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Gegen das Vergessen -Verfolgte Komponisten in den Niederlanden: Biographien und CDs

Hentrich & Hentrich; ISBN 978-3-95565-379-8 

In einem bei Hentrich & Hentrich erschienenen Kurzbiographien-Band erinnern Carine Alders und Eleonore Pameijer an Komponistinnen und Komponisten aus den Niederlanden, die während des Zweiten Weltkriegs verfolgt und ausgegrenzt wurden. Das Buch steht in enger Verbindung mit einer bereits 2015 von Etcetera veröffentlichten 10-CD-Edition.

Verfemt, verfolgt, ins Exil getrieben, deportiert, ermordet: Von diesem Schicksal waren unzählige vorwiegend jüdische Kunstschaffende während des Nationalsozialistischen Regimes betroffen. Ihre Karriere wurde abrupt beendet und nur wenigen gelang es, in der Emigration eine neue Existenz aufzubauen oder nach dem zweiten Weltkrieg an frühere Erfolge anzuknüpfen. Die meisten gerieten in vollständige Vergessenheit. Erst in den 80er Jahren begann dank privater Initiativen, Forschungsprojekten und dem wachsenden Interesse von Musikwissenschaft und Dramaturgie die allmähliche Aufarbeitung und Auseinandersetzung mit dem Schaffen dieser Künstlergeneration. Eine Renaissance ihrer Werke läutete exemplarisch die Decca-Edition „Entartete Musik“ ein, beispielhaft sind auch die Aktivitäten des Berliner Vereins Musica reanimata oder des Wiener exil.arte Zentrums.

Ähnlich konzipiert ist die in Amsterdam ansässige Leo Smit-Stiftung. Schwerpunktmäßig widmet sie sich niederländischen Komponistinnen und Komponisten, die nach der Besatzung durch die Deutschen 1940 Repressalien aller Art ausgesetzt waren und deren Werke nicht mehr aufgeführt werden durften. Initiiert wurde sie 1996 von der Flötistin Eleonore Pameijer, nachdem sie auf Musik von Smit gestoßen war und ihre Stärke erkannt hatte. Mittlerweile integriert sie seine Stücke regelmäßig in ihre Konzertprogramme. Damit erfüllt sie eines der Ziele der Stiftung: verschüttete musikalische Schätze zu bergen, um sie ins heutige Repertoire einzubinden. Viel Arbeit steckt dahinter:  Nachlässe müssen gesichtet werden, aufgefundene, teils nur handgeschriebene Partituren eingerichtet werden.

Einen umfassenden Überblick über die bisherigen Forschungen gibt der Sammelband Verfolgte Komponisten in den Niederlanden, der 2015 von Pameijer zusammen mit der Musikwissenschaftlerin Carine Alders herausgegeben und kürzlich in deutscher Übersetzung im Hentrich & Hentrich Verlag erschienen ist. Er vereint Biographien von 34 Musikschaffenden – darunter fünf Frauen –, rekonstruiert durch Autorinnen und Autoren unterschiedlicher Profession, teilweise auch durch Verwandte. Diese Schilderungen, denen jeweils ein Foto vorangestellt ist, bringen zerstörte Lebensläufe ans Licht, erzählen von individuellen Schicksalen und dem künstlerischen Vermächtnis der Einzelnen, öffnen aber auch den Blick für das niederländische Musikleben, gesellschaftliche Querverbindungen und Zusammenhänge.

Aus der Gesamtheit ragt Leo Smit hervor, Namensgeber der Stiftung und innerhalb der „Jüdischen Miniaturen“ desselben Verlags mit der Biographie Unerhörtes Talent von Klaus Bertisch ausführlicher gewürdigt (ISBN 978-3-95565-070-4). Bereits seine ersten Orchesterstücke, die er während des Studiums komponierte, wurden vom Concertgebouw aufgeführt. Mitte der 20er Jahre zog er nach Paris und lernte dort die französische Musikeravantgarde kennen, deren Einflüsse fortan sein weiteres Schaffen – einiges für größeres Orchester, vorwiegend aber Kammermusiken in verschieden Besetzungen – prägte. Als er nach fast 10 Jahren 1937 nach Holland zurückkehrte, hatte sich die politische Lage bereits verschärft, so dass sich sein Wirkungskreis bald auf jüdische Institutionen beschränkte. Sein letztes und heute bekanntestes Werk, eine Sonate für Flöte und Klavier, vollendete er nur einige Tage vor der Deportation ins Vernichtungslager Sobibor, wo er Ende 1943 ermordet wurde.

Dieses Schicksal teilte Smit mit seinem begabten Schüler Dick Kattenburg. Er kam mit nur 24 Jahren in Auschwitz um, genauso wie der Synagogalkomponist und Chorleiter Simon Gokkes und das pianistische Wunderkind Mischa Hillesum. Dessen Schwester Etty hinterließ Tagebücher, die zu den bedeutendsten holländischen Zeugnissen der Besatzungszeit gehören.

Das Glück, zu überleben, hatten nur wenige. Beispielsweise Sem Dresden, Direktor des Konservatoriums in Den Haag, bedeutender Lehrer und einer der Leitfiguren des holländischen Musiklebens, der untertauchen konnte. Oder der deutsche Komponist und Pazifist Wilhelm Rettich, den eine frühere Klavierschülerin versteckte. Er gehört, wie auch die ungarischen Musiker Géza Frid und Zoltán Székely zur Gruppe jüdischer Tonkünstler anderer Nationalität, die hofften, in den bis 1940 neutralen Niederlanden, Schutz zu finden.

Andere gingen aktiv in den Widerstand: Marius Flothuis, vor und nach dem Krieg künstlerischer Direktor des Amsterdamer Concertgebouw, half untergetauchten Juden und wurde selbst interniert, Leo Kok, künstlerisch mehrfach begabt und politisch seit jungen Jahren aktiv, schloss sich der französischen Résistance an.

Auch Rosy Wertheim, die sich schon als junge Frau für sozial Schwache engagiert hatte, widersetzte sich den Anordnungen der Besatzung. Sie organisierte illegale Konzerte mit verbotener Musik, musste dann aber selbst untertauchen. Wertheims Biographie ist für ihre Zeit besonders bemerkenswert. Sie war eine der ersten Komponistinnen ihres Landes und lebte zeitweise in New York, Wien und Paris, wo sie einen Künstlersalon unterhielt, in dem führende Musiker ein- und ausgingen.

Forbidden Music in World War II (10 CD)

Etcetera, KTC 1530; Ean: 8711801015309

Im Anhang der Biographien, von denen hier nur ein Bruchteil skizziert werden kann, befinden sich Auflistungen der verwendeten Quellen und der erstaunlich umfangreichen Diskographie. Aus diesen Tondokumenten, die überwiegend bei kleineren Labels erschienen sind, stellte die holländische Firma Etcetera eine Kompilation zusammen. Sie heißt Forbidden Music in World War II und ist das quasi unverzichtbare musikalische Pendant zur Lektüre. Die Box enthält zehn prall gefüllte CD’s mit Musik von einem Großteil der im Buch Porträtierten. Die Bandbreite der zwischen 1900 und 1967 entstandenen Kompositionen reicht von großbesetzter Sinfonik über Solokonzerte bis zu Kunstliedern. Meist aber sind es kammermusikalische Werke in verschiedenen Kombinationen, angepasst an die Bedingungen unter denen sie entstanden. Was ihnen gemein ist: sie spiegeln die Vielfalt der damaligen zeitgenössischen Strömungen wider.

Dominierend ist der Blick nach Frankreich, zumal von denjenigen, die einige Zeit dort lebten und durch erste Hand inspiriert wurden. In Leo Smits farbschillernden Ballettmusik Schemselnihar sind die Impressionisten, Debussy und Ravel, allgegenwärtig, in Rosy Wertheims Streichquartett steht die auf Vereinfachung und Klarheit zielende Groupe de Six Pate und Leo Kok komponierte den Gesangszyklus Sept Mélodies Retrouvées im Stil der Mélodie francaise.

Zur Unterhaltungsmusik fühlte sich Dick Kattenburg hingezogen. Seine Kammermusik ist durchpulst von Jazzelementen und Tanzrhythmen, etwa in der Sonate für Flöte und Klavier mit ihrer Melodik, den süffigen Harmonien und dem Tangorhythmus im Mittelsatz. Andererseits setzte er sich musikalisch mit seinen Wurzeln auseinander. Lebensfreude in dunkler Zeit versprühen seine auf hebräische Melodien basierenden Palästinensischen Lieder.

Lex van Delden hingegen knüpfte in manchen Orchesterstücken an neoklassizistische Traditionen à la Strawinsky an, scheinbar unberührt von avantgardistischen Tendenzen. Der Komponist, der sich nach dem Krieg für die Belange niederländischer Musikschaffender einsetzte, erhielt selbst besondere Wertschätzung, als in den 60er Jahren einige seiner sinfonischen Werke vom Concertgebouw Orchester unter so bedeutenden Dirigenten wie Bernard Haitink, Eugen Jochum und George Szell aufgeführt wurden. Die erhaltenen Life-Mitschnitte sind ein bedeutender Teil der Anthologie.

Noch viel mehr gibt es zu entdecken in dieser schier unerschöpflichen musikalischen Fundgrube, nur einiges kann als Kostprobe erwähnt werden: Die aufs Wesentliche komprimierte Klavier-Sonate und das Streichquartett von Nico Richter, die sich in Richtung Wiener Schule orientieren und in ihrer Kürze an Anton von Webern erinnern; die freche Modern Times Sonata für Geige und Klavier von Ignace Lilien, die den Geist der 20er Jahre einfängt und mit seinem sozialkritischen Gesangszyklus Mietskaserne kontrastiert; eine spätromantische Konzertouvertüre und ein Nonett von Jan van Gilse; die fast gleichzeitig in den 50er Jahren entstandenen duftigen Dialoge für Harfe und Flöte von Theo Smit Sibinga und Marius Flothuis; effektvolle, klangfarbenreiche Solokonzerte für Flöte bzw. Klavier und Kammerorchester von Henriëtte Bosmans; französische Chansons von Marjo Tal, von ihr selbst vorgetragen.

Den Großteil der Einspielungen bestreitet ein Stamm von Musizierenden. An erster Stelle muss die Flötistin Eleonore Pameijer genannt werden. Sie hat sich mit Leib und Seele der Rehabilitation dieser Werke verschrieben und wirbt für sie mit ihrer ganzen spieltechnischen und interpretatorischen Kompetenz. Einher geht dieses Engagement mit der Partnerschaft zu einer Reihe von hochkarätigen Instrumentalisten und Instrumentalistinnen, die in unterschiedlichen Formationen aufeinandertreffen. Zu ihnen gehören die Sopranistin Irene Maessen, die Geigerin Marijke van Kooten, die Cellistin Doris Hochscheid, die Harfenistin Erika Waardenburg und die Pianisten Frans van Ruth und Marcel Worms. Ihre Vertrautheit beim Zusammenspiel ist stets spürbar, aber auch das Wissen um feine Abstimmungen, kluge Strukturierung, Klangfarben und Phrasierung.

Abgeschlossen ist der Wiedererweckungsprozess noch lange nicht. Doch sukzessive werden Lücken geschlossen und der Öffentlichkeit präsentiert. Ja, „Musik muss erklingen“. In dieser bemerkenswerten Anthologie tut sie es auf beispielhafte Weise.

Karin Coper [Juli 2021]

Ungarische Streichtrios der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts

Naxos, 8.551406; EAN: 7 30099 14063 8

Unter dem Titel „Hungarian Serenade“ spielt das Offenburger Streichtrio für Naxos selten gehörte Werke von Sándor Veress, Géza Frid, Ferenc Farkas, László Weiner sowie Rezső Kókai ein.

Denkt man an ungarische Serenaden für Streichtrio, so fällt einem womöglich zuallererst Ernst von Dohnányis wunderbarer, kultiviert-delikater Gattungsbeitrag ein. Die vorliegende CD befasst sich jedoch mit der Generation ungarischer Komponisten, die auf Bartók und Kodály folgte; vier der fünf Komponisten sind nahezu gleichaltrig (Jg. 1904 bis 1907), und auch sonst fallen eine Reihe von Gemeinsamkeiten auf: Sándor Veress (1907–1992), Géza Frid (1904–1989) sowie László Weiner (1916–1944) waren Schüler Kodálys, Veress und Frid verbrachten einen Großteil ihres Lebens im Exil, Frid und Weiner hatten jüdische Wurzeln, und während es Frid in den Niederlanden gelang, sich vor den Nationalsozialisten zu verstecken, kam Weiner 28-jährig im Konzentrationslager Łuków ums Leben. Ferenc Farkas (1905–2000) und Rezső Kókai (1906–1962) hingegen verbrachten ihr ganzes Leben in Ungarn.

Abseits biographischer Fakten stehen sich die Kompositionen dieses Albums aber auch stilistisch nahe, was nicht zuletzt damit zusammenhängt, dass es sich beim Großteil der hier versammelten Trios um frühe Werke (aus Studientagen) handelt. Speziell gilt dies für Veress’ Sonatine für Violine und Violoncello (um 1926/27 entstanden und als einziges Werk auf dieser CD nicht für Streichtrio), aber auch noch seine erst in den 1970ern entstandenen Tänze aus Szatmár bzw. Somogy (sein 1954 entstandenes meisterhaftes Streichtrio, hier nicht enthalten, ist dagegen wesentlich avancierter), Frids Streichtrio op. 1 (1926) sowie Farkas’ Notturno für Streichtrio op. 2 (1927). Tatsächlich gehen die Ähnlichkeiten bis hin zu den verwendeten Tonarten (es dominieren stets die Grundtöne A, D und G, was sicher nicht zufällig mit den leeren Saiten der Streichinstrumente korrespondiert). Alle diese Werke sind deutlich von ungarischer Volksmusik beeinflusst, und selbstverständlich sind Kodály und Bartók die zentralen Leitbilder. Dabei ist es eher der gemäßigte Bartók, der hier Pate steht: so sind etwa seine Rumänischen Volkstänze insbesondere mit den beiden Tänzen von Veress vergleichbar, aber die Radikalität und den expressiven Gestus von Bartóks Streichquartetten findet man in den Werken auf dieser CD eher nicht. Ein echtes frühes Meisterwerk ist Frids kraftvolles, ambitioniertes Trio, das nicht nur vom Titel her keine Serenade ist. Besonders hervorzuheben ist der dunkel getönte, intensive Mittelsatz mit einem konflikthaften Mittelteil, in welchem die Instrumente vor dem Hintergrund gebrochener Akkorde erregt zu dialogisieren scheinen. Veress’ Sonatine ist (obwohl erheblich kürzer) mit der großen Duosonate von Kodály vergleichbar, zumal im Finale. Der Titel von Farkas’ Notturno ist eher im Mozart’schen Sinne als eine Art kurzes Divertimento zu verstehen, ein reizvolles und eingängiges Werk in zwei knappen Sätzen.

Weiners Serenade für Streichtrio (nicht zu verwechseln übrigens mit dem Streichtrio des älteren Leó Weiner) entstand 1938 und ist sein frühestes überliefertes Werk, sicherlich ebenfalls Kodály verpflichtet, aber insgesamt lyrischer, poetischer als die vorherigen Werke auf dieser CD. Speziell im Kopfsatz sorgt die lydische Einfärbung der Melodik für eine latent sehnsuchtsvolle Note, aber auch der langsame Satz ist innig empfunden, bevor das fugierte Finale für einen frischen Kehraus sorgt. Kókai schließlich war Schüler Hans Koesslers, kam somit per Ausbildung eher von der Spätromantik her und entwickelte zunächst nicht im Gefolge von Kodály und Bartók einen eigenen Ansatz eines nationalen ungarischen Stils. Die Serenade für Streichtrio, wohl bereits 1949/50 entstanden (die CD gibt 1956 an), ist ein reifes Werk, das nur hier und da noch spätromantische Wurzeln verrät. Der in den schwungvollen Ecksätzen, speziell im Finale, manifeste Serenadencharakter wird im langsamen Satz (als Recitativo. Notturno e Canzone bezeichnet) in Frage gestellt, und tatsächlich steht dieser Satz einem Nachtstück im Wortsinne näher als Farkas’ im Grunde genommen weitgehend unbeschwertes Werk diesen Titels.

Das Offenburger Streichtrio setzt sich mit dieser CD also insbesondere für selten gespieltes Repertoire ein. Im Falle der Werke von Veress scheinen keine Alternativeinspielungen zu existieren (die Sonatine erschien erst posthum im Druck), und die Serenade von Kókai gab es bislang nur auf einer Hungaroton-LP. Die übrigen drei Werke liegen zusätzlich in CD-Einspielungen jüngerer Zeit vor (Farkas auf Toccata, Weiner auf Hungaroton sowie Cobra Records, Frid auf Cedille Records). Dabei schneidet das Offenburger Streichtrio insgesamt sehr gut ab. Besonders hervorzuheben ist der homogene Gesamtklang des bereits seit 40 Jahren bestehenden Ensembles. Speziell die lyrischen, (titelgebend) serenadenhaften Seiten der Musik gelingen sehr gut, wie etwa in Farkas’ Notturno. Hier und da würde den Interpretationen allerdings eine etwas differenziertere, die Spannungsbögen der Musik deutlicher nachvollziehende Herangehensweise gut bekommen, gerade in einem (vom Anspruch her) großformatigeren Werk wie dem Trio von Frid oder dem Finale von Weiners Serenade, das einen kräftigeren Zugriff mit mehr Temperament vertragen könnte. Insgesamt handelt es sich aber um durchwegs sehr solide Interpretationen. Die Tonqualität der CD ist tadellos.

Das vom Cellisten Martin Merker verfasste Beiheft liefert kurze und bündige Informationen zu Komponisten und Werken, ohne allzu sehr ins Detail zu gehen. Hier und da wäre bei näherem Hinsehen etwas Differenzierung nötig: Farkas kann zwar sicherlich als experimentierfreudiger Komponist bezeichnet werden, aber auf Basis eines folkloristisch geprägten, konzisen Neoklassizismus; inwiefern Kókai im kommunistischen Ungarn Repressalien ausgesetzt war, wäre ebenfalls einer genaueren Erläuterung würdig (immerhin war er dreifacher Erkelpreisträger der Jahre 1952, 1955 und 1956). Andererseits ist derlei vielleicht in der gebotenen Kürze eines Begleittextes nicht unbedingt erwartbar.

Insgesamt eine erfreuliche Veröffentlichung, die ganz besonders für ihre nicht alltägliche Repertoirezusammenstellung gelobt werden muss.

[Holger Sambale, April 2021]