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Pendereckis Streichquartette in engagierter Darbietung

Naxos, 8.574288; EAN: 7 47313 42887 8

Kurz nach dem Tod des polnischen Komponisten hat das britische Tippett Quartet sämtliche Werke Krzysztof Pendereckis für Streichquartett sowie das Streichtrio auf Naxos eingespielt. Eine rundum überzeugende Darbietung.

Die Popularität der Musik Krzysztof Pendereckis (1933–2020) scheint seinen Tod zu überdauern. Bemerkenswert, dass sich die frühen, zumindest klanglich avantgardistischen Kompositionen bis zur Mitte der 1970er Jahre fast der gleichen Beliebtheit bei Musikern und Rezipienten erfreuen wie die späteren, mehr tonalen und vielfach an Traditionen der Spätromantik anknüpfenden Werke. Man muss natürlich die ab dem 1. Violinkonzert von 1977 zunehmend eklektizistische Schreibweise nicht mögen, aber Pendereckis Ausdruckskraft als solche ist kaum infrage zu stellen.

Das Schaffen für Streichquartett erscheint demzufolge zweigeteilt: Den der mehr oder weniger avantgardistischen Periode zuzurechnenden Quartetten Nr. 1 und 2 (1960 bzw. 1968) folgten 20 Jahre, in denen der Komponist bis auf kurze Gelegenheitswerke – wie das Geburtstagsständchen Per Slava für Mstislaw Rostropowitsch (Cello solo) – Kammermusik gänzlich aus dem Auge verlor. Dazu gehört wohl noch das nur zweiminütige Quartettstück Der unterbrochene Gedanke (1988). Doch mit dem Streichtrio von 1990/91 begann eine ganze Reihe teils recht umfänglicher Werke – vor allem im Jahre 2000 die zweite Violinsonate und das Sextett. Das 3. Streichquartett von 2008 „Blätter eines nicht geschriebenen Tagebuches“ dauert dann länger als die beiden ersten Quartette zusammen, wobei hingegen das 4. Quartett von 2016 wieder recht kurz gehalten ist.

Das britische Tippett Quartet besteht bereits seit 1998, hält in seinem Repertoire eine gute Balance zwischen Althergebrachtem und Musik der letzten hundert Jahre, und hat für verschiedene Labels bislang ca. 30 CDs eingespielt. Beim ersten Quartetto per archi Pendereckis, dessen Beginn durch eine Vielzahl unterschiedlichster – oft vordergründig geräuschhafter – Spieltechniken geprägt ist, wobei unterschwellig zunehmend musikalische Spannung aufgebaut wird, ist die alte DG-Aufnahme mit dem LaSalle Quartet nach wie vor unerreicht. Das phänomenal klug disponierende Ensemble frisst sich in derart hinreißender Weise durch den Geräuschdschungel, hin zu der folgenden, ruhiger ablaufenden Sphäre, rhythmisch bis ins letzte Detail überzeugend, dass dies so anscheinend weder halbwegs nachzuahmen, geschweige denn zu toppen ist. Hier schlägt sich das Tippett Quartet wacker, bleibt freilich dynamisch zu undifferenziert, um eine Entwicklung anzudeuten – im letzten Teil fühlt man sich offensichtlich wohler. Schon beim zweiten Quartett wirkt die Imagination dieser anfangs erneut irritierenden Klangwelten viel schlüssiger; alles fügt sich in ein vorausgedachtes Konzept, das Ideen von Ligeti aufnimmt, gleichzeitig etwa Anspielungen an das Capriccio per Siegfried Palm für Solocello aus demselben Jahr bereithält.

Das dritte Quartett ist eine völlig andere Welt: Nicht wirklich Neo-Romantik, jedoch mit tonalen Wurzeln und Quasi-Zitaten jüdischer Melodik. Somit ist diese Musik, die offen und scheinbar zu früh endet, viel näher an den autobiographisch geprägten Streichquartetten Schostakowitschs dran als am Penderecki der 1960er. Hier zeigt das Tippett Quartet seine ganze Stärke: Emotional dicht, dabei ergreifend ohne zu romantisieren – wie es das polnische Royal String Quartet in seiner Aufnahme von 2012 über weite Strecken macht. Knapp und klanglich deutlich ausgedünnter gibt sich das letzte Quartett, das aus einem einleitenden Andante von nur anderthalb Minuten und einem 4½-minütigen Vivo mit konsequent motivischer Arbeit besteht, und eine ebenso abgerundete Darbietung erfährt.

Die eigentliche Überraschung der CD ist allerdings das Streichtrio von 1991: Was für ein beeindruckender, engagierter Vortrag! Zwar benutzt Penderecki auch hier wieder die für ihn – nicht erst in den gemäßigten Werken der Spätphase – so typischen Intervallfolgen über Gebühr, was schnell ermüden könnte; trotzdem ist das zweisätzige Stück äußerst spannungs- und beziehungsreich, lässt dem Zuhörer in seiner Direktheit kaum Zeit zum Atmen: pure Ausdrucksmusik, fast etwas altmodisch. Insgesamt gelingt den technisch perfekten Briten eine durchaus gelungene Werkschau von Pendereckis Beschäftigung mit dem Genre. Da die Aufnahmetechnik untadelig ist und der Booklettext vom erfahrenen Richard Whitehouse kompakt und informativ, verdient das Album eine klare Empfehlung.

Vergleichsaufnahmen: [Streichquartett Nr. 1] LaSalle Quartet (DG 423 245-2, 1967); [Streichquartette Nr. 1-3] Royal String Quartet (Chandos CDA67943, 2012)

[Martin Blaumeiser, Dezember 2021]

Tägliche Liebe zur Musik

Ein Interview mit dem Pianisten Andrea Vivanet

Der Sarde Andrea Vivanet ist ein herausragender Pianist, ausgestattet mit einer Makellosigkeit der Technik, die atemberaubend ist, und dies gepaart mit künstlerischen Werten, die man fast schon als verloren glaubte. Sein Spiel ist geprägt von einem eigenen, spezifischen Tonfall, den man unter Hunderten Pianisten wiederzuerkennen meint, der Vivanet aber nicht daran hindert, sich den von ihm ausgewählten Werken mit vorbildlicher Vorbereitung und akribischer Partiturarbeit zu nähern.

Russische Musik hat in seiner bisherigen Laufbahn eine große Rolle gespielt und war Bestandteil von drei seiner bislang insgesamt vier Albumaufnahmen. Daher ist es nur konsequent, dass sich der Künstler nun mit einem Album zurückmeldet, das ausschließlich russische Musik zum Inhalt hat. Als Russian Album ist es nun beim Münchner Label Aldilà Records erschienen (siehe auch diese Rezension).

Anlässlich der Veröffentlichung hatte René Brinkmann die Gelegenheit, mit Andrea Vivanet zu seinem neuen Album, aber auch zu vielfältigen Themen in den Bereichen Musik, Karriereaufbau und Gesellschaft zu sprechen.

The New Listener (TNL): Herr Vivanet, mit Ihrem Russian Album veröffentlichen Sie nun bereits Ihr viertes Album beim vierten Label. Wie ist es dazu gekommen?

Andrea Vivanet (AV): Ich würde sagen, dass meine diskografische Erfahrung als ein schrittweiser Prozess unter zwei verschiedenen Aspekten betrachtet werden kann. Einerseits habe ich sicherlich gelernt, wie man sich nach und nach auf eine Aufnahme vorbereitet. Das ist etwas ganz anderes, als die Vorbereitung auf ein Konzert. Ich kann mich zum Beispiel an meine erste Aufnahme nicht als etwas erinnern, auf dass ich vollkommen vorbereitet gewesen wäre, aber ich hatte das Gefühl, dass ich mit der Zeit immer mehr Selbstvertrauen gewann. Andererseits hat mir bisher jede Aufnahme geholfen, neue Leute kennenzulernen und als Nebeneffekt auch mit neuen Labels in Kontakt zu kommen.

TNL: Auf dem neuen Album kombinieren Sie bekannte mit weniger bekannten Werken, verbinden Schostakowitsch mit Tscherepnin und Tanejew. Wie kam das Programm zustande? Die Liner Notes im Booklet lassen vermuten, dass dieser Zusammenstellung ein langwieriger Auswahlprozess vorausgegangen ist?

AV: Wie Sie genau richtig sagen, wurde das Programm Stück für Stück mit dem Produzenten und Dirigenten Christoph Schlüren, abgesprochen. Wir hatten die Idee, gemeinsam ein Album zu konzipieren. Mein erster Vorschlag, die 24 Schostakowitsch-Préludes op. 34, wurde von Herrn Schlüren freudig angenommen, der daraufhin anregte, ein durchweg russisches Programm rund um die Schostakowitsch-Préludes aufzubauen.

Ich nahm seinen Vorschlag, das Tanejew-Präludium und die Fuge zu lernen, ziemlich schnell an, da Tanejew einer jener russischen Komponisten ist, die sich vor allem für die Polyphonie interessierten, und daher dachte ich, dass dies eine interessante Verbindung zu Schostakowitsch sein könnte, auch wenn es stilistisch ziemlich weit von Schostakowitsch entfernt ist (vergessen wir aber dabei nicht, dass die Préludes op. 34 viele polyphone Elemente im gesamten Zyklus enthalten, darunter eine kurze dreistimmige Fuge – das Prélude Nr. 4). Am Ende entschieden wir uns dazu, Tscherepnin zwischen Tanejew und Schostakowitsch aufzunehmen, und zwar aus zwei Gründen: Wir wollten einige Werke präsentieren, die bisher noch nicht aufgenommen wurden, und wir dachten, dass die Tatsache, dass Tscherepnin mehr stilistische Zeiträume durchschritt, eine schöne Brücke zwischen Tanejew und Schostakowitsch sein würde, da seine frühen Préludes mit der spätromantischen Tradition verbunden sind und seine Primitifs eine Öffnung zu einer neuen, modernen Sprache darstellen.

TNL: Besonders die Préludes, Morceaux und Primitifs von Nikolai Tscherepnin sind eine große Entdeckung. Musik von großer Schönheit, aber auch großer kompositorischer Kunstfertigkeit. Wie sind Sie auf diese selten gespielten und nie zuvor aufgenommenen Stücke aufmerksam geworden?

AV: Ich kannte die Musik von Tscherepnin nicht und wurde neugierig auf seine Kompositionen, als mir der Produzent vorschlug, die Préludes op. 17 zu lesen. Daraufhin beschloss ich, weitere Werke zu erforschen, und setzte mich mit der Tscherepnin-Gesellschaft in Verbindung. Der Vizepräsident David Witten, Pianist und Professor an der J. Cali School of Music, Montclair State University, der sehr wichtige Werke von Nikolai Tscherepnin aufgenommen hat, war eine wirklich wertvolle Unterstützung: Dank Herrn Witten hatte ich die Möglichkeit, an die Noten einiger Werke wie die der Primitifs zu kommen, die wirklich nicht leicht zu finden sind. David Witten war auch eine Quelle der Inspiration, da er mich über interessante Fakten zu Tscherepnins Leben informierte. Ich möchte auch die Gelegenheit nutzen, um der Tscherepnin-Gesellschaft zu danken, die als Sponsor zu dieser Veröffentlichung beigetragen hat.

TNL: Während sich Ihre ersten beiden Alben mit einem weithin bekannten Repertoire befassten, sind Sie mit Ihrem letzten Album bei Naxos (Szymanowski) und dem jetzt bei Aldilà Records erschienenen Russian Album einen anderen Weg gegangen und haben sich vor allem weniger bekannten Werken gewidmet. Ist das der Weg, den Sie jetzt weitergehen wollen?

AV: Ich würde nicht sagen, dass ich das Ziel habe, ein Spezialist für weniger bekanntes Repertoire zu werden – es sei denn, ich stoße auf meinem Weg auf Meisterwerke, die aus irgendwelchen Gründen von den Musikern vernachlässigt wurden –, aber ich erhebe keinen Anspruch auf eine besondere Rolle, etwa als Pionier des weniger gespielten Repertoires oder ähnliches.

TNL: Das Album wurde im großen Saal des georgischen Staatskonservatoriums in Tiflis aufgenommen. Haben Sie diesen Aufnahmeort bewusst gewählt, weil Tscherepnin mehrere Jahre in Tiflis gelebt und gearbeitet hat?

AV: Das war eher ein Zufall, da ich selbst seit November 2020 in Georgien lebe, aber ich würde sagen, dass es eine glückliche Wahl war: Der Konzertsaal ist sehr inspirierend und der Steinway dort ist einfach fantastisch. Der Tontechniker der Aufnahme, Paul Kavtchadze, ist ein wunderbarer Musiker und Mensch, dem ich für seine großartige Arbeit und Unterstützung sehr danken möchte.

TNL: Gibt es in Tiflis heute noch ein allgemeines Gedenken an Nikolai Tscherepnin?

AV: Im Museum des Konservatoriums (wo es übrigens auch ein Klavier gibt, das Sergej Rachmaninow gehörte) gibt es einen Teil, der Tscherepnin gewidmet ist, dennoch habe ich seine Musik bisher nicht in Konzertprogrammen gesehen (vielleicht habe ich sie auch nur übersehen). Es gibt jedoch einen jungen, brillanten Musikwissenschaftler, den ich grüßen möchte – ich entschuldige mich für die vielen Grüße (lacht) – Lasha Gasviani, der Artikel und ganze Dissertationen über die Musik von Tcherepnin im Zusammenhang mit der georgischen Musikkultur/dem georgischen Erbe veröffentlicht.

TNL: Auch Tschaikowsky und andere russische Komponisten besuchten Tiflis, und einige von ihnen gaben auch Konzerte oder hielten sich längere Zeit dort auf. Und dann sind da noch die großen georgischen Komponisten, die man nicht vergessen sollte, wie Kantscheli oder Chatschaturjan. Wie muss man sich Tiflis also vorstellen? Gibt es eine kulturelle Szene, die dieses Erbe der Vergangenheit pflegt und fördert?

AV: Absolut ja, ich habe mehrmals gesehen, wie georgische Musiker georgische Komponisten aufgeführt haben. Ich selbst habe einige interessante Werke von Otar Taktakischwili gelesen (ich habe gerade entdeckt, dass er eine Zeit lang bei Schostakowitsch studiert hat). Wer weiß, vielleicht nehme ich in Zukunft einige Werke von Taktakischwili in mein Repertoire auf, obwohl es im Moment noch zu früh ist, um das zu sagen – ich arbeite ohnehin schon an zu vielen neuen Stücken.

TNL: Sie haben Ihr gesamtes Klavierstudium mit Auszeichnung abgeschlossen, Sie haben einige der renommiertesten Klavierwettbewerbe gewonnen, doch trotzdem sind Sie – zumindest in Deutschland – selten im Konzert zu hören. Ist der deutsche Markt einfach besonders schwer zu „knacken“ oder treten Sie lieber woanders auf?

AV: Ich würde gerne in Deutschland auftreten, aber ich kann nicht wirklich sagen, warum es noch nicht passiert – vielleicht hat es die letzte Zeit mit den vielen Einschränkungen nicht einfach gemacht, also ziehe ich lieber keine voreiligen Schlüsse und warte ab, welche Möglichkeiten sich in der nächsten Zeit ergeben.

TNL: Was ist Ihre Meinung: Ist der Gewinn eines prestigeträchtigen Wettbewerbs heute keine Garantie mehr für eine Karriere? Wie waren Ihre bisherigen Erfahrungen bei der Suche nach einem Management- oder Labelvertrag?

AV: Zu Wettbewerben kann ich mich nicht wirklich äußern, da ich selbst nicht an vielen teilgenommen habe. Vielleicht ist es immer noch eine gute Möglichkeit, eine Karriere aufzubauen. Die Frage ist, ob es sich lohnt, eine Karriere durch Wettbewerbe zu erreichen oder nicht, und meine Antwort ist: Es kommt darauf an, es ist individuell. Ich möchte niemanden in die eine oder andere Richtung drängen. Sicherlich könnte ich mich wie ein Moralist aufführen und sagen, dass Wettbewerbe zwangsläufig negativ sind, dass sie dazu führen, dass Musiker mechanisch spielen, da sie zu oft einem übermäßigen Druck ausgesetzt sind (was vielleicht sogar stimmt), aber: trifft das auf alle zu? Hatten wir nicht auch erstaunliche Künstler, die an Wettbewerben teilgenommen haben? Sicherlich haben wir das.

Ich kann also nur sagen: Jeder muss alles tun, was im Rahmen seiner Fähigkeiten, Grenzen und Möglichkeiten seine künstlerische Integrität nicht gefährdet. Wenn ihr das Gefühl habt, dass ihr die Kraft habt, an Wettbewerben teilzunehmen, ohne in Routine zu verfallen, dann macht sie! Warum nicht? Es wird eine Gelegenheit sein, eure Musikalität mit eurem Publikum zu teilen, dank der Engagements, die ihr bekommen könnt. Wenn Ihr das Gefühl habt, dass sie Eure innere Musikalität verarmen lassen, dann lasst die Finger davon! Es ist besser, um einige Möglichkeiten zu kämpfen, als zu verderben, was spirituell ist. Das ist immer das Wichtigste.

Wissen Sie, wir Musiker (aber auch die Menschen im Allgemeinen) haben ein Ego, das uns immer dazu bringt, etwas zu kritisieren, um uns rechtschaffen zu fühlen. Ich glaube, dass Wettbewerbe kein guter Weg für mich gewesen wären, aber noch einmal: das gilt nur für mich (oder Musiker mit ähnlichen Eigenheiten), in Bezug auf meine eigenen Charakteristika.

Zum Thema Management, nur zwei Worte: sehr schwierig! Ich suche derzeit nach einem in diesem Bereich, Osteuropa/Naher Osten, aber möglicherweise auch in Westeuropa. Was Aufnahmen angeht, so hatte ich einige Gelegenheiten und ich denke, dass sich in der nächsten Zeit weitere Gelegenheiten ergeben werden.

TNL: Man kann auch ein wenig boshaft fragen: Gibt es vielleicht einfach zu viele Pianisten auf dem „Markt“? Sollte man bei der Auswahl von Pianisten an der Universität vielleicht weniger auf die technische Komponente achten (denn technisch haben selbst sehr junge Musiker heute oft ein ganz erstaunliches Niveau), sondern vielleicht mehr auf die Persönlichkeit eines Künstlers, bis hin zu dem Punkt, dass sie zum entscheidenden Aspekt wird, ob ein Künstler an der Universität zugelassen wird oder nicht?

AV: Auch wenn ich bei dieser Frage nicht wertend sein möchte, werde ich kurz (und vielleicht scharf, pardon) darauf antworten und sagen, dass die Auswahl wahrscheinlich eher unter den Lehrern als unter den Studenten getroffen werden müsste. In jungen Jahren sind eigentlich alle Richtungen offen, aber wenn die Lehrer ihren Schülern nur die Werte Erfolg, übermäßiger Ehrgeiz, Wettbewerb usw. vermitteln, werden sie genau das aufnehmen und glauben, dass es in der Musik nur darum geht. Vielleicht werden einige der Schüler eine natürliche „Erleuchtung“ haben, aber viele andere werden in die Irre geführt, obwohl sie wahrscheinlich die wichtigsten Aspekte der Musik erkennen könnten, wenn sie richtig unterrichtet würden, und vor allem von jemandem, der die Musik über alles andere stellt.

TNL: Sie geben selbst Meisterkurse und bilden junge Pianisten aus. Welche Ratschläge geben Sie diesen jungen Menschen für ihre zukünftige Karriere? Was sollte man tun, was sollte man vermeiden?

AV: Das ist schwer zu sagen. Das Beste, was ich tun kann, ist, meine Ratschläge mit mir selbst zu teilen. Ich sage mir: Es ist wichtig, ein Gleichgewicht zwischen Zielen und zukünftigen Erfolgen und dem, was in der Gegenwart oder in der jüngsten Vergangenheit liegt, zu finden. Wenn ich nur für das Erreichte lebe, dann ist es mit dem Glück vorbei: Ich verbringe einige leere Monate meines Lebens für das kurze Vergnügen dieses zukünftigen Tages eines Erfolges – was auch immer es sein mag, eine stehende Ovation, ein Artikel in der New York Times usw. Dann muss ich die Voraussetzungen für den nächsten Erfolg schaffen, weil ich plötzlich nichts mehr habe, was mich in der Gegenwart ausfüllt.

Im Grunde ist es das, was z. B. die neuen Plutokraten des Internets mit ihren Milliarden machen: totale Leere und Frustration, bis sie die nächste Milliarde verdienen. Diese Dimension nun auf etwas so höchst Spirituelles wie die Musik anzuwenden, ist ziemlich traurig. Nur ein krankes Wirtschaftssystem könnte es schaffen, sogar die Künste in diese leere Dimension zu verwickeln. Das hat Auswirkungen auf das alltägliche Leben, und das ist furchtbar traurig bei etwas wie Musik, die ein Grund zur Freude sein sollte, wann immer wir uns ihr widmen.

Aber wir sind natürlich keine Hedonisten, und wir brauchen Ziele, auch, um unserem Studium eine Struktur zu geben. Das ist nicht einfach; und da wir Menschen sind, sind schöne Erfolge und Rückmeldungen auch sehr willkommen. Das ist es also, was ich mit dem Gleichgewicht zwischen der Gegenwart/Vergangenheit und den zukünftigen Errungenschaften meine: zukünftige Ziele, um eine Richtung zu haben und gute Ergebnisse zu erzielen, aber nur nach täglicher Liebe zu jeder Seite der Musik, die wir berühren, das ist das Wichtigste (unsere Gegenwart und Vergangenheit). Das Leben wird entscheiden, welche Möglichkeiten wir bekommen und welche nicht, aber in der Zwischenzeit werden wir das wichtigste Geschenk in uns tragen: die Musik.

TNL: Im Booklet gibt es ein Zitat von Ihnen, das ich persönlich sehr treffend und im Zusammenspiel mit der Musik von Tscherepnin auch sehr berührend finde: Sie schreiben, die Musik von Tscherepnin sei für Sie wie ein Abschied von einer Epoche: als ob er wüsste, dass er sich von einer Zeit verabschiedet, die nicht wiederkommen wird. Passt diese Musik deshalb auch so gut in unsere Zeit, weil wir uns auch heute im Rekordtempo von Werten und Errungenschaften verabschieden, die immer weniger geachtet werden und denen immer weniger Wert beigemessen wird?

AV: Ich glaube, sie passt – auch wenn bei Tscherepnin diese nostalgische Dimension voller Hoffnung und Neugier auf neue Entdeckungen ist. Ich fürchte, dass bestimmte große Seiten von Schostakowitsch – im innersten kalt und ohne Hoffnung – viel besser in unsere Zeit passen.

TNL: Tscherepnin und seine Zeitgenossen reagierten auf die Veränderungen und Herausforderungen ihrer Zeit mit Ohnmacht und Melancholie. Das war ja aber auch immerhin eine Art Gemeinsamkeit. Ich habe das Gefühl, dass die Künstler heute angesichts der immensen Herausforderungen, vor denen wir stehen, noch nicht zu einer gemeinsamen Antwort gefunden haben. Wie gehen Sie persönlich mit den Veränderungen in Kultur und Gesellschaft um?

AV: Ich stimme Ihnen vollkommen zu. Es gibt ein Gefühl der Verlorenheit, keine gemeinsame Richtung und viele verschiedene Erscheinungsformen der Kreativität, die sich nicht mehr gegenseitig inspirieren, wie es zu Beginn des 19. Jahrhunderts der Fall war. Strawinsky inspirierte zum Beispiel andere Komponisten, die seine Ästhetik aufgriffen und sie in eine klassische symphonische Dimension brachten, und wir könnten noch viele andere Beispiele anführen. Wenn dies heute nicht mehr der Fall ist, liegt das wahrscheinlich daran, dass Erfolg und Sensationslust ein größeres Ziel geworden sind als der Versuch, Musik für Komponisten und Interpreten zu machen – wieder einmal wegen der Konsumgesellschaft. An die Stelle von Ohnmacht und Melancholie sind Aggressivität und Konkurrenzdenken getreten.

Generell glaube ich, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der es darauf ankommt, was wir erreicht haben und nicht, wie wir es erreicht haben, und diese Perspektive betrifft auch den Bereich der Kunst (natürlich nicht immer, zum Glück).

Ich persönlich gehe mit jedem aktuellen gesellschaftlichen Phänomen nur auf eine Weise um: mit Begeisterung für das, was ich Tag für Tag tue.

TNL: Zum Schluss noch eine Frage zu Ihren Plänen für die Zukunft: Was planen Sie in den kommenden Wochen und Monaten? Gibt es irgendwelche besonderen Konzerte oder sogar schon Pläne für eine weitere Albumaufnahme?

AV: Was das tägliche Leben betrifft, so bin ich froh, hier in Tiflis einige Privatschüler zu haben, und ich hoffe, dass ich bald weitere haben werde.

Ich arbeite an einem neuen Repertoire, das mehrere Werke von Sweelinck, Chopin, Mozart, die Grieg-Ballade und Holberg-Suite sowie die zweite Sonate von Schostakowitsch umfasst. Derzeit gibt es keine konkreten Pläne für eine neue Aufnahme.

Was Konzerte angeht, so ist für das Frühjahr 2022 ein Rezital im Großen Saal des Konservatoriums von Tiflis geplant, und ich warte auf einen Termin für ein Konzert in Jerewan im Rahmen der Solistensaison des Armenischen Symphonieorchesters.

Ich freue mich auch, dass man mich kontaktiert hat, um zwei Konzerte in Frankreich, in Lille, für zwei Klavierfestivals 2022 zu geben. Und natürlich warte ich noch auf einige andere Antworten für die kommenden Monate. Bis dahin freue ich mich auf die kommenden Konzerte!

[Das Interview führte René Brinkmann]

Brahms auf der Flöte: ein Interview mit Karl-Heinz Schütz und Maria Prinz

Karl-Heinz Schütz, Soloflötist der Wiener Philharmoniker, hat die beiden Sonaten op. 120 von Johannes Brahms, ursprünglich Klarinettensonaten, dann vom Komponisten für Viola und Violine bearbeitet, für die Flöte eingerichtet. Zusammen mit der Pianistin Maria Prinz hat er für Naxos diese Bearbeitungen samt einigen Transkriptionen Brahmsscher Lieder eingespielt. The New Listener sprach mit beiden über ihre neue CD.

Wie kam es zu der nicht alltäglichen Idee, die Klarinettensonaten von Brahms in einer Fassung für Flöte und Klavier aufzunehmen?

Karl-Heinz Schütz: Brahms war, durch die Begegnung mit dem Klarinettisten Richard Mühlfeld, offensichtlich von der Klarinette fasziniert und hat somit für ein Blasinstrument komponiert und gedacht. Die Flöte befand sich zur damaligen Zeit in einem Dornröschenschlaf. Aus diesem hat sie erst Debussy wachgeküsst! Die ganze Musikgeschichte, insbesondere im 19.Jahrhundert, ist voll von Bearbeitungen. Von Brahms selbst liegen Versionen dieser Sonaten für Klarinette, Viola und Violine vor: drei sehr unterschiedliche Timbres für dieselbe Musik. Ich denke mit der Flöte einfach konsequent den brahmsischen Gedanken weiter.

Maria Prinz: Mit Karl-Heinz Schütz zu musizieren, ist für mich in den 10 Jahren unserer Zusammenarbeit immer ein musikalisches Erlebnis der Sonderklasse gewesen, inspirierend und beglückend. Seine Idee, die Sonaten op. 120, die zu den Stücken gehören, mit denen ich mich im Laufe meines Musikerlebens besonders oft und ausführlich beschäftigt habe, auf der Flöte zu spielen, war eine sehr willkommene Chance, diese Werke unter einem ganz neuen Blickwinkel zu sehen und zu interpretieren.

Sie haben die Klarinettensonaten schon häufig interpretiert, auch bereits aufgenommen. Was gefällt Ihnen an der neuen Fassung für Flöte besonders?

Maria Prinz: Die Sonaten op. 120 gehören zum Spätwerk des Komponisten und zeichnen sich durch eine gewisse herbstliche Färbung, besonnene Ruhe und leise Zwischentöne aus, die der Klangcharakteristik der Flöte in hohem Maße entsprechen; besonders wenn der Flötist, wie im Fall von Karl-Heinz Schütz, über einen so wandlungsfähigen und farbenreichen Klang verfügt. Ich bemühe mich bei jeder neuerlichen Begegnung mit Werken, die mir sehr vertraut sind, weitere Aspekte und Nuancen zu entdecken, und diese Version hat mich dazu sehr motiviert und inspiriert.

Karl-Heinz Schütz: Es war besonders inspirierend, diese Musik mit Maria Prinz aufzunehmen, die diese Musik viel länger als ich kennt!

Es gibt Komponisten, denen man nachsagt, sie hätten die Flöte nicht besonders gemocht. Mozart zum Beispiel. Wie verhält es sich mit Brahms?

Karl-Heinz Schütz: Ich denke, Brahms hatte die Flöte als Soloinstrument aus verschiedenen Gründen nicht auf dem Radar. Die wesentlichen instrumentenbautechnischen Veränderungen hatten noch keine goldene Ära mit hervorragenden Spielern hervorgebracht, wie es etwa dann 20 bis 30 Jahre später in Paris der Fall war. Dennoch spielen Flötenklang und Flöte als wesentliche Farbe in seiner Sinfonik eine zentrale Rolle, wie im Übrigen auch bei Mozart.

Die Brahms-Lieder auf dem Album in Fassungen für Flöte und Klavier zu hören, ist zum Teil sehr überraschend. Die Lieder scheinen so komponiert zu sein, dass sie auch ohne Text eine Botschaft in sich tragen. Waren Sie auch selbst überrascht davon, wie gut diese Kompositionen ohne Stimme funktionieren?

Karl-Heinz Schütz: Da ich als Flötist immer den Gesang und die menschliche Stimme als Ausdruck zum Vorbild habe, begleiten mich solche „Lieder ohne Worte“ schon mein Flötisten-Leben lang. Es ist schön, dass wir jetzt eine Auswahl davon auf dieser CD vorliegen haben.

Maria Prinz: Ich konnte mir von Anfang an gut vorstellen, dass die Version für Flöte und Klavier gut funktioniert. Es gibt die berühmte Bearbeitung von Schubert-Liedern von Theobald Böhm, die sehr beliebt bei Interpreten und Publikum sind, und ich bin sehr glücklich, dass das auch in unserer Fassung der Brahms-Lieder der Fall ist. Die ganz großen Komponisten sagen oft durch ihre musikalische Umsetzung der Poesie noch mehr als der Text uns mitteilt. Sie vertiefen die emotionale Wirkung, oder hinterfragen sogar manche Inhalte.

Wir haben uns auch bewusst dagegen entschieden, den Text der Lieder im Booklet abzudrucken, um dem Zuhörer den Freiraum für eigene, allein von der Musik inspirierte Assoziationen, zu geben.

Ist es eigentlich einfach oder schwierig, die Gesangs-Phrasierung der Lieder auf die Flöte zu übertragen, weil ja beide „Instrumente“ (Gesang und Flöte) durch Atemtechnik „gesteuert“ sind? Oder war dies am Ende gar nicht das Ziel?

Karl-Heinz Schütz: Ich finde, die Übertragung liegt in der Natur der Sache. Es erscheint mir ganz natürlich, da Gesang und Flötenspiel unglaublich viele Gemeinsamkeiten haben, wie z.B. die Atmung und Stütztechnik, ebenso das Vibrato. Naturgemäß entfallen die Worte und es entsteht ein Lied ohne Worte.

Und wie verhält es sich mit der Übertragung der Klarinettenphrasierung auf die Flöte?

Karl-Heinz Schütz: Das ist ein ähnliches Phänomen wie beim Gesang: die Gemeinsamkeiten sind frappierend. Für den Zuhörer ergibt sich vor allem ein unterschiedliches Klangbild.

Welche Herausforderungen ergeben sich für das Klavier?

Maria Prinz: Mein Credo ist immer gewesen, nicht einen universal verwendbaren Klavierklang anzubieten, sondern auf die klanglichen Besonderheiten meiner jeweiligen Kammermusikpartner einzugehen und Farben zu finden, die sich in einigen Passagen so perfekt mit dem Klang des anderen Instrumentes vermischen, dass beide eine Einheit bilden oder aber den vom Komponisten gesuchten Kontrast liefern. Für mich ist das silbrig Schimmernde des Flötenklanges besonders reizvoll und kommt dem, was ich am Klavier mache, sehr entgegen.

Im Fall der Brahms-Sonaten in der Flötenfassung ist auch die Frage der Balance besonders wichtig, damit die sehr dichte, akkordische Faktur des Klavierparts stets durchsichtig bleibt und die Flöte nicht erdrückt. Es gibt sehr wenige andere Werke des Kammermusikrepertoires, bei denen beide Instrumente in einem so ausgeglichenen und gleichberechtigten Dialog miteinander den musikalischen Inhalt wiedergeben.

Wie hat Ihr Label auf den Vorschlag reagiert, ein solch ungewöhnliches Programm aufzunehmen? In der allgemeinen Wahrnehmung war Naxos lange ein Label für den schmalen Geldbeutel, dann hat es sich zu einer Art klingenden Enzyklopädie entwickelt und heute scheint es kaum noch Unterschiede zu anderen Labels zu geben. Wie haben Sie das als Künstlerin empfunden, die schon seit Jahren mit Naxos zusammenarbeitet?

Maria Prinz: Zum Glück sehr positiv! Natürlich wissen wir alle, dass Bearbeitungen an sich oft als problematisch und überflüssig angesehen werden, aber sie geben auch die Chance auf einen frischen Zugang zu altbekannten Werken, und es geht auch immer um die Frage der Ehrlichkeit und Qualität der Interpretation. Ich arbeite schon seit vielen Jahren mit Naxos und kann nur von positiven Erfahrungen berichten.

Jedes Label ist so gut, wie die Leute, die es verantworten, und in diesem Fall ist Klaus Heymann die Persönlichkeit, die mit Mut und Weitsicht die Zeichen der Zeit erkannt hat und das Label innovativ und fantasievoll in die Zukunft führt. Die Zusammenarbeit mit ihm ist fantastisch, weil er blitzschnell auf Vorschläge reagiert, ganz klar seine Meinung äußert und wenn einmal die Zustimmung da ist, man sich 100% auf ihn verlassen kann. Natürlich ist der Beitrag des ganzen Teams von Naxos, der Mitarbeiter, mit denen man dann zu tun hat, nicht hoch genug einzuschätzen.

Sie sind Erster Flötist bei den Wiener Philharmonikern. Wie wichtig ist es für Sie, abseits des Orchesterbetriebs Kammermusik-Projekte wie diese Aufnahme mit Maria Prinz durchzuführen?

Karl-Heinz Schütz: Die Kammermusik ist für Komponisten wie für Interpreten immer eine sehr intime Sache. Und aus diesem Grund würde ich es als Herzensanliegen bezeichnen.

Die Wiener Philharmoniker sind zweifellos eines der weltbesten Orchester, stehen aber im Ruf, nicht sehr neugierig auf neues oder unbekanntes Repertoire zu sein. Stimmt dieser Eindruck oder sollte er revidiert werden?

Karl-Heinz Schütz: Das Publikum möchte natürlich von diesem Orchester zuerst ein bestimmtes Repertoire hören. Das hängt ganz eindeutig mit der Geschichte und der Tradition des Orchesters zusammen.

Ich erlebe aber im Orchester eine Offenheit und ein Interesse das Repertoire zu erweitern. Stücke, die vielleicht vor etwa 30 oder 40 Jahren nur am Rande vorgekommen sind, sind völlig im Selbstverständnis des Orchesters angekommen.

Viele Klassikliebhaber, gerade die besonders leidenschaftlichen, scheinen eine latente Abneigung gegenüber Transkriptionen oder Werkbearbeitungen zu haben. Woran liegt das Ihrer Meinung nach und wie würden Sie diesen Leuten beschreiben, weswegen Sie bewusst eine Bearbeitung aufgenommen haben?

Karl-Heinz Schütz: Die großen Komponisten haben alle voneinander gelernt, einerseits durch Studium, andererseits durchs bloße Abschreiben voneinander: Zahllose Beispiele lassen sich hierfür anführen. Sehr oft wurden auch eigene Werke anders wiederverwendet oder eben anders instrumentiert. Die Essenz einer Komposition bleibt ja hiervon im Grunde unberührt – es werden lediglich andere Aspekte beleuchtet, was einem auch Augen, Ohren und Sinne öffnen kann. Meine Bearbeitung und Interpretation versuche ich beim Kern des Werkes anzusetzen, um aufzuzeigen, wie diese wunderbare Musik mit Flöten-Timbre erklingt! Ich bin überzeugt, dass Brahms Flötensonaten geschrieben hätte, hätte er heute gelebt.

Maria Prinz: Wie ich schon erwähnt habe, ist es uns von Anfang an bewusst gewesen, dass eine gewisse Abneigung gegenüber Bearbeitungen existiert. Diese ist in Fällen, bei denen die Bearbeitung in krassem Gegensatz zu den Absichten und der Ausdrucksweise des Komponisten stehen, durchaus berechtigt.

Man darf allerdings nicht vergessen, dass sehr viele Komponisten ihre Werke selbst bearbeitet und Versionen für verschiedene Instrumente veröffentlicht haben. Das ist auch für die Sonaten op. 120 der Fall, von denen Brahms selbst Versionen für Bratsche und Violine erstellt hat. Somit deutet er an, dass dieses musikalische Material Raum für verschiedene klangliche Deutungen lässt. Und das zweite Argument zugunsten der Flötenversion ist, dass die Klarinette und die Flöte als Blasinstrumente doch näher verwandt sind, als es die Bratsche oder die Violine sind.

Bei den Liedern wiederum ist die Flöte der menschlichen Stimme durch die Beteiligung des Atems an der Klangerzeugung und auch durch die Fähigkeit, Phrasen „singend“ zu formen, verwandt und imstande die wunderschönen, langgezogenen brahmsischen Melodien zu gestalten.

[Das Interview führte René Brinkmann]

Boris Giltburg und Beethovens Klaviersonaten

Naxos, 9.70310; EAN: 7 30099 73101 0

Die vierte CD von Boris Giltburgs unlängst entstandener Gesamteinspielung von Beethovens Klaviersonaten bei Naxos enthält mit den Sonaten Nr. 12 bis 15, der „Trauermarsch“-Sonate, den beiden Sonaten „Quasi una fantasia“ sowie der „Pastorale“ also, einige Marksteine von Beethovens Sonatenkosmos.

Anlässlich von Beethovens 250. Geburtstag hat der Pianist Boris Giltburg im Jahre 2020 alle 32 Klaviersonaten Beethovens auf Video aufgenommen; nur unwesentlich später sind die Tonspuren dieser Aufnahmen bei Naxos auch auf CD veröffentlicht worden. Dabei ist jeder Satz ein einziges Take, kommt also ohne Schnitte aus. Die Mehrzahl der Sonaten hat Giltburg für dieses Projekt neu einstudiert, vorher waren offenbar nur neun von ihnen fester Bestandteil seines Repertoires. Die vierte CD aus dieser Reihe zeigt ihn als einen kompetenten Interpreten von Beethovens Sonaten, der in der Totale empfehlenswerte Lesarten dieser Werke liefert.

Den einleitenden Variationssatz der Klaviersonate Nr. 12 As-Dur op. 26 interpretiert Giltburg ruhig und mit Wärme und bringt die noble Lyrizität des Themas angemessen zur Geltung. Leider kommt allerdings in der vierten Variation der Kontrast zwischen Legato in der rechten und Staccato in der linken Hand zu kurz, da Giltburg auch in der rechten Hand am Ende der Legatobögen tendenziell staccatiert. Ausnehmend gut gefällt mir sein Scherzo, das er rasch und mit Sinn für die dynamischen Kontraste spielt und dabei die Steigerung bis hin zum energischen Schluss des Scherzoteils exzellent abbildet. Problematischer erscheint der Trauermarsch: Giltburg scheut hier das Zeremonielle; vom ersten Takt an ist klar, dass er diesen Satz vorrangig introvertiert, ja fast schon versonnen versteht, was zusammen mit einem eher langsamen Grundtempo die Musik manchmal etwas auf der Stelle treten lässt. Diese Beobachtungen unterstreicht auch der Trioteil, dessen „Gewehrsalven“ Giltburg recht vorsichtig begegnet. Das Finale wiederum knüpft wieder stärker an den zweiten Satz an, sicher etwas zurückgenommener, wie es eben in der Natur dieses Satzes liegt, aber eben doch im Grundsatz gelöst; ein stimmiger Abschluss dieser Einspielung.

Insgesamt sehr gut gelungen wirkt Giltburgs Lesart der Klaviersonate Nr. 13 Es-Dur op. 27 Nr. 1, der ersten beiden der „Quasi una fantasia“-Sonaten. Die spezielle Stimmungslage des einleitenden Andante irgendwo zwischen einer von vagen Andeutungen erfüllten Traumwelt von fast kindlicher Schlichtheit und plötzlichem Allegro-Aufschwung, der aber nichtsdestotrotz ebenfalls eher präludierend wirkt, fängt Giltburg gut ein; das Mysterium und die klangfarbliche Differenzierung etwa aus Daniel Barenboims jüngsten Zyklus findet man hier zwar nicht, doch die Charakteristik dieses Satzes bildet Giltburgs Interpretation schlüssig ab. Sehr gut auch der zweite Satz, dessen Dreiklangsbrechungen Giltburg zunächst fahl dahinhuschend, dann eruptiv realisiert und zu einer eindrucksvollen Kulmination am Schluss führt. Auch die übermütige Vitalität und Spielfreude des Finales fängt Giltburg überzeugend ein, der b-moll-Höhepunkt (in etwa ab Takt 118) könnte allerdings etwas machtvoller geraten.

Die Klaviersonate Nr. 14 cis-moll op. 27 Nr. 2, die „Mondschein-Sonate“ also, versteht Giltburg eher nüchtern, objektiv, nahezu klassizistisch. Dies zeigt bereits ihr erster Satz, den Giltburg mit knapp fünfeinhalb Minuten eher flüssig nimmt. Geheimnisvolles, ahnungsvolle Stille wird man in dieser Interpretation indes eher nicht finden. Stimmig(er) erscheint diese Lesart im intermezzohaften zweiten Satz, obwohl hier etwa in den Takten 9 bis 16 ein ganz ähnliches Problem auftritt wie bereits im Kopfsatz der Sonate Nr. 12 beschrieben, denn auch hier nivelliert Giltburg in gleicher Weise den Unterschied zwischen Legato rechts und Staccato links. Dies ist umso irritierender, da er die entsprechenden Staccati (wiederum rechts) ab Takt 27 zum Teil überspielt. Am problematischsten erscheint mir Giltburgs distanzierter Ansatz jedoch im Finale. Exemplarisch für seine Lesart etwa, dass er das Sforzato-Gis in Takt 14 (wie auch seine Entsprechung in der Reprise) eigentlich sogar eher abschwächt als hervorhebt. Auch zum Beispiel den Zweiunddreißigstelarpeggien kurz vor Schluss geht der Charakter einer Kulmination weitgehend ab. So kommt Giltburgs Mondschein-Sonate in toto ziemlich gemäßigt daher; die Extreme, die dieses Werk kennzeichnen, das Drama, das der Schlusssatz sein kann, sind in dieser Aufnahme höchstens zu erahnen. Für mich damit die am wenigsten überzeugende Interpretation auf dieser CD.

Im Kopfsatz der Klaviersonate Nr. 15 D-Dur op. 28, der „Pastorale“, fällt auf, dass Giltburg bei einem tendenziell zügigen Grundtempo relativen großzügigen Gebrauch von Rubato macht. Auf diese Weise hebt er zum Beispiel das vorsichtige Tasten im Pianissimo ab Takt 63 mit an Pizzicati gemahnenden Staccato-Vierteln in der linken Hand sehr schön hervor, aber auch das langsame „Entstehen“ des zweiten Themas wie im Fluss kommt gut zur Geltung. Die Grundhaltung ist lyrisch, aber Giltburg behält sich immer wieder punktuelle Steigerungen vor; das Crescendo kurz vor dem Ende (ab Takt 446) kostet er deutlich aus. Fließend gestaltet er auch große Teile des zweiten Satzes. Ähnlich wie bereits zuvor bemerkt ist allerdings die Artikulation nicht immer konsequent; von einem sempre staccato in der linken Hand wie von Beethoven zu Beginn gefordert kann nicht immer die Rede sein, und beim Dreitonsignal, das den D-Dur-Teil durchzieht, verzichtet Giltburg offenbar bewusst sogar auf jegliches Staccato und interpretiert dieses Motiv fast burschikos. Stringenter gestaltet ist das Scherzo, im Trio hätte Giltburg allerdings die wechselnde Begleitung in der linken Hand etwas stärker in den Vordergrund stellen können. Gut gelungen auch das von Giltburg insgesamt entspannt und mit Sinn für Bukolik interpretierte Finale. Ähnlich wie in der Mondschein-Sonate nimmt Giltburg auch hier einige Sforzati eher zurückhaltend, was in diesem Kontext aber weniger problematisch erscheint.

Natürlich ist die Anzahl der Aufnahmen von Beethovens Klaviersonaten enorm, und entsprechend könnte die Konkurrenz zu Giltburgs Aufnahmen größer kaum sein. Anhand der vorliegenden CD würde ich seine Einspielungen nicht in der Spitze verorten. Wohl aber erhält man gute bis sehr gute, hörens- und bei aller Detailkritik insgesamt empfehlenswerte Aufnahmen dieser Werke, deren Stärken weniger im Abgründigen als eher im Lebhaften, Agilen, Diesseitigen liegen. Der Klang ist ordentlich, aber nicht überragend, da eher gedeckt als räumlich-durchhörbar.

[Holger Sambale, September 2021]

Klaviertrios des „Mächtigen Häufleins“

Naxos 8.574114; EAN: 7 4731341147 4

Die dritte Folge der hochengagierten Naxos-Serie „History of the Russian Piano Trio“ widmet das Moskauer Brahms Trio den Komponisten Alexander Borodin, César Cui und Nikolai Rimsky-Korsakow. Zumindest eine gewichtige Entdeckung ist darunter.

Das Moskauer Brahms Trio (Nikolai Sachenko, Violine; Kirill Rodin, Cello; Natalia Rubinstein, Klavier) hat mittlerweile die erste Serie der Geschichte des russischen Klaviertrios, bestehend aus fünf Naxos-CDs, die der Romantik/Spätromantik gewidmet sind, abgeschlossen. Wenn man auf die Webseite der Künstler geht, scheint aber zumindest geplant zu sein, zwei weitere Staffeln folgen zulassen, wohl mit Trios aus dem sogenannten „Goldenen Zeitalter“ (ein Begriff, der sich historisch nicht so ganz eindeutig von der Literatur auf die Musik übertragen lässt) und solchen der Sowjetzeit bis heute. Das wäre zu begrüßen, denn die bisher vorliegenden Aufnahmen können sämtlich überzeugen – nicht nur programmatisch, wobei sich die CDs jeweils mit einer noch genauer eingrenzbaren musikhistorischen Situation und deren Protagonisten beschäftigen, und neben einigen Klassikern wie Tschaikowsky oder Tanejew kaum bekanntes oder gar gänzlich unbekanntes Repertoire ans Licht bringen. Die Interpretationen selbst sind auf erfreulich hohem Niveau, reichen selbst bei den häufig zu hörenden Werken an die Spitzeneinspielungen heran.

Die dritte CD der Reihe nimmt nun die Klaviertrio-Beiträge des „Mächtigen Häufleins“ unter die Lupe. Bei den fünf nationalistisch gesinnten Novatoren fällt auf, dass die Kammermusik dort keine – im Falle Mussorgskys – bzw. nur eine untergeordnete Rolle spielt. Balakirew schrieb nichts für Klaviertrio, und die drei hier vorgestellten Werke von Borodin, Rimsky-Korsakow und Cui zeugen von einem zumindest nachlässigen Umgang selbst ihrer Schöpfer mit ihnen. César Cuis kurzes Farniente ist lediglich die Bearbeitung des zweiten Klavierstücks aus dem Zyklus À Argenteau op. 40, und wäre dabei ein liebenswerter Beitrag Pariser Salonmusik – Cuis Vater war Franzose –, allerdings mit einer Generation Verspätung. Die einschmeichelnde, fast süßliche Melodik bringt das Brahms-Trio mit Delikatesse herüber, ohne ins Kitschige abzugleiten.

Das frühe D-Dur-Trio Borodins – entstanden zwischen 1850 und 1860 – war entweder unvollendet, oder das Finale ist verschollen. Klar, dass ihm als Fragment der Weg in den Konzertsaal versperrt blieb. Hierbei handelt es sich bereits um ein musikalisch hochwertiges Stück, das noch stark an Mendelssohn orientiert ist und kaum etwas von Borodins späterer Farbigkeit erahnen lässt – als Tonkonserve trotzdem ein echter Hinhörer.

Eine ganz andere Nummer ist das gewichtige, über 40 Minuten dauernde Klaviertrio c-Moll Rimsky-Korsakows. Warum der Komponist das Stück aus seiner intensivsten Schaffensperiode (1897), in der er sich hingegen fast ausschließlich der Oper widmete, geringschätzte und es selbst nicht ganz bis zur Druckreife vollendete, bleibt unverständlich. Wir können froh sein, dass sein Schwiegersohn Maximilian Steinberg – als Komponist erst seit den 1990ern wieder im Gespräch – das Trio 1939 fertiggestellt hat. Getrost könnte man hier von einem Meisterwerk sprechen, das nur noch erstaunlich wenig von der national-gefärbten Grundhaltung des „Mächtigen Häufleins“ erkennen lässt. Vielmehr hören wir Kammermusik, die sich ganz bewusst in eine lange Tradition stellt, die von Beethoven (Kopfsatz) über zwei hochromantische Sätze bis zu einem ausufernden Finale mit einer mehrfach unterbrochenen, komplexen Fuge reicht. Wollte Rimsky-Korsakow hier Tanejews Postulat einer „eigenen nationalen Musik“ [„Was sollen die russischen Komponisten tun?“ (1879)], die nur durch kontrapunktische Auseinandersetzung mit dem russischen Lied denkbar sei, gerecht werden?

Jedenfalls nimmt das Brahms Trio Rimsky-Korsakows Komposition völlig ernst, lässt die Bezüge zur Tradition hörbar werden, aber auch, dass der Komponist hier einen konsistenten, persönlichen Beitrag zur Geschichte des Klaviertrios in Russland geschaffen hat. Der erste Satz verbindet recht klassische Formung mit der elegischen Stimmung, die man etwa aus Rachmaninows großem, zweiten Trio kennt, das ein paar Jahre zuvor entstand; und das lange Finale gelingt absolut überzeugend. Das Stück hätte so heute durchaus das Zeug, selbstverständlich ins Repertoire zu gehören. Klanglich spielen die drei Künstler sehr differenziert; da, wo es die Partituren verlangen, andererseits homogener als manches aus Superstars quasi ad hoc zusammengestellte Klaviertrio. Die Dynamik wird öfters für eine bessere Durchhörbarkeit zurückgenommen; die Emotionalität und erkennbare Empathie für diese Wiederentdeckungen leiden jedoch nicht darunter. Die Aufnahmen aus dem berühmten Konzertsaal des Moskauer Konservatorium sind keine Großtat, was Räumlichkeit betrifft; das Klangbild findet dabei eine sehr angenehme Balance zwischen Hall und Durchsichtigkeit – insgesamt äußerst gelungen. Wer seinen Horizont in Sachen russischer Kammermusik erweitern möchte, sollte hier auf jeden Fall zugreifen.

[Martin Blaumeiser, September 2021]

Gelungene Gitarrentranskriptionen hervorragend gespielt

Naxos, 8.574259; EAN: 7 47313 42597 6

Für Naxos hat Christophe Dejour (Gitarre) eigene Transkriptionen von Werken Carlo Gesualdos, Johann Sebastian Bachs, Alban Bergs und Béla Bartóks eingespielt.

Der dänische Gitarrist Christophe Dejour hat sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten einen guten Ruf als Bearbeiter erworben, der dem Repertoire für sein Instrument mehrere Meisterwerke hinzugewonnen hat. So arrangierte er für das von ihm mitbegründete Trio Campanella Isaac Albéniz‘ Iberia und Enrique Granados‘ Goyescas für drei Gitarren. Den bei Naxos erschienenen Einspielungen dieser beiden Zyklen durch das Trio Campanella hat Dejour nun sein erstes Solo-Album folgen lassen. Unter dem Titel The Art of Classical Guitar Transcription präsentiert er eigene Arrangements vierer Kompositionen, die in verschiedenen Epochen für verschiedene Instrumente geschrieben wurden: Carlo Gesualdos Canzon Francese del Principe (eines der wenigen Werke, die der Madrigalfürst für ein Clavierinstrument hinterlassen hat), Johann Sebastian Bachs Chromatische Fantasie und Fuge BWV 903, die Klaviersonate h-Moll op. 1 von Alban Berg und Béla Bartóks späte Sonate für Violine solo. Es werden also – dies lässt sich unschwer als Leitfaden des Programms erkennen – Komponisten zusammengebracht, die allesamt starke Harmoniker gewesen sind und mit kühnem Entdeckersinn den jeweiligen Zeitgenossen neue Gestaltungsmöglichkeiten innerhalb der tonalen Ordnung aufgezeigt haben.

In allen Bearbeitungen hält sich Dejour möglichst eng an die Vorlage und legt nur dann Stimmen um, wenn dies der verglichen mit Tasteninstrumenten geringere Tonumfang der Gitarre nötig macht. Wie sich trotz solchen Einschränkungen bemerkenswert volle Klänge realisieren lassen, zeigt sich namentlich in Dejours Übertragung der Berg-Sonate. Die Möglichkeiten des Zupfinstruments zur Wiedergabe polyphoner Musik kommen in den Gesualdo- und Bach-Transkriptionen wunderbar zur Geltung. Große Sorgfalt in der Übersetzung violintypischer Spielweisen ins Gitarrenidiom lässt sich im Fall der Bartók-Sonate feststellen. Beispielsweise hat sich Dejour, da naturgemäß der Gegensatz von Arco und Pizzicato auf der Gitarre nicht realisierbar ist, an den entsprechenden Stellen der Sonate entschieden, das normale Pizzicato durch ein deutlich weniger resonanzstarkes, das charakteristische „Bartók-Pizzicato“ (wie auf der Violine) durch ein sehr kräftiges Anreißen der Saite wiederzugeben.

Bei den Darbietungen vertieft sich Dejour intensiv in die Beschaffenheit des jeweiligen Stückes und verhilft dadurch jedem der Werke zu einem charakteristischen Klangbild, das sich von dem der übrigen deutlich abhebt. Gesualdos Canzon Francese, eine fugierte Fantasie mit virtuosen Einschüben, entfaltet sich feierlich und gelassen. Die gelegentlichen chromatischen Ausweichungen wirken nicht als aufgesetzte Effekte, sondern als natürlicher Bestandteil des Ganzen. Bachs Chromatische Fantasie gliedert Dejour klar mittels dynamischer Kontraste und passend eingesetzter Rubati. Von dem Vorteil, dass auf der Gitarre im Gegensatz zum Cembalo eine direkte Einwirkung des Spielers auf die Saite möglich ist, macht er reichlich Gebrauch und gestaltet namentlich den ariosen Schluss der Fantasie hochexpressiv. Dass die Fuge den Gitarristen vor hohe spieltechnische Herausforderungen stellt, ist in der Aufnahme gelegentlich zu hören. Dejour begegnet ihnen, indem er ein deutlich langsameres Grundtempo anschlägt als die meisten Clavierspieler und dieses durch sorgfältige Artikulation spannungsvoll belebt. Um die dissonanten Akkordtürme der Bergschen Klaviersonate möglichst umfassend darzustellen, bedient sich Dejour in diesem Stück ausgiebig des Portamentos, was den nicht unwillkommenen Nebeneffekt zur Folge hat, dass das Stück unter seinen Händen einen geradezu vokalen Charakter annimmt, dass es „singt“. Die Struktur dieses einzeln stehenden Sonatensatzes wirkt in Dejours Einspielung erfreulich klar und übersichtlich, der Verlauf wirklich prozesshaft. Wohltuend unterscheidet sich diese Aufnahme von der Auffassung der Sonate als zerklüfteter Abfolge von Einzelereignissen, als welche sie mitunter zu hören ist. Ist die Sonate Bergs eine Äußerung des Wiener Fin de Siècle, so zeigt sich in der über dreißig Jahre später entstandenen Solo-Violinsonate seines Generationsgenossen Bartók eine Haltung, die zur Musik der Jahrhundertwende, in der sie freilich wurzelt, deutlich auf Distanz gegangen ist – nicht zuletzt durch das Rekurrieren auf barocke Vorbilder. Entsprechend lässt Dejour dieses Stück rauer, „sachlicher“ klingen. Er verzichtet auf „Fülle des Wohllauts“, nicht aber darauf, die Feinheiten der Musik herauszuarbeiten. Als besonders gelungen lässt sich die Fuge hervorheben, die Dejour stringent und mit unwiderstehlichem Schwung darbietet.

Wer also hören möchte, wie sich die bekannten Clavier-, Klavier- und Violinwerke in meisterlichen Bearbeitungen auf der Gitarre ausnehmen, und dies ebenso hervorragend gespielt, der kann bedenkenlos zu dieser CD greifen. Sie zeugt eindrucksvoll von Christophe Dejours Kunstfertigkeit auf beiden Gebieten.

Norbert Florian Schuck [Mai 2021]

Ein belgischer Sinfoniker in beeindruckender Gesamtdarstellung

Naxos, 8.574292-93; EAN: 747313429271

Naxos hat den in den 90er Jahren von Marco Polo begonnenen, damals unvollendet gebliebenen Zyklus der Sinfonien Marcel Poots (1901–1988) neu aufgelegt und durch die erstmalige Veröffentlichung historischer Rundfunkaufnahmen vervollständigt. Es musizieren: Moscow Symphony Orchestra unter Frédérick Devreese (Sinfonien 3, 5, 6 und 7), Antwerp Philharmonic unter Léonce Gras (Sinfonie Nr. 4), Belgian National Radio Symphony Orchestra unter Franz André (Sinfonie Nr. 2) und BRTN Philharmonic Orchestra unter Hans Rotman (Sinfonie Nr. 1).

Die Geschichte des belgischen Komponisten Marcel Poot lief rein so gar nicht nach dem typischen Drehbuch ab, das wir von anderen Komponistenbiografien kennen. Meistens hören wir da ja von Persönlichkeiten, die leidenschaftlich für die Musik brannten und alle Hebel in Bewegung setzten, um trotz mancherlei Widerstände ihrer Leidenschaft professionell nachgehen zu können. Nicht so bei Marcel Poot! Vielmehr scheint es nach seiner eigenen Aussage bei ihm genau anders herum gewesen zu sein.

Der Komponist äußerte im Gespräch mit dem Autor David Ewen in den 1970er-Jahren: „Obwohl ich sehr mittelmäßig war, sollte ich schon früh Musik studieren. Mein Vater ließ mich bei den Klarinettisten einer Gruppe in unserer Stadt mitspielen, in der er Saxophonist war. Da ich aber weniger begabt als meine jungen Freunde war, musste ich diese Position bald wieder aufgeben. … Mein Vater war jedoch fest entschlossen, aus mir einen Musiker zu machen. Wir versuchten es dann mit dem Klavier. Der Stadtorganist, Gerard Nauwelaerts, brachte mir Tonleitern und Czerny-Etüden bei. Das hat mir überhaupt keinen Spaß gemacht. Aber das mühsame Studium wurde fortgesetzt, bis ich in der Lage war, zusammen mit meinem Professor Ouvertüren von Suppé für vier Hände zu spielen. Mein Vater beschloss dann, mich am Brüsseler Konservatorium zu immatrikulieren. Beim ersten Mal wurde ich abgelehnt. Aber eine weitere Runde Üben mit Czerny, und ich wurde schließlich zugelassen.“

In der Folge studierte Marcel Poot bei einer ganzen Reihe von Lehrern, unter denen der namhafteste der französische Komponist und einflussreiche Musikpädagoge Paul Dukas war, aus dessen Schule unter anderem auch so unterschiedliche Komponisten wie Olivier Messiaen, Joaquín Rodrigo und Carlos Chávez hervorgingen. Am Konservatorium zeigte sich auch bereits Marcel Poots Fähigkeit der Organisation und des „Networkings“ wie man es heute wohl nennen würde. 1925 gründete er die Gruppe „Les Synthétistes“, die eine Art belgische Antwort auf die Gruppe „Les Six“ in Frankreich darstellen sollte. Charakteristisch für seinen frühen Stil, der sich u.a. auch in der ersten Sinfonie aus dem Jahr 1929 abbildet, ist in der Tat eine Nähe zum Stil Poulencs und eine Beschäftigung mit den Möglichkeiten der Jazz-Musik im Kontext des Sinfonieorchesters. Parallel zu seiner kompositorischen Tätigkeit wirkte er als Musikjournalist und Rezensent.

1934 konnte Poot mit seiner Fröhlichen Ouvertüre einen europaweiten Erfolg feiern, und es sah wohl einige Zeit danach aus, als würde der Komponist groß herauskommen. Doch Poot entschied sich lieber für eine akademische Karriere, wurde 1939 Professor am Brüsseler Konservatorium, bevor die sogenannte „Westoffensive“ der deutschen Wehrmacht allen weiteren Plänen vorerst ein Ende machte. Nach dem Krieg galt Poots Musik (wie die von so vielen tonalen Komponisten) als stilistisch überkommen, und Poot konnte sich wohl glücklich schätzen, in dieser Zeit das Amt des Direktors des Brüsseler Musikkonservatoriums übernehmen zu können, während Komponisten wie Henri Pousseur nun in der Öffentlichkeit für die belgische Musikmoderne standen.

Die Beschäftigung als Konservatoriumsleiter scheint Poot ein stilistisch weitgehend unbeeinflusstes Komponieren ermöglicht zu haben, während für den Lebensunterhalt gesorgt war. 1960 gründete Poot die Union der belgischen Komponisten und wurde ihr Vorsitzender, und auch beim Concours Reine Elisabeth (bis heute einer der namhaftesten Musikwettbewerbe der Welt) war er einflussreich, leitete 17 Jahre lang bis 1980 die Jury und schrieb mehrere Werke für den Wettbewerb. 1988 verstarb Marcel Poot – in seiner Heimat hoch angesehen, im Rest Europas mehr oder weniger vergessen.

Noch in den 1990er-Jahren startete das Label Marco Polo eine ebenso verdienst- wie qualitätvolle Edition der Orchesterwerke Marcel Poots, zumeist in Weltersteinspielungen durch das seinerzeit frisch gegründete Moscow Symphony Orchestra unter der Leitung des Poot-Schülers Frédéric Devreese, der zu der Zeit bereits ein einflussreicher Komponist, vor allem von Filmmusik, war. Die Edition war sowohl klanglich als auch interpretatorisch gelungen, sie hatte nur einen Haken: Sie war in Bezug auf die Sinfonien leider nicht komplett. Es fehlten Einspielungen der ersten, zweiten und vierten von Poots insgesamt sieben Sinfonien.

Das zur selben Firma wie Marco Polo gehörende Label Naxos schafft diesem Umstand nun Abhilfe und hat die alten Marco Polo-Aufnahmen in einem veritablen Coup durch historische Aufnahmen, überwiegend aus dem Archiv des belgischen Rundfunks, ergänzt und sie so zu einem vollständigen Zyklus komplettiert. Es ergibt sich dadurch ein bunter Strauß an Aufnahmen unterschiedlicher Herkunft, angefangen mit einer Mono-Aufnahme von 1960 (Sinfonie Nr. 2) bis hin zum Rundfunkmitschnitt der Ersten Sinfonie aus dem Jahr 1996, der die neueste Aufnahme auf dieser Doppel-CD markiert.

Gleichermaßen erfreulich wie erstaunlich ist es, dass dabei kein Flickenteppich herausgekommen ist. Die Toningenieure des belgischen Rundfunks waren offenbar stets auf der Höhe der Zeit, was die Tontechnik anbelangt. Die Mono-Aufnahme von 1960 möchte ich klanglich sogar als überdurchschnittlich für diese Zeit einstufen. Sie steht auch besten Schallplattenaufnahmen aus dieser Zeit in nichts nach und beeindruckt bis heute durch eine angenehme Wärme, Körperlichkeit und Brillanz. Auch die Aufnahmen der Ersten Sinfonie von 1996 (die einzige, die abgesehen von den Marco Polo-Aufnahmen schon einmal auf CD veröffentlicht worden war) und 1971 fügen sich ebenfalls gut in das Klangbild ein.

Die Interpretationen sind durch die Bank gut bis herausragend, wobei die Einspielung der zweiten Sinfonie von 1960 durch das Belgian National Radio Symphony Orchestra unter Leitung von Franz André klar die beste ist: Hier stimmt einfach alles, von A bis Z – ein offenbar akribisch vorbereitetes Orchester musiziert hier in vorbildlichster Weise und mit einer Spielfreude und Akribie, wie es den besten Orchestern dieser Zeit sicherlich nicht besser gelungen wäre. Es ist dies die unbestreitbare Referenzaufnahme auf diesem aber auch sonst durch und durch empfehlenswerten Doppelalbum.

Stilistisch ist der Werdegang Marcel Poots anhand seiner Sinfonien schön nachzuvollziehen. Die ersten beiden Sinfonien wurden noch vor dem Zweiten Weltkrieg geschrieben. Die Dritte Sinfonie setzt 1952 wieder ein, aus den 1960er-Jahren hat Poot keine Sinfonien hinterlassen, und die Sinfonien Nr. 4 bis 7 stammen aus den Jahren 1970 bis 1982. Sämtliche Kompositionen sind kompakt (Spielzeit durchschnittlich etwa 20 min.), dreisätzig und einem eher neoklassizistischen Formmodell verpflichtet.

Zeigt die charmant-beschwingte Erste Sinfonie (1929) wie erwähnt noch eine gewisse Nähe zum Pariser Stil der 1920er-Jahre und zur ausgelassenen Erkundung des Jazz, so findet schon in der Zweiten Sinfonie (1937) eine Entwicklung hin zu einem ernsteren und im engeren Sinne auch sinfonischeren Charakter statt. Die Dritte Sinfonie, das erste Nachkriegswerk, ist deutlich expressiver und dissonanter als beide Vorkriegssinfonien, am Ehesten vielleicht mit der Zweiten Sinfonie Arthur Honeggers vergleichbar, ohne jedoch deren Meisterhaftigkeit zu erreichen. Der quasi expressionistische Stil blieb fortan Marcel Poots Idiom, auch in den Werken der 1970er-Jahre, die zunehmend Elemente des Spätstils von Schostakowitsch zu adaptieren scheinen, ohne jedoch die eigene Handschrift zu verlieren. In allen Sinfonien der 1970er-Jahre scheinen die Ideen aber nicht mehr so frisch und unwillkürlich zu sein wie in den beiden Vorkriegssinfonien, die ich persönlich für die interessantesten und lohnenswertesten in dieser Gesamtaufnahme halte.

Als Fazit lässt sich ziehen, dass Naxos hier einen sehr interessanten und guten Weg gefunden hat, um eine Gesamtschau der Sinfonien des Komponisten Marcel Poot vorzulegen. Es wäre manch einem Label zu empfehlen, diesem Beispiel zu folgen und die Rundfunkarchive der europäischen Länder dahingehend zu durchforsten, ob sich mit dort vorhandenen Aufnahmen nicht womöglich komplette Werkzyklen zusammenstellen lassen. Selbst, wenn dies doch einmal in „Stückwerk“ ausarten sollte, so erscheint mir der Vorteil, eine Gesamtschau eines Zyklus aus dem Œuvre eines Komponisten klingend zur Verfügung zu haben, zunächst einmal wichtiger zu sein, als eine wie auch immer geartete „Einheitlichkeit“ zu gewährleisten. Bei diesem Set der Sinfonien Marcel Poots, das sich aus vier verschiedenen Quellen speist, ist es jedenfalls auf beeindruckende Weise gelungen. Glückwunsch ans Label und klare Kaufempfehlung für jeden, der sich für Sinfonien des 20. Jahrhunderts begeistern kann!

René Brinkmann [Mai 2021]

Bedeutende Nische im riesigen Gesamtwerk: Die Symphonien von Villa-Lobos unter Karabtchevsky

Naxos 8.506039 (6 CD); EAN: 7 47313 60393 0

War die erste Gesamtaufnahme der 12 Symphonien von Heitor Villa-Lobos – wobei die Fünfte nach wie vor verschollen ist – auf cpo unter Carl St. Clair 2000 fertig eingespielt, hatte Naxos mit dem Spezialisten Isaac Karabtchevsky zwischen 2011 und 2017 auf 6 CDs nachgelegt, die nun endlich auch als preiswerte Box erhältlich sind. Eine immer noch ziemlich unterbelichtete, dazu hochbedeutende Nische in der Symphonik des 20. Jahrhunderts wird hier adäquat beleuchtet und der phantastische Zyklus ganz ausgezeichnet dargeboten.

Heitor Villa-Lobos (1887–1959) gilt immer noch unangefochten als der bedeutendste klassische Komponist Brasiliens. Der Grund dafür ist wohl weniger die Tatsache, dass er so an die tausend musikalische Werke schrieb, was im 20. Jahrhundert schon eher Seltenheitswert hat (der mit ihm befreundete Darius Milhaud wäre noch ein Kandidat mit ähnlich umfangreichem Schaffen). Vielmehr ist es die geglückte Verbindung von aus Europa überlieferten kompositorischen Standards und folkloristischem, teils indigenem Material, welches er anscheinend bereits in seiner Jugend zu sammeln begonnen hatte: Zwischen 1905 und 1913 bereiste er intensiv das Landesinnere, wobei Details dieser Exkursionen völlig im Dunkeln liegen und Villa-Lobos‘ eigene Aussagen darüber wenig glaubwürdig erscheinen. Neben seinem bedeutenden Klavierwerk – weit mehr als nur das Artur Rubinstein gewidmete Rudepoêma, mit dem der Pianist den Brasilianer in Europa bekannt machte, nun zunehmend auch diesseits des Atlantiks gespielt – und der keineswegs umfangreichen Gitarrenmusik, sind es vor allem einige der Bachianas Brasileiras – Stücke, mit denen der Bach-begeisterte Komponist neoklassizistische Elemente in seine ansonsten eher national ausgerichtete Musik integrierte –, die bei uns zum Repertoire gehören.

Dagegen ist sein Schaffen für groß besetztes Symphonieorchester – einige der Chôros, etwa Nr. 8, 9 und 11, vor allem jedoch die 12 Symphonien – immer noch weitgehend unbekannt. Tatsächlich darf man davon ausgehen, dass der größtenteils autodidaktisch gebildete Villa-Lobos in diesem traditionell formal recht festgezurrten Genre nicht sein Hauptinteresse sah. Trotzdem ist dieser Werkzyklus überwiegend von außerordentlicher Qualität: Die Symphonien Nr. 1–5, noch mit spätromantischen Einflüssen, aber bereits recht eigenständig und nationalistisch, entstanden noch vor 1920, danach gibt es eine Lücke von 24 Jahren. Ab Symphonie Nr. 6 wandelt sich deren Stil hörbar recht deutlich, wird konzentrierter; die Instrumentation ist weniger hypertroph, ohne an Farbigkeit zu verlieren – ein genialer Instrumentator war der Komponist ohnehin. Die großformatige, über 60-minütige Symphonie Nr. 10 Ameríndia sticht schon ein wenig heraus, da im Untertitel von Villa-Lobos selbst als Oratorium bezeichnet: das einzige Werk mit zusätzlichen Vokalkräften. Die anderen Symphonien folgen sämtlich der klassischen Viersätzigkeit.

Die Symphonien Nr. 3–5 waren als Triptychon geplant: Ihre Titel lauten A Guerra (Krieg), A Vitória (Sieg) und A Paz (Frieden). Die Partitur der Fünften ist leider verschollen, und obwohl das Material bis in die späten 1960er in Katalogen des Ricordi-Verlags angeboten wurde, allerdings Bestellversuche immer ins Leere liefen, geht die Meinung der Musikwissenschaft mittlerweile doch in die Richtung, dass das ambitionierte Werk – über das Villa-Lobos in Interviews mehrmals berichtete – wohl nie so geschrieben wurde, oder sogar Ideen bzw. Teile davon Eingang in die 10. Symphonie gefunden haben könnten.

Die „Gesamtaufnahme“ auf cpo von 1997–2000 mit dem RSO Stuttgart unter dem texanischen Dirigenten Carl St. Clair war jedenfalls ein Meilenstein, dürfte sie doch für die meisten der Villa-Lobos-Symphonien nicht nur als Ersteinspielung gelten, sondern häufig auch die erst zweite Aufführung überhaupt darstellen. Die Einzel-CDs der Produktion sind längst vergriffen, aber als Box ist diese nach wie vor erhältlich. Im Gegensatz zu St. Clair ist der brasilianische Dirigent Isaac Karabtchevsky (Jahrgang 1934) natürlich ein „alter Hase“, was die Musik Villa-Lobos‘ betrifft. Er studierte in Deutschland u.a. bei Wolfgang Fortner und Pierre Boulez, war etwa langjähriger Chef beim Orquestra Sinfônica Brasileira in Rio de Janeiro und hat für die Neuaufnahme des Symphonienzyklus bei Naxos das Orchestermaterial nochmals gründlich revidiert. Mit dem Orquestra Sinfônica do Estado de São Paulo (OSESP) konnte das derzeit wohl beste Orchester des Landes gewonnen werden, das die elf vorhandenen Symphonien zwischen 2011 und 2017 eingespielt hat. Seit Ende 2020 sind auch diese 6 CDs als preisgünstige Box zu erwerben, wodurch der Rezensent sich nochmals beide Versionen dieser selten dargebotenen Stücke anhören mochte.

Die international hochbeachtete Neuproduktion wird in fast allen Besprechungen über die Maßen gelobt – die Stuttgarter Aufnahme hat aber durchaus auch ihre Meriten. Was die Durchsichtigkeit des Orchesterklanges angeht, sind die Stuttgarter dem Orchester aus São Paulo tatsächlich sogar überlegen. Dass man hier – gerade in den ersten vier Symphonien – mehr Details hören kann, liegt sicher nicht nur an der vorzüglichen Aufnahmetechnik von cpo und SWR, sondern erscheint sozusagen als Hauptanliegen des Dirigenten Carl St. Clair – verständlich bei absolutem Neuland für ihn wie das Orchester. Die somit hervorragend gelungene Balance innerhalb des Orchesters ist aber allein noch keineswegs Garant für eine global differenzierte Dynamik eines Satzes oder einer ganzen Symphonie. Schon hier zeigt sich, was den Stuttgartern fehlt: die Übersicht. St. Clair hangelt sich doch über weite Strecken am Notentext entlang, seine lokale Erbsenzählerei und die präzise Klangabstufung in der momentanen Vertikale kann nicht verdecken, dass ihm die oft ungewöhnliche Architektur des brasilianischen Komponisten (Rondo-Elemente bereits in den Kopfsätzen usw.) fremd bleibt, sich der große Zusammenhang kaum erschließt, geschweige denn musikalisch vorausgedacht, geplant werden kann. Und obwohl es natürlich auch gewaltige Klangmassierungen bei Villa-Lobos gibt, – namentlich in der 3. u. 4. Symphonie, wo nicht nur die brasilianische Nationalhymne, sondern dazu noch Fragmente der Marseillaise intoniert werden – verliert sich der Texaner dann allzu leicht in diesen Effekten. Karabtchevsky setzt hier die Instrumentation ganz punktuell wirkungsvoll ein (große Trommel!), ohne die Struktur zu übertünchen; so bleibt Spannung stets erhalten und die Musik verkommt nie zur reinen Klangorgie.

Zum Feinsten in Villa-Lobos‘ Symphonik gehören zweifellos die langsamen Sätze. Sie beinhalten nicht nur tief empfundene, dabei keineswegs kitschige Melodik, sehr persönliches südamerikanisches Klangkolorit, sondern sind darüber hinaus architektonisch absolut überzeugend. Im Gegensatz zu den meist sehr knapp gehaltenen Kopfsätzen mit ihren oft für den europäischen Geschmack etwas abrupten Schlüssen haben die Binnensätze (auch die Scherzi) einen klaren Aufbau, benötigen dafür aber immer einen langen Atem; Steigerungen müssen wohl dosiert werden, um wahrhaftig zu wirken. Hier zeigt sich ganz deutlich die musikalische Überlegenheit Karabtchevskys, dem dies alles wunderbar gelingt: der große Bogen und echter Schmerz in den langsamen Sätzen, die oft eruptive Rhythmik der Scherzi, obwohl gerade diese noch am ehesten an traditionellen europäischen Vorbildern (Beethoven!) gereift scheinen, zumindest in den späten Symphonien. St. Clair mit seinen teilweise zu breiten Tempi droht hier, den Zusammenhang aus den Augen zu verlieren, die elegischeren Abschnitte in Einzelereignisse zerfallen zu lassen. Höhepunkte erscheinen dadurch bedingt recht aufgesetzt. Bei der 10. Symphonie benötigt er fast 13 Minuten länger als Karabtchevsky, was die recht komplizierten Chorabschnitte ganz unorganisch überdehnt – dies wirkt dann nur noch zäh.

Schließlich kann das Klangbild der Aufnahme aus São Paulo durchaus gefallen: Das räumliche Panorama ist gewaltig, dabei aber keineswegs matschig, sondern kraftvoll differenziert. Die Chöre in der Ameríndia-Symphonie klingen stets natürlich. Lediglich die männlichen Solisten haben offensichtlich bei beiden Aufnahmen Probleme mit den häufigen Wechseln zwischen Text und Vokalise bzw. Melisma, singen stellenweise unbeholfen grobschlächtig. Auch Karabtchevsky kann zwar aus den noch teils unausgegorenen Gehversuchen Villa-Lobos‘ in den beiden ersten Symphonien keine Meisterwerke machen – dafür wird die echte Meisterschaft ab der Sechsten trotz aller auf den Hörer neuartigen Eindrücke überdeutlich: Diese Musik hätte, derart sensibel gespielt, eigentlich das Zeug, auch die europäischen Konzertsäle zu erobern. Die 10. Symphonie mit ihrem ohnehin ganz eigenen Reiz kann es an Pracht mit anderen großen Vokalsymphonien ebenfalls aufnehmen. Zudem sind die als Ballett bekannt gewordene, hochenergetische symphonische Dichtung Uirapuru – ganz typisch für den frühen, „wilden“ Villa-Lobos – sowie die Kantate Mandu-Çarará mit wirkungsvollem Kinderchor und überbordender rhythmischer Intensität (anscheinend erstmals auf CD) willkommene Zugaben. Wer die Stuttgarter Einspielung bereits hat, kann mit der Naxos-Box sehr günstig ein „Update“ erwerben, das eine erneute Auseinandersetzung mit den Villa-Lobos-Symphonien mehr als rechtfertigt. Für Neulinge ist Karabtchevskys Darbietung klar die erste Wahl.

Vergleichsaufnahme: Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR, Carl St. Clair (1997-2000, cpo 777 516-2, 7CD)

[Martin Blaumeiser, April 2021]

Ungarische Streichtrios der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts

Naxos, 8.551406; EAN: 7 30099 14063 8

Unter dem Titel „Hungarian Serenade“ spielt das Offenburger Streichtrio für Naxos selten gehörte Werke von Sándor Veress, Géza Frid, Ferenc Farkas, László Weiner sowie Rezső Kókai ein.

Denkt man an ungarische Serenaden für Streichtrio, so fällt einem womöglich zuallererst Ernst von Dohnányis wunderbarer, kultiviert-delikater Gattungsbeitrag ein. Die vorliegende CD befasst sich jedoch mit der Generation ungarischer Komponisten, die auf Bartók und Kodály folgte; vier der fünf Komponisten sind nahezu gleichaltrig (Jg. 1904 bis 1907), und auch sonst fallen eine Reihe von Gemeinsamkeiten auf: Sándor Veress (1907–1992), Géza Frid (1904–1989) sowie László Weiner (1916–1944) waren Schüler Kodálys, Veress und Frid verbrachten einen Großteil ihres Lebens im Exil, Frid und Weiner hatten jüdische Wurzeln, und während es Frid in den Niederlanden gelang, sich vor den Nationalsozialisten zu verstecken, kam Weiner 28-jährig im Konzentrationslager Łuków ums Leben. Ferenc Farkas (1905–2000) und Rezső Kókai (1906–1962) hingegen verbrachten ihr ganzes Leben in Ungarn.

Abseits biographischer Fakten stehen sich die Kompositionen dieses Albums aber auch stilistisch nahe, was nicht zuletzt damit zusammenhängt, dass es sich beim Großteil der hier versammelten Trios um frühe Werke (aus Studientagen) handelt. Speziell gilt dies für Veress’ Sonatine für Violine und Violoncello (um 1926/27 entstanden und als einziges Werk auf dieser CD nicht für Streichtrio), aber auch noch seine erst in den 1970ern entstandenen Tänze aus Szatmár bzw. Somogy (sein 1954 entstandenes meisterhaftes Streichtrio, hier nicht enthalten, ist dagegen wesentlich avancierter), Frids Streichtrio op. 1 (1926) sowie Farkas’ Notturno für Streichtrio op. 2 (1927). Tatsächlich gehen die Ähnlichkeiten bis hin zu den verwendeten Tonarten (es dominieren stets die Grundtöne A, D und G, was sicher nicht zufällig mit den leeren Saiten der Streichinstrumente korrespondiert). Alle diese Werke sind deutlich von ungarischer Volksmusik beeinflusst, und selbstverständlich sind Kodály und Bartók die zentralen Leitbilder. Dabei ist es eher der gemäßigte Bartók, der hier Pate steht: so sind etwa seine Rumänischen Volkstänze insbesondere mit den beiden Tänzen von Veress vergleichbar, aber die Radikalität und den expressiven Gestus von Bartóks Streichquartetten findet man in den Werken auf dieser CD eher nicht. Ein echtes frühes Meisterwerk ist Frids kraftvolles, ambitioniertes Trio, das nicht nur vom Titel her keine Serenade ist. Besonders hervorzuheben ist der dunkel getönte, intensive Mittelsatz mit einem konflikthaften Mittelteil, in welchem die Instrumente vor dem Hintergrund gebrochener Akkorde erregt zu dialogisieren scheinen. Veress’ Sonatine ist (obwohl erheblich kürzer) mit der großen Duosonate von Kodály vergleichbar, zumal im Finale. Der Titel von Farkas’ Notturno ist eher im Mozart’schen Sinne als eine Art kurzes Divertimento zu verstehen, ein reizvolles und eingängiges Werk in zwei knappen Sätzen.

Weiners Serenade für Streichtrio (nicht zu verwechseln übrigens mit dem Streichtrio des älteren Leó Weiner) entstand 1938 und ist sein frühestes überliefertes Werk, sicherlich ebenfalls Kodály verpflichtet, aber insgesamt lyrischer, poetischer als die vorherigen Werke auf dieser CD. Speziell im Kopfsatz sorgt die lydische Einfärbung der Melodik für eine latent sehnsuchtsvolle Note, aber auch der langsame Satz ist innig empfunden, bevor das fugierte Finale für einen frischen Kehraus sorgt. Kókai schließlich war Schüler Hans Koesslers, kam somit per Ausbildung eher von der Spätromantik her und entwickelte zunächst nicht im Gefolge von Kodály und Bartók einen eigenen Ansatz eines nationalen ungarischen Stils. Die Serenade für Streichtrio, wohl bereits 1949/50 entstanden (die CD gibt 1956 an), ist ein reifes Werk, das nur hier und da noch spätromantische Wurzeln verrät. Der in den schwungvollen Ecksätzen, speziell im Finale, manifeste Serenadencharakter wird im langsamen Satz (als Recitativo. Notturno e Canzone bezeichnet) in Frage gestellt, und tatsächlich steht dieser Satz einem Nachtstück im Wortsinne näher als Farkas’ im Grunde genommen weitgehend unbeschwertes Werk diesen Titels.

Das Offenburger Streichtrio setzt sich mit dieser CD also insbesondere für selten gespieltes Repertoire ein. Im Falle der Werke von Veress scheinen keine Alternativeinspielungen zu existieren (die Sonatine erschien erst posthum im Druck), und die Serenade von Kókai gab es bislang nur auf einer Hungaroton-LP. Die übrigen drei Werke liegen zusätzlich in CD-Einspielungen jüngerer Zeit vor (Farkas auf Toccata, Weiner auf Hungaroton sowie Cobra Records, Frid auf Cedille Records). Dabei schneidet das Offenburger Streichtrio insgesamt sehr gut ab. Besonders hervorzuheben ist der homogene Gesamtklang des bereits seit 40 Jahren bestehenden Ensembles. Speziell die lyrischen, (titelgebend) serenadenhaften Seiten der Musik gelingen sehr gut, wie etwa in Farkas’ Notturno. Hier und da würde den Interpretationen allerdings eine etwas differenziertere, die Spannungsbögen der Musik deutlicher nachvollziehende Herangehensweise gut bekommen, gerade in einem (vom Anspruch her) großformatigeren Werk wie dem Trio von Frid oder dem Finale von Weiners Serenade, das einen kräftigeren Zugriff mit mehr Temperament vertragen könnte. Insgesamt handelt es sich aber um durchwegs sehr solide Interpretationen. Die Tonqualität der CD ist tadellos.

Das vom Cellisten Martin Merker verfasste Beiheft liefert kurze und bündige Informationen zu Komponisten und Werken, ohne allzu sehr ins Detail zu gehen. Hier und da wäre bei näherem Hinsehen etwas Differenzierung nötig: Farkas kann zwar sicherlich als experimentierfreudiger Komponist bezeichnet werden, aber auf Basis eines folkloristisch geprägten, konzisen Neoklassizismus; inwiefern Kókai im kommunistischen Ungarn Repressalien ausgesetzt war, wäre ebenfalls einer genaueren Erläuterung würdig (immerhin war er dreifacher Erkelpreisträger der Jahre 1952, 1955 und 1956). Andererseits ist derlei vielleicht in der gebotenen Kürze eines Begleittextes nicht unbedingt erwartbar.

Insgesamt eine erfreuliche Veröffentlichung, die ganz besonders für ihre nicht alltägliche Repertoirezusammenstellung gelobt werden muss.

[Holger Sambale, April 2021]

Die Vielfalt der Ostinati

Naxos, 8.551439; EAN: 7 30099 14393 6

Mit seiner bei Naxos erschienenen CD Passacaglia della Vita ruft das vokal-instrumentale Ensemble Cembaless auf höchst lebendige Weise die Herkunft der Passacaglia aus der Tanzmusik in Erinnerung.

Das Kompositionsprinzip, das unter dem Namen „Chaconne“ oder „Passacaglia“ Eingang in den Formenschatz der „absoluten Musik“ gefunden hat, stammt bekanntlich aus der Praxis des Tanzes. Die beständig wiederholte Basslinie und die immer neuen Figurationen der Oberstimmen hatten die Aufgabe, den Tanz in Bewegung zu halten. Es sollte Gleichmaß gestiftet und für Abwechslung gesorgt werden. Zu letzterer trugen auch die verschiedenen Strophen der Liedtexte bei, wenn zum Tanz gesungen wurde. In frühen Passacaglia-Kompositionen zeigt sich der Ursprung im Tanzlied noch deutlich. Einige von ihnen sind ausdrücklich als Gesangsstücke gedacht, während die rein instrumentalen Werke in ihren Oberstimmen eigentlich nur fixieren (und dabei satztechnisch veredeln), was von den Musikanten während des Tanzes improvisiert zu werden pflegte. Im Notenbild festgehalten wurde eine stilisierte Tanzszene, die allerdings dem Vorbild von der Straße („Passacaglia“ heißt nichts anderes als „die Straße entlang gehen“) noch sehr ähnlich war. Wie überhaupt im Generalbasszeitalter lange Zeit ein fließender Übergang zwischen Komposition und Improvisation herrschte, sodass der Komponist häufig nur den Gerüstsatz notierte und die Ausführenden im Moment der Darbietung spontan verzieren konnten, so setzten auch die Komponisten früher Ostinato-Stücke auf mitdenkende, mitgestaltende Musiker. Das kahle Notenbild der Kompositionen zeugt von diesem Vertrauen: Die Musik war nicht das, was auf dem Papier stand, sondern das, was in der konkreten Musiziersituation daraus gemacht wurde.

Das Alte-Musik-Ensemble Cembaless hat sich dies zu Herzen genommen. Wie bereits der Name sagt, kommt die siebenköpfige Formation ohne Cembalo aus. Um die Sopranistin Elisabeth von Stritzky gruppieren sich David Hanke und Annabell Opelt an den Blockflöten, Shen-Ju Chang an der Gambe, Stefan Koim an Barockgitarre bzw. Erzlaute, Robbert Vermeulen an der Theorbe und Syavash Rastani, der verschiedene persische Trommeln erklingen lässt – eine ideale Besetzung, um jene Atmosphäre des Tanzes zu erzeugen, aus der Passacaglia, Ciaconna und andere Ostinatoformen einst hervorgingen. Ihr vorliegendes Album, das nahezu ausschließlich Stücke dieser Art enthält, haben die Musiker „Passacaglia della Vita“ genannt. Der von einer hier eingespielten Komposition Stefano Landis entlehnte Titel ist in mehrfacher Hinsicht Programm: Zum einen beschwören Cembaless die konkrete Lebenssituation, die zur Entstehung der musikalischen Form geführt hat, zum andern zeigt das Ensemble, auf welch vielfältige Weise das von den Komponisten Notierte klingend ins Leben treten kann. Auch auf die verschiedenen Erscheinungsformen frühbarocker Ostinatomusik kann der Titel bezogen werden, denn neben Passacaglie und Ciaccone umfasst das Programm auch einen Fandango (von Santiago de Murcia), eine Bergamasca (von Marco Uccellini), eine über gleichbleibendem Bass aufgebaute Solokantate (Accenti queruli von Giovanni Felice Sances) und einen einfachen strophischen Gesang (Si dolce e’l tormento von Claudio Monteverdi).

Anhand des letzteren Stückes zeigt sich besonders gut, wie Cembaless die spärliche Notation als Aufforderung nehmen, eigenverantwortlich tätig zu werden. Monteverdi hat hier lediglich Singstimme und Bass notiert und für letzteren keine Besetzung vorgeschrieben. Auch deutet im Original nichts darauf hin, dass der Komponist daran dachte, eine Variationenreihe zu schreiben. Cembaless zeigen aber, wie man eine daraus machen kann: Zuerst erklingt in der Theorbe das Thema instrumental, dann beginnt die Sängerin mit der ersten Strophe, alles Weitere ist Alternieren zwischen Instrumental- und Gesangsabschnitten, jeweils mit verzierenden Kontrapunkten und in neuer Instrumentation. Das vom Komponisten Niedergeschriebene bleibt durchaus als Richtlinie erhalten, aber die Musiker bereichern es geschmackvoll durch eigenes Zutun. In Uccellinis Aria sopra la Bergamasca, einem hinsichtlich seiner Dramaturgie bereits streng auskomponierten Werk, wagen sie sogar einen behutsamen Eingriff in den Verlauf und fügen, den Ostinato-Bass beibehaltend, einen vokalen Mittelteil ein, in welchem Elisabeth von Stritzky die Melodie mit jenem Text vorträgt, unter dem sie auch Johann Sebastian Bach bekannt war: „Kraut und Rüben haben mich vertrieben“ (vgl. Goldberg-Variationen, Quodlibet). An einer Stelle in breiten Notenwerten kurz vor Schluss verschärft das Ensemble eigenmächtig Uccellinis Dissonanzen – ein frappierender Effekt, der aber in dieser humorvollen Bearbeitung am rechten Platze ist und, da die Akkorde ihre harmonischen Funktionen beibehalten, auch formal überzeugt!

Nicht in allen Programmnummern sind alle Ensemblemitglieder zu hören. Beinahe durchweg folgt ein instrumentales Werk auf ein vokales. Einige Stücke sind stärker, andere spärlicher besetzt. Die Stellen, an denen sich alle Ausführenden zum Tutti verbinden, finden sich geschickt über den Verlauf des Programms verteilt. Nicht nur in dieser Hinsicht erweist sich die Abfolge der Stücke als von Cembaless streng „durchkomponiert“. Die einzelnen Nummern scheinen aufeinander zu reagieren. Einmal – im Falle der Solokantate von Sances – wagt das Ensemble, das Ende des Stückes wegzulassen und mittels einer Lautenkadenz direkt zum nächsten überzuleiten. Auch ergeben sich Symmetrien durch zwei Ciaccone von Tarquinio Merula (Nr. 4) und Allessandro Piccinini (Nr. 13), denen das gleiche Thema zugrunde liegt, und durch die Gestaltung der Programmmitte: Hier spielt Trommler Syavash Rastani zwischen zwei Stücken in Tutti-Besetzung ein selbstkomponiertes Solo, das seine Fertigkeit, auf tonhöhenlosen Instrumenten mittels unterschiedlicher Tongebung Polyphonie anzudeuten, trefflich demonstriert. In den umrahmenden Kompositionen – Stefano Landis Passacaglia della Vita und Juan Arañés‘ Chacona: A la vida bona – wird ein weiterer Instrumentationseffekt geschickt platziert, indem die Instrumentalisten gegen Schluss plötzlich anfangen zu singen: Das Miteinander von Männer- und Frauenstimmen sorgt dafür, dass auch im Vokalen ein Tutti-Klang entsteht.

Dem Einfallsreichtum der Bearbeitungen entspricht die Frische und Lebendigkeit der Darbietungen von Cembaless. Um den Ursprung der Ostinato-Variationen in Tanz und Lied wissend, gestalten die Ensemblemitglieder ihre Stimmen kantabel und mit tänzerischem Schwung, sodass der Zusammenhalt der musikalischen Ereignisse stets gewahrt bleibt und ein Moment auf dem vorangegangenen aufbaut. Die virtuosen Figurationen meistern alle tadellos, nicht zuletzt die Sopranistin, die in den lebhafteren Abschnitten manch „instrumental“ anmutende Passage vorzutragen hat. Die zahlreichen kleinen Verzierungen, vokal wie instrumental, wirken durchaus nicht aufgesetzt, sondern aus der Spontaneität des Musizierens geboren. Cembaless nennen ihre CD „eine Hommage an die Facetten des Lebens“. Dem lässt sich ohne Einwände zustimmen, denn Facettenreich sind das Programm wie seine Umsetzung, und lebendig klingt hier alles, vom ersten bis zum letzten Ton.

[Norbert Florian Schuck, April 2021]

Ein russisches Erfolgsballett aus dem frühen 20. Jahrhundert

Naxos, 8.573657; EAN: 7 47313 36577 7

Als Wiederveröffentlichung einer CD des Labels Marco Polo aus dem Jahre 1995 bringt Naxos Nikolai Tscherepnins Ballett „Le Pavillon d’Armide“ neu heraus. Es spielt das Moskauer Sinfonieorchester unter der Leitung von Henry Shek.

Heute werden Sergei Djagilews legendäre Ballets Russes in erster Linie mit Igor Strawinski, Claude Debussy, Maurice Ravel und anderen in Verbindung gebracht. Die erste Spielzeit im Jahre 1909 wurde jedoch mit Musik eines deutlich weniger prominenten russischen Komponisten eröffnet, nämlich Nikolai Tscherepnin (1873–1945) mit seinem Einakter Le Pavillon d’Armide. Choreographiert von Michel Fokine und mit Vaslav Nijinsky in einer der Hauptrollen, feierte dieses Ballett damals einen rauschenden Erfolg und sorgte dafür, dass das neue Ensemble auf einen Schlag große Berühmtheit erlangte.

Dabei war die Wahl des Pavillon d’Armide keinesfalls zufällig, denn erst zwei Jahre zuvor war dieses Ballett am Mariinski-Theater (bereits dort mit Fokine und Nijinsky) aus der Taufe gehoben worden und erfreute sich in Russland großer Popularität. Die Idee zu diesem Werk stammte von Alexandre Benois, seit 1901 szenischer Leiter des Mariinski-Theaters, auf Basis einer Novelle von Théophile Gautier rund um einen Wandteppich, dessen Figuren zum Leben erwachen, als ein Vicomte eine Nacht in besagtem Pavillon verbringt. Auf der Suche nach einem geeigneten Komponisten fiel Benois’ Wahl auf den jungen Tscherepnin, der mit Benois’ Nichte verheiratet war und ohnehin bereits am Mariinski-Theater beschäftigt war. Offenbar war die Komposition bereits 1903 abgeschlossen, aber aufgrund eines Zwists zwischen Benois und dem Direktor des Mariinski-Theaters war an eine Inszenierung zunächst nicht zu denken. Tscherepnin stellte jedoch eine Suite zusammen, die noch 1903 uraufgeführt wurde und in den Folgejahren mit so großen Erfolg gespielt wurde, dass 1907 schließlich doch zunächst ein Teil, wenig später dann das gesamte Ballett inszeniert wurde.

Tscherepnin, ältester Vertreter einer bis heute aktiven Musikerfamilie (sein Sohn Alexander sowie seine Enkel Ivan und Serge waren bzw. sind ebenfalls Komponisten), war Schüler Rimski-Korsakows. Die Stationen seines Lebens waren seine Heimatstadt St. Petersburg, ab 1918 für kurze Zeit Tiflis und schließlich von 1921 bis zum Ende seines Lebens Paris; ein besonderer Schwerpunkt seines Wirkens lag auf seinen Lehrtätigkeiten, so etwa für Dirigieren am St. Petersburger Konservatorium, wo Prokofjew zu seinen Schülern zählte.

In Tscherepnins Œuvre finden sich zahlreiche Genres, ein Schwerpunkt liegt aber zweifelsohne auf Musik illustrativer Natur, und besondere Bekanntheit erlangte er durch seine Ballette. Seine Musik ist längst nicht vollständig diskographisch erschlossen, aber die ersten drei Ballette sind (wenigstens in Teilen) auf CD erschienen, und an ihnen lassen sich Grundzüge und Entwicklung seines Stils recht gut nachvollziehen. Über seinen Erstling, den Pavillon d’Armide, wird noch zu sprechen sein; Narcisse et Echo verrät deutlich seine Begeisterung für französische Musik und den Impressionismus (nicht umsonst wurde er scherzhaft „Debussy Ravelowitsch“ genannt), während Die Maske des roten Todes (auf CD verfügbar in Form der auf dieser Ballettmusik basierenden sinfonischen Fragmente Le Destin) noch einmal deutlich moderner, expressionistischer, von der Harmonik Skrjabins und den damals brandneuen Partituren Strawinskis und Prokofjews geprägt erscheint, die Tonalität wird hier mindestens weit gespreizt. Gleichzeitig verleugnen aber in Teilen selbst diese Partitur und stärker noch Narcisse et Echo nicht, dass hier ein Komponist aus der traditionellen russischen Schule am Werk ist.

In der Tat zeigen die wenigen späteren Werke Tscherepnins, die überhaupt in Aufnahmen erhältlich sind, dass er den Weg in die Moderne offenbar nicht weiterverfolgte, sondern sich eher in Richtung Neoklassizismus bewegte. Man darf Nikolai Tscherepnin somit als einen im Kern traditionell orientierten, modernen Tendenzen gegenüber aber aufgeschlossenen Repräsentanten der russischen Schule seiner Generation betrachten, dessen Schaffen eine Reihe von zeitgenössischen Tendenzen rezipiert, ohne mit seinen Wurzeln zu brechen. Eine besonders ausgeprägte eigene Tonsprache ist dabei eher schwer auszumachen, aber seine stärksten Werke (zu denen seine Ballettmusiken zählen) sind aber fraglos gut gemachte, hörenswerte Musik.

Als das Zeitalter der Schallplatte begann, erfreute sich Le Pavillon d’Armide längst nicht mehr seiner früheren Berühmtheit, aber wenigstens die Suite ist dennoch mindestens zweimal eingespielt worden. Die einzige Möglichkeit, das weitgehend vollständige Ballett zu hören, bietet indes die vorliegende Aufnahme. Ein paar Nummern wurden auch hier ausgelassen (ein entsprechender Hinweis findet sich im Beiheft der CD, nicht jedoch auf Vorder- oder Rückseite), aber im Vergleich zur Suite verdoppelt sich die Spieldauer immerhin. Mitte der 1990er Jahre entstanden und zunächst bei Marco Polo veröffentlicht, ist die Aufnahme nun bei Naxos wieder erhältlich.

Le Pavillon d’Armide ist Tscherepnins erstes Ballett, und von moderneren Einflüssen ist hier noch kaum etwas zu hören. Eigentlich ist nicht einmal der Einfluss von Tscherepnins Lehrer Rimski-Korsakow, der Tscherepnins frühen Werken gerne nachgesagt wird, sonderlich dominant; vielmehr ist Le Pavillon d’Armide vor allem deutlich an den Balletten Tschaikowskis geschult, hier und da hört man auch etwas Glasunow (der ja seinerseits Einflüsse der Gruppe der Fünf und Tschaikowskis vereinigte). In manchen der 15 Nummern tritt die Anlehnung an das Vorbild Tschaikowski besonders offen zutage, so etwa im Grande Valse noble, der (auch melodisch) an den Walzer aus Schwanensee anknüpft; vermisst man hier noch dessen Moll-Abschnitte, so wird man ihre Nachklänge später im Danse des bouffons wiederfinden, dessen Schluss wiederum den Schluss des Czárdás aus Schwanensee zitiert. Dagegen ruft die zweite Nummer, bezeichnet mit Courantes. Danse des heures, eher den Nussknacker in Erinnerung, nicht nur wegen der delikaten Orchestrierung unter Einbeziehung der Celesta. Vor dem Hintergrund all dieser Reminiszenzen verblüfft es umso mehr, wenn man in Bacchus et les bacchantes mit seinen stampfenden Bässen in e-moll auf einmal an Prokofjews Tanz der Ritter aus Romeo und Julia denken mag – vielleicht seinerseits eine Hommage Prokofjews an seinen Lehrer?

In der Gesamtbeschau ist das Ballett eher locker gefügt, auch die vorliegende Fassung besitzt nach wie vor einen gewissen Suitencharakter. Es dominieren kurze Szenen, farbige Tänze und Charakterstudien, die Dramaturgie der Handlung steht demgegenüber eher im Hintergrund. Ein vergessenes Meisterwerk liegt hier sicher nicht vor, wohl aber klangschöne, farbenfrohe und attraktive Musik in der Nachfolge Tschaikowskis.

Die Interpretation durch das Moskauer Sinfonieorchester (gegründet 1989 und eines der Standardensembles von Marco Polo bzw. Naxos) unter der Leitung von Henry Shek ist solide, aber nicht herausragend. Shek lässt diese Musik eher flächig und mit breitem Pinsel spielen, was zu Lasten der Detailarbeit und inneren Spannung der Musik geht. Dies zeigt sich insbesondere im Vergleich zur Einspielung der Suite mit Viktor Fedotow am Pult der Leningrader Philharmoniker (zunächst auf einer Melodija-LP herausgebracht, später auf diversen CDs wiederveröffentlicht). Gleich in der Introduktion lässt Fedotow erheblich nuancierter, akzentuierter und spannungsvoller musizieren; hier fließt die Musik nicht einfach dahin, sondern vollzieht viel stärker die melodischen und dynamischen Linien nach und zeigt zusätzlich zahlreiche Nebenstimmen und harmonische Verläufe auf. So wird dann auch der Sturm, den die Einleitung offensichtlich darstellen soll, deutlich erfahrbarer. Aber auch insgesamt wirkt sich ein solcher Ansatz positiv auf die Musik aus, weil er die dramaturgischen Schwächen der Partitur ein wenig zu kompensieren vermag, während bei Henry Shek vieles zu einheitlich wirkt, korrekt, aber blass und eher temperamentarm. Der Klang der Aufnahme ist (wie viele Aufnahmen aus dem Mosfilm-Studio) prinzipiell gut, aber etwas auf der matten Seite.

Das Beiheft von Keith Anderson (in englischer Sprache) befasst sich neben einigen Eckdaten zu Tscherepnin vorwiegend mit der Entstehungsgeschichte des Balletts und seiner Handlung, die anhand der Tracks dieser CD nachvollzogen wird. Die Musik selbst wird dabei auch angerissen, aber insbesondere die Einordnung von Tscherepnins Tonsprache allgemein gerät zu knapp. Passenderweise ist auf dem Cover ein Gemälde zu sehen, das eine Szene aus einer Inszenierung von Le Pavillon d’Armide (vermutlich der ersten, zumal 1907 als Jahreszahl angegeben ist) zeigt.

Auch mehr als 25 Jahre nach ihrem ersten Erscheinen ist diese Einspielung der (beinahe) vollständigen Ballettmusik ohne Konkurrenz geblieben, und bereits deshalb ist ihre Wiederveröffentlichung zu begrüßen. Vielleicht entschließt sich Naxos ja, auch die Marco Polo-Einspielung zweier Orchestersuiten von Tscherepnins Generationskollegen Sergei Wassilenko (in der gleichen Besetzung) neu aufzulegen; auch dies wäre in Bezug auf den Repertoirewert verdienstvoll.

[Holger Sambale, April 2021]

Kleines Beethoven-Vademecum (2): Gedanken zu Artur Schnabels Beethoven-Aufnahmen

Sonaten 1-3: Naxos 8.110693; EAN 0636943169322
Sonaten 4-6 & 19-20: Naxos 8.110694; EAN 0636943169421
Sonaten 7-10: Naxos 8.110695; EAN 0636943169520
Sonaten 11-13: Naxos 8.110756; EAN 0636943175620
Sonaten 14-16: Naxos 8.110759; EAN 0636943175927
Sonaten 17, 18, 21: Naxos 8.110760; EAN 0636943176023
Sonaten 22-26: Naxos 8.110761; EAN: 0636943176122
Sonaten 27-29: Naxos 8.110762; EAN: 0636943176121
Sonaten 30-32: Naxos 8.110763; EAN 00636943176320
Eroica-Variationen und Bagatellen: Naxos 8.110764; EAN 0636943176429
Diabelli-Variationen und Bagatellen: Naxos 8.110765; EAN 0636943176528
Klavierkonzerte 1-2: Naxos 8.110638; EAN 0636943163825
Klavierkonzerte 3-4: Naxos 8.110639; EAN 0636943163924
Klavierkonzert 5 und Cello-Sonate 2: Naxos 8.110640; EAN 0636943164020

Artur Schnabel war der erste Pianist, der Aufführungen sämtlicher Klaviersonaten Ludwig van Beethovens auf Schallplatte festgehalten hat. Oliver Fraenzke, Gründer unseres Magazins, Herausgeber der Kammermusik-Reihe Beyond the Waves im Verlag Musikproduktion Jürgen Höflich und selbst Pianist, stellt diese diskographische Großtat in der zweiten Folge unseres Kleinen Beethoven-Vademecums vor und legt dar, warum sie nach wie vor für die Darbietung Beethovenscher Klaviermusik Referenzstatus besitzt. (d.Red.)

Betrachtet man Beethovens Klavierwerk, so kommt man kaum um die Aufnahmen Artur Schnabels herum, die weit oben in der Liste der Referenzaufnahmen stehen, als Zyklus betrachtet wohl sogar mit an deren Spitze. Sicherlich gibt es zahlreiche andere großartige Aufnahmen von Beethovens Tastenwerk, so beispielsweise durch Eduard Erdmann oder Arturo Benedetti Michelangeli, doch kaum einer von den Pianisten diesen Ranges näherte sich dem Komponisten derart systematisch in der Gesamtheit seines Schaffens. Aus den 1920er-Jahren existieren Konzertprogramme Schnabels, die zyklische Aufführungen aller Beethoven-Sonaten belegen; in den 1930er-Jahren empfand Schnabel schließlich die Aufnahmetechnik als ausreichend gereift, um mit den Sonaten, Klavierkonzerten, den Diabelli- und den Eroicavariationen und einigen anderen Werken ins Studio zu gehen, wobei er die Abbey Road Studios in London für das Großprojekt auserkor.

In der Auswahl seines Repertoires galt Artur Schnabel als unerbittlich: Ausschließlich die Werke nahm er auf, die laut eigener Aussage besser sein, als ein Mensch sie spielen könne. Dies führte dazu, dass er beinahe ausschließlich Werke der Epoche um die Wiener Klassik spielte, inklusive Brahms und Schubert. Letzteren entdeckte Schnabel gemeinsam mit Eduard Erdmann wieder und konzertierte als einer der ersten mit dessen Sonaten, die zuvor wenig verstanden waren. Der Fokus auf die vergleichbar alte Musik mag vor allem deshalb verwundern, da Schnabel auch als Komponist in Erscheinung trat und dort zu den Neuerern zählte. Beeinflusst vom Durchbrechen der Tonalität und den Ideen Schönbergs schloss Schnabel sich den Fortschrittlern an, bewegte sich in den Kreisen von Ernst Křenek, Philipp Jarnach und Hans Jürgen von der Wense, der zweifelsohne zu den radikalsten Tonsetzern der Zeit zählte und in seiner ganzen Art sowie seinem vielseitigen Wirken revolutionierte. Schnabel betitelte seine Werke allgemein mit klassischen Bezeichnungen wie Sonate, Quartett oder Symphonie, doch inhaltlich hatten sie zumeist wenig mit diesen Gattungen gemein.

Geboren wurde Artur Schnabel am 17. April 1882 in Kunzendorf, Galizien, das heute zum südöstlichen Teil Polens gehört. Er wuchs in ärmlichen Verhältnissen als jüngstes von drei Kindern einer jüdischen Textilhändler-Familie auf. Er zog noch als Kind mit der Mutter und seinen Geschwistern nach Wien, wo er 1890 als Pianist debütierte und dort wohnhaft blieb, selbst als seine Familie vier Jahre später wieder in die Heimat zurückzog. Er wurde Schüler von Anna Jessipowa, die als „Madame Essipoff“ bekannt war, und nach deren Scheidung Schüler ihres Exgatten Theodor Leschetizky, einer der namhaftesten Lehrer der Zeit und Mitbegründer der heute sogenannten russischen Klavierschule. Eusebius Mandyczewski unterwies Artur Schnabel in Musiktheorie und gab ihm Kompositionsunterricht; durch ihn kam er auch in Kontakt mit einigen der großen Komponisten der älteren Generation wie unter anderem Johannes Brahms, wobei scheinbar wenig Austausch zwischen den etablierten Meistern und dem jugendlichen Aufsteiger stattgefunden hat. Um die Jahrhundertwende zog Schnabel nach Berlin und heiratete 1905 Therese Behr. Therese Behr-Schnabel wirkte als Altistin, trat oft auch mit ihrem Ehemann auf. 1909 kam Karl Ulrich auf die Welt, der sich selbst als Pianist einen Namen machte und gemeinsam mit seinem Vater einen Großteil des vierhändigen Repertoires einspielte, 1912 folgte Stefan Artur, welcher in Amerika Schauspieler wurde. (Bereits 1899 war Schnabel Vater einer vorehelichen Tochter geworden, Elisabeth Rostra.) Nach Hitlers Machtergreifung 1933 flüchtete die Familie in Vorahnung unmittelbar nach England, verbrachte die Sommer jedoch in Tremezzo. Als der Krieg unausweichlich schien, emigrierten die Schnabels 1939 in die USA, die Schwestern folgten – die Mutter blieb in Österreich, wurde 1942 nach Theresienstadt deportiert und kam dort im gleichen Jahr zu Tode. Nach dem Krieg kehrte die Familie nach Tremezzo zurück, Artur verlebte dort seine letzten Jahre und starb am 15. August 1951 in Morschach in der Schweiz.

Die für seine Entwicklung bedeutsamsten Jahre dürften nach der fundamentalen Ausbildung in Wien wohl diejenigen in Berlin gewesen sein, wo Schnabel in regem künstlerischen Austausch mit einigen der bedeutendsten Komponisten und Musikern gewesen ist sowie den Durchbruch als konzertierender Pianist errang. Einer der wahrscheinlich zentralsten Einflüsse dürfte der durch den vierzehn Jahre jüngeren Eduard Erdmann gewesen sein: die beiden lernten sich vermutlich 1920 kennen, als Erdmann sich gerade als einer der zentralsten Vertreter der Szene Neuer Musik etablierte, mit Aufführungen u.a. seines Lehrers Heinz Tiessens, Scherchens, Bergs, Schönbergs etc. von sich Reden machte. Erdmann sah Schnabel gewissermaßen als eine Art Lehrer, befolgte insbesondere seine Lebensratschläge und nahm wichtige Anschauungen Schnabels an. Und doch handelte es sich um ein Verhältnis auf Augenhöhe. Schnabel schätzte Erdmann besonders auch als Darbieter seiner eigenen Werke und übernahm als Komponist seinerseits musikalische Inspirationen von seinem Kollegen. Schubert entdeckten sie gemeinschaftlich wieder und zurückblickend schuf sogar Erdmann die tiefgründigeren Aufnahmen dessen Klavierwerks (insbesondere der letzten Sonaten und der Impromptus). Zu Beethoven bemerkte Erdmann allerdings, dass keiner dessen Sonaten so verstand, wie Schnabel es tat, und er selbst nichts hinzuzufügen hätte. Aus diesem Grund weigerte sich Erdmann, Beethovens Sonaten aufzunehmen, solange Schnabel lebte: erst 1953 spielte er, bereits als von der Kriegszeit gezeichneter Mann mit schwindender manueller Technik, nicht aber geistiger Durchdringung, die Pathétique ein.

Schnabels Beethoven-Aufnahmen entstammen seinen reifen Jahren: Die meisten fallen in die Zeit seiner frühen 50er, als sich die Erfahrungen seiner bereits über 40 Jahre währenden Karriere längst in einem gesetzten, bewussten und ausgeglichenen Spiel manifestiert haben. Schnabel blieb durch den regen Austausch in Berlin frisch und lebendig und stand den musikalischen wie technischen Neuerungen gegenüber stets offen. Jede der Aufnahmen zeugt von intensiver und vor allem präzise detailverliebter Beschäftigung mit ausnahmslos einem jeden dieser Werke. Schnabel vertrat genaue Werktreue und so setzte er die Partituren minutiös um. Dabei spielte er allerdings nüchterner, distanzierter, als es beispielsweise Erdmann tat. Nichtsdestoweniger fehlt auch die emotionelle Seite der Werke nicht und die Musik funkelt vor Lebendigkeit und Frische. Als Zyklus betrachtet zeugen die Einspielungen vor allem von einem: umfassender Menschlichkeit. Schnabel stellt Beethoven nicht als wilden, zerzausten Berserker da, der die Regeln brach und als Raptus das Aufsehen auf sich zog, so wie man es von neueren Einspielungen viel zu leidlich kennt, sondern zeigt ihn als vielschichtige, ausgeglichene Persönlichkeit, dessen kompositorische Ausbrüche stets integriert werden in ein komplexeres Ganzes. Beethoven wird uns sympathisch.

Technisch stechen besonders Schnabels Feinheiten des Anschlags hervor, seien es die schimmernden Läufe oder die geräuschhaft schnellen Triller, vor allem aber stockt einem der Atem, sobald Schnabel Pianissimo spielt. Über lange Strecken bannt der Pianist den Höher durch sein weltfremdes, gedämpftes Spiel in den ruhigsten Passagen, hält die Spannung bis zum Zerreißen in der Schwebe und bringt die Zeit zum Stillstand. Mit dieser Basis spannt er große Kontraste und eröffnet ein gewaltiges Spektrum an Farben und Möglichkeiten, die zu einem unerhört formbezogenen Spiel führen, was uns selbst die weiten Flächen der letzten Sonaten mühelos nachvollziehen lassen.

In keiner Sekunde buhlt Schnabel dabei um Aufmerksamkeit, sondern spielt lediglich für den Komponisten, für die Noten und für den verständigen Hörer, der nicht geblendet werden will, sondern der Musik zuliebe hört. Entsprechend könnten Hörer, die sich an den Effekt neuerer Aufnahmen gewöhnt sind, irritiert werden von der Leichtigkeit, Lebendigkeit und unprätentiösen Herangehensweise an diese Werke.

In den Beethovenaufnahmen seien besonders die getragenen Sätze hervorzuheben, die Schnabel enorm langsam nimmt, dabei aber zu keiner Zeit schleppt, so dass in der Wirkung die Zeit still zu stehen scheint und dennoch in gemächlichem Maße prozessiert. Seine beachtliche Fingertechnik stellt der Pianist nie zur Schau, kehrt sie im Gegenteil teils sogar unter den Tisch, um umso mehr Platz für musikalische Ausgestaltung zu gewinnen. Natürlich gibt es kleinere Fehler oder Ungenauigkeiten im Vergleich zum neueren (auch Live-)Aufnahmen, was ich jedoch nicht als Manko sehe, denn auch sie stehen für die menschliche Seite der Musik. Zudem nimmt man sie gerne in Kauf für solch ein durch und durch musikalisches, ausgewogenes und formbewusstes Spiel, das auch die längsten Sätze als Ganzes erfasst.

In den frühen, Beethovens Lehrer Haydn gewidmeten Sonaten vollzieht Schnabel den Stilentwicklungsprozess pianistisch nach, stellt sie in Haydn’scher Feinheit des Spiels dar. Schon in der beginnenden f-Moll-Sonate sticht sein brillantes Staccato-Spiel hervor, durch das die Noten zwar sehr kurz, aber dennoch mit Hall und Volumen kommen. Auch die Sforzati wägt Schnabel sauber ab, bezieht sie stets auf die aktuelle Grunddynamik. Im Adagio hören wir bemerkenswerte Pedalisierung, das Finale gestaltet er etwas freier. Die folgende A-Dur-Sonate beginnt ausgesprochen fröhlich und locker geradlinig, was den ganzen Satz durchgeht, der in dieser Heiterkeit verweilt – hier wirken neuere Darbietungen doppelbödiger und zwiegespaltener, doch Schnabel setzt seine Ansicht stimmig um. Das Largo gestaltet er herrlich zweischichtig, nimmt die Melodie als reinen Gesang mit einer Art Streicherbegleitung. Das Finale erscheint wenig virtuos, dafür umso sanglicher mir subtilen Freiheiten, das Grazioso hären wir so wörtlich wie selten sonst. Die umfangreichere C-Dur-Sonate nimmt Schnabel klassisch fein und ausdrucksstark, intensiviert die Kontraste. Sehr sympathisch erscheint mir, dass selbst Schnabel mit der Trillerbewegung im Thema zu kämpfen hat: hieran dürfen sich alle Pianisten erfreuen, die selbst um dieses Detail gerungen haben. Im Adagio erleben wir, wie laut Pausen sprechen können und schmerzlicher rufen als die Noten an sich; der Mollteil changiert zwischen Zweifel und Hoffnung, Aufbegehren und Resignation: Momente der Gänsehaut. Das Scherzo springt gelöst herum, dabei wirkt vor allem das Trio völlig unprätentiös, was angesichts des Notensatzes einem Wunder gleicht – dafür fokussiert Schnabel sich auf die Bassführung. Wieder leichtfüßig kehrt das Finale ein, wobei Schnabel jedes der Motive in klaren Bezug setzt und so einen roten Faden durch den vielgliedrigen Satz zieht.

Schreiten wir etwas zügiger durch die darauffolgenden Sonaten, konzentrieren uns nur auf ein paar besonders auffällige Stellen. Aus der siebten Sonate op. 10/3 sticht der Largo-Mittelsatz hervor, der so enorm langsam gespielt wird, dass Schnabel jede einzelne Note mit Bedeutung füllen muss. Er setzt sie um wie eine Cellostimme; die Qualität jeden Anschlags übersteigt hierbei, so meint man zumindest, die physikalischen Möglichkeiten eines Klaviers. Im Rondo glänzt die Unterstimme, flächig klangmalerisch unterstreicht sie die Melodie, bleibt dabei in jeder Note verständlich. Die Pathétique weitet erneut die Kontraste, das Fortissimo findet seine Grenze an Robustheit und Lärmen, ohne dabei hart oder geschlagen zu wirken. Im Hin und Her, Drängen und Zurückhalten des Beginns intensiviert Schnabel die Spannung, löst sie erst im Allegro, wo er unerbittlich nach vorne zieht und ein ewiges Precipitato-Gefühl evoziert. Der Mittelsatz trumpft wieder durch seine Kantabilität auf, präsentiert romantischen Flair in klassischem Gewand. Das Finale gewinnt schließlich die lang ersehnte Leichtigkeit und Gelöstheit, auf die die ganze Sonate abzielt, beruhigt das Gemüt nach der enormen Spannung der Vorausgegangenen. Eines der wenigen Details, die mir in Schnabels Darbietungen unverständlich erscheinen, finden wir im Finale der E-Dur-Sonate op. 14/1: warum beschleunigt Schnabel auf das Crescendo? Dies unterminiert die geradlinige Fröhlichkeit des Satzes. In der folgenden G-Dur-Sonate besticht einmal mehr der Mittelsatz, trotz der kurzen Staccati hebt Artur Schnabel die Melodie in den Vordergrund und gestaltet sie kompromisslos aus. Das Scherzo avanciert zu einer aufsehenerregenden Gradwanderung zwischen operettenhafter Stimmung und düster-gespenstischem Satz, in der Kürze der Motive beinahe fragmentarisch wirkend.

Die stilistische Auswägung der mittleren Sonaten ist allgemein erwähnenswert. So ist beispielsweise die sogenannte „Mondschein“-Sonate überhaupt nicht so romantisierend gespielt, wie man sie heute viel zu oft hören muss, sondern besticht durch gehaltenes, dabei durchgängiges Tempo, das die Wirkung auf die Spitze bringt und über lange Strecken die eiserne Spannung aufrechterhält. Umso vorwärtsdrängender das Finale, welches beinahe aggressiv aufstößt und die Sforzati wie Aufschreie hervorblitzen lässt. Die folgenden Sonaten integrieren zusehends mehr orchestrale Farben in das Klavier: während das Andante der „Pastorale“ wieder einen Beweis für brillante Zweistimmigkeit mit feinsinnigem Staccato liefert, erscheint das Adagio der G-Dur-Sonate op. 31/1 bereits völlig orchestral mit Holzbläserstimmen als Melodie und dichter Streicherbegleitung. Im Finale der Pastoral-Sonate denken wir dafür, eine Harfe zu hören. In der 31/1 ist noch der Beginn zu erwähnen, der fast wie ein Scherzo daherkommt, keck virtuos, und doch ohne jegliche Form der Zurschaustellung. Wie bereits bei der Sonata quasi una fantasia, so nimmt Schnabel auch die „Sturm“-Sonate op. 31/2 keineswegs klischeehaft romantisch, er treibt die Spannung nicht durch Rubato unnötig in die Höhe, sondern lässt die Noten durch Präzision und ausgewogenen Anschlag durch sich sprechen. Das Finale stellt den bisherigen Höhepunkt von Schnabels vielseitiger Staccatokultur dar. Die Es-Dur-Sonate op. 31/3 gehört zu den Sonaten, die unbedingt mehr zu entdecken sind. Schnabel setzt sie in unendlicher Schönheit um mit augenzwinkernden Details, in springender Heiterkeit mit wohl dosierten Proportionen. Die technischen Anforderungen des Scherzos stellt er vollends in den Dienst der musikalischen Ausgestaltung; das Presto nimmt er rasend schnell, bleibt fein und technisch unscheinbar. In der „Wandstein“-Sonate op. 53 gilt es, sich die Ressourcen einzuteilen, um die Form zu bewältigen, was Schnabel durch langes Beharren in den unteren Dynamikstufen und graduellen Aufbau realisiert und so den gesamten Bogen des Satzes musikalisch ausfüllt. Im Adagio zählt dagegen jeder Ton, jede subtile Wendung wird adäquat unterstrichen, ohne sie überzubetonen. Der Beginn des Rondos schwebt förmlich über allen Wolken, so surreal wirkt das Pianissimo in Schnabels Händen.

In den späten Sonaten spreizen sich die Kontraste bis zum Zerbersten auf, dabei wird die Aussage auf ihre Weise kompakter. Ich würde mich hüten, diese Werke einer „Epoche“ zuzuordnen, denn dieser Stil ist ausschließlich später Beethoven und nichts sonst. Jede Sonate steht monumental für sich alleine in der Musikgeschichte und verlangt nach unbefangenem Herangehen, enormem Bewusstsein und musikalischer Imaginationsgabe. Schnabel blüht hier voll auf und kreiert einen Höhepunkt der Klavierkunst. Besonders die langsamen Passagen wirken wie Wunder, vollendeter Tastengesang und unendlich fein abgestufte Dynamiknuancen bereiten den Weg, die „himmlischen Längen“ zu bewältigen, die durch seine facettenreiche Artikulation und die überirdischen Pianissimopassagen (besonders -triller) bis ins Letzte ausgestaltet werden. Die flirrenden Begleitungen raunen orchestral ausgestaltet, während die Oberstimme schwebt, stets im Bewusstsein über Form und Proportion.

Die Klavierkonzerte Beethovens nahm Artur Schnabel gemeinsam mit dem London Symphony Orchestra und dem London Philharmonic Orchestra unter Leitung Malcolm Sargents auf. Das Klavier erscheint dabei auf das Orchester klanglich abgestimmt, verliert dabei nicht seine Distanz und seinen individuellen Klang, wirkt entsprechend wie ein wohl dosierter Kontrapunkt. Schnabel übernimmt eine reiche Palette an Orchesterfarben aufs Klavier, nutzt ebenso aber die rein klavierspezifischen Klangfarben, um das Zusammenspiel durch unterschiedliche Facetten zu bereichern.

[Oliver Fraenzke, Februar 2021]

Faszinierende Chor-„Briefe“ aus Dublin

Naxos 8.574287; EAN: 7 4731342877 9

Unter der Überschrift „Letters“ hat Naxos in Dublin zwei interessante, neue Chorwerke von je halbstündiger Dauer eingespielt. „A Letter of Rights“ des britischen Komponisten Tarik O’Regan (*1978) und „Triptych“ des Iren David Fennessy (*1976). Paul Hillier leitet den Chamber Choir Ireland und das Irish Chamber Orchestra.

Von den beiden hier vorgestellten, nahezu gleichaltrigen Komponisten dürfte der 1978 in London geborene Tarik O’Regan zweifellos der mittlerweile deutlich bekanntere sein – auch auf Tonträgern bereits gut dokumentiert. Vom musikalischen Spätentwickler – er lernte erst mit dreizehn Jahren das Notenlesen – mauserte sich der Schüler u.a. von Robin Holloway in erstaunlich kurzer Zeit zu einem der meistgespielten, jüngeren Komponisten Großbritanniens. 2019 wurde in Houston seine Oper The Phoenix, die sich mehr fiktiv mit dem ja später nach Amerika ausgewanderten Librettisten Lorenzo Da Ponte beschäftigt, mit Thomas Hampson als Hauptfigur uraufgeführt: ein bemerkenswertes Pastiche, natürlich weitgehend im Mozart-Stil.

A Letter of Rights war ein Auftragswerk anlässlich des 800-jährigen Jubiläums der Magna Charta von 1215, der zentralen Quelle des englischen Verfassungsrechts. Den Text der Chorkantate mit kleinbesetztem Kammerorchester schrieb Alice Goodman, die schon die Libretti für John Adams‘ Opern Nixon in China und The Death of Klinghoffer verfasst hat. In dem systematisch als Palindrom angelegten Werk werden so geschickt Klauseln aus dem historischen Vertragswerk in einen Rahmen gestellt, der dessen Entstehung beschreibt – bereits blutig beginnend mit der Tötung von Schafen zur Herstellung des benötigten Pergaments. O’Regans Musik ist überwiegend tonal und/oder modal; oft verschwimmen die Chorklänge wie in einem unscharfen Panorama. Das Orchester (Streicher und sensibel eingesetztes Schlagzeug) grundiert fast nur mit recht gleichmäßigen, rhythmisch pulsierenden Patterns, wie man sie aus der amerikanischen Minimal Music kennt: klanglich beeindruckend, aber vielleicht etwas lang.

Das Triptych (2014-18) des irischen Komponisten David Fennessy – nicht zu verwechseln mit Michael Finnissy – besteht aus drei Chorstücken a cappella: Letter to Michael bezieht sich auf einen Brief – vielmehr eine Art brut – der Heidelberger Schizophreniepatientin Emma Hauck. Ne Reminiscaris versucht, den als ‚permanent present tense‘ beschriebenen Geisteszustand von Amnesie-Betroffenen zu evozieren – in Form der Übermalung einer quasi in Endlosschleife ablaufenden Psalmvertonung Orlando di Lassos. Hashima Refrain verwendet altjapanische Graffiti und Fragmente des Sarashina Nikki aus dem 10. Jahrhundert. Fennessys Anforderungen an den Chor sind weitaus höher und differenzierter als bei O’Regan, die Musik ungleich komplexer. Hier bedarf es präzisester Intonation bis in die Mikrotonalität – und die absolut faszinierenden Klangfelder, in denen sich Archaik mit kaleidoskopartig, dicht eingesprengten Einzelereignissen mischt, benötigen perfekte Abstimmung. Fennessy gelingt mit diesem Triptychon jedenfalls eine staunenswerte Reise in die Abgründe menschlicher Psyche.

Der Chamber Choir Ireland unter Paul Hillier, dem Gründungsmitglied des ehemaligen Hilliard-Ensembles, das freilich vor allem auf Vokalmusik vor 1600 spezialisiert war, präsentiert für beide Werke überzeugende Darbietungen. Sowohl der mehr flächige Klang bei O’Regan als auch der – vor allem dynamisch – nervöse Gestus für Fennessy werden kongenial umgesetzt. Die Artikulation und der schnelle Wechsel von Klangfarben sind hinreißend. Hier passt musikalisch wirklich alles; und die Aufnahmetechnik setzt den mit 17 bzw. 16 Sänger(inne)n eher kleinen Chor gekonnt in einen groß wirkenden Raum mit ordentlicher Tiefenschärfe. Allerdings hat man bei Naxos schon informativere Booklets gesehen. Aufgeschlossene Freunde neuer Chormusik sollten diese inspirierende Produktion keinesfalls verpassen.

[Martin Blaumeiser, Februar 2021]

Barockes von Richard Strauss ohne Cinemascope

Naxos 8.574217; EAN: 7 4731342177 0

Vom französischen Barockmeister François Couperin hat Richard Strauss aus der umfangreichen, vielschichtigen Sammlung „Pièces de Clavecin“ für Ballettaufführungen zweimal eine Reihe von Stücken für Orchester gesetzt: 1923 als Tanzsuite (TrV 245), und dann nochmals 1940-41 als „Divertimento“ op. 86. Selten zusammen auf einer CD zu hören, hat sich nun Jun Märkl mit dem New Zealand Symphony Orchestra dieser unterhaltsamen Preziosen angenommen (Naxos).

Der hohe Rang von Richard Strauss‘ Orchestrierungskunst in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts steht außer Zweifel und ist sicher ein Hauptgrund für die nach wie vor ungeheure Popularität sowohl seiner sinfonischen Dichtungen wie auch etlicher seiner Opern. Relativ selten hat Strauss Werke anderer Komponisten bearbeitet (etwa Mozarts Idomeneo). Zweimal griff er dabei auf den immens vielschichtigen Fundus der immer relativ kurzen, aber geistreichen Pièces de Clavecin von François Couperin (1668-1733) zurück: 1923 mit der Tanzsuite, TrV 245, die er für eine Ballett-Soirée des Wiener Staatsopernballetts zusammenfügte und später (1940/41) noch einmal für den Münchner Ballettabend Verklungene Feste um sechs zusätzliche, mehrteilige Stücke ergänzte. Die neuen Bearbeitungen wurden dann nebst zwei weiteren als selbständiges Divertimento op. 86 veröffentlicht.

Bei genauerer Betrachtung unterscheiden sich die Werke aber recht deutlich: Zwar sind beide Zyklen gleichermaßen für kleines Orchester gesetzt, und auch schon in der Tanzsuite finden sich natürlich bereits Instrumente, die es im Barock noch gar nicht gab (Klarinetten, Celesta, Englischhorn, moderne Harfe, Teile des Schlagzeugs…). Trotzdem gelingt es Strauss, in der Tanzsuite eine recht realistische Stil-Imagination von Barockmusik herzustellen, was der aus München stammende Jun Märkl – momentan in Malaysia und Taiwan vielbeschäftigt – mit dem Nationalen Symphonieorchester Neuseelands klanglich noch unterstreicht, etwa durch streckenweises non vibrato. Die typischen Sätze einer Barocksuite (Allemande, Courante, Sarabande…) erscheinen zwar in veränderter Reihenfolge und werden um Unerwartetes – vor allem das phantastische Carillon mit Glockenspiel, Harfe, Celesta und Cembalo – bereichert, aber insgesamt bleibt der Orchestersatz durchsichtig und eher intim, nur an wenigen Stellen wird die Harmonik leicht aufgepeppt. Das klingt alles sehr hübsch und unterhaltsam – Strauss‘ Konzept wird von den sehr präzise aufspielenden Neuseeländern konsequent und mit großem Schwung umgesetzt. Märkl nimmt eher frische Tempi und hält sich mit der Dynamik zurück, behandelt gerade das Blech wie Generalbass- bzw. Colla-Parte-Instrumente. Das wirkt jedenfalls noch stimmiger als etwa in der Aufnahme der Bamberger Symphoniker unter Karl Anton Rickenbacher. An die virtuose Shownummer von Rudolf Kempe mit der Dresdner Staatskapelle kommt Märkl nicht ganz heran; die klingt aber auch bewusst schon nur nach Strauss.

Das ebenfalls achtsätzige Divertimento, wobei pro Satz bis zu fünf der unverkennbar programmatischen Charakterstücke Couperins verwurstet werden, versucht erst gar nicht, die barocke Suite zu imitieren. Hier schlägt Strauss als Instrumentator lustvoll zu, paraphrasiert, ironisiert und verfremdet – nur mittels Klangfarben! – nach Herzenslust. Das erinnert dann einerseits mehr an historisierende Werke der Romantik wie Griegs Holberg-Suite oder Regers Suite im alten Stil op. 93 und nähert sich gefährlich dem Cinemascope-Sound. Den Witz der 25 Jahre älteren Symphonie classique von Prokofjew hat das andererseits halt auch nicht. So gesehen ist das Divertimento ein gar nicht so leichter Balanceakt: Jun Märkl gelingt er dadurch, dass er wie in der Tanzsuite vor allem auf Durchsichtigkeit setzt. Diese fehlt dem dirigentenlosen Orpheus Chamber Orchestra komplett: ein dicker, zäher Brei! Dennoch ginge das alles noch eine Spur federnder, elastischer und – was den Schluss betrifft – verrückter, wie Gerard Schwarz mit der New York Chamber Symphony bewiesen hat; Märkl ist aber schon sehr nahe dran.

Aufnahmetechnisch schlägt die Naxos-Einspielung dafür die gesamte Konkurrenz: das Klangbild und die Räumlichkeit sind nahezu perfekt, die Balance angenehm. Und – verglichen mit der total verunglückten CD des österreichischen Tonkünstler-Orchesters (Der Bürger als Edelmann, wo Strauss Lully verarbeitet) – bewegt sich Jun Märkl wieder auf gewohnt hohem Niveau. Wer beide Werke noch nicht hat, dem darf man das Orchester aus Wellington damit durchaus empfehlen.

Vergleichsaufnahmen: [Tanzsuite] Karl Anton Rickenbacher, Bamberger Symphoniker (Koch/Schwann 3-6535-2, 1998); Rudolf Kempe, Staatskapelle Dresden (EMI 5 73614 2, 1973) – [Divertimento] Orpheus Chamber Orchestra (DG 435 871-2, 1991); Gerard Schwarz, New York Chamber Symphony (Nonesuch 7559-79424-2, 1986)

[Martin Blaumeiser, Januar 2021]

Die Anfänge des russischen Klaviertrios

Naxos, 8.574112; EAN: 7 47313 41127 6

Als erste Folge einer CD-Reihe zur Geschichte des russischen Klaviertrios präsentiert Naxos zwei Klaviertrios von Alexander Aljabjew, das Trio Pathétique von Michail Glinka (in einer Bearbeitung für Klaviertrio) sowie Anton Rubinsteins Klaviertrio Nr. 2. Es spielt das Brahms-Trio mit Natalija Rubinstein, Klavier, Nikolai Satschenko, Violine und Kirill Rodin am Violoncello.

Mit der vorliegenden CD beginnt das Brahms-Trio bei Naxos einen Zyklus, der die Geschichte des russischen Klaviertrios vorstellen soll. Geplant sind zunächst fünf Folgen, die die Zeit des Russischen Reiches umfassen; ob danach auch die Sowjetzeit folgt, ist mir bislang nicht bekannt. Es handelt sich um keine Gesamteinspielung (dies wäre spätestens im Falle der zur Sowjetzeit entstandenen Werke wohl auch kaum mehr zu realisieren), aber das Projekt ist dennoch ambitioniert und wird gemäß Vorankündigung auch einige Ersteinspielungen umfassen.

Der erste russische Komponist, der Klaviertrios schrieb, war offenbar Alexander Aljabjew (bzw. Alyabiev; 1787–1851). Sein Lebensweg war turbulent: Sohn eines Gouverneurs, machte er im Rahmen des Kriegs gegen Napoleon Karriere beim Militär und blieb bis 1823 Mitglied der Armee. Zwei Jahre später war er in eine Schlägerei beim Kartenspiel verwickelt, bei der ein Mensch getötet wurde, wurde inhaftiert, zeitweise nach Sibirien verbannt und stand bis zu seinem Lebensende unter Polizeiaufsicht. Nach seinem Tod blieb er zunächst vorwiegend als Komponist von Romanzen (insbesondere der „Nachtigall“) in Erinnerung, bevor Anfang der 1950er Jahre eine Reihe seiner Werke im Druck erschien, sicherlich motiviert dadurch, dass er einer der ersten Komponisten war, die in ihren Werken russische Volkslieder verwendeten.

Heute ist Aljabjew zwar sicherlich kein besonders prominenter Komponist, aber eine gewisse Beachtung findet seine Musik doch immer wieder. Er ist (wegen seines Liedschaffens) als „russischer Schubert“ bezeichnet worden, auch auf den Einfluss Beethovens wird gerne hingewiesen. Das ist zwar nicht falsch, aber treffender ist wohl, Aljabjew im Kontext seiner Zeitgenossen zu betrachten, die sich zwischen Wiener Klassik (gerade Mozart) und Frühromantik bewegten, manchmal an der Grenze zu gehobener Salonmusik. Der virtuose, passagenreiche Klaviersatz seiner Trios legt einen Vergleich mit seinem Lehrer John Field oder auch Johann Nepomuk Hummel nahe. Einen besonders ausgeprägten eigenen Tonfall wird man bei Aljabjew eher nicht entdecken, aber doch Musik, die mit den Strömungen ihrer Zeit vertraut ist und sich gekonnt in diesem Fahrwasser bewegt. So gab es in Russland also bereits vor Glinka einen fähigen Komponisten. Aljabjew freilich eine Vorreiterrolle in der Geschichte der russischen Musik zuzusprechen oder ihn gar als „heimlichen“ Vater der russischen Musik zu betrachten, halte ich für zu viel des Guten, denn selbst wenn er gelegentlich russisches Liedgut verwendet, ist doch der Weg zu Glinkas Opern noch weit.

Von Aljabjews beiden Klaviertrios ist das erste unvollendet, ein elegantes, beschwingtes, stellenweise vielleicht etwas weitschweifiges Sonatenallegro in Es-Dur, das um 1815 entstand und von seinem Herausgeber Boris Dobrochotow zur Aufführung eingerichtet wurde. Vollendet ist dagegen das zweite Trio in a-moll, das die CD auf 1834 datiert, womöglich aber schon früher entstand, vermutlich in den frühen 1820er Jahren. Ein Werk in den klassischen drei Sätzen mit einem kurzen, schwärmerischen Adagio-Mittelsatz und einem Finalrondo mit einem Hauptthema, bei dem es sich gut um ein Volkslied handeln könnte.

Auch der bereits angesprochene Michail Glinka (1804–1857) ist auf dieser CD vertreten, und zwar mit seinem Trio Pathétique in d-moll, eigentlich ein Werk für Klavier, Klarinette und Fagott, das der tschechische Geiger Jan Hřímalý für Klaviertrio eingerichtet hat. Es handelt sich dabei um ein noch recht frühes Werk aus dem Jahre 1832 in vier kurzen, ineinander übergehenden Sätzen, wobei das Finale den Kopfsatz wieder aufgreift. Die Titulierung „Pathétique“ spiegelt sich in der zwar gelegentlich aufgelockerten, aber tendenziell doch dunklen, leidenschaftlichen Grundstimmung wieder. Einen nationalrussischen Tonfall wird man in dieser Musik (noch) vergebens suchen, stattdessen verströmt das Trio mitunter deutlich stärkeren Beethoven’schen Impetus als Aljabjews Trios, zum Beispiel in den wuchtigen Unisono-Eingangstakten. Vielleicht noch prägender ist der Einfluss italienischer Oper (nicht umsonst entstand das Trio während eines längeren Italienaufenthalts), was der Musik einen effektvollen, im besten Sinne theatralischen Anstrich verleiht, etwa in arienhaften Solopassagen, dem zuweilen orchestral anmutenden Klavierpart und einer gekonnten dramatischen Kulmination am Schluss. Dabei ist das Finale insgesamt wohl der schwächste Satz, wirkt die Wiederaufnahme des Kopfsatzes doch arg gedrängt und verknappt. Insgesamt ist dieses Trio jedoch ein beachtliches Werk, und auch das Arrangement für die herkömmliche Klaviertrio-Besetzung funktioniert tadellos.

Das letzte Werk auf dieser CD stammt von Anton Rubinstein (1829–1894), der sich insbesondere als Klaviervirtuose und Organisator (er war u.a. erster Direktor des St. Petersburger Konservatoriums) einen Namen machte. Als Komponist steht Rubinstein im Schatten Tschaikowskis und der Gruppe der Fünf, und tatsächlich stehen in seinem Schaffen Quantität und Qualität nicht immer im besten Verhältnis. Das betrifft nicht nur den recht großen Umfang seines Œuvres, sondern auch manche Werke selbst, die zum Teil deutliche Längen aufweisen und nicht immer gleich inspiriert sind. Deshalb sollte man aber nicht den Komponisten Rubinstein in toto abschreiben, denn selbstverständlich kann auch ein wechselhaftes Schaffen Lohnenswertes bieten.

Von seinen fünf Klaviertrios hat das Brahms-Trio das zweite ausgewählt, ein Werk aus dem Jahre 1851 (Rubinstein komponierte bereits in jungen Jahren sehr ausgiebig). Diese Wahl erscheint gelungen, denn zum einen passt dieses Trio in seiner passionierten Art gut zu Glinkas Trio Pathétique (und im weiteren Sinne auch zu Aljabjews a-moll-Trio), und zum anderen zeigt es den Komponisten von seiner besten Seite. Zu jener Zeit orientierte sich Rubinstein vor allem an der deutschen Romantik, insbesondere Mendelssohn, und diese Einflüsse sind auch hier unverkennbar. Dabei gelingt ihm ein atmosphärisch dichtes, leidenschaftliches Werk, das auch melodisch einiges zu bieten hat – man beachte den wiegenden Beginn in Violine und Cello oder das zweite Thema des Kopfsatzes. Wie man es von einem Pianisten erwarten würde, ist das Klavierpart des Trios prachtvoll und virtuos, ohne dass deshalb aber die Streichinstrumente an den Rand gedrängt würden. Im Vergleich zu der ungefähr zeitgleich entstandenen Ersten Sinfonie ist das Trio das erheblich interessantere Werk – vielleicht ein Indiz dafür, dass im Falle Rubinstein besonders die Kammermusik Beachtung verdient.

Die Interpretationen des Brahms-Trios sind insgesamt ordentlich, aber mit Einschränkungen, die je nach Werk unterschiedlich ins Gewicht fallen. Generell fällt auf, dass sich das Trio bei der Interpretation gewisse Freiheiten erlaubt, etwa was Dynamik, Tempogestaltung und manchmal auch Kleinigkeiten im Notentext selbst erlaubt. Aljabjews a-moll-Trio interpretiert das Brahms-Trio dezidiert verhalten-melancholisch, auch leise (im Wortsinn). Besonders augenfällig ist dies natürlich, wenn in den Ecksätzen die Schlussakkorde dynamisch zurückgenommen werden, aber auch sonst wird so manches Forte eher zum Piano umgedeutet. Im A-Dur-Couplet des Finalrondos beginnt das Klavier eine Oktave höher als notiert, was der Musik einen zart-delikaten Anstrich verleiht. Freilich wirkt eine solche Darbietung tendenziell kontrastarm, was durch die Wahl der Grundtempi (in den Ecksätzen eher langsam, im Adagio eher schnell) verstärkt wird. Bis zu einem gewissen Grad ist dies Geschmackssache; einen deutlich anderen Ansatz bietet z.B. die Aufnahme mit Emil Gilels am Klavier von 1952, die temperamentvoller, manchmal vielleicht etwas zu forciert erscheint. Insgesamt ist die Auslegung des Brahms-Trios aber stimmig und verleiht der Musik Charakter, mehr als in der „korrekteren“, aber etwas blassen Einspielung des Borodin-Trios auf Chandos. Erste Wahl für beide Trios bleibt für mich indes die Aufnahme des Beethoven-Trios Bonn bei CAvi: im Vergleich zum Brahms-Trio musizieren die Bonner noch etwas flexibler, beredsamer und beseelter, was auch dem Es-Dur-Fragment sehr gut bekommt.

Ähnlich verhält es sich mit der Einspielung von Rubinsteins Trio Nr. 2, wobei in diesem Fall offenbar nur eine Vergleichseinspielung im Rahmen der Gesamteinspielung von Rubinsteins Trios durch das Edlian Trio existiert (Metronome). Mir liegt diese Aufnahme nicht vor, aber so weit ich informiert bin, wurden dort zahlreiche Kürzungen vorgenommen, die sich anscheinend auf rund fünf Minuten Musik summieren. Nun gibt es sicherlich Werke von Rubinstein, denen gewisse Straffungen nicht unbedingt schlecht bekämen. Das gilt aber nicht für dieses Klaviertrio, das mit 30 Minuten ohnehin nicht außergewöhnlich umfangreich ist. Insofern bietet das Brahms-Trio sogar die einzige Möglichkeit, das Werk in Gänze kennenzulernen (wobei die Expositionswiederholungen wie in allen Werken auf dieser CD ausgelassen werden), und dies in einer insgesamt überzeugenden Interpretation. Erneut fällt allerdings insbesondere auf, dass das Trio dazu neigt, Forte-Passagen deutlich abzuschwächen. Dies erscheint teilweise durchaus sinnig, aber spätestens im Finale, das in mancher Hinsicht einen Kulminationspunkt darstellt (mit kurzer Reminiszenz an den langsamen Satz kurz vor Schluss, Letzterer anders als in den übrigen drei Sätzen in Moll) geht auf diese Weise doch einiges an Dramatik und Verve verloren. Ein besonders extremes Beispiel ist die Passage von 3:13 bis 3:33, in der eigentlich durchgängig Forte vorgeschrieben ist und die Akkorde in den Streichern gestrichen (und nicht etwa gezupft) werden sollten.

Solche Abweichungen vom Notentext kommen in der Einspielung von Glinkas Trio Pathétique nicht vor (sieht man einmal von einer leichten Rhythmusänderung bzw. Synkopierung im zweiten Thema das Kopfsatzes ab), aber ein Blick in die Partitur zeigt, dass (zu) viele Details in Dynamik und Artikulation übergangen werden. So sollte sich beispielsweise die Dynamikspanne in der Violine im ersten Satz zwischen 3:30 und 4:20 vom Pianissimo bis zum Forte erstrecken, was in der vorliegenden Einspielung höchstens ansatzweise realisiert wird. Hier liefert das Borodin-Trio auf Chandos eine sorgfältiger ausgearbeitete und in der Konsequenz spannungsreichere Darbietung.

Die Aufnahmetechnik ist gut, aber das Cello steht teilweise etwas zu sehr im Vordergrund (z.T. Streichgeräusche an den lauteren Stellen). Das Beiheft ist eher knapp, aber informativ. Insgesamt ein interessantes Projekt mit alles zusammen ordentlichen bis guten, aber nicht herausragenden Interpretationen einschließlich der besagten Eigenarten.

[Holger Sambale, Januar 2021]