Naxos hat sich schon immer auch für die Musik des grandiosen Rumänen George Enescu stark gemacht. Auf der neuen CD mit zwei erst nach dem Tod des Komponisten veröffentlichten bzw. entdeckten Kammermusikwerken – dem Klaviertrio a-Moll (1916) und dem 1. Klavierquartett D-Dur (1909) – spielen Stefan Tarara (Violine), Molly Carr (Viola), Eun-Sun Hong (Violoncello)und Josu De Solaun (Klavier).
Bald siebzig Jahre nach seinem Tod gehören die meisten der erstaunlichen Meisterwerke des Rumänen George Enescu (1881–1955) immer noch nicht zum Standardrepertoire der klassischen Moderne. Ob der Hauptgrund dafür tatsächlich in der lange enormen Popularität seiner beiden Rumänischen Rhapsodien zu suchen ist, die ja sein Werk völlig unterbelichtet erscheinen lassen müssen, oder in der überragenden Bekanntheit Enescus als einer der bedeutendsten Geiger und Pädagogen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, sei mal dahingestellt. Ersteres wäre nun in etwa so, als ob man über Beethovens Wellingtons Sieg dessen Symphonien, Sonaten und Streichquartette völlig vergessen hätte. Dass Enescu wohl ebenso versiert Klavier spielte wie die Violine, wissen freilich auch nur die Wenigsten.
Enescu war vielmehr einer derjenigen Zeitgenossen, die in ihrem Werk eben keinen radikalen Bruch mit der Spätromantik vollzogen haben, trotzdem komplex und zum Teil ebenso eigenwillig innovativ wie herausfordernd für Interpreten und Hörer sind. Das spürt man beispielhaft in der hier vorgestellten Kammermusik. Das dreisätzige Erste Klavierquartett von 1909 ist mit 37 Minuten ein echtes Schwergewicht der Gattung – mit zyklischer Transformation sogar über die Satzgrenzen hinaus verwandter Themen und großer emotionaler Spannweite. Nach der erfolgreichen Uraufführung erklang das Stück zu Lebzeiten dennoch lediglich zweimal – jeweils mit Enescu am Klavier (!) – und wurde erst 1965 gedruckt. Das relativ knappe einzige Klaviertrio des Komponisten, das zwischen 1911 und 1916 entstand, blieb sogar bis zu seinem Tod in der Schublade. 1965 entdeckt und noch viel später von Pascal Bentoiu ediert, gehört es bisher eher zu den Raritäten Enescus.
Die drei Protagonisten des Trios – der Heidelberger Violinist Stefan Tarara, die südkoreanische Cellistin Eun-Sun Hong und der spanisch-amerikanische Pianist Josu De Solaun – waren jeweils in ihrem Fach erste Preisträger des internationalen George Enescu Wettbewerbs 2014. De Solaun hat bereits Enescus komplettes Soloklavierwerk für Grand Piano eingespielt. Vergleicht man die vorliegende Darbietung (entstanden 2017 in Valencia) mit der des britischen Schubert Ensembles (2012), so fällt zunächst auf, dass sich letztere nach intensiver Auseinandersetzung mit dem Autograph in vielen Details nicht an die Bentoiu-Fassung halten. Inwieweit auch die Neueinspielung teils eigene Lesarten berücksichtigt, kann der Rezensent mangels Notenmaterials leider nicht bewerten; jedenfalls gibt es Unterschiede im Text beider Aufnahmen. Dass Enescu es im Kopfsatz nach hochexpressivem Beginn verinnerlichter und ruhiger angehen lässt, kommt dem britischen Understatement des Schubert Ensembles entgegen. Aber schon im langsamen Variationssatz beweisen die Naxos-Musiker größere Geschmeidigkeit und Finesse – etwa gleich in der Presto-Variation. Und im bedrohlich stampfenden Einleitungsteil des Finales klingen sie wirklich desolat, sind mittendrin im Geschehen; nicht nur kultivierte Betrachter eines intelligent angelegten Klangpanoramas wie ihre britische Konkurrenz.
Insgesamt emotional direkter, dafür klanglich streckenweise weniger feinsinnig als das Schubert Ensemble (2010), scheinen Tarara, Hong und De Solaun – nun verstärkt durch die US-Bratscherin Molly Carr – auch für das 1. Klavierquartett geradezu prädestiniert. Hier wird individuellen Momenten der Einzelstimmen deutlich mehr Entfaltungsmöglichkeit gewährt: Man höre etwa die Bratschenstelle I. Satz, 7. Takt nach Zif. [17] (Track [4], ab 7‘38“), ausdrücklich mit molto espressivo versehen, die von Carr als höchst schmerzlicher Einwurf gestaltet wird, bei den Briten lediglich ein korrespondierendes Rädchen im Stimmengeflecht. Derlei Intensität macht den 14-minütigen Kopfsatz natürlich ebenso für den Hörer zu einer Tour de Force. Das atmosphärisch dichte, einerseits noch am französischen Impressionismus geschulte, gleichzeitig die spätere Metamorphosentechnik des Dänen Vagn Holmboe vorwegnehmende Andante mesto überzeugt bei beiden Ensembles. Im Finale gewinnt jedoch wiederum die Neuaufnahme, ist zupackender, besonders im Klavier virtuoser; gerade auch der fulminante, nochmals das Hauptthema rekapitulierende Schluss wirkt da stringent, beim Schubert Ensemble droht er beinahe zu zerfallen. Die Naxos-Technik betont noch die Direktheit der Aufführungen; hingegen lässt die Räumlichkeit etwas zu wünschen übrig. Als wirklich ärgerlich erweist sich der leider suboptimal gestimmte Flügel, vor allem beim Quartett. Richard Whitehouses Booklettext ist wie immer konzentriert und informativ. Man darf also die mehr als interessante Erweiterung der Enescu-Diskographie mit äußerst kompetenten Musikern unter Kammermusikfreunden durchaus willkommen heißen.
Nach der ersten Folge (Violine, Flöte, Fagott) der Gesamtaufnahme sämtlicher Choros für Soloinstrumente und Orchester von Camargo Guarnieri bringt die zweite CD dieStücke für Klarinette, Klavier, Violoncello und Viola; dazu noch Flor de Tremembé. Das São Paulo Symphony Orchestra spielt diesmal unter Leitung von Roberto Tibiriçá; die Solisten sind Olga Kopylova (Klavier), Ovanir Buosi (Klarinette), Horácio Schaefer (Viola) und Matias de Oliveira Pinto (Violoncello).
In der bislang erstaunlichen Naxos-Reihe „The Music of Brazil“ darf natürlich (Mozart)Camargo Guarnieri (1907-1993) – er selbst verzichtete stets auf seinen ersten Vornamen – nicht fehlen; für die meisten Klassikfreunde nach Heitor Villa-Lobos wohl der zweitbekannteste Komponist des Landes. Immerhin verfasste er – zieht man die 80 zurückgezogenen Jugendwerke bis 1927 einmal ab – an die 400 Eigenkompositionen. Erst mit zwanzig erhielt Guarnieri wirklich professionelle musikalische Ausbildung. 1938 ging er dank eines Stipendiums nach Paris, wo Charles Koechlin sein wichtigster Kompositionslehrer wurde, sich aber auch Begegnungen etwa mit Nadia Boulanger oder Darius Milhaud ergaben. Nach Kriegsbeginn wieder zurück in Brasilien, hielt er – wie Claudio Santoro – guten Kontakt zum Exil-Deutschen Hans-Joachim Koellreutter, lehnte jedoch die von diesem propagierte Zwölftonmethode der Zweiten Wiener Schule ab und richtete sich 1950 in einem offenen Brief – dessen Echtheit mittlerweile angezweifelt wird – gegen deren Verfechter. So vertrat Guarnieri lange einen Stil, der auf nationale Identität fokussiert war, aber harmonisch mehr in Richtung einer recht freien Polytonalität zielte. In seiner späten Schaffensperiode (ab 1965) finden sich gar wieder Allusionen von Reihentechniken.
Die insgesamt sieben Choros von Camargo Guarnieri knüpfen ebenso wenig direkt an die traditionellen Formationen der brasilianischen Popularmusik (Chôros) an wie bei Villa-Lobos, stehen hier vielmehr einfach für den Begriff Konzert: „Choro está substituindo concerto“. Vom Umfang mit 10 bis 20 Minuten kürzer als die meisten Solokonzerte des Komponisten, die er nicht als Choro betitelt, stellen sie jedoch keineswegs geringere Anforderungen an die Solisten. Die vier Werke der vorliegenden CD sind alle dreisätzig – beim Choro für Klarinette in einem Satz zusammengefasst. Innerhalb der Sätze bevorzugt Guarnieri zumeist A-B-A-Formen europäischer Tradition. Darüber hinaus spürt man häufig seine Vorliebe für Musik des Sertão im Nordosten Brasiliens. Wenn auch größer besetzt als diese, lohnt sich zudem ein Vergleich mit Hindemiths sieben Kammermusiken, die der Komponist in den 1930ern wohl eingehend studiert haben muss.
Mitglieder des Orquestra Sinfônica do Estado de São Paulo (OSESP) stemmen die Soli dreier Stücke und machen ihre Sache allesamt hervorragend: Ovanir Buosi brilliert sowohl in den jazzinspirierten Abschnitten als auch den nachdenklichen Momenten seines knappen Choro für Klarinette und Orchester (1956). Die Hauspianistin des Orchesters, Olga Kopylova fiel schon auf der ersten CD mit einer exzellenten Darbietung von Seresta auf und spielt hier vielleicht den dankbarsten, auf alle Fälle den am leichtesten zugänglichen Choro (1956) – mit einem zwischen Zartheit und robustem Auftreten changierendem ersten Satz, einem hemmungslos nostalgischen zweiten und einem leichtfüßig tänzerischen Finale samt äußerst eingängigen Hauptthema. Den größten Tiefgang spürt der Rezensent im Werk für Viola von 1975, schon aus der letzten Schaffensphase Guarnieris. Schroff und energetisch im kurzen Kopfsatz mit einer tollen Kadenz, wahrlich tristemente im langsamen Zentrum, schließlich ausgelassen und rhythmisch hochaktiv. Eine echte Paradenummer für den Bratscher Horácio Schaefer, und sicher nicht nur für den, wenn das Stück denn mal die Runde machte. Der Solist des Choro für Violoncello, Matias de Oliveira Pinto, stammt zwar aus São Paulo, lebt aber schon länger in Deutschland, wo er zurzeit eine Professur in Münster bekleidet. Hier startet der Komponist zwar am dramatischsten und bedient die gleiche Teleologie wie in den anderen Choros; manches ist dann freilich recht pauschal und absehbar, dennoch unterhaltsam.
Besondere Aufmerksamkeit verdient die kleine „Zugabe“: Flor de Tremembé, ein Geschenk Guarnieris an seine zweite Frau, die eben von dorther stammte. Für ein selbst 1937 höchst ungewöhnliches Solistenensemble von 15 Spielern – u. a. mit Ukulele, Baritonsaxophon, Harfe und Klavier – geschrieben, zeigt der Komponist bereits in dieser frühen Phase echte Meisterschaft: in der versierten kontrapunktischen Disposition wie im pfiffigen Umgang mit Jazzeinflüssen. Das Beste dabei: Zum Schluss verpackt Guarnieri das bisher vorgestellte Material noch kurz in eine rasante Zugfahrt, so wie man sie aus Honeggers Pacific 231 und natürlich Villa-Lobos‘ Bachianas brasileiras No. 2 (4. Satz: Toccata. O trenzinho de caipira) kennt – das macht richtig Spaß!
Wurde das bedeutendste Orchester Brasiliens in der ersten Folge noch von Altmeister Isaac Karabtchevsky geleitet (man lese die Kritik seiner Gesamtaufnahme der Villa-Lobos-Symphonien), steht nun mit Roberto Tibiriçá ein nicht minder versierter Dirigent der Folgegeneration – und ebenfalls aus São Paulo gebürtig – am Pult des OSESP. Er sorgt über die gesamte Darbietung für gute Durchsichtigkeit, die aufnahmetechnisch gleichermaßen unterstützt wird, begleitet untadelig und hat die richtige Ader für Jazziges, genau wie für goldrichtig dosiertes südamerikanisches Flair. Für die Hörer gibt es mal wieder enorm viel Gutes zu entdecken – lohnenswert!
Hinweis: Folge 1 der Choros von Camargo Guarnieri auf Naxos 8.574197 (2019)
Es sind nicht nur die größtenteils einem breiteren Publikum bisher verborgen gebliebenen Schätze, die bei der Naxos Serie „The Music of Brazil“ seit den ersten Veröffentlichungen Anfang 2019 begeistern, sondern vielmehr die musikalische und technische Qualität der Aufnahmen. Mit zwei zentralen Symphonien (Nr. 5 & 7) von Claudio Santoro (1919–1989) und dem Goiás Philharmonic Orchestra unter seinem britischen Chef Neil Thomson gelingt dem Label erneut eine exemplarische Einspielung bedeutenden Repertoires.
Die Lebensgeschichte des in Manaus gebürtigen Komponisten Claudio Santoro – noch mehr seines umfangreichen Werkes – erscheint zunächst ein wenig verschlungen: Früh als Geigentalent erkannt, unterrichtete Santoro bereits mit 18 Jahren am Konservatorium in Rio, wo er auch zu komponieren begann. 1940 traf er auf den aus Deutschland emigrierten Hans-Joachim Koellreutter, der versuchte, in Brasilien die Zwölftontechnik Schönbergs zu etablieren. Ein Stipendium der Guggenheim-Stiftung konnte er nicht wahrnehmen, da die USA ihm ein Visum verweigerten, worauf er 1947 auf Empfehlung Charles Münchs zu Nadia Boulanger nach Paris ging, dort zusätzlich von Eugène Bigot zum Dirigenten ausgebildet wurde. Von da an sammelte er national wie international zahlreiche Preise ein. Hatte er sich, nicht erst durch Kontakte und Reisen nach Moskau und Prag, nun stark den ästhetischen Forderungen des Sozialistischen Realismus zugewandt und damit der Dodekaphonie vorerst eine Absage erteilt, durchlebte er als Komponist in den 1950ern eine mehr oder weniger nationalistische Phase, die sich dennoch stark von denen seiner Landsmänner Villa-Lobos (freilich eine Generation zuvor) oder Camargo Guarnieri unterscheidet. In Santoros Musik geht zwar eine intensive Erforschung der heimatlichen Folklore mit ein, kommt aber lediglich als reines Material für abstrakte Formen zum Einsatz.
Bis zum Militärputsch 1964 war Santoro in einigen führenden musikalischen Positionen Brasiliens tätig – vor allem als Dirigent und Hochschullehrer. Parallel dazu hatte er seit 1960 beide deutsche Staaten besucht, etwa um elektroakustische Studien zu betreiben. 1965 zur Persona non grata erklärt, verließ er seine Heimat, arbeitete dann vor allem in Frankreich und Deutschland: u. a. Professuren für Dirigieren und Komposition in Mannheim 1971–1978. Nach seiner Rückkehr gab es neben weiteren Ehrungen auch erhebliche Missverständnisse innerhalb des dortigen Kulturbetriebes. Ab Mitte der 1960er Jahre nutzte Santoro neben Elektronik, Aleatorik, teilweise graphischer Notation und anderen Avantgarde-Elementen auch wieder die Zwölftontechnik, allerdings nicht durchgehend.
Von seinen insgesamt 14 Symphonien kann man die vorliegenden Nr. 5 (1955) und Nr. 7 („Brasília“, 1959/60) getrost als die zentralen Orchesterwerke der fruchtbaren nationalistischen Phase des Komponisten ansehen. Die Fünfte – 1956 in Rio uraufgeführt, jedoch zunächst in Moskau verlegt – zeigt, wie weit Santoro hier vom Folklorismus der meisten südamerikanischen Zeitgenossen entfernt ist. Sowohl die Verwendung lydisch-mixolydischer Modi wie typisch brasilianischen Schlagwerks (etwa im Scherzo, II. Satz) versuchen keinesfalls, Volksmusik nachzuahmen: Alles dient letztlich der Errichtung eines symphonischen Gebäudes, wie es eher den Erwartungen eines europäischen Publikums entsprechen dürfte. Im Lento benutzt er Material des Xangô ausnahmsweise einmal direkt. Weder geht es hier um allzu prächtige Farbigkeit – wie oft bei Villa-Lobos – noch um ausufernde Expressivität. Santoro überzeugt nicht nur handwerklich, wie sich gerade im grandiosen Kontrapunkt zeigt, sondern durch ebenso klug wie organisch angesteuerte emotionale wie klangliche Höhepunkte. Die Siebte verdankt ihren Titel einem Wettbewerb zur Einweihung der Planhauptstadt Brasília im Jahre 1960, wurde aber erst 1964 in Berlin vom Komponisten uraufgeführt. Noch reichere Instrumentation und die konsequente Verwendung von Viertonmotiven in drei der vier Sätze strahlen Erhabenheit und Optimismus aus, ohne dass die Symphonie als solche programmatisch sein möchte. Bei so viel Meisterschaft erscheint der Vorwurf einiger Kritiker, Santoro sei zu akademisch, nahezu irrelevant. Für Neulinge klingt das alles freilich näher dran an beispielsweise Aaron Copland – der auch durch die Schule von Mademoiselle Boulanger ging – als an seinen brasilianischen Kollegen.
Das Orquestra Filarmônica de Goiás beweist einmal mehr die Professionalität brasilianischer Kulturorchester jenseits von Rio de Janeiro oder São Paulo. 1980 gegründet, residiert der Klangkörper seit 2006 im hochmodernen Centro Cultural Oscar Niemeyer der Millionenstadt Goiânia. Wer keinen Beton mag, sollte sich das Drohnenvideo vielleicht lieber nicht ansehen. Niemeyer und Santoro waren übrigens persönlich eng befreundet. Der Chefdirigent Neil Thomson (Jahrgang 1966) stammt aus London, war eine Zeit lang jüngster Dirigierprofessor am dortigen Royal College of Music, und leitet das Orchester in Goiás seit 2014. Dessen Klangkultur ist absolut beeindruckend, und Thomson hat hier eine Offenheit für Neue Musik entwickelt, die in Brasilien bisher einmalig sein dürfte – mit zahlreichen Erstaufführungen europäischer Moderne. Über sämtliche Orchestergruppen hinweg spürt man eine dichte Kommunikation, Homogenität und wachen Sinn für musikalische Details, die den Rezensenten – spätestens nach der ersten CD der Naxos-Reihe The Music of Brazil mit dem Orquestra Filarmonica de Minas Gerais – nun keineswegs mehr überraschen. Und wieder kann die Aufnahmetechnik mithalten – zumindest mit der aktuell einzigen Konkurrenz-CD mit Santoro-Symphonien (Nr. 4 & 9 unter John Neschling) auf BIS, immerhin bereits 20 Jahre her. Gegenüber den alten Rundfunk-Aufnahmen der Nummern 5 & 7 mit dem Komponisten selbst, die man auf YouTube findet, natürlich ein Quantensprung. Dass Thomson manche Grobheiten Santoros erheblich glättet, mag sich wohl allein durch den enormen spieltechnischen Fortschritt seines Orchesters erklären, das seit Corona wohl kurz vor dem Aus stand, nun aber offenkundig überlebt hat. Auf jeden Fall weckt diese Naxos-Entdeckung das Interesse auf acht noch nicht eingespielte Gattungsbeiträge, die hoffentlich irgendwann folgen werden, und sollte in keiner Symphonien-Sammlung fehlen.
Das Brahms-Trio mit Natalija Rubinstein (Klavier), Nikolai Satschenko (Violine) und Kirill Rodin (Violoncello) stellt in der fünften Folge seiner CD-Reihe zur Geschichte des russischen Klaviertrios drei Weltersteinspielungen aus der Zeit des späten Russischen Reichs vor.Die Trios von Vladimir Dyck und Constantin von Sternberg entstanden dabei in der französischen bzw. amerikanischen Emigration, das von Sergei Juferow ist ein dezidiert elegischer Gattungsbeitrag in der Tradition Tschaikowskis.
Mit der vorliegenden fünften Folge findet die kleine Anthologie des Brahms-Trios zur Geschichte des russischen Klaviertrios bis zur Oktoberrevolution ihren Abschluss. Einmal mehr sei angemerkt, dass hier keine Gesamteinspielung sämtlicher Klaviertrios russischer Komponisten bis 1917 angestrebt, sondern eine Auswahl getroffen wurde, die selbstverständlich um die Klassiker wie Tschaikowskis Trio op. 50 herum aufgebaut wurde, aber auch mit einer ganzen Reihe von Raritäten aufwartet. In dieser Hinsicht ist die vorliegende fünfte Folge besonders reizvoll. Auf der Internetpräsenz des Brahms-Trios (nicht aber auf der CD selbst) firmiert sie unter dem Titel „Russia Abroad. Late Premières“ – in der Tat eine treffende Charakterisierung, denn zwei der drei Komponisten emigrierten in jungen Jahren aus dem Russischen Reich, alle drei Trios liegen hier in Weltersteinspielungen vor, und besonders häufig (wenn überhaupt) dürften sie innerhalb der gut 100 Jahre seit ihrer Entstehung ohnehin nicht aufgeführt worden sein. Bei allen drei Komponisten handelt es sich offenbar sogar um das erste größer angelegte Werk, von dem eine Einspielung vorliegt, echte Pionierarbeit also.
Am Beginn der CD steht das wohl 1908 entstandene, 1910 publizierte Klaviertrio c-moll op. 25 von Vladimir Dyck (1882–1943). Dyck wurde zwar in Odessa geboren, das eigentliche Zentrum seines Lebens und Wirkens war aber Paris, wohin er 1899 zunächst im Rahmen seines Musikstudiums übersiedelte. Zu seinen Lehrern zählen Charles-Marie Widor (Komposition) und Antoine Taudou (Harmonie); Letzterem ist das Trio auch gewidmet. Dyck kehrte anschließend nicht ins Russische Reich zurück, sondern ließ sich dauerhaft in Paris nieder (die französische Staatsbürgerschaft erhielt er 1910), wo er als Klavierlehrer arbeitete, Musik für Stummfilme komponierte und 1933 gemeinsam mit Léon Algazi einen Verlag für jüdische Musik gründete. Im Sommer 1943 wurde er zusammen mit seiner Familie in Paris von der Gestapo verhaftet, nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.
Dycks Klaviertrio ist deutlich von der französischen Spätromantik etwa seines Lehrers Widor beeinflusst. Vielleicht lässt sich der melodische Schmelz noch mit der russischen Schule in Verbindung bringen, aber letztlich ist das Werk nicht entscheidend von russischem Kolorit geprägt und würde vermutlich auch ohne Probleme als das Werk eines jungen französischen Komponisten jener Zeit durchgehen. Am gewichtigsten sind die beiden Ecksätze, passionierte Musik mit vollem Klaviersatz und reicher Harmonik, kämpferisch-dramatisch der erste Satz, triumphales C-Dur im Finale. Die kurze, stentorische Einleitung stellt dabei eine Art Mottothema vor, das auch als thematische Wurzel fungiert; weit stärker noch gilt Letzteres allerdings für die espressivo-Motivik in der Violine ab Takt 9, aus der in der Folge das erste Thema des Allegros hervorgeht. Auch thematische Bezüge zwischen den Sätzen (natürlich wiederum ganz im Sinne gerade der französischen Musik jener Zeit, man denke etwa an César Franck und sein „zyklisches Prinzip“) wird man immer wieder finden, wenn etwa im langsamen Satz der Kopfsatz in Erinnerung gerufen wird. Gegenüber den Kopfsatz und Finale besitzen die beiden Binnensätze eher Intermezzocharakter: an zweiter Stelle steht eine Art stilisiertes Menuett, leicht, duftig, mit ausgedehnten gezupften Passagen in den Streichern, während der dritte Satz als Barcarole in schwärmerischem As-Dur betrachtet werden könnte. Ein schönes, hörenswertes Werk mit einprägsamer Melodik, wirkungsvollem dramatischem Moment und aparten klanglichen Lösungen.
30 Jahre älter als Dyck war Constantin von Sternberg (1852–1924), der als Sohn deutscher Eltern in St. Petersburg geboren wurde, aber bereits mit 13 Jahren nach Deutschland (zunächst Leipzig) ging, um dort u. a. bei Moscheles und Reinecke, später bei Kullak zu studieren. Einige Jahre als Klaviervirtuose folgten, bevor er sich 1880 im Rahmen einer Konzertreise dauerhaft in den USA niederließ. In der Neuen Welt machte er sich als Klavierlehrer einen Namen und gründete u. a. 1890 seine eigene Sternberg School of Music in Philadelphia. Sein Bezug zu Russland besteht in erster Linie darin, dass er dort geboren wurde und die ersten 13 Jahre seines Lebens verbrachte. Insofern verwundert es nicht, dass seine Musik – jedenfalls auf Grundlage des hier vorgestellten Trios – in noch erheblich deutlicherem Maße als im Falle Dycks keinerlei Spuren der russischen Romantik aufweist.
Sternbergs Klaviertrio Nr. 3 C-Dur op. 104, 1912 publiziert, ist vielmehr ein kurzes, lebhaftes und charmantes Werk im Fahrwasser der Leipziger Schule, in Umfang und Charakter vergleichbar etwa mit den beiden Trio-Serenaden op. 126 seines Lehrers Reinecke. Die drei Sätze sind kurzweilig und elegant. An zweiter Stelle steht ein kleiner Variationssatz über ein volksliedhaftes, vielleicht etwas unspezifisches Thema, der schließlich in einen zurückgenommenen, wie aus der Ferne herüberklingenden Ländler mündet. Das Finale, ein Rondo „con umore“, fasst innerhalb von nicht einmal drei Minuten die wesentlichen Themen des Trios zusammen. Keine große, aber gefällige, unterhaltsame, für ihre Entstehungszeit natürlich ausgesprochen konservative Musik.
Auf der CD fungiert Sternbergs Trio als eine Art Intermezzo zwischen Dycks Gattungsbeitrag und einem zweiten großen c-moll-Trio, nämlich dem 1911 entstandenen Klaviertrio op. 52 von Sergei Juferow (auf der CD Sergey Youferov geschrieben). Juferow, 1865 in Odessa geboren und aus wohlhabenden Verhältnissen stammend, war u. a. Schüler von Glasunow in St. Petersburg, studierte aber auch Recht und war ab den 1890er Jahren besonders im Bereich des Urheberrechts aktiv. Sein Lebensmittelpunkt lag in St. Petersburg und dem ukrainischen Cherson, daneben bereiste er immer wieder Deutschland und die Schweiz. Nach der Oktoberrevolution verliert sich seine Spur weitgehend, und ob er wirklich im Jahre 1927 verstarb, ist anscheinend nicht vollständig zu klären.
Juferows Trio ist somit das einzige Werk von einem im Russischen Reich lebenden Komponisten auf dieser CD, und so verwundert es nicht, dass es sicherlich dasjenige mit dem mit Abstand stärksten russischen Kolorit ist (grob in der erweiterten Tschaikowski-Nachfolge anzusiedeln, ohne eine Stilkopie zu sein). Ein Werk, das von elegischen Tönen dominiert wird, die bereits den ersten Satz, ein dramatisch akzentuiertes, gewichtiges Sonatenallegro mit langsamer Einleitung, wesentlich prägen. Das folgende Adagio steht zwar im 5/4-Takt, gemahnt aber stellenweise deutlich an Salonmusik (und streift dabei einige Klischees zumindest), ein ziemlicher Bruch nach dem konzentrierten Kopfsatz. Ganz anders dann wieder das Finale, das mit einem hartnäckigen, weite Teile des Satzes dominierenden c-moll-Motiv beginnt, ergänzt durch Seufzer-Gesten vor langen Orgelpunkten auf G. Endgültig im Stile einer Trauermusik bewegt sich der Schluss des Satzes, der mit einem Wechsel vom Dreier- zum Vierertakt einhergeht. Hier stellen die Streicher zunächst einen kurzen Choral vor, der aber sofort umgedeutet wird und in einen veritablen Abgesang mündet.
Das Brahms-Trio zeigt sich in seinem Kommentar zur CD von diesem Trio in ganz besonderem Maße fasziniert und sieht in ihm einen Abschied vom „Silbernen Zeitalter“ (und, nur auf ihrer Internetseite nachzulesen, gar „eine der größten musikalischen Errungenschaften des russischen Silbernen Zeitalters“). Grundsätzlich mag eine solche Deutung in der Tat nicht völlig unberechtigt sein, man denke etwa an die brütende, lastende, ahnungsvolle Atmosphäre von Mjaskowskis ersten drei Sinfonien, die ja in etwa zeitgleich entstanden, oder an die (natürlich ex post entstandenen) großartigen Jessenin-Vertonungen Georgi Swiridows, die ganz ähnliche Stimmungen meisterhaft einfangen. Andererseits bewegt sich Juferow in diesem Werk natürlich auch im Rahmen der Tradition des russischen Klaviertrios als (Toten-)Klage wie sie das Brahms-Trio im Rahmen dieser Edition ja auch dokumentiert hat (Tschaikowski, Pabst, Arenski).
Sicherlich ein Werk also, das durch seine unverblümte Emotionalität durchaus wirkungsmächtig und im Detail originell anmutet. Ich bin indes nicht überzeugt davon, dass es sich tatsächlich um ein solches Opus magnum handelt wie vom Brahms-Trio nahegelegt, auch abseits der oben angesprochenen Inkohärenzen. Das Finale etwa ist bis auf eine kurze Episode in As-Dur und den besagten Choral (in Es-Dur) komplett in c-moll gehalten, d. h. diese Tonart dominiert etwa sieben von zehn Minuten(!). Zusammen mit den neun Minuten Adagio, die fast ununterbrochen an G-Dur festhalten, ergibt dies über beide Sätze hinweg ein ausgesprochen monochromes, gleichförmiges Bild – mindestens im Finale sicherlich absichtlich, aber dennoch: zusammen mit der ebenfalls relativ stur durchgehaltenen Thematik ergibt sich ein doch allzu homogenes Bild, das andererseits wiederum nicht derart radikal und satztechnisch meisterhaft realisiert ist wie z. B. Wagners Rheingold-Vorspiel. Nichtsdestotrotz eine interessante Repertoirebereicherung, und man kann dem Brahms-Trio nur dafür danken, dieses und die anderen Werke überhaupt auf CD verfügbar gemacht zu haben.
Die Interpretationen des Brahms-Trios bewegen sich wie gehabt auf einem sehr soliden, guten Niveau. Eine gewisse Zurückhaltung, die vielleicht hier und da auffällt, ist den meisten Interpretationen dieser Serie zu eigen, nicht selten durchaus zum Vorteil der Musik. Über eine Reihe von Feinheiten in der Gestaltung melodischer Bögen (z. B. im leidenschaftlichen Auf und Ab des ersten Satzes von Dycks Trio, in dem die Phrasenhöhepunkte stärker nachvollzogen werden könnten) und der Artikulation kann man sicherlich diskutieren, auch womöglich darüber, dass das Brahms-Trio die salonmusikalischen Elemente im zweiten Satz von Juferows Trio eher noch betont (etwa durch Portamenti) – andererseits sind diese Einflüsse in der Musik so oder so vorhanden, und sie zu negieren, muss nicht notwendigerweise die bessere Lösung sein. Insgesamt sind die Einspielungen mehr als gut dazu geeignet, einen vorteilhaften Eindruck von den Werken zu gewinnen.
Ärgerlich ist allerdings die bereits in Folge 1 zu beobachtende Tendenz, mit den eher wenig bekannten Partituren (die freilich allesamt via IMSLP einsehbar sind) mitunter arg frei umzugehen. Das betrifft explizit nicht Juferows Trio, wohl aber ganz besonders die ersten beiden Sätze des Trios von Vladimir Dyck. Nicht alles wiegt gleich schwer; wenn das Brahms-Trio etwa nicht alle dynamischen Vorschriften im Wortlaut umsetzt, ist das mitunter nur verständlich, denn Dyck geht oft schon arg schnell und häufig ins Fortissimo über, teilweise mitten in einer Piano-Kantilene (um sogleich wieder in der Dynamik zurückzugehen). Auch gewisse Kürzungen erscheinen einsichtig, obwohl z. B. ein Strich, der sich von vier Takten nach Ziffer 9 bis elf Takte nach Ziffer 11 erstreckt, nicht ganz unerheblich ist. Klangliche Erwägungen dürften ferner dazu geführt haben, dass die Viertel in den aufsteigenden Bewegungen ab Ziffer 2 durch Achtel ersetzt wurden. Spätestens dann allerdings, wenn das Trio die Schlussakkorde des ersten Satzes nicht etwa sforzatissimo innerhalb eines Fortissimos spielt, sondern im Piano und Pizzicato, greift das Ensemble in die Charakteristik der Musik ein. Im zweiten Satz nimmt das Trio vor allem bei den häufigen Pizzicati gewisse Änderungen vor. Auch in Sternbergs Trio lassen die Interpreten den Notentext nicht immer ganz unangetastet, allerdings sind die Abweichungen hier weniger gravierend. In einem so konservativ gehaltenen Werk im zweiten Satz ab Ziffer O die Pizzicati durch col legno-Spiel zu ersetzen, ist allerdings ein ziemlicher Stilbruch. So gut gemeint all diese Änderungen auch sein mögen, in der Summe stellen sie doch einen Wermutstropfen dar (zumal man diese Werke vermutlich so schnell nicht wieder zu Gehör bekommen wird).
Der Klang der CD ist ordentlich, allerdings erneut mit einem leichten Übergewicht des Cellos zu Ungunsten der Violine; überdies sind speziell in Juferows Trio die Pizzicati beider Instrumente vor dem Hintergrund des Klaviers zum Teil höchstens zu erahnen. Der Begleittext von Ivan Moody nicht nicht allzu umfangreich (und lediglich in englischer Sprache vorhanden), bietet aber die wesentlichen Informationen zu Komponisten und Werken. Eine erweiterte Fassung des Kommentars der Pianistin Natalija Rubinstein ist wie erwähnt auf der Internetseite des Brahms-Trios einsehbar und liefert noch weitere interessante, aufschlussreiche, auch persönlich gefärbte Informationen. Wenn allerdings behauptet wird, Leben und Ruhm der drei Komponisten seien durch die Oktoberrevolution zerstört worden („Their lives and fame were destroyed by the Russian Revolution“), ist das im Falle von zwei der drei hier vorgestellten Komponisten schlicht falsch, da sie zu Zeiten der Revolution das Russische Reich schon seit Dekaden hinter sich gelassen hatten.
In der Summe auf alle Fälle eine willkommene, interessante Neuerscheinung mit Dycks Trio als Höhepunkt der CD.
In der höchst erfreulichen Naxos-Reihe „The Music of Brazil“ erschien die zweite CD mit dem Violinisten Emmanuele Baldini, der – diesmal begleitet von Pablo Rossi – hier die drei Violinsonaten von Heitor Villa-Lobos eingespielt hat.
Im Gegensatz zu den 17 Streichquartetten, die Heitor Villa-Lobos (1887–1959) während seiner gesamten Komponistenlaufbahn begleitet haben, befasste sich der Brasilianer mit anderen Genres der Kammermusik eher sporadisch. So stammen seine drei Violinsonaten – die beiden ersten tragen außerdem nicht umsonst die alternative Bezeichnung Fantasia – sämtlich aus dem Zeitraum 1912–1920; eine Phase, in der der Komponist allerdings mit raschen Fortschritten zu seinem persönlichen Stil fand. Die neunminütige erste Sonate komprimiert das Schema schnell–langsam–schnell auf einen kompakten, mit Désespérance betitelten Satz, dessen langsamer Mittelteil anstelle einer normalen Durchführung steht und ein neues Thema der Geige in Flageoletts bringt. In der Reprise erscheinen die drei Themen der Exposition schließlich in umgekehrter Reihenfolge. Das zwischen Trauer und Übermut schwankende Werk steht noch ganz in spätromantischer Tradition.
Der zweiten Sonata fantasia (1914) merkt man dann schon sehr an, dass Villa-Lobos – er selbst spielte bislang vor allem Cello – nun mit der Pianistin Lucília Guimarães verheiratet war. Die Schreibweise besonders für das Klavier, aber ebenso für die Violine, wird deutlich elaborierter. Das Stück besteht aus drei vollwertigen Sätzen und ist eine der frühesten Kompositionen, wo Villa-Lobos Elemente der Volksmusik – zwischen 1905 und 1912 hatte der Mann aus Rio de Janeiro ausgiebig das Landesinnere Brasiliens bereist – mit einfließen lässt. Höhepunkt ist, wie auch meist in seinen Symphonien, der abwechslungsreiche, innige zweite Satz, der an impressionistische Stimmungen anknüpft; besonders schön, wenn sich die Musik etwa an Momente mit Ganztonleitern geradezu verlieren darf. Das Finale bedient eine umfängliche Rondoform.
In der letzten Sonate aus dem Jahr 1920 verlässt Villa-Lobos trotz äußerer Dreisätzigkeit vertraute Konventionen. Der Kopfsatz ist ein Adagio, das wahrlich rhapsodisch zu nennen ist; der Komponist hat sich jetzt zu einem „universalenFolkloristen“ (Villa-Lobos) entwickelt, der sich seine multi-ethnischen Quellen auf vielfältigste Weise nutzbar macht – zusammen mit immer weiter verfeinerten Techniken europäischer Kunstmusik. Auf das virtuose Scherzo folgt hier am Schluss ein rasanter Sonatensatz – was für ein hinreißender Kracher! Unverständlich, dass sich die Geiger nicht auf diese wundervoll inspirierende Musik stürzen. Emmanuele Baldini, der den Rezensenten bereits mit seiner ersten CD in obiger Naxos Reihe – mit Violinsonaten von Miguez und Velásquez – total begeistert hatte (siehe Rezension), hält bei Villa-Lobos erneut sein Weltklasse-Niveau.
Verglichen mit der musikalisch hochrangigen Konkurrenz kann er sowohl Jue Yao – die 1989 mit dem Amerikaner Alfred Heller die Sonaten eingespielt hat – als auch Jenny Abel (mit Roberto Szidon) klanglich, intonatorisch und von der differenzierten Formdurchdringung her locker ausstechen. Das gilt insbesondere für die ersten beiden Sonaten, dessen romantisch-impressionistischer Gestus dem italienischen Geiger anscheinend perfekt liegt. Die dritte Sonate geht Baldini stellenweise zu diskret an – z. B. bei den zahlreichen Glissandi im ersten Satz, die mehr nach Seufzern klingen dürften. So gelingt auch die fantastische Farbigkeit von deren Finale Abel/Szidon am besten, trotz unerträglich viel Halls. Der brasilianische Pianist Pablo Rossi ist ein exzellenter Begleiter, der es mit Szidon durchaus aufnehmen kann und Heller – immerhin noch ein persönlicher Schützling Villa-Lobos‘ –, der äußerst trocken und akademisch wirkt, weit überlegen ist. Die außergewöhnliche Spielfreude von Karin Fernandes in der Miguez/Velásquez-CD erreicht er leider nicht ganz. Aufnahmetechnisch ist die wirklich vorzügliche Naxos-Produktion aus New York ohnehin mit Abstand am natürlichsten, gewinnt somit in der Summe den Wettstreit der drei Gesamtaufnahmen klar.
Der Grieche Nikos Skalkottas (1904–1949) war wohl der begabteste Schüler aus Arnold Schönbergs Berliner Komponistenschmiede. Nachdem sich das schwedische BIS-Label mit bislang 20 Veröffentlichungen um die Entdeckung seines vielschichtigen Werkes verdient gemacht hat, zieht jetzt Naxos nach. Die aktuelle CD mit dem Athens State Orchestra unter Stefanos Tsialis enthält neben den ersten 12 – von insgesamt 36 – Griechischen Tänzen drei für Kammerorchester gesetzte Auszüge aus der Ballettmusik Das Meer sowie als Ersteinspielung (!) eine von Skalkottas‘ bedeutendsten Zwölftonkompositionen: die Suite Nr. 1 für großes Orchester von 1929/35.
Nikos [Nikolaos] Skalkottas entstammte einer äußerst musikaffinen Familie aus der Arbeiterschicht, in der bis in die Generation seines Urgroßvaters nachweislich mindestens semiprofessionell musiziert wurde. Nach einem bereits mit 16 Jahren noch in seiner Heimat abgeschlossenen Violinstudium – beim deutschen Professor Tony Schultze – kam der junge Geiger 1921 nach Berlin, wo er sich zunächst von Willy Hess auf seinem Instrument fortbilden ließ, sich aber bald mehr dem Komponieren zuwandte, dann von Philipp Jarnach und dessen Schüler Kurt Weill unterrichtet wurde. Schließlich gelangte er in Arnold Schönbergs berühmte Kompositionsklasse (1927–1931). Schnell zählte ihn der Lehrer zu seinen begabtesten Nachwuchstalenten. Wohl aus reiner Geldnot, weniger wegen der sich abzeichnenden Umwälzungen, die das Leben als ausländischer „Neutöner“ in Nazi-Deutschland bald unmöglich machen würden, kehrte Skalkottas mit zeitweise labiler Psyche im März 1933 nach Athen zurück, wo er aber kompositorisch geradezu ignoriert wurde. Dennoch entstanden dort die meisten seiner bedeutenden Werke, die sich durch – oft zeitgleiche – stilistische Vielfalt auszeichnen: von Tonalität über freie Atonalität bis zur Zwölftönigkeit mit einer ganz persönlichen Reihentechnik, dabei oft griechisch-folkloristische Elemente mit einbeziehend.
Nach einer CD, die sich einigen rein tonalen Stücken aus Skalkottas recht divergentem Spätwerk widmete, wird auf der zweiten Naxos-Veröffentlichung die Spannweite des Komponisten angemessen deutlich: Von den folkloristisch inspirierten Griechischen Tänzen – die ersten 12 der insgesamt 36 Stücke entstanden 1931–1935 – über die Ausschnitte aus der tonalen Ballettmusik Das Meer (1949) hören wir die erste vollständige Aufnahme der hochbedeutenden, zwölftönigen Ersten Orchestersuite (1929/35). Wenn sich das Athens State Orchestra heute rühmt, den Komponisten zu seinen – damals noch Athener Konservatoriumsorchester – ehemaligen Mitgliedern zählen zu dürfen, erscheint das fast wie Hohn. Skalkottas spielte tatsächlich nach seiner Rückkehr bis zu seinem frühen Tod 1949 – an den Folgen einer zu spät behandelten Leistenhernie – im Orchester, verdiente sich so den Großteil seines Lebensunterhalts. Jedoch ist es nicht zuletzt diesem Ensemble und den dahinterstehenden, allzu konservativen Entscheidungsträgern zu verdanken, dass zu Lebzeiten etwa kein einziges von Skalkottas‘ Zwölftonwerken aufgeführt wurde – und der als Komponist verschmähte Geiger bald ans hinterste Pult verbannt wurde.
Die ersten vier Griechischen Tänze waren so die einzige Musik, welche das Athener Orchester schon 1934, unter keinem Geringeren als Dimitri Mitropoulos, zu Gehör brachte. Zwar weitestgehend tonal, sind sie keinesfalls simple Transkriptionen von Volksmusik; überdies verwendet Skalkottas eigenes Material, vergleichbar mit Bartóks Adaptionen. Und obwohl eines von nur drei zu Lebzeiten publizierten Werken, wurden sie schnell über Griechenland hinaus erfolgreich: Selbst das Berliner Philharmonische Orchester spielte die Tänze 1938 im Konzert – wohl ohne zu ahnen, dass der Komponist nach der Nazi-Ideologie eigentlich als entartet hätte gelten müssen. Der u. a. lange in Deutschland – etwa in Meiningen und bei der Thüringen Philharmonie – aktive Dirigent Stefanos Tsialis leitet die erste Serie mit Geschmack, kostet die enorm farbige und charakterisierungsstarke Instrumentation mindestens ebenso gut aus wie Nikos Christodoulou in der BIS-Reihe. Aufnahmetechnisch kommt Naxos da fast heran, ist der Erst(?)-Aufnahme unter Byron Fidetzis aus Swerdlowsk (heute wieder Jekaterinburg) in jedem Fall weit überlegen. Stellenweise scheint Tsialis sich leider allzu behäbig auf den folkloristischen Anteilen auszuruhen; die unterschwellig bissige Ironie in Skalkottas‘ Auseinandersetzung mit nationalem Volkstum wird allenthalben ignoriert. Zumindest gelingt so eine wirklich klangschöne Darbietung.
Die drei kurzen Ausschnitte aus dem späten Ballett Das Meer hat Skalkottas in seiner Reduktion für Kammerorchester (1949) noch auf Ägina gehört. Das in Zusammenarbeit mit der bedeutenden Tanzpädagogin Polyxeni Mathéy entstandene Werk wurde in der Fassung für normales Theaterorchester bereits von Fidetzis auf BIS eingespielt; die reduzierte Version schmälert den gekonnten Eindruck der Komposition keinesfalls. Die Suite Nr. 1 – vom Komponisten selbst formal als „symphonisch“ bezeichnet, gehört zu den legendären Stücken aus seiner Zeit in der Schönberg-Klasse, deren Manuskripte Skalkottas 1933 in Berlin zurückließ, und die nun leider zum größten Teil als verschollen gelten müssen. Die Suite versuchte er jedoch nach Überwindung seiner psychischen Krise um 1935 aus dem Gedächtnis zu rekonstruieren.
Wie auch immer, haben wir es hier mit einer Zwölftonkomposition allerhöchster Reife zu tun – mit klaren Einflüssen Schönbergs, dabei bereits sehr eigenständiger Behandlung der Reihentechnik; sogar mit Integration einiger diatonischer Themen! Die sechssätzige Suite von beachtlichen 35 Minuten Spieldauer – damit übertraf sie von der Länge her bis dato sämtliche dodekaphonischen, reinen Instrumentalwerke Schönbergs – ist natürlich von ganz anderer Komplexität als die mehr oder weniger tonale Musik des Griechen. Skalkottas verstand die Zwölftonmusik denn auch als seinen weitaus wichtigeren Beitrag. Die Uraufführung fand erst 1970 in Birmingham statt. Tsialis realisiert die Partitur durchsichtig und engagiert, klanglich wiederum einfühlsam. Die noch deutlich an Schönberg geschulte, manchmal leicht schneidende Expressivität kommt jedoch ziemlich geglättet daher – vermutlich beabsichtigt. Skalkottas‘ Umgang mit der Dodekaphonie ist undogmatisch und verträgt durchaus eine etwas weichere Behandlung. Der Booklettext ist knapp, aber informativ. Allein die lange herbeigesehnte Einspielung der Orchestersuite führt für Freunde von Skalkottas‘ Werk zur Kaufverpflichtung – als erster Zugang zu dessen Musik ist die CD gleichfalls gut geeignet.
Das Sinfonieorchester der University of Michigan unter der Leitung von Kenneth Kiesler präsentiert eine Auswahl von Orchesterwerken der jung verstorbenen tschechischen Komponistin Vítězslava Kaprálová (1915–1940), u.a. ihre Militär-Sinfonietta, ihr Klavierkonzert sowie zwei Orchesterlieder. Es handelt sich dabei um Mitschnitte eines Festivals zu Ehren der Komponistin aus dem Jahre 2015. Die Solisten sind der Tenor Nicholas Phan und die Pianistin Amy I-Lin Cheng.
25 Jahre ist die tschechische Komponistin Vítězslava Kaprálová nur alt geworden, und doch hat sie in ihrem kurzen Leben ein beachtliches Œuvre geschaffen, das eine Reihe von zeitgenössischen Tendenzen aufgreift und zu individuellen Lösungen bis hin zu einer Art Reifestil (insofern man dies in so jungen Jahren überhaupt sagen kann) führt. Zu ihren (Kompositions-)Lehrern zählten dabei ihr Vater Václav Kaprál (1889–1947), selbst Komponist, ab 1930 am Konservatorium ihrer Heimatstadt Vilém Petrželka (1889–1967), dann von 1935 bis 1937 am Prager Konservatorium Vítězslav Novák und schließlich, dank eines Stipendiums, ab 1937 in Paris Bohuslav Martinů. Kaprálová war zudem Dirigentin, und auch hier liest sich die Liste ihrer Lehrer illuster. Insgesamt sind 25 Werke mit Opuszahlen überliefert, zu denen sich noch eine Reihe kleinerer (Gelegenheits-)Kompositionen gesellen. Ihr früher Tod in Montpellier war einer Infektionskrankheit (Tuberkulose oder Typhus) geschuldet.
Die vorliegende CD liefert einen Querschnitt ihres orchestralen Schaffens. Die beiden umfänglichsten Werke sind dabei die Militär-Sinfonietta op. 11 aus den Jahren 1936/37 sowie das Klavierkonzert d-moll op. 7, das 1934/35 zum Abschluss ihrer Studien in Brünn entstand. Hierbei verrät das Klavierkonzert noch deutlich spätromantische Einflüsse, trotz der kompakteren Form hat insbesondere Rachmaninow Pate gestanden. Dabei spielt der langsame Satz, der ohne Unterbrechung in das Finale übergeht, nur die Rolle eines kurzen, dunkel getönten (und interessanterweise ein wenig nordisch klingenden) Intermezzos. Ein schönes, attraktives Werk, und eine beachtliche Talentprobe der kaum 20-jährigen Komponistin, aber noch wenig individuell geprägt. Es ist eine Randnotiz wert, dass das Werk wohl eher wenig den Einfluss ihres damaligen Lehrers Petrželka verrät, dessen eigene Werke aus dieser Zeit deutlich avancierter sind.
Die einsätzige Militär-Sinfonietta op. 11, ein viertelstündiges Allegro in e-moll mit ruhigerem Mittelteil, das besonders durch sein ausgesprochen markantes Hauptthema geprägt ist, entstand nur zwei Jahre später, zeigt Kaprálová aber bereits deutlich weiter in ihrer Entwicklung. Hier trifft ein der tschechischen Folklore entlehnter Tonfall auf robusten Neoklassizismus, und das Interesse an den Farben des Orchesters (apart etwa die Flageoletteffekte ab 10:04) verrät auch Kaprálovás Interesse an französischer Musik, hier vielleicht noch eher des Impressionismus als jüngeren Tendenzen. Den Bezug zum Titel stellen dabei u. a. die stilisierten Fanfaren her, mit denen das Werk beginnt, aber insgesamt ist das militärische Element nicht übermäßig präsent. Der Titel mag einen Bezug zu Janáček suggerieren, doch ist der Einfluss von dessen eigener Sinfonietta eigentlich nicht besonders stark ausgeprägt; eher schon kann man Parallelen zu anderen tschechischen Komponisten jener Zeit ziehen wie zum Beispiel Pavel Bořkovec (man beachte etwa sein Sinfonisches Allegro Start aus dem Jahr 1929). Kaprálovás Sinfonietta ist ein kraftvolles, energisches Werk, das nicht umsonst als eine ihrer musikalischen Visitenkarten gilt. Ein Jahr nach seiner Entstehung dirigierte sie es selbst im Rahmen des ISCM Festivals für neue Musik in London als Vertreterin der tschechischen Musik.
Bei den übrigen Werken handelt es sich zunächst um ein kurzes Prélude de Noël für Kammerorchester, ein Auftragswerk für einen Rundfunkübertragung aus Paris in die unter deutscher Besatzung stehende Tschechoslowakei zu Weihnachten 1939, das noch deutlicher französisch (im Sinne der Groupe des Six) geprägt ist und den Tonfall von Weihnachtsliedern in klassizistisch-verspieltem Gewand aufgreift. Die beiden Orchesterlieder Trauriger Abend (in Ersteinspielung; die nicht ganz vollständige Orchestrierung hat Timothy Cheek komplettiert, von dem auch das Beiheft stammt) sowie Lebewohl und Taschentuch op. 14 entstanden ungefähr gleichzeitig in Kaprálovás Prager Jahren. Sie atmen etwas von Fin de siècle und mildem Expressionismus, kleine, subtile, fein nuancierte Szenen, die die zugrunde liegenden Texte ungemein suggestivkräftig und gekonnt musikalisch ausmalen. Bei Kaprálovás Opus 1 handelt es sich um Fünf Klavierstücke aus den Jahren 1931/32; vier davon arrangierte sie einige Jahre später für Kammerorchester unter dem Titel Suite en miniature. Der Kontrast zwischen dem ersten Satz, einer gedämpften Tremolostudie in cis-moll, und den drei übrigen Sätzen, die eher den Charakter von Genrestücken (Pastorale, Wiegenlied und Menuett haben), ist groß, auch hinsichtlich der Tonarten, denn ab dem zweiten Satz pendelt sich die Suite in G-Dur ein. Fraglos ein frühes Werk, aber durchaus reizvoll und farbig instrumentiert.
Insgesamt wird also Kaprálovás Schaffen von recht unterschiedlichen Winkeln beleuchtet; einige ihrer späten Orchesterwerke (insbesondere die Partita für Klavier und Streichorchester und die Suita rustica für Orchester) fehlen zwar, aber auch so bekommt man ein recht gutes Bild von der Komponistin und ihrer Musik, die in toto sehr hörenswert ist.
Insofern muss man die Interpreten auf dieser CD allein schon für ihren Einsatz für Kaprálovás Musik loben; die Einspielungen sind geeignet, um ein zuverlässiges Bild vom Schaffen dieser Komponistin zu erhalten, und ihr sicherlich einige neue Anhänger bescheren. Es sei jedoch nicht verschwiegen, dass die Qualität der Interpretationen deutlich Luft nach oben lässt. Das Orchester der University of Michigan ist als Universitätsorchester sicherlich überdurchschnittlich, im Vergleich zu professionellen Klangkörpern (und in eine solche Konkurrenz begibt sich diese CD-Veröffentlichung nun einmal) sind die Unterschiede allerdings unüberhörbar. In groß besetzten Stücke wie der Militär-Sinfonietta stimmt die Balance nicht immer (zu Lasten der Streichergruppe, obwohl diese laut Beiheft eigentlich so klein nicht sein dürfte). Ähnliches kann man auch in der Suite en miniature beobachten, wo die Strukturen erheblich besser ausgehört (und die Melodiestimme prägnanter in Szene gesetzt) werden müssten. Dort, wo die Musik komplexer und die spieltechnischen Anforderungen größer werden (Sinfonietta), gerät das Orchester z. T. an seine Grenzen, u.a. was Exaktheit und Präzision in der Artikulation anbelangt. Die Leistung der beiden Solisten ist grundsätzlich ordentlich, allerdings ist die Abstimmung mit dem Orchester nicht immer optimal. Der Klang der CD ist (für eine moderne Produktion) eher etwas matt und nicht immer völlig transparent; der Beginn der Suite en miniature erklingt so leise, dass man ihn bei normaler Lautstärkeeinstellung kaum wahrnimmt.
Nun ist es keinesfalls so, dass es keine Alternativen zu diesen Einspielungen geben würden. Anders als Timothy Cheek in seinem grundsätzlich lobenswerten, Leben und Schaffen Kaprálovás sowie die Werke auf dieser CD detailliert diskutierenden Beiheft nahelegt, ist es insbesondere nicht zutreffend, dass Kaprálovás Œuvre in der sozialistischen Tschechoslowakei ignoriert worden wäre. Cheek erwähnt, dass ihre Musik seinerzeit als „dekadent“ gebrandmarkt worden sei. Mir ist nicht exakt bekannt, wann und in welchem Zusammenhang dies geschah; der Verdacht liegt freilich nahe, dass es im Rahmen der „Formalismus“-Kampagne erfolgte, die 1948 in der Sowjetunion begann und sich in den Folgejahren auf den gesamten Ostblock ausdehnte und dazu führte, dass die Musik in diesen Ländern rund um 1950 insgesamt zweifelsohne ausgesprochen traditionell geprägt war. Mit der Zeit relativierten sich die damals gefällten Verdikte allerdings, und spätestens in den 1960er Jahre verwendete ein nicht unerheblicher Teil der tschechischen Komponisten wesentlich avanciertere Mitteln als Kaprálová es jemals tat.
Und in der Tat erschien bereits 1958 eine Supraphon-LP mit der Militär-Sinfonietta, interpretiert vom Philharmonischen Orchester Brünn unter der Leitung von Břetislav Bakala, vier Jahre später eine Einspielung ihrer Partita für Klavier und Streicher, 1975 eine Portrait-LP mit allerlei verschiedenen Werken, und schon in den 1950er Jahren erschien im Rahmen der Serie Musica Nova Bohemica et Slovenica, die für sich in Anspruch nahm, die tschechoslowakische Musik der damaligen Zeit anhand exemplarischer neuer Werke darzustellen, Miloš Sokolas orchestrale Variationen über ein Thema von Vítězslava Kaprálová (nämlich eines ihrer April-Präludien für Klavier), nebst umfangreichem Beiheft, in dem an die Komponistin erinnert wurde. Es sind also schon damals eine Reihe ihrer Werke in Einspielungen erschienen, auf die man heute z. T. digital zugreifen kann. Dass davon im Westen kaum Notiz genommen wurde, mag sicherlich zutreffen, ist aber leider alles andere als ein Einzelfall – wer kennt z. B. schon Kaprálovás Lehrer Vilém Petrželka, Jan Hanuš, dem auf dieser Seite bereits ein umfangreiches Portrait gewidmet wurde, oder den exzellenten Sinfoniker Jaromír Podešva (die Liste ließe sich lange fortsetzen, es gibt eine Vielzahl sehr guter tschechischer Komponisten)? An nicht vorhandenen Aufnahmen liegt es eher nicht, denn das Schaffen dieser Komponisten ist mitunter bemerkenswert gut auf LP dokumentiert.
Auch später hat man sich in Tschechien immer wieder mit Kaprálovás Musik befasst; es gibt z. B. aus jüngerer Zeit eine empfehlenswerte Doppel-CD (herausgegeben vom tschechischen Rundfunk) mit einer Reihe von Orchesterwerken mit dem Philharmonischen Orchester Brünn, dirigiert von Olga Machoňová Pavlů, sowie eine Portrait-CD aus dem Jahre 1998 mit einem gemischten Programm (Studio Matous). Der entscheidende Punkt ist, dass alle diese Einspielungen interpretatorisch der Naxos-Veröffentlichung deutlich vorzuziehen sind. Nun steht am Ende dennoch außer Frage, dass die vorliegende CD Kaprálová deutlich stärker in den Fokus rücken dürfte als alle bisherigen Veröffentlichungen, allein schon wegen der Prominenz des Labels Naxos. Insofern hat diese CD sicherlich ihre Verdienste. Für einen ersten (positiven) Eindruck von Kaprálovás Schaffen eignet sie sich gut, will man sich aber näher mit dieser Musik beschäftigen, empfehle ich ausdrücklich die vorhandenen Alternativen.
Eine außergewöhnliche CD mit knapp zwei Dritteln des Orchesterwerks von Vítězslava Kaprálová (1915–1940), die im Anschluss an das große, der früh verstorbenen tschechischen Komponistin gewidmete Festival in Ann Arbor aufgenommen wurde, hat Naxos vorgelegt; darunter die Ersteinspielung des Orchesterliedes Smutný večer. Außerdem erklingt unter Leitung von Kenneth Kiesler das Orchester der University of Michigan mit der Militär-Sinfonietta, dem Klavierkonzert (Solistin: Amy I-Lin Cheng), der Suite en miniature, dem kurzen Prélude de Noël sowie der Orchesterfassung des Liedes Sbohem a šáteček mit dem Tenor Nicholas Phan.
Die junge Tschechin Vítězslava Kaprálová galt nicht nur als ungewöhnliche kompositorische Hochbegabung, die nach anfänglichem Unterricht durch ihren Vater Václav Kaprál – selbst noch Schüler Janáčeks – bei Vítězslav Novák in Prag, schließlich in Paris bei Bohuslav Martinů studierte. Für ihr zweites größeres Orchesterwerk, der dem damaligen Präsidenten Edvard Beneš gewidmeten Militär-Sinfonietta, erhielt sie 1937 den prestigeträchtigen Preis der Smetana Gesellschaft – zusammen mit dem später in Auschwitz ermordeten Pavel Haas. Damit, nun quasi ihre Visitenkarte als Komponistin, trat die erst 22-Jährige zudem jeweils als erste weibliche Dirigentin – ihre Lehrer hierbei waren keine Geringeren als Zdeněk Chalabala und Charles Munch – der Tschechischen Philharmonie und dann 1938 beim IGNM-Festival in London des BBC Symphony Orchestra auf, wohin man sie als Repräsentantin ihres Landes empfohlen hatte. Schon dies machte sie sofort in ganz Europa bekannt. Im Oktober 1937 zog Kaprálová nach Paris, wo sie Privatunterricht bei Martinů nahm. Konnte sie mit ihrem Dirigierlehrer Munch auf Deutsch kommunizieren, reichten ihre Französischkentnisse für einen regulären Unterricht bei Nadia Boulanger jedoch nicht aus. Nach der Besetzung der Tschechoslowakei durch die Nazis im März 1939 blieb sie in Paris und heiratete den Schriftsteller Jiří Mucha, Sohn des berühmten Jugendstil-Malers Alfons Mucha. Mit ersten Krankheitssymptomen evakuierte man sie 1940 vor dem Einmarsch der Deutschen nach Montpellier, wo sie am 16. Juni – wohl an Typhus – verstarb.
Zum einen der frühe Tod, zum anderen der Bann ihrer Musik als „dekadent“ durch die Kommunisten, sorgten dafür, dass Kaprálová alsbald in völlige Vergessenheit geriet – gerade in ihrem Heimatland. Trotz einiger berühmter Fürsprecher (Kubelik, Firkušný…) erlangte sie nie den Nimbus einer Kultfigur, wie etwa Lili Boulanger. Zum Glück hat sich das Blatt in den letzten Jahren komplett gewendet: Ihre immerhin 50 Werke fast aller Gattungen sind mittlerweile vollständig gedruckt; zur Zentenarfeier 2015 wurde ihre Musik weltweit in Erinnerung gebracht und ist nunmehr diskographisch ebenso halbwegs zugänglich. In Ann Arbor hatte man sogar innerhalb einer Woche das Gesamtwerk aufgeführt. Der Musikdirektor des University of Michigan Symphony Orchestra, Kenneth Kiesler, hat vor einigen Jahren mit einer exemplarischen Darbietung von Milhauds Orestie-Trilogie höchstes Lob geerntet; auch die Kaprálová-CD glänzt wieder mit einer gründlichen, musikalisch wie aufnahmetechnisch exzellenten Erarbeitung dieses Neulands. Die Leistungsfähigkeit amerikanischer Unis im Musiksektor ist einmal mehr wirklich beeindruckend.
Der viertelstündigen, einsätzigen Militär-Sinfonietta gelingt eine Verbindung zwischen einer nur noch in Grundzügen traditionellen Sonatenhauptsatzform und darin ansatzweise integrierter Viersätzigkeit. Gleichzeitig stellt sie, unterschwellig programmatisch, die Frage nationaler, tschechischer Existenz – just zu diesem geschichtsträchtigen Zeitpunkt. Die Harmonik bleibt weitgehend tonal bzw. modal, wobei Quartenstrukturen bereits eine wichtige Rolle zukommt. Das alles weist klare Bezüge zur Musik ihres Prager Lehrmeisters Novák auf, dabei mit selbstbewusster Eigenständigkeit. Das Klavierkonzert in d-moll von 1935 war Kaprálovás erstes Orchesterwerk, gleichzeitig ihr Dirigierdebüt in Brünn. Als Jugendliche hatte sie – mit deutlichen Einflüssen des Vaters – gelernt, effektiv und wirkungsvoll für Klavier zu schreiben; ihre grandiose Sonata appassionata war gerade fertiggestellt. Die Schreibweise des Konzerts folgt noch der Spätromantik. Der kurze, langsame Satz ist eigentlich nur die Introduktion zu einem großartigen Rondo, in dem dann kurz mal Jazzelemente aufblitzen – freilich längst nicht so radikal wie bei Jaroslav Ježek oder Erwin Schulhoff. Eine konsequente und geschickte Verarbeitung des Materials beherrscht sie vollkommen. Das dankbare und niemals oberflächliche Stück gelingt der Pianistin Amy I-Lin Cheng absolut überzeugend: kraftvoll, zugleich empfindsam in den lyrischen Passagen.
Die Suite en miniature aus demselben Jahr ist mehr als nur eine Instrumentation von vier älteren Klavierstücken – mit gravierenden, substanziellen Veränderungen. Das kurze Prélude de Noël entstand in nur einer Nacht, wurde sofort fürs Radio aufgenommen und Heiligabend 1939 gesendet. Den Höhepunkt der CD bilden dann allerdings die beiden Orchesterlieder – das erst 2006 entdeckte Smutný večer („Trauriger Abend“), anscheinend auf einen eigenen Text, sowie Kaprálovás sicher bedeutendstes Lied Sbohem a šáteček („Adieu und Tüchelchen“ – Text: Vítězslav Nezval). Hierin zeigt sich eine musikalische Reife, sowohl im Handwerklichen wie im präzisen, empathischen Nachspüren feinster emotionaler Momente der Lyrik, die es mühelos mit den besten Vertretern der Gattung dieser Epoche aufnehmen kann – zweifelsfrei echte Meisterwerke.
Der amerikanische Tenor Nicholas Phan verfügt nicht nur über die nötige Sensibilität für diese Klangwelt, sondern darüber hinaus über eine schöne, in allen Registern tragfähige Stimme, die einfach aufhorchen lassen muss. Nicht umsonst wurde der mit einem ungewöhnlich breiten Repertoire auftretende Künstler mehrmals für einen Grammy nominiert. Allein diese beiden Lieder würden den Rezensenten zu einer ausdrücklichen Empfehlung bewegen – die ganze CD erscheint fraglos als eine lang ersehnte Repertoire-Erweiterung, nicht nur für Freunde tschechischer Musik.
In Einspielungen aus dem Juli 2020 präsentiert der polnische Pianist Wojciech Waleczek eine vielseitige Auswahl von kleineren Stücken und Raritäten aus Schuberts Klavierschaffen. Neben den beiden Scherzi D 593 findet man hier u. a. frühe Werke wie die Mozarts Vorbild nachvollziehende Fantasie D 2E und wohl im Rahmen des Unterrichts bei Antonio Salieri entstandene Fugenstudien bis hin zu den beiden eventuell als Teil einer Klaviersonate konzipierten Klavierstücken D 916 B und C aus dem Jahre 1827.
In den nur 31 Jahren seines Lebens hat Franz Schubert eine schier unglaubliche Produktivität an den Tag gelegt; rund 1000 Werke hat er insgesamt geschaffen (oder jedenfalls begonnen). Neben den zeitlosen Meisterwerken seiner letzten Lebensjahre bietet auch sein (tendenziell unterschätztes) Frühwerk viel Hörenswertes, ja Kostbares. Und schließlich hat er obendrein unzählige Fragmente und Skizzen hinterlassen. Oft wird diesen Entwürfen mit einer gewissen Skepsis begegnet, doch tatsächlich kann die Beschäftigung mit ihnen ausgesprochen lohnenswert sein: Zum einen erhält man durch sie oft einen faszinierenden Einblick in Schuberts Werkstatt und kann diverse Entwicklungen in seinem Schaffen nachvollziehen, ihm beim Probieren und Reifen zusehen, zum anderen kann man selbst in diesen nie vollendeten, verworfenen Werken so viel Schönes finden, dass es nur zu schade wäre, diese Musik beiseite zu legen. Die sogenannte „Unvollendete“, der Quartettsatz in c-moll oder die „Reliquie“ bilden da nur die Spitze des Eisbergs.
Um die diskographische Situation mit Blick auf diese Raritäten kurz zu umreißen: das sinfonische Schaffen kann man heute als vollständig auf CD erschlossenen betrachten; mit der jüngst erschienenen CPO-Box unter der Leitung von Michi Gaigg sind nun auch die ganz frühen Fragmente verfügbar, die Schuberts Weg zu seiner ersten Sinfonie illustrieren. Den Weg zur „großen Sinfonie“ freilich kann man durch diese Box nur ansatzweise nachvollziehen, da man sich auf Werke beschränkt hat, die man in Schuberts Original spielen kann (verschiedene andere Entwürfe bedürfen z.B. einer Orchestrierung), doch gibt es Alternativen, die auch diese Werke in den von Brian Newbould oder Peter Gülke erstellten Aufführungsfassungen bieten, und so lange klar ist, in welchem Grade hier ergänzend eingegriffen wurde, sind diese „Rekonstruktionen“ völlig legitim und oft sogar sehr aufschlussreich. Ähnlich verhält es sich bei den Streichquartetten; hier bietet insbesondere die MDG-Box mit dem Leipziger Streichquartett eine sehr umfassende Darstellung.
Komplizierter wird es bei den Klavierwerken. Das beginnt bereits bei den Sonaten: je nach Wahl der Einspielung wird man eine ganz unterschiedliche Zahl von Werken präsentiert bekommen, die Fragmente werden teils ohne, teils mit (mal mehr, mal weniger überzeugenden) Ergänzungen präsentiert. In manchen Fällen gibt es auch Zweifel daran, welche Sätze tatsächlich welcher Sonate zuzuordnen sind, und womöglich handelt es sich auch bei einigen weiteren Fragmenten faktisch um Entwürfe von Sonaten. Bleibt man – wie im Falle der vorliegenden CD – beim Label Naxos, so kann man für einen Überblick über die fragmentarisch überlieferten Sonaten etwa auf Gottlieb Wallischs Einspielungen zurückgreifen. Und schließlich gibt es noch eine größere Anzahl von kleineren Klavierwerken, die zum Teil eher spärlich auf CD dokumentiert sind und nicht auf jeder als Gesamteinspielung deklarierten CD-Box auch wirklich enthalten sind. (Tatsächlich sind manche dieser Werke erst im Laufe des 20. Jahrhunderts wiederentdeckt bzw. als eigenständige Werke identifiziert worden.)
Hier knüpft die neue CD-Einspielung des Pianisten Wojciech Waleczek, Professor am Schlesischen Konservatorium Katowice und bei Naxos schon mehrfach auf CD vertreten, an. Am bekanntesten sind sicherlich die einleitenden Zwei Scherzi D 593 aus dem November 1817, charmante, für Schuberts Musik jener Jahre sehr charakteristische Fünfminüter (man denke etwa an die Sinfonien Nr. 5 und 6). Die sechsminütige Fantasie c-moll D 2E ist eine von Schuberts ersten überlieferten Kompositionen, vermutlich in der ersten Hälfte des Jahre 1811 entstanden. Die Parallelen zu Mozarts Fantasie c-moll KV 475 sind offensichtlich bis hin zu einer Reihe von direkten Zitaten. Natürlich reicht das Werk nicht an das Vorbild heran, aber für einen gerade einmal 14-jährigen Schüler, der damals seine ersten ernsthaften Kompositionsversuche unternahm, ist es dennoch eine sehr hübsche Talentprobe.
Bei dem Allegro E-Dur D 154 handelt es sich um die Urfassung des ersten Satzes der Klaviersonate Nr. 1 E-Dur D 157, die Schubert im Februar 1815 nur eine Woche nach diesem ersten Entwurf in Angriff nahm. Schubert übernahm das zweite Thema und den Beginn der Durchführung in die endgültige Version der Sonate, aber die Parallelen gehen noch weiter, denn auch zwischen dem Beginn von D 154 und demjenigen von D 157 sind gewisse Ähnlichkeiten unüberhörbar; so werden etwa die aufsteigenden Skalen in D 154 durch aufsteigende Dreiklangsbrechungen ersetzt. Einige harmonische Kühnheiten wie der plötzlich auftretende Fortissimo-D-Dur-Akkord in Takt 54 werden in D 157 geglättet, und insgesamt wirkt die Endfassung vielleicht weniger virtuos, weniger kühn, aber sicherlich runder.
Mit der wohl um 1821 bis 1823 entstandenen Fantasie C-Dur D 605 (nicht zu verwechseln mit der Grazer Fantasie D 605A) hat es eine besondere Bewandtnis, denn hier handelt es sich um ein offenbar unvollständig überliefertes Manuskript, und es scheint, dass sowohl vor als auch nach dem heute bekannten Notentext Seiten verloren gegangen sind. Insbesondere geht die Bezeichnung Fantasie genau genommen nicht auf Schubert selbst zurück, und es ist nicht einmal sicher, dass es sich wirklich um ein Klavierstück handelt (es könnte sich z.B. auch um die Klavierskizze zu einem Orchesterwerk handeln). Überliefert ist also ein tastender Beginn mit arpeggierten verminderten Akkorden und sich allmählich entwickelnder blühender Melodik, ein leicht marschartiges Allegro moderato mit verwandter Thematik sowie ein dunkler getöntes Andantino in h-moll (mit einer charakteristischen chromatischen Sechzehntelbewegung in der linken Hand zu Beginn), doch kurz nachdem die Musik nach H-Dur moduliert, bricht das Manuskript ab. Dabei fungieren wie schon zu Beginn arpeggierte, zumeist verminderte Akkorde jeweils auch als Überleitung zwischen den einzelnen Abschnitten. So erscheint das, was erhalten ist, erst einmal eher divergent (trotz thematischer Bezüge), fasziniert aber durch ein gewisses dramatisches Moment und teilweise durchaus orchestral anmutendes Pathos.
Die beiden Klavierstücke in C-Dur D 916B und c-moll D 916C (die unter den Skizzen zur Oper Der Graf von Gleichen gefunden wurden) sind jeweils Entwürfe in Sonatenform aus dem Jahre 1827, wobei D 916B in der Durchführung abbricht, während der c-moll-Akkord am Ende von D 916C wohl sogar den Beginn der Reprise darstellt. (Es sei an dieser Stelle kurz angemerkt, dass Waleczek alle Fragmente als solche spielt, also ohne weitere Ergänzungen.) Im englischen Original des Begleittexts ist davon die Rede, dass beide die Kopfsätze von unvollendeten Sonaten darstellen könnten. Das erscheint angesichts des lebhaften, ungarische Einflüsse nahelegenden Charakters von D 916C sehr unwahrscheinlich; wenn, dann dürfte es sich eher um einen Finalsatz handeln. Jörg Demus und Roland Sölder haben beide Sätze mit dem (in etwa zeitgleich entstandenen und ebenfalls unvollständigen, allerdings wohl kaum als Satz einer Sonate gedachten) Allegretto c-moll D 900 kombiniert und unter dem Titel Sonate oubliée publiziert (in dieser Form hat es Sebastian Knauer für Berlin Classics eingespielt). Irritierend ist dabei auf den ersten Blick, dass das vermeintliche Finale in c-moll steht, für Schubert ziemlich ungewöhnlich (jedoch nicht völlig ausgeschlossen, wie das Beispiel des frühen Streichquartetts C-Dur D 32 zeigt). Allerdings besitzt das Fragment einen beträchtlich ausgedehnten Seitensatz in As-Dur (die Tonalität As dominiert faktisch von Takt 39 bis Takt 116!), der in der Reprise dann sicher nach C-Dur und somit zurück zur Grundtonart der mutmaßlichen Sonate geführt hätte. Egal, ob es sich nun in der Tat um eine „vergessene Sonate“ handelt oder doch nicht: die Musik ist zwar sicherlich nicht so gewichtig wie Schuberts späte „große“ Klaviersonaten, aber es handelt sich doch sehr einnehmende Dokumente von Schuberts reifem Stil. Das Hauptthema von D 916B weist Parallelen zum Hauptthema des ersten Satzes des Sinfoniefragments D-Dur D 936A (auch als 10. Sinfonie bekannt) auf, und die Ähnlichkeiten gehen sogar noch weiter (vgl. etwa die choralartigen Abschnitte gegen Ende der Exposition von D 916C bzw. im ersten Satz von D 936A).
Es folgen eine ganze Reihe von Fugen für Klavier, teils vollständig, teils fragmentarisch, allesamt wohl aus den Jahren 1812/13 und wahrscheinlich im Rahmen von Schuberts Unterricht bei Antonio Salieri entstanden. Dass die zweite (und umfangreichste) der vier Fugenskizzen B-Dur D 37A in dieser Einspielung nicht berücksichtigt wurde, hat triftige Gründe: sie ist zwar auf den üblichen zwei Systemen notiert, aber für einen Pianisten (allein) aufgrund der großen Intervallabständ nicht spielbar, was den Studiencharakter dieser Kompositionen unterstreicht. Überhaupt sind diese Werke letztlich allesamt als Studien erkennbar, zum Teil auch noch etwas ungelenk (vgl. den chromatisch geprägten Entwurf C-Dur D 24D oder auch die intensiven, sich über 80 bis 90 Takte erstreckenden Modulationen quer durch den Quintenzirkel ab etwa Takt 30 von D 24A, die nicht immer völlig elegant geraten sind). Die vollendeten Fugen stammen wohl überwiegend aus dem Jahre 1812, während sich Schubert in den Entwürfen aus dem Jahr 1813, die einen gewissen Reifeprozess dokumentieren, in der Regel auf die Fugenexposition beschränkt hat.
Ebenfalls auf der CD enthalten sind die beiden einzigen Märsche Schuberts für Klavier zu zwei Händen E-Dur D 606 und h-moll D deest bzw. 757A; Letzterer existiert u.a. auch in einer Version für Klavier zu vier Händen (als erster der Trois Marches héroïques D 602). Die CD wird beschlossen von Schuberts eigener Klavierfassung der Ouvertüre zu seiner Oper Alfonso und Estrella; ein wirkungsvoller Abschluss dieses Programms.
Waleczeks Interpretationen bewegen sich auf einem insgesamt soliden Niveau. Einige wenige Stücke (D 593, D 2E und den Beginn von D 605) findet man z. B. auch in Gilbert Schuchters insgesamt sehr poesievoller, den lyrischen Zauber von Schuberts Tonsprache betonenden Gesamteinspielung von Schuberts Klavierwerken aus den Jahren 1969/70 (der seinerzeit ersten auf dem Tonträgermarkt). Im Vergleich zeigt sich, dass Schuchters Lesarten den Stücken mehr Charakter verleihen als Waleczeks eher geradlinige Interpretationen. Man höre etwa, wie Schuchter dem zentralen Allegretto in der Fantasie D 2E einen dezent-perlenden Glanz verleiht oder die kurze Allegro-Überleitung, die zum Largo des Anfangs zurückführt, mit leichtem Wehmut und Zögern versieht. Auch den Beginn von D 605 (das Allegro moderato spielt er nicht mehr) versieht Schuchter mit einer Aura des Mysteriums (nicht nur bedingt durch sein langsameres Tempo, sondern auch durch Differenzierung in Agogik und Anschlag), die man bei Waleczek so nicht wiederfindet. Noch größer ist die Konkurrenz bei den beiden Scherzi, die z. B. auch Radu Lupu eingespielt hat und dessen Delikatesse, Nuancenreichtum und subtile Gestaltungskraft Waleczek nicht erreicht. Dies freilich ist eher Kritik auf hohem Niveau; störender ist hier und da schon eine gewisse Tendenz zum Eilen (etwa, indem punktierte Halbe leicht verkürzt werden), besonders offensichtlich in D 154, das recht instabil im Tempo daherkommt, oder auch teilweise im Marsch D 757A. Im Marsch D 606 wiederum ist die Artikulation nicht immer sorgfältig bzw. teils inkonsequent. Gut gerät z.B. die Ouvertüre am Schluss der CD, die Waleczek mit Esprit und Sinn für den orchestralen Ursprung des Stücks darbietet. In der Totalen ist man bei Waleczek in guten, kompetenten Händen; es sind ordentliche Lesarten, einwandfrei geeignet, um einen guten Eindruck von Schuberts Raritäten zu vermitteln.
Der Text im Beiheft stammt von Keith Anderson, der für Naxos schon etliche Begleittexte verfasst hat. Er stellt Schuberts Lebensweg recht ausführlich da, ist aber, was die Werke auf dieser CD anbelangt, sehr kurz angebunden (der entsprechende Anteil beträgt kaum ein Viertel des gesamten Texts). Nun darf man davon ausgehen, dass Käufer dieses Albums überwiegend mit Franz Schuberts Leben und Werk gut vertraut sein dürften. Insofern wäre es sinnvoller gewesen, den Schwerpunkt genau umgekehrt zu setzen, zumal es zu den eingespielten Werken ja in der Tat eine ganze Reihe von Hintergrundinformationen zu berichten gäbe. So wird beispielsweise die Fantasie D 605 mit dem kurzen Satz „Unvollendet ist auch die Fantasie D 605 aus der Zeit von 1821 bis 1823“ abgehandelt, was der Komplexität der Überlieferung dieses Fragments (inklusive offener Fragen) und der ungewöhnlichen Struktur nicht gerecht werden kann. Insofern man Zugriff darauf hat, bietet es sich vielmehr an, das von David Goldberger und Walther Dürr verfasste Vorwort zu Band 4 Klavierstücke I der Neuen Schubert-Gesamtausgabe oder das Vorwort zur Edition der „Sonate oubliée“ von Demus und Sölder (im Falle von D 916B/C) zu lesen.
Zu loben ist bei alledem das grundsätzliche Konzept dieser CD, allerhand kleinere, kaum beachtete Raritäten aus Schuberts Klavierschaffen auf einem Album zu versammeln; eine willkommene Gelegenheit, sich mit diesen insgesamt reizvollen Stücken vertraut zu machen. Insofern wäre auch eine Fortsetzung (die allerdings nicht anvisiert zu sein scheint) willkommen, etwa mit den Fragmenten D 347 (ein Allegro moderato in C-Dur wohl bereits aus dem Jahre 1813, das möglicherweise Schuberts allerersten Versuch auf dem Genre der Klaviersonate darstellt), 348, 349 u.v.m. willkommen.
Kurz nach dem Tod des polnischen Komponisten hat das britische Tippett Quartet sämtliche Werke Krzysztof Pendereckis für Streichquartett sowie das Streichtrio auf Naxos eingespielt. Eine rundum überzeugende Darbietung.
Die Popularität der Musik Krzysztof Pendereckis (1933–2020) scheint seinen Tod zu überdauern. Bemerkenswert, dass sich die frühen, zumindest klanglich avantgardistischen Kompositionen bis zur Mitte der 1970er Jahre fast der gleichen Beliebtheit bei Musikern und Rezipienten erfreuen wie die späteren, mehr tonalen und vielfach an Traditionen der Spätromantik anknüpfenden Werke. Man muss natürlich die ab dem 1. Violinkonzert von 1977 zunehmend eklektizistische Schreibweise nicht mögen, aber Pendereckis Ausdruckskraft als solche ist kaum infrage zu stellen.
Das Schaffen für Streichquartett erscheint demzufolge zweigeteilt: Den der mehr oder weniger avantgardistischen Periode zuzurechnenden Quartetten Nr. 1 und 2 (1960 bzw. 1968) folgten 20 Jahre, in denen der Komponist bis auf kurze Gelegenheitswerke – wie das Geburtstagsständchen Per Slava für Mstislaw Rostropowitsch (Cello solo) – Kammermusik gänzlich aus dem Auge verlor. Dazu gehört wohl noch das nur zweiminütige Quartettstück Der unterbrochene Gedanke (1988). Doch mit dem Streichtrio von 1990/91 begann eine ganze Reihe teils recht umfänglicher Werke – vor allem im Jahre 2000 die zweite Violinsonate und das Sextett. Das 3. Streichquartett von 2008 „Blätter eines nicht geschriebenen Tagebuches“ dauert dann länger als die beiden ersten Quartette zusammen, wobei hingegen das 4. Quartett von 2016 wieder recht kurz gehalten ist.
Das britische Tippett Quartet besteht bereits seit 1998, hält in seinem Repertoire eine gute Balance zwischen Althergebrachtem und Musik der letzten hundert Jahre, und hat für verschiedene Labels bislang ca. 30 CDs eingespielt. Beim ersten Quartetto per archi Pendereckis, dessen Beginn durch eine Vielzahl unterschiedlichster – oft vordergründig geräuschhafter – Spieltechniken geprägt ist, wobei unterschwellig zunehmend musikalische Spannung aufgebaut wird, ist die alte DG-Aufnahme mit dem LaSalle Quartet nach wie vor unerreicht. Das phänomenal klug disponierende Ensemble frisst sich in derart hinreißender Weise durch den Geräuschdschungel, hin zu der folgenden, ruhiger ablaufenden Sphäre, rhythmisch bis ins letzte Detail überzeugend, dass dies so anscheinend weder halbwegs nachzuahmen, geschweige denn zu toppen ist. Hier schlägt sich das Tippett Quartet wacker, bleibt freilich dynamisch zu undifferenziert, um eine Entwicklung anzudeuten – im letzten Teil fühlt man sich offensichtlich wohler. Schon beim zweiten Quartett wirkt die Imagination dieser anfangs erneut irritierenden Klangwelten viel schlüssiger; alles fügt sich in ein vorausgedachtes Konzept, das Ideen von Ligeti aufnimmt, gleichzeitig etwa Anspielungen an das Capriccio per Siegfried Palm für Solocello aus demselben Jahr bereithält.
Das dritte Quartett ist eine völlig andere Welt: Nicht wirklich Neo-Romantik, jedoch mit tonalen Wurzeln und Quasi-Zitaten jüdischer Melodik. Somit ist diese Musik, die offen und scheinbar zu früh endet, viel näher an den autobiographisch geprägten Streichquartetten Schostakowitschs dran als am Penderecki der 1960er. Hier zeigt das Tippett Quartet seine ganze Stärke: Emotional dicht, dabei ergreifend ohne zu romantisieren – wie es das polnische Royal String Quartet in seiner Aufnahme von 2012 über weite Strecken macht. Knapp und klanglich deutlich ausgedünnter gibt sich das letzte Quartett, das aus einem einleitenden Andante von nur anderthalb Minuten und einem 4½-minütigen Vivo mit konsequent motivischer Arbeit besteht, und eine ebenso abgerundete Darbietung erfährt.
Die eigentliche Überraschung der CD ist allerdings das Streichtrio von 1991: Was für ein beeindruckender, engagierter Vortrag! Zwar benutzt Penderecki auch hier wieder die für ihn – nicht erst in den gemäßigten Werken der Spätphase – so typischen Intervallfolgen über Gebühr, was schnell ermüden könnte; trotzdem ist das zweisätzige Stück äußerst spannungs- und beziehungsreich, lässt dem Zuhörer in seiner Direktheit kaum Zeit zum Atmen: pure Ausdrucksmusik, fast etwas altmodisch. Insgesamt gelingt den technisch perfekten Briten eine durchaus gelungene Werkschau von Pendereckis Beschäftigung mit dem Genre. Da die Aufnahmetechnik untadelig ist und der Booklettext vom erfahrenen Richard Whitehouse kompakt und informativ, verdient das Album eine klare Empfehlung.
Vergleichsaufnahmen: [Streichquartett Nr. 1] LaSalle Quartet (DG 423 245-2, 1967); [Streichquartette Nr. 1-3] Royal String Quartet (Chandos CDA67943, 2012)
Der Sarde Andrea Vivanet ist ein herausragender Pianist, ausgestattet mit einer Makellosigkeit der Technik, die atemberaubend ist, und dies gepaart mit künstlerischen Werten, die man fast schon als verloren glaubte. Sein Spiel ist geprägt von einem eigenen, spezifischen Tonfall, den man unter Hunderten Pianisten wiederzuerkennen meint, der Vivanet aber nicht daran hindert, sich den von ihm ausgewählten Werken mit vorbildlicher Vorbereitung und akribischer Partiturarbeit zu nähern.
Russische Musik hat in seiner bisherigen Laufbahn eine große Rolle gespielt und war Bestandteil von drei seiner bislang insgesamt vier Albumaufnahmen. Daher ist es nur konsequent, dass sich der Künstler nun mit einem Album zurückmeldet, das ausschließlich russische Musik zum Inhalt hat. Als Russian Album ist es nun beim Münchner Label Aldilà Records erschienen (siehe auch diese Rezension).
Anlässlich der Veröffentlichung hatte René Brinkmann die Gelegenheit, mit Andrea Vivanet zu seinem neuen Album, aber auch zu vielfältigen Themen in den Bereichen Musik, Karriereaufbau und Gesellschaft zu sprechen.
The New Listener (TNL): Herr Vivanet, mit Ihrem Russian Album veröffentlichen Sie nun bereits Ihr viertes Album beim vierten Label. Wie ist es dazu gekommen?
Andrea Vivanet (AV): Ich würde sagen, dass meine diskografische Erfahrung als ein schrittweiser Prozess unter zwei verschiedenen Aspekten betrachtet werden kann. Einerseits habe ich sicherlich gelernt, wie man sich nach und nach auf eine Aufnahme vorbereitet. Das ist etwas ganz anderes, als die Vorbereitung auf ein Konzert. Ich kann mich zum Beispiel an meine erste Aufnahme nicht als etwas erinnern, auf dass ich vollkommen vorbereitet gewesen wäre, aber ich hatte das Gefühl, dass ich mit der Zeit immer mehr Selbstvertrauen gewann. Andererseits hat mir bisher jede Aufnahme geholfen, neue Leute kennenzulernen und als Nebeneffekt auch mit neuen Labels in Kontakt zu kommen.
TNL: Auf dem neuen Album kombinieren Sie bekannte mit weniger bekannten Werken, verbinden Schostakowitsch mit Tscherepnin und Tanejew. Wie kam das Programm zustande? Die Liner Notes im Booklet lassen vermuten, dass dieser Zusammenstellung ein langwieriger Auswahlprozess vorausgegangen ist?
AV: Wie Sie genau richtig sagen, wurde das Programm Stück für Stück mit dem Produzenten und Dirigenten Christoph Schlüren, abgesprochen. Wir hatten die Idee, gemeinsam ein Album zu konzipieren. Mein erster Vorschlag, die 24 Schostakowitsch-Préludes op. 34, wurde von Herrn Schlüren freudig angenommen, der daraufhin anregte, ein durchweg russisches Programm rund um die Schostakowitsch-Préludes aufzubauen.
Ich nahm seinen Vorschlag, das Tanejew-Präludium und die Fuge zu lernen, ziemlich schnell an, da Tanejew einer jener russischen Komponisten ist, die sich vor allem für die Polyphonie interessierten, und daher dachte ich, dass dies eine interessante Verbindung zu Schostakowitsch sein könnte, auch wenn es stilistisch ziemlich weit von Schostakowitsch entfernt ist (vergessen wir aber dabei nicht, dass die Préludes op. 34 viele polyphone Elemente im gesamten Zyklus enthalten, darunter eine kurze dreistimmige Fuge – das Prélude Nr. 4). Am Ende entschieden wir uns dazu, Tscherepnin zwischen Tanejew und Schostakowitsch aufzunehmen, und zwar aus zwei Gründen: Wir wollten einige Werke präsentieren, die bisher noch nicht aufgenommen wurden, und wir dachten, dass die Tatsache, dass Tscherepnin mehr stilistische Zeiträume durchschritt, eine schöne Brücke zwischen Tanejew und Schostakowitsch sein würde, da seine frühen Préludes mit der spätromantischen Tradition verbunden sind und seine Primitifs eine Öffnung zu einer neuen, modernen Sprache darstellen.
TNL: Besonders die Préludes, Morceaux und Primitifs von Nikolai Tscherepnin sind eine große Entdeckung. Musik von großer Schönheit, aber auch großer kompositorischer Kunstfertigkeit. Wie sind Sie auf diese selten gespielten und nie zuvor aufgenommenen Stücke aufmerksam geworden?
AV: Ich kannte die Musik von Tscherepnin nicht und wurde neugierig auf seine Kompositionen, als mir der Produzent vorschlug, die Préludes op. 17 zu lesen. Daraufhin beschloss ich, weitere Werke zu erforschen, und setzte mich mit der Tscherepnin-Gesellschaft in Verbindung. Der Vizepräsident David Witten, Pianist und Professor an der J. Cali School of Music, Montclair State University, der sehr wichtige Werke von Nikolai Tscherepnin aufgenommen hat, war eine wirklich wertvolle Unterstützung: Dank Herrn Witten hatte ich die Möglichkeit, an die Noten einiger Werke wie die der Primitifs zu kommen, die wirklich nicht leicht zu finden sind. David Witten war auch eine Quelle der Inspiration, da er mich über interessante Fakten zu Tscherepnins Leben informierte. Ich möchte auch die Gelegenheit nutzen, um der Tscherepnin-Gesellschaft zu danken, die als Sponsor zu dieser Veröffentlichung beigetragen hat.
TNL: Während sich Ihre ersten beiden Alben mit einem weithin bekannten Repertoire befassten, sind Sie mit Ihrem letzten Album bei Naxos (Szymanowski) und dem jetzt bei Aldilà Records erschienenen Russian Album einen anderen Weg gegangen und haben sich vor allem weniger bekannten Werken gewidmet. Ist das der Weg, den Sie jetzt weitergehen wollen?
AV: Ich würde nicht sagen, dass ich das Ziel habe, ein Spezialist für weniger bekanntes Repertoire zu werden – es sei denn, ich stoße auf meinem Weg auf Meisterwerke, die aus irgendwelchen Gründen von den Musikern vernachlässigt wurden –, aber ich erhebe keinen Anspruch auf eine besondere Rolle, etwa als Pionier des weniger gespielten Repertoires oder ähnliches.
TNL: Das Album wurde im großen Saal des georgischen Staatskonservatoriums in Tiflis aufgenommen. Haben Sie diesen Aufnahmeort bewusst gewählt, weil Tscherepnin mehrere Jahre in Tiflis gelebt und gearbeitet hat?
AV: Das war eher ein Zufall, da ich selbst seit November 2020 in Georgien lebe, aber ich würde sagen, dass es eine glückliche Wahl war: Der Konzertsaal ist sehr inspirierend und der Steinway dort ist einfach fantastisch. Der Tontechniker der Aufnahme, Paul Kavtchadze, ist ein wunderbarer Musiker und Mensch, dem ich für seine großartige Arbeit und Unterstützung sehr danken möchte.
TNL: Gibt es in Tiflis heute noch ein allgemeines Gedenken an Nikolai Tscherepnin?
AV: Im Museum des Konservatoriums (wo es übrigens auch ein Klavier gibt, das Sergej Rachmaninow gehörte) gibt es einen Teil, der Tscherepnin gewidmet ist, dennoch habe ich seine Musik bisher nicht in Konzertprogrammen gesehen (vielleicht habe ich sie auch nur übersehen). Es gibt jedoch einen jungen, brillanten Musikwissenschaftler, den ich grüßen möchte – ich entschuldige mich für die vielen Grüße (lacht) – Lasha Gasviani, der Artikel und ganze Dissertationen über die Musik von Tcherepnin im Zusammenhang mit der georgischen Musikkultur/dem georgischen Erbe veröffentlicht.
TNL: Auch Tschaikowsky und andere russische Komponisten besuchten Tiflis, und einige von ihnen gaben auch Konzerte oder hielten sich längere Zeit dort auf. Und dann sind da noch die großen georgischen Komponisten, die man nicht vergessen sollte, wie Kantscheli oder Chatschaturjan. Wie muss man sich Tiflis also vorstellen? Gibt es eine kulturelle Szene, die dieses Erbe der Vergangenheit pflegt und fördert?
AV: Absolut ja, ich habe mehrmals gesehen, wie georgische Musiker georgische Komponisten aufgeführt haben. Ich selbst habe einige interessante Werke von Otar Taktakischwili gelesen (ich habe gerade entdeckt, dass er eine Zeit lang bei Schostakowitsch studiert hat). Wer weiß, vielleicht nehme ich in Zukunft einige Werke von Taktakischwili in mein Repertoire auf, obwohl es im Moment noch zu früh ist, um das zu sagen – ich arbeite ohnehin schon an zu vielen neuen Stücken.
TNL: Sie haben Ihr gesamtes Klavierstudium mit Auszeichnung abgeschlossen, Sie haben einige der renommiertesten Klavierwettbewerbe gewonnen, doch trotzdem sind Sie – zumindest in Deutschland – selten im Konzert zu hören. Ist der deutsche Markt einfach besonders schwer zu „knacken“ oder treten Sie lieber woanders auf?
AV: Ich würde gerne in Deutschland auftreten, aber ich kann nicht wirklich sagen, warum es noch nicht passiert – vielleicht hat es die letzte Zeit mit den vielen Einschränkungen nicht einfach gemacht, also ziehe ich lieber keine voreiligen Schlüsse und warte ab, welche Möglichkeiten sich in der nächsten Zeit ergeben.
TNL: Was ist Ihre Meinung: Ist der Gewinn eines prestigeträchtigen Wettbewerbs heute keine Garantie mehr für eine Karriere? Wie waren Ihre bisherigen Erfahrungen bei der Suche nach einem Management- oder Labelvertrag?
AV: Zu Wettbewerben kann ich mich nicht wirklich äußern, da ich selbst nicht an vielen teilgenommen habe. Vielleicht ist es immer noch eine gute Möglichkeit, eine Karriere aufzubauen. Die Frage ist, ob es sich lohnt, eine Karriere durch Wettbewerbe zu erreichen oder nicht, und meine Antwort ist: Es kommt darauf an, es ist individuell. Ich möchte niemanden in die eine oder andere Richtung drängen. Sicherlich könnte ich mich wie ein Moralist aufführen und sagen, dass Wettbewerbe zwangsläufig negativ sind, dass sie dazu führen, dass Musiker mechanisch spielen, da sie zu oft einem übermäßigen Druck ausgesetzt sind (was vielleicht sogar stimmt), aber: trifft das auf alle zu? Hatten wir nicht auch erstaunliche Künstler, die an Wettbewerben teilgenommen haben? Sicherlich haben wir das.
Ich kann also nur sagen: Jeder muss alles tun, was im Rahmen seiner Fähigkeiten, Grenzen und Möglichkeiten seine künstlerische Integrität nicht gefährdet. Wenn ihr das Gefühl habt, dass ihr die Kraft habt, an Wettbewerben teilzunehmen, ohne in Routine zu verfallen, dann macht sie! Warum nicht? Es wird eine Gelegenheit sein, eure Musikalität mit eurem Publikum zu teilen, dank der Engagements, die ihr bekommen könnt. Wenn Ihr das Gefühl habt, dass sie Eure innere Musikalität verarmen lassen, dann lasst die Finger davon! Es ist besser, um einige Möglichkeiten zu kämpfen, als zu verderben, was spirituell ist. Das ist immer das Wichtigste.
Wissen Sie, wir Musiker (aber auch die Menschen im Allgemeinen) haben ein Ego, das uns immer dazu bringt, etwas zu kritisieren, um uns rechtschaffen zu fühlen. Ich glaube, dass Wettbewerbe kein guter Weg für mich gewesen wären, aber noch einmal: das gilt nur für mich (oder Musiker mit ähnlichen Eigenheiten), in Bezug auf meine eigenen Charakteristika.
Zum Thema Management, nur zwei Worte: sehr schwierig! Ich suche derzeit nach einem in diesem Bereich, Osteuropa/Naher Osten, aber möglicherweise auch in Westeuropa. Was Aufnahmen angeht, so hatte ich einige Gelegenheiten und ich denke, dass sich in der nächsten Zeit weitere Gelegenheiten ergeben werden.
TNL: Man kann auch ein wenig boshaft fragen: Gibt es vielleicht einfach zu viele Pianisten auf dem „Markt“? Sollte man bei der Auswahl von Pianisten an der Universität vielleicht weniger auf die technische Komponente achten (denn technisch haben selbst sehr junge Musiker heute oft ein ganz erstaunliches Niveau), sondern vielleicht mehr auf die Persönlichkeit eines Künstlers, bis hin zu dem Punkt, dass sie zum entscheidenden Aspekt wird, ob ein Künstler an der Universität zugelassen wird oder nicht?
AV: Auch wenn ich bei dieser Frage nicht wertend sein möchte, werde ich kurz (und vielleicht scharf, pardon) darauf antworten und sagen, dass die Auswahl wahrscheinlich eher unter den Lehrern als unter den Studenten getroffen werden müsste. In jungen Jahren sind eigentlich alle Richtungen offen, aber wenn die Lehrer ihren Schülern nur die Werte Erfolg, übermäßiger Ehrgeiz, Wettbewerb usw. vermitteln, werden sie genau das aufnehmen und glauben, dass es in der Musik nur darum geht. Vielleicht werden einige der Schüler eine natürliche „Erleuchtung“ haben, aber viele andere werden in die Irre geführt, obwohl sie wahrscheinlich die wichtigsten Aspekte der Musik erkennen könnten, wenn sie richtig unterrichtet würden, und vor allem von jemandem, der die Musik über alles andere stellt.
TNL: Sie geben selbst Meisterkurse und bilden junge Pianisten aus. Welche Ratschläge geben Sie diesen jungen Menschen für ihre zukünftige Karriere? Was sollte man tun, was sollte man vermeiden?
AV: Das ist schwer zu sagen. Das Beste, was ich tun kann, ist, meine Ratschläge mit mir selbst zu teilen. Ich sage mir: Es ist wichtig, ein Gleichgewicht zwischen Zielen und zukünftigen Erfolgen und dem, was in der Gegenwart oder in der jüngsten Vergangenheit liegt, zu finden. Wenn ich nur für das Erreichte lebe, dann ist es mit dem Glück vorbei: Ich verbringe einige leere Monate meines Lebens für das kurze Vergnügen dieses zukünftigen Tages eines Erfolges – was auch immer es sein mag, eine stehende Ovation, ein Artikel in der New York Times usw. Dann muss ich die Voraussetzungen für den nächsten Erfolg schaffen, weil ich plötzlich nichts mehr habe, was mich in der Gegenwart ausfüllt.
Im Grunde ist es das, was z. B. die neuen Plutokraten des Internets mit ihren Milliarden machen: totale Leere und Frustration, bis sie die nächste Milliarde verdienen. Diese Dimension nun auf etwas so höchst Spirituelles wie die Musik anzuwenden, ist ziemlich traurig. Nur ein krankes Wirtschaftssystem könnte es schaffen, sogar die Künste in diese leere Dimension zu verwickeln. Das hat Auswirkungen auf das alltägliche Leben, und das ist furchtbar traurig bei etwas wie Musik, die ein Grund zur Freude sein sollte, wann immer wir uns ihr widmen.
Aber wir sind natürlich keine Hedonisten, und wir brauchen Ziele, auch, um unserem Studium eine Struktur zu geben. Das ist nicht einfach; und da wir Menschen sind, sind schöne Erfolge und Rückmeldungen auch sehr willkommen. Das ist es also, was ich mit dem Gleichgewicht zwischen der Gegenwart/Vergangenheit und den zukünftigen Errungenschaften meine: zukünftige Ziele, um eine Richtung zu haben und gute Ergebnisse zu erzielen, aber nur nach täglicher Liebe zu jeder Seite der Musik, die wir berühren, das ist das Wichtigste (unsere Gegenwart und Vergangenheit). Das Leben wird entscheiden, welche Möglichkeiten wir bekommen und welche nicht, aber in der Zwischenzeit werden wir das wichtigste Geschenk in uns tragen: die Musik.
TNL: Im Booklet gibt es ein Zitat von Ihnen, das ich persönlich sehr treffend und im Zusammenspiel mit der Musik von Tscherepnin auch sehr berührend finde: Sie schreiben, die Musik von Tscherepnin sei für Sie wie ein Abschied von einer Epoche: als ob er wüsste, dass er sich von einer Zeit verabschiedet, die nicht wiederkommen wird. Passt diese Musik deshalb auch so gut in unsere Zeit, weil wir uns auch heute im Rekordtempo von Werten und Errungenschaften verabschieden, die immer weniger geachtet werden und denen immer weniger Wert beigemessen wird?
AV: Ich glaube, sie passt – auch wenn bei Tscherepnin diese nostalgische Dimension voller Hoffnung und Neugier auf neue Entdeckungen ist. Ich fürchte, dass bestimmte große Seiten von Schostakowitsch – im innersten kalt und ohne Hoffnung – viel besser in unsere Zeit passen.
TNL: Tscherepnin und seine Zeitgenossen reagierten auf die Veränderungen und Herausforderungen ihrer Zeit mit Ohnmacht und Melancholie. Das war ja aber auch immerhin eine Art Gemeinsamkeit. Ich habe das Gefühl, dass die Künstler heute angesichts der immensen Herausforderungen, vor denen wir stehen, noch nicht zu einer gemeinsamen Antwort gefunden haben. Wie gehen Sie persönlich mit den Veränderungen in Kultur und Gesellschaft um?
AV: Ich stimme Ihnen vollkommen zu. Es gibt ein Gefühl der Verlorenheit, keine gemeinsame Richtung und viele verschiedene Erscheinungsformen der Kreativität, die sich nicht mehr gegenseitig inspirieren, wie es zu Beginn des 19. Jahrhunderts der Fall war. Strawinsky inspirierte zum Beispiel andere Komponisten, die seine Ästhetik aufgriffen und sie in eine klassische symphonische Dimension brachten, und wir könnten noch viele andere Beispiele anführen. Wenn dies heute nicht mehr der Fall ist, liegt das wahrscheinlich daran, dass Erfolg und Sensationslust ein größeres Ziel geworden sind als der Versuch, Musik für Komponisten und Interpreten zu machen – wieder einmal wegen der Konsumgesellschaft. An die Stelle von Ohnmacht und Melancholie sind Aggressivität und Konkurrenzdenken getreten.
Generell glaube ich, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der es darauf ankommt, was wir erreicht haben und nicht, wie wir es erreicht haben, und diese Perspektive betrifft auch den Bereich der Kunst (natürlich nicht immer, zum Glück).
Ich persönlich gehe mit jedem aktuellen gesellschaftlichen Phänomen nur auf eine Weise um: mit Begeisterung für das, was ich Tag für Tag tue.
TNL: Zum Schluss noch eine Frage zu Ihren Plänen für die Zukunft: Was planen Sie in den kommenden Wochen und Monaten? Gibt es irgendwelche besonderen Konzerte oder sogar schon Pläne für eine weitere Albumaufnahme?
AV: Was das tägliche Leben betrifft, so bin ich froh, hier in Tiflis einige Privatschüler zu haben, und ich hoffe, dass ich bald weitere haben werde.
Ich arbeite an einem neuen Repertoire, das mehrere Werke von Sweelinck, Chopin, Mozart, die Grieg-Ballade und Holberg-Suite sowie die zweite Sonate von Schostakowitsch umfasst. Derzeit gibt es keine konkreten Pläne für eine neue Aufnahme.
Was Konzerte angeht, so ist für das Frühjahr 2022 ein Rezital im Großen Saal des Konservatoriums von Tiflis geplant, und ich warte auf einen Termin für ein Konzert in Jerewan im Rahmen der Solistensaison des Armenischen Symphonieorchesters.
Ich freue mich auch, dass man mich kontaktiert hat, um zwei Konzerte in Frankreich, in Lille, für zwei Klavierfestivals 2022 zu geben. Und natürlich warte ich noch auf einige andere Antworten für die kommenden Monate. Bis dahin freue ich mich auf die kommenden Konzerte!
Karl-Heinz Schütz, Soloflötist der Wiener Philharmoniker, hat die beiden Sonaten op. 120 von Johannes Brahms, ursprünglich Klarinettensonaten, dann vom Komponisten für Viola und Violine bearbeitet, für die Flöte eingerichtet. Zusammen mit der Pianistin Maria Prinz hat er für Naxos diese Bearbeitungen samt einigen Transkriptionen Brahmsscher Lieder eingespielt. The New Listener sprach mit beiden über ihre neue CD.
Wie kam es zu der nicht alltäglichen Idee, die Klarinettensonaten von Brahms in einer Fassung für Flöte und Klavier aufzunehmen?
Karl-Heinz Schütz: Brahms war, durch die Begegnung mit dem Klarinettisten Richard Mühlfeld, offensichtlich von der Klarinette fasziniert und hat somit für ein Blasinstrument komponiert und gedacht. Die Flöte befand sich zur damaligen Zeit in einem Dornröschenschlaf. Aus diesem hat sie erst Debussy wachgeküsst! Die ganze Musikgeschichte, insbesondere im 19.Jahrhundert, ist voll von Bearbeitungen. Von Brahms selbst liegen Versionen dieser Sonaten für Klarinette, Viola und Violine vor: drei sehr unterschiedliche Timbres für dieselbe Musik. Ich denke mit der Flöte einfach konsequent den brahmsischen Gedanken weiter.
Maria Prinz: Mit Karl-Heinz Schütz zu musizieren, ist für mich in den 10 Jahren unserer Zusammenarbeit immer ein musikalisches Erlebnis der Sonderklasse gewesen, inspirierend und beglückend. Seine Idee, die Sonaten op. 120, die zu den Stücken gehören, mit denen ich mich im Laufe meines Musikerlebens besonders oft und ausführlich beschäftigt habe, auf der Flöte zu spielen, war eine sehr willkommene Chance, diese Werke unter einem ganz neuen Blickwinkel zu sehen und zu interpretieren.
Sie haben die Klarinettensonaten schon häufig interpretiert, auch bereits aufgenommen. Was gefällt Ihnen an der neuen Fassung für Flöte besonders?
Maria Prinz: Die Sonaten op. 120 gehören zum Spätwerk des Komponisten und zeichnen sich durch eine gewisse herbstliche Färbung, besonnene Ruhe und leise Zwischentöne aus, die der Klangcharakteristik der Flöte in hohem Maße entsprechen; besonders wenn der Flötist, wie im Fall von Karl-Heinz Schütz, über einen so wandlungsfähigen und farbenreichen Klang verfügt. Ich bemühe mich bei jeder neuerlichen Begegnung mit Werken, die mir sehr vertraut sind, weitere Aspekte und Nuancen zu entdecken, und diese Version hat mich dazu sehr motiviert und inspiriert.
Karl-Heinz Schütz: Es war besonders inspirierend, diese Musik mit Maria Prinz aufzunehmen, die diese Musik viel länger als ich kennt!
Es gibt Komponisten, denen man nachsagt, sie hätten die Flöte nicht besonders gemocht. Mozart zum Beispiel. Wie verhält es sich mit Brahms?
Karl-Heinz Schütz: Ich denke, Brahms hatte die Flöte als Soloinstrument aus verschiedenen Gründen nicht auf dem Radar. Die wesentlichen instrumentenbautechnischen Veränderungen hatten noch keine goldene Ära mit hervorragenden Spielern hervorgebracht, wie es etwa dann 20 bis 30 Jahre später in Paris der Fall war. Dennoch spielen Flötenklang und Flöte als wesentliche Farbe in seiner Sinfonik eine zentrale Rolle, wie im Übrigen auch bei Mozart.
Die Brahms-Lieder auf dem Album in Fassungen für Flöte und Klavier zu hören, ist zum Teil sehr überraschend. Die Lieder scheinen so komponiert zu sein, dass sie auch ohne Text eine Botschaft in sich tragen. Waren Sie auch selbst überrascht davon, wie gut diese Kompositionen ohne Stimme funktionieren?
Karl-Heinz Schütz: Da ich als Flötist immer den Gesang und die menschliche Stimme als Ausdruck zum Vorbild habe, begleiten mich solche „Lieder ohne Worte“ schon mein Flötisten-Leben lang. Es ist schön, dass wir jetzt eine Auswahl davon auf dieser CD vorliegen haben.
Maria Prinz: Ich konnte mir von Anfang an gut vorstellen, dass die Version für Flöte und Klavier gut funktioniert. Es gibt die berühmte Bearbeitung von Schubert-Liedern von Theobald Böhm, die sehr beliebt bei Interpreten und Publikum sind, und ich bin sehr glücklich, dass das auch in unserer Fassung der Brahms-Lieder der Fall ist. Die ganz großen Komponisten sagen oft durch ihre musikalische Umsetzung der Poesie noch mehr als der Text uns mitteilt. Sie vertiefen die emotionale Wirkung, oder hinterfragen sogar manche Inhalte.
Wir haben uns auch bewusst dagegen entschieden, den Text der Lieder im Booklet abzudrucken, um dem Zuhörer den Freiraum für eigene, allein von der Musik inspirierte Assoziationen, zu geben.
Ist es eigentlich einfach oder schwierig, die Gesangs-Phrasierung der Lieder auf die Flöte zu übertragen, weil ja beide „Instrumente“ (Gesang und Flöte) durch Atemtechnik „gesteuert“ sind? Oder war dies am Ende gar nicht das Ziel?
Karl-Heinz Schütz: Ich finde, die Übertragung liegt in der Natur der Sache. Es erscheint mir ganz natürlich, da Gesang und Flötenspiel unglaublich viele Gemeinsamkeiten haben, wie z.B. die Atmung und Stütztechnik, ebenso das Vibrato. Naturgemäß entfallen die Worte und es entsteht ein Lied ohne Worte.
Und wie verhält es sich mit der Übertragung der Klarinettenphrasierung auf die Flöte?
Karl-Heinz Schütz: Das ist ein ähnliches Phänomen wie beim Gesang: die Gemeinsamkeiten sind frappierend. Für den Zuhörer ergibt sich vor allem ein unterschiedliches Klangbild.
Welche Herausforderungen ergeben sich für das Klavier?
Maria Prinz: Mein Credo ist immer gewesen, nicht einen universal verwendbaren Klavierklang anzubieten, sondern auf die klanglichen Besonderheiten meiner jeweiligen Kammermusikpartner einzugehen und Farben zu finden, die sich in einigen Passagen so perfekt mit dem Klang des anderen Instrumentes vermischen, dass beide eine Einheit bilden oder aber den vom Komponisten gesuchten Kontrast liefern. Für mich ist das silbrig Schimmernde des Flötenklanges besonders reizvoll und kommt dem, was ich am Klavier mache, sehr entgegen.
Im Fall der Brahms-Sonaten in der Flötenfassung ist auch die Frage der Balance besonders wichtig, damit die sehr dichte, akkordische Faktur des Klavierparts stets durchsichtig bleibt und die Flöte nicht erdrückt. Es gibt sehr wenige andere Werke des Kammermusikrepertoires, bei denen beide Instrumente in einem so ausgeglichenen und gleichberechtigten Dialog miteinander den musikalischen Inhalt wiedergeben.
Wie hat Ihr Label auf den Vorschlag reagiert, ein solch ungewöhnliches Programm aufzunehmen? In der allgemeinen Wahrnehmung war Naxos lange ein Label für den schmalen Geldbeutel, dann hat es sich zu einer Art klingenden Enzyklopädie entwickelt und heute scheint es kaum noch Unterschiede zu anderen Labels zu geben. Wie haben Sie das als Künstlerin empfunden, die schon seit Jahren mit Naxos zusammenarbeitet?
Maria Prinz: Zum Glück sehr positiv! Natürlich wissen wir alle, dass Bearbeitungen an sich oft als problematisch und überflüssig angesehen werden, aber sie geben auch die Chance auf einen frischen Zugang zu altbekannten Werken, und es geht auch immer um die Frage der Ehrlichkeit und Qualität der Interpretation. Ich arbeite schon seit vielen Jahren mit Naxos und kann nur von positiven Erfahrungen berichten.
Jedes Label ist so gut, wie die Leute, die es verantworten, und in diesem Fall ist Klaus Heymann die Persönlichkeit, die mit Mut und Weitsicht die Zeichen der Zeit erkannt hat und das Label innovativ und fantasievoll in die Zukunft führt. Die Zusammenarbeit mit ihm ist fantastisch, weil er blitzschnell auf Vorschläge reagiert, ganz klar seine Meinung äußert und wenn einmal die Zustimmung da ist, man sich 100% auf ihn verlassen kann. Natürlich ist der Beitrag des ganzen Teams von Naxos, der Mitarbeiter, mit denen man dann zu tun hat, nicht hoch genug einzuschätzen.
Sie sind Erster Flötist bei den Wiener Philharmonikern. Wie wichtig ist es für Sie, abseits des Orchesterbetriebs Kammermusik-Projekte wie diese Aufnahme mit Maria Prinz durchzuführen?
Karl-Heinz Schütz: Die Kammermusik ist für Komponisten wie für Interpreten immer eine sehr intime Sache. Und aus diesem Grund würde ich es als Herzensanliegen bezeichnen.
Die Wiener Philharmoniker sind zweifellos eines der weltbesten Orchester, stehen aber im Ruf, nicht sehr neugierig auf neues oder unbekanntes Repertoire zu sein. Stimmt dieser Eindruck oder sollte er revidiert werden?
Karl-Heinz Schütz: Das Publikum möchte natürlich von diesem Orchester zuerst ein bestimmtes Repertoire hören. Das hängt ganz eindeutig mit der Geschichte und der Tradition des Orchesters zusammen.
Ich erlebe aber im Orchester eine Offenheit und ein Interesse das Repertoire zu erweitern. Stücke, die vielleicht vor etwa 30 oder 40 Jahren nur am Rande vorgekommen sind, sind völlig im Selbstverständnis des Orchesters angekommen.
Viele Klassikliebhaber, gerade die besonders leidenschaftlichen, scheinen eine latente Abneigung gegenüber Transkriptionen oder Werkbearbeitungen zu haben. Woran liegt das Ihrer Meinung nach und wie würden Sie diesen Leuten beschreiben, weswegen Sie bewusst eine Bearbeitung aufgenommen haben?
Karl-Heinz Schütz: Die großen Komponisten haben alle voneinander gelernt, einerseits durch Studium, andererseits durchs bloße Abschreiben voneinander: Zahllose Beispiele lassen sich hierfür anführen. Sehr oft wurden auch eigene Werke anders wiederverwendet oder eben anders instrumentiert. Die Essenz einer Komposition bleibt ja hiervon im Grunde unberührt – es werden lediglich andere Aspekte beleuchtet, was einem auch Augen, Ohren und Sinne öffnen kann. Meine Bearbeitung und Interpretation versuche ich beim Kern des Werkes anzusetzen, um aufzuzeigen, wie diese wunderbare Musik mit Flöten-Timbre erklingt! Ich bin überzeugt, dass Brahms Flötensonaten geschrieben hätte, hätte er heute gelebt.
Maria Prinz: Wie ich schon erwähnt habe, ist es uns von Anfang an bewusst gewesen, dass eine gewisse Abneigung gegenüber Bearbeitungen existiert. Diese ist in Fällen, bei denen die Bearbeitung in krassem Gegensatz zu den Absichten und der Ausdrucksweise des Komponisten stehen, durchaus berechtigt.
Man darf allerdings nicht vergessen, dass sehr viele Komponisten ihre Werke selbst bearbeitet und Versionen für verschiedene Instrumente veröffentlicht haben. Das ist auch für die Sonaten op. 120 der Fall, von denen Brahms selbst Versionen für Bratsche und Violine erstellt hat. Somit deutet er an, dass dieses musikalische Material Raum für verschiedene klangliche Deutungen lässt. Und das zweite Argument zugunsten der Flötenversion ist, dass die Klarinette und die Flöte als Blasinstrumente doch näher verwandt sind, als es die Bratsche oder die Violine sind.
Bei den Liedern wiederum ist die Flöte der menschlichen Stimme durch die Beteiligung des Atems an der Klangerzeugung und auch durch die Fähigkeit, Phrasen „singend“ zu formen, verwandt und imstande die wunderschönen, langgezogenen brahmsischen Melodien zu gestalten.
Die vierte CD von Boris Giltburgs unlängst entstandener Gesamteinspielung von Beethovens Klaviersonaten bei Naxos enthält mit den Sonaten Nr. 12 bis 15, der „Trauermarsch“-Sonate, den beiden Sonaten „Quasi una fantasia“ sowie der „Pastorale“ also, einige Marksteine von Beethovens Sonatenkosmos.
Anlässlich von Beethovens 250. Geburtstag hat der Pianist Boris Giltburg im Jahre 2020 alle 32 Klaviersonaten Beethovens auf Video aufgenommen; nur unwesentlich später sind die Tonspuren dieser Aufnahmen bei Naxos auch auf CD veröffentlicht worden. Dabei ist jeder Satz ein einziges Take, kommt also ohne Schnitte aus. Die Mehrzahl der Sonaten hat Giltburg für dieses Projekt neu einstudiert, vorher waren offenbar nur neun von ihnen fester Bestandteil seines Repertoires. Die vierte CD aus dieser Reihe zeigt ihn als einen kompetenten Interpreten von Beethovens Sonaten, der in der Totale empfehlenswerte Lesarten dieser Werke liefert.
Den einleitenden Variationssatz der Klaviersonate Nr. 12 As-Dur op. 26 interpretiert Giltburg ruhig und mit Wärme und bringt die noble Lyrizität des Themas angemessen zur Geltung. Leider kommt allerdings in der vierten Variation der Kontrast zwischen Legato in der rechten und Staccato in der linken Hand zu kurz, da Giltburg auch in der rechten Hand am Ende der Legatobögen tendenziell staccatiert. Ausnehmend gut gefällt mir sein Scherzo, das er rasch und mit Sinn für die dynamischen Kontraste spielt und dabei die Steigerung bis hin zum energischen Schluss des Scherzoteils exzellent abbildet. Problematischer erscheint der Trauermarsch: Giltburg scheut hier das Zeremonielle; vom ersten Takt an ist klar, dass er diesen Satz vorrangig introvertiert, ja fast schon versonnen versteht, was zusammen mit einem eher langsamen Grundtempo die Musik manchmal etwas auf der Stelle treten lässt. Diese Beobachtungen unterstreicht auch der Trioteil, dessen „Gewehrsalven“ Giltburg recht vorsichtig begegnet. Das Finale wiederum knüpft wieder stärker an den zweiten Satz an, sicher etwas zurückgenommener, wie es eben in der Natur dieses Satzes liegt, aber eben doch im Grundsatz gelöst; ein stimmiger Abschluss dieser Einspielung.
Insgesamt sehr gut gelungen wirkt Giltburgs Lesart der Klaviersonate Nr. 13 Es-Dur op. 27 Nr. 1, der ersten beiden der „Quasi una fantasia“-Sonaten. Die spezielle Stimmungslage des einleitenden Andante irgendwo zwischen einer von vagen Andeutungen erfüllten Traumwelt von fast kindlicher Schlichtheit und plötzlichem Allegro-Aufschwung, der aber nichtsdestotrotz ebenfalls eher präludierend wirkt, fängt Giltburg gut ein; das Mysterium und die klangfarbliche Differenzierung etwa aus Daniel Barenboims jüngsten Zyklus findet man hier zwar nicht, doch die Charakteristik dieses Satzes bildet Giltburgs Interpretation schlüssig ab. Sehr gut auch der zweite Satz, dessen Dreiklangsbrechungen Giltburg zunächst fahl dahinhuschend, dann eruptiv realisiert und zu einer eindrucksvollen Kulmination am Schluss führt. Auch die übermütige Vitalität und Spielfreude des Finales fängt Giltburg überzeugend ein, der b-moll-Höhepunkt (in etwa ab Takt 118) könnte allerdings etwas machtvoller geraten.
Die Klaviersonate Nr. 14 cis-moll op. 27 Nr. 2, die „Mondschein-Sonate“ also, versteht Giltburg eher nüchtern, objektiv, nahezu klassizistisch. Dies zeigt bereits ihr erster Satz, den Giltburg mit knapp fünfeinhalb Minuten eher flüssig nimmt. Geheimnisvolles, ahnungsvolle Stille wird man in dieser Interpretation indes eher nicht finden. Stimmig(er) erscheint diese Lesart im intermezzohaften zweiten Satz, obwohl hier etwa in den Takten 9 bis 16 ein ganz ähnliches Problem auftritt wie bereits im Kopfsatz der Sonate Nr. 12 beschrieben, denn auch hier nivelliert Giltburg in gleicher Weise den Unterschied zwischen Legato rechts und Staccato links. Dies ist umso irritierender, da er die entsprechenden Staccati (wiederum rechts) ab Takt 27 zum Teil überspielt. Am problematischsten erscheint mir Giltburgs distanzierter Ansatz jedoch im Finale. Exemplarisch für seine Lesart etwa, dass er das Sforzato-Gis in Takt 14 (wie auch seine Entsprechung in der Reprise) eigentlich sogar eher abschwächt als hervorhebt. Auch zum Beispiel den Zweiunddreißigstelarpeggien kurz vor Schluss geht der Charakter einer Kulmination weitgehend ab. So kommt Giltburgs Mondschein-Sonate in toto ziemlich gemäßigt daher; die Extreme, die dieses Werk kennzeichnen, das Drama, das der Schlusssatz sein kann, sind in dieser Aufnahme höchstens zu erahnen. Für mich damit die am wenigsten überzeugende Interpretation auf dieser CD.
Im Kopfsatz der Klaviersonate Nr. 15 D-Dur op. 28, der „Pastorale“, fällt auf, dass Giltburg bei einem tendenziell zügigen Grundtempo relativen großzügigen Gebrauch von Rubato macht. Auf diese Weise hebt er zum Beispiel das vorsichtige Tasten im Pianissimo ab Takt 63 mit an Pizzicati gemahnenden Staccato-Vierteln in der linken Hand sehr schön hervor, aber auch das langsame „Entstehen“ des zweiten Themas wie im Fluss kommt gut zur Geltung. Die Grundhaltung ist lyrisch, aber Giltburg behält sich immer wieder punktuelle Steigerungen vor; das Crescendo kurz vor dem Ende (ab Takt 446) kostet er deutlich aus. Fließend gestaltet er auch große Teile des zweiten Satzes. Ähnlich wie bereits zuvor bemerkt ist allerdings die Artikulation nicht immer konsequent; von einem sempre staccato in der linken Hand wie von Beethoven zu Beginn gefordert kann nicht immer die Rede sein, und beim Dreitonsignal, das den D-Dur-Teil durchzieht, verzichtet Giltburg offenbar bewusst sogar auf jegliches Staccato und interpretiert dieses Motiv fast burschikos. Stringenter gestaltet ist das Scherzo, im Trio hätte Giltburg allerdings die wechselnde Begleitung in der linken Hand etwas stärker in den Vordergrund stellen können. Gut gelungen auch das von Giltburg insgesamt entspannt und mit Sinn für Bukolik interpretierte Finale. Ähnlich wie in der Mondschein-Sonate nimmt Giltburg auch hier einige Sforzati eher zurückhaltend, was in diesem Kontext aber weniger problematisch erscheint.
Natürlich ist die Anzahl der Aufnahmen von Beethovens Klaviersonaten enorm, und entsprechend könnte die Konkurrenz zu Giltburgs Aufnahmen größer kaum sein. Anhand der vorliegenden CD würde ich seine Einspielungen nicht in der Spitze verorten. Wohl aber erhält man gute bis sehr gute, hörens- und bei aller Detailkritik insgesamt empfehlenswerte Aufnahmen dieser Werke, deren Stärken weniger im Abgründigen als eher im Lebhaften, Agilen, Diesseitigen liegen. Der Klang ist ordentlich, aber nicht überragend, da eher gedeckt als räumlich-durchhörbar.
Die dritte Folge der hochengagierten Naxos-Serie „History of the Russian Piano Trio“ widmet das Moskauer Brahms Trio den Komponisten Alexander Borodin, César Cui und Nikolai Rimsky-Korsakow. Zumindest eine gewichtige Entdeckung ist darunter.
Das Moskauer Brahms Trio (Nikolai Sachenko, Violine; Kirill Rodin, Cello; Natalia Rubinstein, Klavier) hat mittlerweile die erste Serie der Geschichte des russischen Klaviertrios, bestehend aus fünf Naxos-CDs, die der Romantik/Spätromantik gewidmet sind, abgeschlossen. Wenn man auf die Webseite der Künstler geht, scheint aber zumindest geplant zu sein, zwei weitere Staffeln folgen zulassen, wohl mit Trios aus dem sogenannten „Goldenen Zeitalter“ (ein Begriff, der sich historisch nicht so ganz eindeutig von der Literatur auf die Musik übertragen lässt) und solchen der Sowjetzeit bis heute. Das wäre zu begrüßen, denn die bisher vorliegenden Aufnahmen können sämtlich überzeugen – nicht nur programmatisch, wobei sich die CDs jeweils mit einer noch genauer eingrenzbaren musikhistorischen Situation und deren Protagonisten beschäftigen, und neben einigen Klassikern wie Tschaikowsky oder Tanejew kaum bekanntes oder gar gänzlich unbekanntes Repertoire ans Licht bringen. Die Interpretationen selbst sind auf erfreulich hohem Niveau, reichen selbst bei den häufig zu hörenden Werken an die Spitzeneinspielungen heran.
Die dritte CD der Reihe nimmt nun die Klaviertrio-Beiträge des „Mächtigen Häufleins“ unter die Lupe. Bei den fünf nationalistisch gesinnten Novatoren fällt auf, dass die Kammermusik dort keine – im Falle Mussorgskys – bzw. nur eine untergeordnete Rolle spielt. Balakirew schrieb nichts für Klaviertrio, und die drei hier vorgestellten Werke von Borodin, Rimsky-Korsakow und Cui zeugen von einem zumindest nachlässigen Umgang selbst ihrer Schöpfer mit ihnen. César Cuis kurzes Farniente ist lediglich die Bearbeitung des zweiten Klavierstücks aus dem Zyklus À Argenteau op. 40, und wäre dabei ein liebenswerter Beitrag Pariser Salonmusik – Cuis Vater war Franzose –, allerdings mit einer Generation Verspätung. Die einschmeichelnde, fast süßliche Melodik bringt das Brahms-Trio mit Delikatesse herüber, ohne ins Kitschige abzugleiten.
Das frühe D-Dur-Trio Borodins – entstanden zwischen 1850 und 1860 – war entweder unvollendet, oder das Finale ist verschollen. Klar, dass ihm als Fragment der Weg in den Konzertsaal versperrt blieb. Hierbei handelt es sich bereits um ein musikalisch hochwertiges Stück, das noch stark an Mendelssohn orientiert ist und kaum etwas von Borodins späterer Farbigkeit erahnen lässt – als Tonkonserve trotzdem ein echter Hinhörer.
Eine ganz andere Nummer ist das gewichtige, über 40 Minuten dauernde Klaviertrio c-Moll Rimsky-Korsakows. Warum der Komponist das Stück aus seiner intensivsten Schaffensperiode (1897), in der er sich hingegen fast ausschließlich der Oper widmete, geringschätzte und es selbst nicht ganz bis zur Druckreife vollendete, bleibt unverständlich. Wir können froh sein, dass sein Schwiegersohn Maximilian Steinberg – als Komponist erst seit den 1990ern wieder im Gespräch – das Trio 1939 fertiggestellt hat. Getrost könnte man hier von einem Meisterwerk sprechen, das nur noch erstaunlich wenig von der national-gefärbten Grundhaltung des „Mächtigen Häufleins“ erkennen lässt. Vielmehr hören wir Kammermusik, die sich ganz bewusst in eine lange Tradition stellt, die von Beethoven (Kopfsatz) über zwei hochromantische Sätze bis zu einem ausufernden Finale mit einer mehrfach unterbrochenen, komplexen Fuge reicht. Wollte Rimsky-Korsakow hier Tanejews Postulat einer „eigenen nationalen Musik“ [„Was sollen die russischen Komponisten tun?“ (1879)], die nur durch kontrapunktische Auseinandersetzung mit dem russischen Lied denkbar sei, gerecht werden?
Jedenfalls nimmt das Brahms Trio Rimsky-Korsakows Komposition völlig ernst, lässt die Bezüge zur Tradition hörbar werden, aber auch, dass der Komponist hier einen konsistenten, persönlichen Beitrag zur Geschichte des Klaviertrios in Russland geschaffen hat. Der erste Satz verbindet recht klassische Formung mit der elegischen Stimmung, die man etwa aus Rachmaninows großem, zweiten Trio kennt, das ein paar Jahre zuvor entstand; und das lange Finale gelingt absolut überzeugend. Das Stück hätte so heute durchaus das Zeug, selbstverständlich ins Repertoire zu gehören. Klanglich spielen die drei Künstler sehr differenziert; da, wo es die Partituren verlangen, andererseits homogener als manches aus Superstars quasi ad hoc zusammengestellte Klaviertrio. Die Dynamik wird öfters für eine bessere Durchhörbarkeit zurückgenommen; die Emotionalität und erkennbare Empathie für diese Wiederentdeckungen leiden jedoch nicht darunter. Die Aufnahmen aus dem berühmten Konzertsaal des Moskauer Konservatorium sind keine Großtat, was Räumlichkeit betrifft; das Klangbild findet dabei eine sehr angenehme Balance zwischen Hall und Durchsichtigkeit – insgesamt äußerst gelungen. Wer seinen Horizont in Sachen russischer Kammermusik erweitern möchte, sollte hier auf jeden Fall zugreifen.
Für Naxos hat Christophe Dejour (Gitarre) eigene Transkriptionen von Werken Carlo Gesualdos, Johann Sebastian Bachs, Alban Bergs und Béla Bartóks eingespielt.
Der dänische Gitarrist Christophe Dejour hat sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten einen guten Ruf als Bearbeiter erworben, der dem Repertoire für sein Instrument mehrere Meisterwerke hinzugewonnen hat. So arrangierte er für das von ihm mitbegründete Trio Campanella Isaac Albéniz‘ Iberia und Enrique Granados‘ Goyescas für drei Gitarren. Den bei Naxos erschienenen Einspielungen dieser beiden Zyklen durch das Trio Campanella hat Dejour nun sein erstes Solo-Album folgen lassen. Unter dem Titel The Art of Classical Guitar Transcription präsentiert er eigene Arrangements vierer Kompositionen, die in verschiedenen Epochen für verschiedene Instrumente geschrieben wurden: Carlo Gesualdos Canzon Francese del Principe (eines der wenigen Werke, die der Madrigalfürst für ein Clavierinstrument hinterlassen hat), Johann Sebastian Bachs Chromatische Fantasie und Fuge BWV 903, die Klaviersonate h-Moll op. 1 von Alban Berg und Béla Bartóks späte Sonate für Violine solo. Es werden also – dies lässt sich unschwer als Leitfaden des Programms erkennen – Komponisten zusammengebracht, die allesamt starke Harmoniker gewesen sind und mit kühnem Entdeckersinn den jeweiligen Zeitgenossen neue Gestaltungsmöglichkeiten innerhalb der tonalen Ordnung aufgezeigt haben.
In allen Bearbeitungen hält sich Dejour möglichst eng an die Vorlage und legt nur dann Stimmen um, wenn dies der verglichen mit Tasteninstrumenten geringere Tonumfang der Gitarre nötig macht. Wie sich trotz solchen Einschränkungen bemerkenswert volle Klänge realisieren lassen, zeigt sich namentlich in Dejours Übertragung der Berg-Sonate. Die Möglichkeiten des Zupfinstruments zur Wiedergabe polyphoner Musik kommen in den Gesualdo- und Bach-Transkriptionen wunderbar zur Geltung. Große Sorgfalt in der Übersetzung violintypischer Spielweisen ins Gitarrenidiom lässt sich im Fall der Bartók-Sonate feststellen. Beispielsweise hat sich Dejour, da naturgemäß der Gegensatz von Arco und Pizzicato auf der Gitarre nicht realisierbar ist, an den entsprechenden Stellen der Sonate entschieden, das normale Pizzicato durch ein deutlich weniger resonanzstarkes, das charakteristische „Bartók-Pizzicato“ (wie auf der Violine) durch ein sehr kräftiges Anreißen der Saite wiederzugeben.
Bei den Darbietungen vertieft sich Dejour intensiv in die Beschaffenheit des jeweiligen Stückes und verhilft dadurch jedem der Werke zu einem charakteristischen Klangbild, das sich von dem der übrigen deutlich abhebt. Gesualdos Canzon Francese, eine fugierte Fantasie mit virtuosen Einschüben, entfaltet sich feierlich und gelassen. Die gelegentlichen chromatischen Ausweichungen wirken nicht als aufgesetzte Effekte, sondern als natürlicher Bestandteil des Ganzen. Bachs Chromatische Fantasie gliedert Dejour klar mittels dynamischer Kontraste und passend eingesetzter Rubati. Von dem Vorteil, dass auf der Gitarre im Gegensatz zum Cembalo eine direkte Einwirkung des Spielers auf die Saite möglich ist, macht er reichlich Gebrauch und gestaltet namentlich den ariosen Schluss der Fantasie hochexpressiv. Dass die Fuge den Gitarristen vor hohe spieltechnische Herausforderungen stellt, ist in der Aufnahme gelegentlich zu hören. Dejour begegnet ihnen, indem er ein deutlich langsameres Grundtempo anschlägt als die meisten Clavierspieler und dieses durch sorgfältige Artikulation spannungsvoll belebt. Um die dissonanten Akkordtürme der Bergschen Klaviersonate möglichst umfassend darzustellen, bedient sich Dejour in diesem Stück ausgiebig des Portamentos, was den nicht unwillkommenen Nebeneffekt zur Folge hat, dass das Stück unter seinen Händen einen geradezu vokalen Charakter annimmt, dass es „singt“. Die Struktur dieses einzeln stehenden Sonatensatzes wirkt in Dejours Einspielung erfreulich klar und übersichtlich, der Verlauf wirklich prozesshaft. Wohltuend unterscheidet sich diese Aufnahme von der Auffassung der Sonate als zerklüfteter Abfolge von Einzelereignissen, als welche sie mitunter zu hören ist. Ist die Sonate Bergs eine Äußerung des Wiener Fin de Siècle, so zeigt sich in der über dreißig Jahre später entstandenen Solo-Violinsonate seines Generationsgenossen Bartók eine Haltung, die zur Musik der Jahrhundertwende, in der sie freilich wurzelt, deutlich auf Distanz gegangen ist – nicht zuletzt durch das Rekurrieren auf barocke Vorbilder. Entsprechend lässt Dejour dieses Stück rauer, „sachlicher“ klingen. Er verzichtet auf „Fülle des Wohllauts“, nicht aber darauf, die Feinheiten der Musik herauszuarbeiten. Als besonders gelungen lässt sich die Fuge hervorheben, die Dejour stringent und mit unwiderstehlichem Schwung darbietet.
Wer also hören möchte, wie sich die bekannten Clavier-, Klavier- und Violinwerke in meisterlichen Bearbeitungen auf der Gitarre ausnehmen, und dies ebenso hervorragend gespielt, der kann bedenkenlos zu dieser CD greifen. Sie zeugt eindrucksvoll von Christophe Dejours Kunstfertigkeit auf beiden Gebieten.