationen schreibt, sei es für Stimme, für klassische Orchesterinstrumente oder sogar für exotische Instrumente wie Ney oder Bezok, und dies in jeder Besetzungsgröße. Selbst mit wenigen Musikern entsteht ein orchestral anmutendes Klanggeflecht, rhythmische Dichte und Komplexität lassen jede Ensemlbekombination wesentlich größer erscheinen.

Das Album bildet trotz der weltenüberbrückenden Unterschiede zwischen den einzelnen Werken ein zusammengehöriges Ganzes, die Stücke formulieren einen großen Kontext aus und leiten teils auch ineinander über. Dazu verwendet Rahbany auch elektronische Mittel wie Aufnahmen von Regen oder Feuerwerkskörpern. Am Ende bedankt sich eine Flugbegleiter-Stimme fürs Anhören und die Musik verklingt – unfassbar, dass gerade einmal eine Stunde Musik vorbeigegangen ist! Wie kurz schien die Zeit! Hier liegt ein absolut gelungenes Konzeptalbum vor, das es Wert wäre, umfassend publik gemacht zu werden. Wie schade, dass die CD nicht einmal durch ein von einem Vertrieb gestütztes Label getragen wird, dass auch über die phänomenalen Musiker, die so einheitlich und konzentriert zusammenwirken, und den Komponisten nicht ein Wort verloren wird! Immerhin: online ist diese CD zu erwerben [Amazon / iTunes], und dies sei allen weltoffenen, neugierigen Hörern wärmstens empfohlen. Solch ein Ausnahmetalent!  Zu gerne leiste ich meinen bescheidenen kommentierenden Beitrag zur Verbreitung dieser Musik hierzulande und werde gespannt beobachten, was wir künftig von diesem jungen libanesischen Allround-Musiker und –Komponisten hören werden.

[Oliver Fraenzke, Oktober 2017]