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Gordon Sherwood zum 10. Todestag

Der Lebenslauf Gordon Sherwoods darf mit Fug und Recht als einer der ungewöhnlichsten gelten, die sich in der Musikgeschichte finden lassen. Frühzeitig preisgekrönt und mit einer Aufführung an exponiertester Stelle ins Licht der Öffentlichkeit gerückt, anschließend in jahrelangen Aufbaustudien bei besten Lehrern ausgebildet, entschied sich der 1929 geborene US-Amerikaner schließlich gegen eine Laufbahn im etablierten Musikbetrieb und zog jahrzehntelang rastlos kreuz und quer über den Globus. Er sah über 30 Länder auf fünf Kontinenten und durchstreifte als Künstler die Musikkulturen der Welt ebenso wie das klassische Erbe der abendländischen Musik. Den Entbehrungen eines strapaziösen Wanderlebens zum Trotz schuf er, unablässig weiter komponierend, ein sich auf nahezu alle Gattungen der Instrumental- und Vokalmusik erstreckendes Gesamtwerk von bemerkenswerter stilistischer Vielfalt. Vor zehn Jahren, am 2. Mai 2013, endete dieses abenteuerliche Leben im oberbayerischen Peiting. Anlässlich seines Todestages sei hiermit ausführlich an Gordon Sherwood erinnert!

Gordon Holt Sherwood kam am 25. August 1929 in Evanston nahe Chicago zur Welt. Seine musikalische Begabung zeichnete sich früh ab, doch legten seine Eltern keinen Wert darauf. Stattdessen ließen sie ihn zwischen seinem zwölften und fünfzehnten Lebensjahr in Kadettenanstalten unterbringen. Der Drang des empfindsamen Jungen zur Musik wurde durch den militärischen Drill, den er über sich ergehen lassen musste, aber nur gesteigert. Nachdem er 1944 zum ersten Mal Beethovens Siebte Symphonie gehört hatte, stand für ihn fest, dass er Komponist werden würde. 1950 nahm er ein Musikstudium an der Western Michigan University in Kalamazoo auf, das er 1953 mit dem Bachelor of Music abschloss. Ab 1954 studierte er an der University of Michigan in Ann Arbor und erwarb dort 1956 den Master of Music. Bereits während seiner Studienzeit gewann er 1955 den 1. Preis beim nationalen Wettbewerb für junge Komponisten der National Federation of Music Clubs. Während seines Studiums erschloss sich Sherwood die Vielfalt der zeitgenössischen und historischen Kompositionsstile abendländischer Musik. Die stärkste Wirkung übte das Schaffen Johann Sebastian Bachs auf ihn aus, doch beschäftigte er sich intensiv auch mit allem anderen, was ihm an Musik begegnete, bis hin zu Bartók, Stravinsky, Schönberg und den Nachkriegsavantgardisten. Aus einer Prüfungsaufgabe heraus entstand seine Erste Symphonie op. 3, deren letzte beide Sätze er als „Introduction and Allegro“ 1957 zum 12th Gershwin Memorial Award einreichte. Sherwood erhielt den Preis, wobei die Stimme von Dimitri Mitropoulos den Ausschlag gab, der das Werk anschließend mit dem New York Philharmonic Orchestra in der Carnegie Hall uraufführte. Dies schien der Beginn einer vielversprechenden Karriere zu sein. Sherwood konnte sich in Tanglewood kurzzeitig bei Aaron Copland weiterbilden, und, mit Stipendien ausgestattet, den Sprung über den Atlantik wagen. Seine Studienaufenthalte an der Hamburger Musikhochschule bei Philipp Jarnach und in Rom an der Accademia Santa Cecila bei Goffredo Petrassi krönte er 1967 mit einem weiteren Kompositionspreis.

Den scheinbar folgerichtigen Schritt, sich mit diesen optimalen Voraussetzungen um eine feste Position im öffentlichen Musikleben zu bemühen, tat Sherwood jedoch nie. Anstatt in Europa oder Amerika eine abgesicherte Existenz, etwa als Kompositionsprofessor, zu führen, ging er gemeinsam mit seiner Ehefrau Ruth, einer Sängerin aus Hamburg, in den Nahen Osten. Zunächst zogen sie nach Kairo, wo Sherwood die Musik zu Fatin Abdel Wahabs Spielfilm Ard el Nifaq (Land der Heuchelei) komponierte. Von 1968 bis 1970 hielten sie sich in Beirut auf – damals, vor den Verheerungen des Libanesischen Bürgerkriegs, weithin als „Paris des Nahen Ostens“ gerühmt – und verdienten ihren Lebensunterhalt u. a. durch gemeinsame Auftritte in Hotels. Als Bar- und Kinopianist entdeckte Sherwood während dieser Zeit die Welt des Blues, Ragtime und Boogie-Woogie für sich. Nach einem weiteren Aufenthalt in Ägypten und einer Reise durch Griechenland, wandten sich die Sherwoods 1972 nach Kenia und ließen sich in Nairobi nieder, wo sie, unterbrochen durch kürzere Aufenthalte in Mombasa und Nakuru, acht Jahre lang lebten. Hier begann Gordon Sherwood ein Studium in Kisuaheli, das er mit Diplom abschloss. Er bemühte sich um eine Förderung durch die Familie des Staatspräsidenten Jomo Kenyatta, doch letztlich ohne Erfolg. Zunehmende Ehekonflikte und das Auslaufen der Aufenthaltsgenehmigung ließen ihn 1980 einen Schlussstrich unter sein bisheriges Leben ziehen. Er trennte sich von Ruth und begab sich, vom Buddhismus begeistert, auf eine Reise durch Südostasien. Mit seinem letzten Geld flog er von Singapur nach Oslo, von wo man ihn nach London abschob. Nachdem er dort erstmals gebettelt hatte, wurde er in die USA ausgewiesen und fand sich schließlich in einem New Yorker Obdachlosenheim wieder. Nach kurzzeitiger finanzieller Unterstützung durch seinen früheren Studienkollegen George Crumb ging Sherwood 1982 nach Paris.

Zunächst versuchte er dort an ein Geschäftsmodell anzuknüpfen, das er bereits während seiner Zeit im Libanon praktiziert hatte: seine Kompositionen an Passanten zu verkaufen. Bald allerdings merkte er, dass er mehr Geld verdienen konnte, wenn er die Leute direkt um Almosen bat. So entschied er sich für ein Leben nach dem Vorbild buddhistischer Bettelmönche und wurde „Selbst-Sponsor“. Seine Zeit teilte er dabei streng ein: Einen Teil des Jahres widmete er dem Gelderwerb auf der Straße; war er finanziell gut genug abgesichert, zog er sich in Domizile zurück, die ihm Freunde zur Verfügung stellten, um ungestört zu komponieren, oder ging auf Reisen, um sich in fernen Ländern zu eigenem Schaffen inspirieren zu lassen, stets mit einem Diktiergerät und einer Stimmgabel im Gepäck. Vom offiziellen Musikleben mittlerweile völlig abgeschnitten, als Komponist nur einer Anzahl kreuz und quer über die Welt verstreuter Eingeweihter bekannt, wurde er 1995 durch Erdmann Wingerts Filmportrait Der Bettler von Paris einem deutschen Publikum vorgestellt. Die in Deutschland lebende russische Pianistin Masha Dimitrieva sah die Dokumentation zufällig im Fernsehen und nahm sofort Kontakt mit Gordon Sherwood auf, der sich zu dieser Zeit bevorzugt in Costa Rica aufhielt. Ihrem begeisterten Einsatz für sein Schaffen verdanken nicht nur mehrere Kompositionen Sherwoods ihre Entstehung, es gelang ihr auch 2004 dem fast 75-jährigen Komponisten zu seinem CD-Debüt zu verhelfen: Für cpo hatte das Bayerische Landsjugendorchester unter der Leitung Werner Andreas Alberts neben der Ersten Symphonie die Sinfonietta op. 101 und, mit Masha Dimitrieva als Solistin, das Klavierkonzert op. 107 aufgenommen. Nachdem bereits im Jahr 2000 sein in Zusammenarbeit mit der Weltmusikgruppe Die Dissidenten entstandenes, oratorienartiges Werk Memory of the Waters op. 113 (Das Gedächtnis des Wassers, die originale Gattungsbezeichnung lautet „Dokumentar-Oper“) in Berlin erfolgreich uraufgeführt worden war, konnte Sherwood schließlich noch erleben, wie seine Musik allmählich bekannt zu werden begann. Seit 2005 lebte er in der diakonischen Kolonie Herzogsägmühle in Peiting, wo man sein Gesamtwerk digitalisierte. Solange es seine Gesundheit zuließ, unternahm er auch von dort noch Reisen. Er starb 2013, kurz nachdem er die Zusage zur Uraufführung seiner Dritten Symphonie op. 118, der Blues Symphony, erhalten hatte.

Gordon Sherwood war ein unabhängiger Künstler, der ausschließlich Musik schuf, die seinen eigenen Vorstellungen von Schönheit und künstlerischer Vollendung entsprach. So wenig es ihn reizte, auf das Rücksicht zu nehmen, was er einmal als Tagesmode oder Konvention erkannt hatte, so breit gestreut waren seine musikalischen Interessen: Indische Ragas, japanische Tempel- und arabische Volksmusik konnten ihn genauso in ihren Bann schlagen wie Johann Sebastian Bach und die Wiener Klassiker; Thomas „Fats“ Waller und Thelonious Monk nicht weniger als Arnold Schönberg, Béla Bartók und Paul Hindemith. Abneigungen hegte er lediglich gegen primitive Militärmusik und die sentimentalen Lieder Stephen Fosters, die ihn an die traumatischen Erfahrungen seiner Jugendzeit erinnerten und ihm als klingende Entsprechungen materialistischer Weltsicht und entseeltem Funktionierenmüssens erschienen. Reizte ihn dagegen ein klingendes Phänomen zur künstlerischen Auseinandersetzung, so reagierte er darauf ohne Berührungsängste, sei es Musik von der Straße oder Beethovens op. 111.

Eine Entwicklung von einem „Früh-“ zu einem „Spätwerk“ lässt sich bei Sherwood nicht feststellen. Er ist bereits in seinen ersten gültigen Werken ein ebenso stilsicherer wie technisch virtuoser Komponist. Die Vorliebe für kontrapunktischen Tonsatz, dissonanzreiche Harmonik, chromatische Melodik, markante Rhythmen, unregelmäßige Metren und konzise Formung aus tonalen Spannungen heraus lässt ihn als Vertreter einer für die USA der 1950er Jahre typischen Stilrichtung erscheinen, die der Musikhistoriker Walter Simmons als „Modern Traditionalism“ bezeichnet hat. Sherwood pflegte dieses Idiom sein ganzes Leben lang gewissermaßen als seinen „Grundstil“. Die von Blues und Jazz inspirierten Werke bauen ebenso darauf auf wie die folkloristischen. Lediglich wenn er streng auf den Spuren der Wiener Klassiker oder Johann Sebastian Bachs wandelt, beschränkt sich der Komponist auf die Kunstmittel der traditionellen Funktionsharmonik, handhabt diese allerdings auf so charakteristische Weise, dass bei aller Anlehnung an die Vorbilder ein „echter Sherwood“ entsteht.

Sherwood war sich sicher, dass sich seine persönliche Ausdrucksweise in jeder seiner Kompositionen zeige, gleich welchen Aufgaben er sich in dem jeweiligen Stück gestellt hatte. Es störte ihn folglich auch nicht, dass sein Werk für manchen Beobachter eklektisch, ja auf den ersten Blick betont uneinheitlich wirken musste. Dabei lag ihm kaum etwas ferner als ein ungefüges Nebeneinander disparater Elemente. Überblickt man sein Gesamtschaffen, so fällt im Gegenteil auf, dass er ganz genau abwog, welche Stile er in seinen Kompositionen wie zusammenbrachte. Das scheinbar ungefilterte Einströmen verschiedenster akustischer Reize gibt es bei ihm sehr wohl. In der autobiographischen Beggar Cantata op. 99, in der er seine Zeit auf den Straßen von Paris thematisiert, dient es ihm als Mittel zur Darstellung des großstädtischen Chaos, mit dem sich der Held des Werkes herumzuschlagen hat. Auf ähnliche Weise lässt er im Gedächtnis des Wassers, ganz unterschiedliche Musikidiome aufeinander treffen, um das kulturelle und historische Erbe der Donauregion zu verdeutlichen. Doch sind dies programmatisch motivierte Einzelfälle. Im Übrigen liegt den Sherwoodschen Kompositionen die Grundidee der Synthese zugrunde: Der Komponist spürt im musikalischen Material Verbindungen auf, um Einheit zwischen verschiedenen Musiksphären zu stiften. Sein Gespür für tonale Zusammenhänge – in klassischem Dur-Moll wie im Blues, im modern-dissonanten Tonsatz wie in nichtabendländischen Volksmusikmodi – ist ihm dabei ein zuverlässiger Kompass. Stets formbewusst, sorgt Sherwood in allen seinen Werken für eine wohlproportionierte Entfaltung der jeweiligen musikalischen Gedanken und tendiert eher zur Kürze als zur Länge. Die meisten seiner sonatenförmigen Instrumentalwerke dauern deutlich weniger als eine halbe Stunde.

Sherwood hinterließ ein Gesamtwerk von 143 Opuszahlen, darunter drei Symphonien, ein Klavierkonzert, mehrere Dutzend Kammermusikwerke vom Solo bis zum Oktett, vier Klaviersonaten und zahlreiche kleinere Klavierstücke, Chormusik von der A-cappella-Motette bis zur symphonischen Kantate und über 80 Lieder. Zehn Jahre nach seinem Tode liegt nur ein kleiner Teil dieses Schaffens gedruckt vor. Fünf Werke (der Klavierzyklus Boogie Canonicus op. 50, die Sonata in Blue für Klavier zu vier Händen op. 66, 4 Duos für Flöte und Viola op. 102, die Blues Symphony op. 118 und 10 Stücke für Altsaxophon solo op. 125) sind bei Ries & Erler erschienen. Die Beggar Cantata und die 3 Stücke für Chor a cappella op. 35 können vom Verlag Sonus Eterna erworben werden. Letzterer hat auch den Großteil der bislang erschienenen Sherwood-CDs veröffentlicht. Unter Federführung Masha Dimitrievas, der Verwalterin des künstlerischen Nachlasses Sherwoods, entstanden bislang jeweils zwei CDs mit Klavierwerken und Liedern (gesungen von Felicitas Breest). In absehbarer Zeit wird sich ihnen eine Aufnahme der Orgelkompositionen, eingespielt von Kevin Bowyer, anschließen. Von Sherwoods Orchestermusik kann man sich durch das bereits erwähnte cpo-Album mit der Symphonie Nr. 1, dem Klavierkonzert und der Sinfonietta ein Bild machen. Für Telos Music haben Matthias Veit und Henning Lucius die Sonata in Blue aufgenommen. Die 4 Stücke für Harfe op. 135 gibt es auf einer Eigenproduktion der Harfenistin Xenia Narati zu hören, das Posaunenquartett op. 87 auf dem Album „Trombonismos“ von Trombones de Costa Rica. Die Dissidenten haben den Uraufführungsmitschnitt von Memory of the Waters herausgebracht. Bei Archipel erschien 2022 die Aufführung des Finales der Ersten Symphonie durch das New York Philharmonic unter Dimitri Mitropoulos aus dem Jahr 1957.

Für weiterführende Informationen stehen Masha Dimitrieva und der Verlag Sonus Eterna zur Verfügung.

[Norbert Florian Schuck, Mai 2023]

„Musik, Politik und Krieg“ – Boris Yoffes zurückgewiesener Beitrag für Musik & Ästhetik

Im September 2022 schrieb der Komponist und Essayist Boris Yoffe auf Anfrage der Zeitschrift Musik & Ästhetik einen Text für ihre Rubrik „Forum“. Als Thema wurde ihm „Musik, Politik und Krieg“ mitgeteilt. Die Zeitschrift akzeptierte Yoffes Statement und teilte dem Autor mit, es werde unter dem von einem Redakteur vorgeschlagenem Titel „Zwischen Mythos und Metaphysik“ zusammen mit einer kurzen Biografie Yoffes veröffentlicht werden. Ende Oktober jedoch erhielt Yoffe eine E-Mail von einem anderen Redakteur, in der es hieß, der Beitrag sei abgelehnt worden als dem Thema „Krieg in der Ukraine“ nicht entsprechend. Auf die Bemerkung Yoffes, das Thema sei ursprünglich ganz anders formuliert worden, kam seitens Musik & Ästhetik keine Antwort. Über die Gründe der plötzlichen Absage soll hier nicht spekuliert werden. Mittlerweile ist Heft 105 von Musik & Ästhetik, das Yoffes Text enthalten sollte, erschienen. Das „Forum“, bestehend aus acht Texten von Alla Zagaykevych, Ludmilla Yurina, Luigi Gaggero, Dániel Péter Biró, Ričardas Kabelis, Agnes Krumwiede, Friedrich Geiger und Gerhard R. Baum kann auf der Seite der Zeitschrift kostenlos heruntergeladen werden (siehe hier). The New Listener ergänzt diese Textsammlung nun um den zurückgewiesenen Beitrag Boris Yoffes. (D. Red.)

Meines Erachtens handeln Menschen weitgehend irrational; man glaubt an bestimmte Mythen und gestaltet sein Leben als ein System von Ritualen, die die Glaubwürdigkeit der entsprechenden Mythen untermauern sollen. Dabei spielt das Ästhetische die zentrale Rolle; das Glänzen einer Uniform, die laute Marschmusik und die flammenden patriotischen bzw. den Feind dämonisierenden Reden gehören zum Rituellen, und ich fürchte, dass das Zerstören, Vernichten, das Foltern und Morden auch eine Art sadistischer Rituale sind, die sich mit einer Ideologie bzw. Mythologie ohne Weiteres rechtfertigen lassen.

Ich erlaube mir hier an die wunderbaren, bewundernswerten Meisterwerke Beethovens und Generationen von Romantikern zu erinnern, die einen ethisch ambivalenten, wenn nicht zu sagen naiven, bis zur Lächerlichkeit reichenden Heroismus-Mythos verkörpern. Auch die Kunst der Moderne wurde weitgehend von den dualistischen Vorstellungen eines Kampfes des Guten mit dem Bösen geprägt.

Das Ethische ist leider grundsätzlich eher sekundär und lässt sich relativieren, je nach Profit, Spaß oder Überlebensstrategie. Die hohe Kunst, die sich mit den zentralen existenziellen Fragen auseinandersetzt, und zwar auf einer unmittelbaren, intuitiven Ebene – jenseits von Kalender, Reisepass und Bankkonto – wie eine praktische Metaphysik –, kann die Menschheit beeinflussen, ja grundsätzlich verändern, weil sie eben das Ästhetische (u. a. im Kern der Persönlichkeit) unmittelbar behandelt. Aber nur so… Das Schaffen Wagners wäre das naheliegendste Beispiel dafür, wie die radikalen Veränderungen im kulturellen Mythos – und die sind nicht mit Manifesten zu erreichen, sondern nur durch die unmittelbare Kraft der Kunst, des Ästhetischen – die Geschichte lenken: weg vom Christentum zu den esoterischen Strömungen (die übrigens keinen Krieg gescheut haben) und zur sexuellen Revolution…

Dass ein Künstler sich als Mensch, als Bürger sozial oder unter Umständen auch politisch engagieren kann, ist jedoch selbstverständlich und steht hier gar nicht zur Debatte.

[Boris Yoffe, September 2022]

Boris Yoffe, 1968 in Leningrad (Sankt Petersburg) geboren und seit 1997 in Deutschland wohnhaft, ist nach dem Urteil seines Kompositionslehrers Wolfgang Rihm „eine der begabtesten und eigenwilligsten Erscheinungen unter den Komponisten seiner Generation“ und beschreibt sich selbst als „Einzelgänger – zwischen Kulturen (deutsch, jüdisch, russisch), Gebieten (Musik, Philosophie, Religion, Wissenschaft), zwischen Sakralem und Absurdem, strenger Konsequenz und eigenwilliger Unvorhersehbarkeit.“ Seine von polyphonen Strukturen geprägte Musik, in welcher immer wieder die intensive Auseinandersetzung des Komponisten mit der Renaissance, dem Barock und der Klassik zu spüren ist, verzichtet auf äußerliche Effekte und versteht sich als „eine individualistische Auseinandersetzung mit Ästhetischem, die keinen Anspruch auf Innovation erhebt und dabei etwas Befreiendes mit sich bringt“. Es ist eine zeitlose Kunst von zerbrechlicher Schönheit und hoher Konzentration. Yoffe schrieb u. a. die drei Kammeropern Die Geschichte von dem Rabbi und seinem Sohn (2002), Esther de Racine (UA Basel 2006) und Madame Lenine (UA Freiburg 2017), eine Symphonie für Gitarre, Gambe, Violoncello und Stimme, eine Messe für Chor a cappella sowie zahlreiche Vokal- und Kammermusikwerke in verschiedensten Besetzungen. Als sein Hauptwerk betrachtet er sein Quartettbuch, ein seit 1995 ununterbrochen fortgesetztes musikalisches Tagebuch, bestehend aus tausenden kurzer Stücke für Streichquartett. Yoffe ist auch als Autor philosophischer und musikhistorischer Bücher hervorgetreten. Besondere Aufmerksamkeit erregte seine monumentale Geschichte der sowjetischen Symphonik Im Fluss des Symphonischen (Hofheim 2014). Weitere Buchveröffentlichungen: Musikalischer Sinn (Hofheim 2012), ABCH, Ambivalente Strukturen bei Bach und ihre Semantisierung (Nordhausen 2021), Bruckner in Venedig / Bruckner a Venezia (Nordhausen 2022).

[Norbert Florian Schuck, Januar 2023]

Musik zur Weihnachtszeit: Reinhard Schwarz-Schilling

Reinhard Schwarz-Schilling (1904–1985), Komponist der von Gott und Mensch, Mysterium, Passion und Gebet handelnden Kantate Die Botschaft, der Missa In Terra Pax, einer der großen A-cappella-Messen des 20. Jahrhunderts, sowie zahlreicher kleinerer kirchenmusikalischer Werke, war ein sakraler Künstler durch und durch. Wie Anton Bruckner, dem er größte Verehrung entgegenbrachte, und Heinrich Kaminski, der sein wichtigster Lehrmeister war, zählt er zu jenen musikalischen Schöpfernaturen, die sich auch dann in einer geistlichen Sphäre bewegen, wenn sie nicht explizit für kirchliche Anlässe komponieren oder einen religiösen Text vertonen. Ein feierlicher Grundton prägt sein gesamtes Schaffen, verdichtet sich zu innigster mystischer Versenkung oder steigert sich in hymnisch-ekstatische Verkündigung hinein; stets auf Grundlage einer Polyphonie, die keine akademische Handwerksarbeit ist, sondern ein von blühendstem Leben durchdrungenes gegenseitiges Umranken selbstständig geführter Stimmen, die immer singen, das Werk sei vokal oder instrumental.

Es verwundert vor diesem Hintergrund nicht, dass Schwarz-Schilling im Laufe seines Lebens auch wiederholt Musik mit Bezug zum Weihnachtsfest geschrieben hat. Der gemeinsamen Thematik zum Trotz handelt es sich bei den entsprechenden Kompositionen um Werke sehr unterschiedlichen Charakters. Das Thema „Weihnachten“ wird von Schwarz-Schilling musikalisch gleichsam aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet.

Aus dem Jahr 1947 stammt eine schlicht Weihnachtsmusik (WV 79) betitelte Sammlung aus zwölf Choral- und Liedsätzen. Sie enthält folgende Titel:

  • Ave Maria zart
  • Ein Kind geborn zu Bethlehem
  • Gott sei Dank durch alle Welt
  • Herbei o ihr Gläubigen
  • In dulci jubilo
  • Kommet ihr Hirten
  • Kommt und lasst uns Christum ehren
  • Mein Herz will ich Dir schenken
  • Singet frisch und wohlgemut
  • Vom Himmel hoch o Englein kommt
  • Was ist für neue Freud
  • Wie schön leuchtet der Morgenstern

Diese zwei- und dreistimmigen Sätze, die gleichermaßen von Singstimmen wie von Instrumenten ausgeführt werden können, sind wunderbare Beispiele edler Einfachheit. Die Spieler und Sänger finden hier handwerklich feinstgearbeitete weihnachtliche Miniaturen vor, ohne vor unüberwindliche Herausforderungen gestellt zu werden. Ohne Weiteres können die Stücke zum häuslichen Musizieren oder als gottesdienstliche Musik verwendet werden.

Eine Schallplattenaufahme aus dem Jahr 1960 (Cantate, T 72719 K/1960) zeigt sehr schön das Potential der vielfältigen Besetzungsmöglichkeiten. Unter der Leitung von Wilhelm Ehmann musizieren hier Maria Friesenhausen und Rotraut Pax (Sopran), Frauke Haasemann (Alt), Rosemarie Lahrs (Violine), Hanni Hennig (Violine und Viola), Heinrich Haferland (Violoncello) und Arno Schönstedt (Orgel) eine Auswahl von acht Stücken der Sammlung, die teils a cappella, teils rein instrumental, teils gemischt erklingen und in der gewählten Anordnung wie eine kleine Kantate klingen. Die Weihnachtsmusik, die der Komponist 1977 einer Revision unterzog, ist in der Edition Merseburger erschienen.

1958 komponierte Schwarz Schilling im Auftrag des RIAS eine Adventskantate für Sopran oder Tenor, zweistimmigen Frauen- oder Männerchor, Violine, Viola und Orgel über das Lied O Heiland reiß die Himmel auf (WV 61). Die Melodie aus dem Rheinfelßischen Gesangbuch von 1666 wird in sämtlichen neun Teilen des etwa zehnminütigen Werkes streng als Grundlage festgehalten, sodaß in rein musikalischer Hinsicht eine Art Variationszyklus entsteht. Dem kleinen Ensemble entlockt der Komponist durch Wechsel in der Besetzung und Satztechnik, nicht zuletzt durch kontrastreiche Charakterisierung der einzelnen Liedstrophen ein Maximum klanglicher Vielfalt.

In einem kurzen Vorspiel für die Orgel allein wird die Melodie des Liedes angedeutet, bevor sie in Orgel und Streichinstrumenten vollständig erklingt. Bereits hier werden ihre einzelnen Abschnitte imitatorisch verarbeitet. Anschließend singt der Chor, dezent von den Instrumenten begleitet, die erste Strophe. Die zweite Strophe wird vom Solosopran vorgetragen, wobei die Streichinstrumente leise bebende, rezitierend anmutende Tonwiederholungen spielen. Der sehr sanfte Charakter dieses Abschnitts korrespondiert mit dem „Tau“, den Gott in dieser Strophe aufgefordert wird vom Himmel zu gießen. In belebterem Rhythmus verdeutlicht der Chor das Ausschlagen der „Blümlein“ aus der Erde. Die Fragen und Bitten der nächsten Strophe („Wo bleibst Du, Trost der ganzen Welt?“, „O komm, ach komm vom höchsten Saal“) lässt Schwarz-Schilling echoartig versetzt vom Chor vortragen. Dem sorgenvollen Ton dieses Teiles antwortet der Sopran in höchster Lage, unterstrichen vom Strahlen der Violine: „O klare Sonn, du schöner Stern.“ In imitatorischem Satz klagt der Chor ein letztes Mal: „Hier leiden wir die größte Not.“ Dann wird das Stück von einer Choralbearbeitung nach traditioneller Art beschlossen, die das innere Gleichgewicht wieder herstellt und dem Ganzen ein zuversichtliches Ende gibt: „Da wollen wir all danken Dir, unserm Erlöser für und für.“ O Heiland reiß die Himmel auf ist wie die Weihnachtsmusik bei Merseburger erschienen und wurde auf derselben Schallplatte aufgenommen wie diese. Beide Aufnahmen erschienen nach dem Tode des Komponisten in einer 5 CDs umfassenden Privatedition der Familie Schwarz-Schilling, die nicht für den Handel bestimmt war, sich aber in einigen Musikhochschulbibliotheken finden lässt.

Bereits unter Schwarz-Schillings Jugendwerken findet sich ein weihnachtlich konnotiertes Stück. Es handelt sich um die Variationen über ein Weihnachtslied, die im Januar und Februar 1920 entstanden, als der Komponist im 16. Lebensjahr stand und noch seinen ursprünglichen Namen Reinhard Schwarz trug. Ihnen liegt das Lied „Menschen, die ihr wart verloren“ zugrunde. Zwar sind sie für Klavier gedacht, dürften sich aber auch für die Orgel eignen und in weihnachtlichen Aufführungen verwenden lassen. Mit der komplexen Polyphonie der späteren Werke Schwarz-Schillings wartet diese frühe Arbeit noch nicht auf, zeugt aber bereits von der Phantasie des Komponisten als Harmoniker und von seinem Sinn für tonale Entwicklungen: Die letzte Variation steht in Des-Dur, bevor die Coda zum C-Dur des Themas zurückkehrt. Mit zwei weiteren frühen Klavierstücken zu einem Band vereinigt, sind diese Variationen in der Reihe Beyond the Waves bei Musikproduktion Jürgen Höflich erschienen.

[Norbert Florian Schuck, Dezember 2022]

Eine griechische Tragödie…

Sony Classical 19439888252; EAN 0194398882529

Das Jahr 2022 war hinsichtlich der Veröffentlichung von Tonträgern nicht weniger interessant und ergiebig als die vorangegangenen Jahre. Wenn nun also das große Fest des Verschenkens und Beschenktwerdens vor der Tür steht, dann gibt es so einiges, was in Frage kommt: die sensationellen Ersteinspielungen der Streichquartett-Symphonie von Gavriil Popov (Quartet Berlin Tokyo auf eigenem Label) und der Quartette Nr. 3 und 5 von Conrado del Campo (Quatuor Diotima im Vertrieb von outheremusic); Celibidache und die Münchner Philharmoniker mit Sibelius’ 5. Symphonie und Stravinskys Feuervogel-Suite von 1919 (Eigenlabel der Philharmoniker) oder Karel Ančerl mit einer großen Vermächtnis-Box mit vielen wunderbaren Raritäten (Supraphon); einiges weitere fällt mir noch ein, doch editorisch steht der Höhepunkt des Jahres fest, und dies nicht nur, weil vieles bisher nicht Greifbare erstmals zu bekommen ist, sondern überhaupt, weil es sich um eines der ganz großen Vermächtnisse des vergangenen Jahrhunderts handelt: sämtliche kommerziellen Aufnahmen von Dimitri Mitropoulos, dem überragenden Genie der griechischen Musik.

Nicht nur seit Beginn der Digital-Ära, nein: seit mehr als 60 Jahren warten die Verehrer von Dimitri Mitropoulos auf eine Anthologie seiner durchweg US-amerikanischen Studio-Aufnahmen, die er zwischen Dezember 1938 und Februar 1958 fast ausschließlich in New York und Minneapolis machte: in den 1940er Jahren als Chefdirigent des Minneapolis Symphony Orchestra (des heutigen Minnesota Symphony), in den 1950er Jahren als Chefdirigent des Philharmonic Symphony Orchestra von New York (des heutigen New York Philharmonic) und als erster Gastdirigent an der Metropolitan Opera. Warum hat das so lange gedauert – während die meisten anderen legendären Chefdirigenten der großen US-Orchester wie Arturo Toscanini, Fritz Reiner, Pierre Monteux, George Szell, Charles Munch, John Barbirolli, Eugene Ormandy, Jean Martinon oder Leonard Bernstein längst mehrfach abgefeiert und auch Serge Koussevitzky oder der unglaublich vielseitige Leopold Stokowski mit einer unüberschaubaren Zahl von Editionen bedacht wurden?

Manchmal sind es die Nachwehen einer großen Tragödie, die auch dann noch ihre Echos aussenden, wenn die Nachgeborenen die einstigen Ereignisse längst nicht einmal mehr vom Hörensagen kennen. Und in diesem Fall ist es auch noch eine griechische Tragödie…

Dimitri Mitropoulos in den 1950er Jahren.
Quelle: The New York Public Library Digital Collections

Geboren 1896 in Athen, wuchs Dimitri Mitropoulos in einer Familie auf, deren hochbegabte junge Männer meist Priester wurden. Zugleich war seine musikalische Begabung früh offensichtlich, und der belgische Komponist Armand Marsick – einst Schüler von Ropartz und d’Indy sowie Freund von Saint-Saëns und Ysaÿe, bis zum Ausbruch des griechisch-türkischen Krieges Direktor des Athener Konservatoriums – nahm ihn unter seine Fittiche. Mitropoulos wollte seine beiden Lebensadern unter einen Hut bringen und erbat die Aufnahme ins orthodoxe Klosterleben unter Beibehaltung seines Musikerstatus. Die Absicht scheiterte am Verbot des instrumentalen Musizierens, sonst wäre aus ihm vielleicht eine Art griechischer Parallelerscheinung des piemontesischen Priester-Komponisten Lorenzo Perosi geworden. Also begleitete er Marsick nach Rom und wurde zu einem lebenslangen Anhänger der Lehren des San Francesco d’Assisi. Dessen Ideal einer nicht-hierarchischen, jedem Mitglied gleichen Rang gewährenden Gemeinschaft wollte er als Musiker verwirklichen, und als sich herausstellte, dass er vor allem Dirigent sein würde, übertrug er diese Haltung auf seine Orchester, wofür ihn seine Musiker liebten, was ihm aber letzten Endes auch zum Verhängnis werden sollte.

Doch zunächst verstand er sich noch primär als tiefschürfender Komponist und brillanter Pianist. Er ging nach Berlin zu Ferruccio Busoni, der ihm auf einen Schlag das austrieb, was man damals in fortschrittlichen Kreisen als romantische Flausen ansah. Mitropoulos, der von seiner Grundveranlagung her immer rückhaltlos aus tiefster Seele schöpfen musste, war als Komponist auf sich selbst zurückgeworfen. Schnell zeigte sich seine immense dirigentische Begabung, 1921–25 wirkte er als Assistent unter Erich Kleiber an der Berliner Staatsoper, also bei genau dem richtigen Mann, um den Pionier der Moderne in ihm heranreifen zu lassen. Dann folgte er einem Ruf zurück nach Athen, wo er sich in der muffigen, von Eifersucht vergifteten musikalischen Provinz unter widrigsten Bedingungen als begnadeter Orchestererzieher emporarbeitete. Eine gigantische Sensation war dann sein Debüt 1930 bei den Berliner Philharmonikern: Egon Petri, der allseits beglaubigte Statthalter der Busoni-Schule, sagte im letzten Moment als Solist in Prokofieffs 3. Klavierkonzert ab, und Mitropoulos fragte zuerst bescheiden nach, ob das akzeptabel sei, um dann in diesem horrend herausfordernden Werk am Klavier einzuspringen. Er dirigierte vom Instrument aus, lieferte eine fulminante Vorstellung ab und frappierte die etablierte musikalische Welt. Fortan stand seiner internationalen Karriere nichts Wesentliches mehr im Wege, und überall wurde er mit seinem eine Sensation garantierenden Prokofieff-Wunderkonzert eingeladen.

1936 debütierte er beim Boston Symphony Orchestra, wo er sofort als Kronprinz von Serge Koussevitzky gehandelt wurde, und als er im folgenden Jahr wiederkehrte, lud man ihn auch nach Minnesota ein, wo das Orchester gerade – nach dem Weggang Eugene Ormandys nach Philadelphia – nach einem neuen Leiter Ausschau hielt. Ormandy hatte übrigens 1934–35 in Minneapolis für RCA als Recording Pioneer erstaunliche Einspielungen gemacht, darunter Mahlers Zweite und Bruckners Siebte, die auf unzählige Schellacks verteilt wurden und soeben sämtlich in einer 11-CD-Box bei Sony Classical verfügbar gemacht worden sind. Man kann, wenn man beispielsweise die damals so populäre Hary-János-Suite von Kodály hört, sehr eindrücklich den Unterschied zwischen dem frischen, charmant entspannten Musikanten Ormandy in seiner wohl besten Zeit und dem Existenzialisten Mitropoulos hören. (Auch Schönbergs Verklärte Nacht und Jaromír Weinbergers robust zündende Polka und Fuge aus Schwanda der Dudelsackpfeifer laden zum direkten Vergleich ein.)

Jedenfalls nahm Mitropoulos die Herausforderung in Minneapolis im Sturm, und auch die Fortführung der RCA-Aufnahmen übernahm er, nachdem er seine Musiker zu nie dagewesenem Glanz geführt hatte. Er leitete die Geschicke dieses Orchesters, das plötzlich von einem provinziellen Klangkörper zu einem der angesehensten der USA wurde, durch die schweren Jahre des II. Weltkriegs und machte Minneapolis zu einer musikalischen Bastion des Unerhörten und Modernen. Ab 1946 US-amerikanischer Staatsbürger, war er auf die Musikszene in seiner Heimat kaum besser zu sprechen als später sein Kollege Sergiu Celibidache auf das Musikleben im kommunistischen Rumänien unter Ceaușescu. 1950 wurde er, nach mehreren umjubelten Arbeitsphasen am Big Apple, von den New Yorker Philharmonikern abgeworben. Im ersten Jahr teilte er sich die Leitung mit Leopold Stokowski, der zu jener Zeit durch eine schwere persönliche Krise ging, und im darauffolgenden Jahr war er alleiniger Chefdirigent des prestigeträchtigsten Orchesters jenseits des Atlantiks.

Diese Position klingt nach künstlerischer Allmacht, wird jedoch in ihrer Autorität überschätzt. Vom Management wurde ihm schnell signalisiert, dass er sich in der Repertoireauswahl mehr am etablierten Werkkanon und den berühmten Solisten – also am immer noch lebendigen Vorbild Toscaninis – zu orientieren habe, und so focht er bis zum Ende einen leidenschaftlichen Kampf für alles Neue und Unbekannte. In seiner Auswahl findet sich kein Anzeichen ideologischer Scheuklappen, jedoch natürlich ein Schwerpunkt US-amerikanischer Musik, worunter ihm Zeitgenossen wie Morton Gould, Peter Mennin, Roger Sessions, Howard Swanson oder auch David Diamond besonders am Herzen lagen. Im Laufe der Jahre wurde er allerdings zur Zielscheibe der New Yorker Kritik, die auf die zunehmenden Unruhen und Beschwerden aus dem Orchester reagierte und ihn letztlich – in Person des neuen Chefkritikers der New York Times, Howard Taubman – abschoss. Er wollte Gleicher unter Gleichen sein, was er – nicht bereit, offenkundig sich gegen ihn verhaltende Musiker abzustrafen – mit dem Messer im Rücken bezahlte. Zu jenem Zeitpunkt, 1957, hatte er schon seinen ersten Herzinfarkt hinter sich, doch dachte er nicht an Schonung und verausgabte sich weiterhin komplett im Dienst an der Kunst. Mittlerweile war er zudem zum Favoriten der MET avanciert, wo auch die Kritik nicht anders konnte, als seine umwerfend dramatischen, vom ersten bis zum letzten Ton fesselnden Aufführungen zu bejubeln. Und als Orchesterdirigent wandte er sich nun zurück nach Europa, wo er nach dem Tode des in vielem geistesverwandten Wilhelm Furtwängler schnell der Lieblingsdirigent der Wiener Philharmoniker wurde. Vor allem seine Aufführungen der Symphonien Gustav Mahlers und von Werken von Richard Strauss und Franz Schmidt machten ihn zum Gegenstand einer kultischen Verehrung, die aufgrund der vielen erhaltenen Live-Aufnahmen unverändert anhält. Mitropoulos starb – wie es sich gehört, kann man in seinem Fall sagen – am 2. November 1960 während einer Probe für Mahlers Dritte in der Mailänder Scala an seinem dritten Herzinfarkt. Das Bergsteigen, das er so sehr liebte, hatte er längst aufgeben müssen, doch Kettenraucher war er nach wie vor. Er hat alles, auch die komplexesten neuen Werke, auswendig dirigiert und kannte die Musik bis ins kleinste Detail besser als die versiertesten unter den Komponisten, die das Glück hatten, von ihm aufgeführt zu werden. Leider gibt es von ihm nur ganz wenige Aufnahmen von Werken der Klassiker, und da hat viel Neid und üble Nachrede dazu geführt, seine Leistungen zu marginalisieren. Mitropoulos war im Leben ein Asket, manche haben ihn sogar als Masochisten bezeichnet, in der Musik hingegen von unwiderstehlicher Strahlkraft mit seinem alles und jeden in Bann ziehenden Lebenswillen, seiner unaufhaltsam pulsierenden Entdeckungsfreude und einer Intensität ohnegleichen.

Nun also wird die weltweite Mitropoulos-Gemeinde für ihr 60jähriges Warten entschädigt, indem Sony Classical sämtliche RCA- und Columbia-Aufnahmen des bedeutendsten griechischen Musikers des 20. Jahrhunderts in einer luxuriös ausgestatteten 69-CD-Box veröffentlicht. Das hat so lange gedauert, da die Plattenfirma in diesem Unternehmen vom New York Philharmonic – wo Mitropoulos seit Bernsteins Zeiten bis heute ein ähnlicher Interimsstatus zugeschrieben wird, wie ihn die Berliner Philharmoniker unter Karajan gegenüber Celibidache als Image etablierten – kaum nennenswerte Unterstützung erfuhr. Und in Minneapolis hatte man einfach nicht die Ressourcen, um dies ambitionierte Vorhaben entsprechend mit voranzutreiben. Dass Mitropoulos ein Genie – dies nicht nur als Dirigent, sondern auch als Pianist und (was man erst heute allgemein anzuerkennen beginnt) als Komponist – war, stand stets außer Zweifel, und mit genau dieser Etikettierung warb die Columbia schon damals für seine New Yorker Aufnahmen. Doch zugleich war es seine kompromisslos auf die Angelegenheiten der Musik konzentrierte Hingabe, die ihn für Fragen des Prestiges und der Macht blind sein ließ. Er agierte selbstlos als Dirigent, bezahlte oft Projekte, die nicht die nötige Unterstützung erhielten, aus der eigenen Tasche, half auch jedem anderen Bedürftigen großzügig mit seinem Geld aus, bis er selbst keines mehr hatte; und diese Selbstlosigkeit erwartete er zugleich von seinen Mitstreitern, was dazu führte, dass er von der Columbia keine besseren Bedingungen forderte und daher schlechter behandelt wurde als beispielsweise die Kollegen aus Philadelphia unter ihrem viel oberflächlicheren, jedoch sehr auf gute Politur bedachten Chefdirigenten Eugene Ormandy. Nicht nur hatte Ormandy wie auch Bruno Walter und George Szell bei der Auswahl des Repertoires überwiegend freie Hand, es wurde dort auch weitaus großzügiger mit den zur Verfügung gestellten Aufnahme-Sessions verfahren. In New York unter Mitropoulos hingegen wurden alle Beteiligten auslaugende Mammut-Sessions anberaumt, die heute schlicht absurd überfordernd wirken, und man kann sich nur wundern, wie es unter derart desaströsen Bedingungen überhaupt zu solchen Leistungen kommen konnte. So wurden am 2. November 1952 Borodins 2. Symphonie (eine der großartigsten Mitropoulos-Einspielungen), 4 Tänze von de Falla und von Mendelssohn drei Ouvertüren und die Symphonien Nr. 3 und 5 aufgenommen. Und am 11. November 1957, als das gemeinsame Schiff schon im Sinken begriffen war, brachte man nach Star Spangled Banner Mussorgskys Nacht auf dem kahlen Berge, eine umfangreiche Suite aus Prokofieffs Romeo und Julia sowie Tschaikowskys Slawischen Marsch und – zum Schluss – die Pathétique unter Dach und Fach. Wie sollte der Tschaikowsky da noch so passioniert gespielt werden können wie der Prokofieff? Und wie hätten die Mendelssohn-Symphonien noch jene Frische haben können, die sie im Konzert hatten? Ganz abgesehen davon, dass es auch kaum Zeit für Nachkorrekturen gab und möglichst alles sofort reibungslos zu klappen hatte. Es ist also ein schlichtes Wunder, dass die meisten dieser Einspielungen trotzdem zum Fesselndsten und Mitreißendsten gehören, was je auf Schallplatte gebannt wurde. Die Mendelssohn-Symphonien beispielsweise genießen bis heute Referenzstatus. Und die legendäre Aufnahme des Schönberg-Violinkonzerts mit Mitropoulos’ Freund Louis Krasner wurde – wie Krasner ausführlich geschildert hat – in der letzten halben Stunde eines ganztägigen Aufnahmeprojekts spontan eingeschoben, ohne die Gelegenheit zu auch nur einer minimalen Nachkorrektur.

Wir können daran sehen, wie widrigste Bedingungen die Menschen über sich selbst hinaus wachsen lassen, wie sie aber auch der langfristigen Stabilität einer Beziehung im Wege stehen und die Strahlkraft und Begeisterung auch großartigster künstlerischer Erlebnisse allmählich aushöhlen. Mitropoulos und sein Orchester haben sozusagen Übermenschliches geleistet, und am Ende hat man ihn dafür verflucht und sich seinem Zögling Leonard Bernstein, der ihn letztlich auch verriet, an die Brust geworfen. Zumal Bernstein das damals so gefährliche Thema seiner Homosexualität mit einer glanzvollen Heirat kaschierte, wogegen Mitropoulos, der stets lebte wie ein Mönch, wegen seiner homosexuellen Veranlagung ins Gerede geriet. Insofern ist die nun vorliegende CD-Anthologie nicht nur ein später Triumph seiner unnachahmlichen Kunst, sondern auch ein Akt dessen, was man Wiedergutmachung nennt.

Es ist nicht einfach, Highlights aus dieser Sammlung zu benennen. Viele, darunter die Opernaufnahmen wie Bergs Wozzeck, Barbers Vanessa, Mussorgskys Boris Godunov oder Verdis Maskenball – allesamt mit Traumbesetzungen –, wie seine Berlioz-, Scriabin-, Prokofieff- oder Schostakowitsch-Einspielungen, Schönbergs Erwartung mit Dorothy Dow oder das 5. Beethoven-Konzert mit Robert Casadesus galten sofort als maßstabsetzend und sind es bis heute geblieben. Andere sind weniger bekannt geworden, und unter diesen möchte ich besonders die hinreißende Aufnahme von Tschaikowskys 1. Orchestersuite erwähnen, mit ihrem frappierend fugierenden Kopfsatz, der zu seinen symphonischen Gipfelleistungen zählt und hier mit maximaler Differenzierung, Spannkraft und bezwingend organischer Geschlossenheit dargeboten wird; eine feine, in ihrer erfüllten Unschuld besonders berührende Aufnahme des 3. Beethoven-Konzerts mit dem jungen Jean Casadesus; Dukas’ Zauberlehrling und die Schumann-Symphonien. Oder die nur mit Hilfe unabhängiger Funds eingespielten Symphonien Nr. 2 von Roger Sessions und Nr. 3 von Peter Mennin sowie das Symphonic Allegro des jungen Roy Travis. Besonders Mennins Dritte – vom meines Erachtens bedeutendsten Symphoniker, den die USA hervorgebracht haben – ist auf die Fähigkeiten Mitropoulos’ geradezu ideal zugeschnitten: unaufhaltsames Momentum in den Ecksätzen, dabei ständig in vollem Auskosten der Sensitivität der Tonbeziehungen, von flammendem Leben erfüllt. Und verinnerlichter Fluss, Palestrina-artiges Verständnis des kontrapunktischen Gewebes in modernem Harmoniegewand im lyrischen Mittelsatz. Da findet man auch die Verbindung zum Komponisten Mitropoulos, wie sie in der lyrischen Ekstase des 19jährigen im Orchesterstück Taphé (Begräbnis) mitzuerleben ist, von welchem bei YouTube eine wunderbar einfühlsam disponierte Aufführung unter Ioannis Protopapas vorhanden ist. Oder in seinem letzten Orchesterwerk, dem gnadenlos über Stock und Stein jagenden, quasi den mittleren Bartók vorwegnehmenden Concerto grosso von 1928, welches unlängst in einer Neuaufnahme bei Bridge Records veröffentlicht wurde. Wie sehr bedaure ich, dass Mitropoulos selbst sich nicht mehr um seine eigenen Kompositionen kümmerte, wie dies Furtwängler und de Sabata gelegentlich und selbst Celibidache bei einer Gelegenheit getan haben. Doch das Vermächtnis Mitropoulos’ ist – auch wenn er kaum Skalkottas dirigiert hat und seine Aufführungen großer Werke seiner Landsmänner Perpessas und Petrides nicht ins Aufnahmestudio mitbrachte – eine gigantische Lebensleistung, und was in dieser Anthologie von den von ihm so geliebten Meistern Mahler, Strauss, Schönberg, Krenek oder Schnabel fehlt, kann man großenteils in seinen Live-Aufnahmen nacherleben. Und es steht außer Zweifel, dass – wenn man die Entstehungsbedingungen der Columbia-Aufnahmen in Betracht zieht – der Unterschied zwischen Konzert- und Studioaufnahmen bei ihm nicht größer war als etwa bei Celibidache die Differenz zwischen Konzerten und Aufnahmen in den Rundfunkstudios. Es ist eigentlich immer live, wie es die Musik ihrem Wesen nach seit jeher ist.

[Christoph Schlüren, Dezember 2022]

Musikalischer Chronist der ukrainischen Geschichte – Jewhen Stankowytsch zum 80. Geburtstag

Holodomor, Babyn Jar, Tschernobyl – den Schreckensereignissen der ukrainischen Geschichte hat Jewhen Stankowytsch eindringliche Mahnmale in Tönen errichtet. In den folkloristischen Traditionen seiner Heimat tief verwurzelt, steigerte er deren Elemente zu einem scharf profilierten Personalstil und schuf zahlreiche Orchester-, Kammermusik-, Vokal- und Bühnenwerke. Das Friedensgebet mit dem er seine 2015 entstandene Kammersymphonie Nr. 12 schloss, blieb bis heute unerhört. In einem vom Krieg erschütterten Land beging Jewhen Stankowytsch, einer der großen Komponisten unserer Zeit, am 19. September 2022 seinen 80. Geburtstag.

Jewhen Fedorowytsch Stankowytsch (zur Zeit der Sowjetunion auch in der russischen Form seines Namens als Jewgenij Fjodorowitsch Stankowitsch bekannt, in englischen Veröffentlichungen Yevhen Stankovych geschrieben) stammt aus der Oblast Transkarpatien, dem ethnisch gemischten Grenzgebiet der Ukraine zu Polen, der Slowakei, Ungarn und Rumänien. Er kam 1942 in Swaljawa als Sohn einer Lehrerfamilie zur Welt. Im Alter von zehn Jahren erlernte er das Spiel auf dem Bajan (dem osteuropäischen Knopfakkordeon) und versuchte sich bald in der Komposition. An der Musikhochschule der Oblasthauptstadt Ushhorod studierte er Violoncello, bevor er 1961 ans Konservatorium nach Lemberg wechselte, wo er ersten Kompositionsunterricht von Adam Sołtys erhielt. Nach mehrjähriger Unterbrechung durch den Militärdienst setzte er seine Studien 1965 am Kiewer Konservatorium, der heutigen Nationalen Musikakademie der Ukraine P. I. Tschaikowskyj, fort. Sein wichtigster Lehrer war dort Borys Ljatoschynskyj, der herausragende ukrainische Symphoniker seiner Zeit. Nach dessen Tod 1968 schloss Stankowytsch seine Komponistenausbildung bei Myroslaw Skoryk ab.

Stankowytsch wuchs in ein sowjetisches Musikleben hinein, für das Dmitrij Schostakowitsch bereits ein Klassiker war. Auch waren die ersten Regungen eines westlich orientierten Avantgardismus spürbar geworden. In der Ukraine hatte namentlich Walentyn Sylwestrow während der 1960er Jahre mit Kompositionen, die sich der Zwölftonmethode bedienten, für Aufsehen bzw. bei den Kulturbehörden für Unmut gesorgt. Nach wie vor waren in der staatlich geförderten Musikpublizistik jene Stimmen beherrschend, die den „Sozialistischen Realismus“ als ästhetische Richtlinie für das kompositorische Schaffen propagierten. In diesem Umfeld erfuhren Stankowytschs Frühwerke gleichermaßen Zustimmung wie Ablehnung. Einerseits erhielt er Preise, sein Ruf als eines der hervorragendsten Nachwuchstalente der ukrainischen Musik festigte sich, anderseits musste er heftige Kritik über sich ergehen lassen. Die Kulturfunktionäre wussten nicht recht, wie sie ihn einzustufen hatten. Teils erschienen ihnen seine Werke als zu modern, teils als zu – folkloristisch! So wurde seine erste Oper Wenn der Farn blüht 1979 unmittelbar vor der bereits angesetzten Uraufführung verboten (sie kam erst 2017 in Lemberg auf die Bühne). Zwar basiert die Musik des Stückes auf originalen ukrainischen Volksgesängen, doch wurde der Inhalt, der keinerlei Bezüge zur sowjetischen Gegenwart aufweist und stattdessen Kulte der heidnischen Frühzeit und die Lebenswelt der Saporoger Kosaken beschreibt, zum Anlass genommen, das Werk unter dem Vorwurf des Nationalismus aus dem Programm zu verbannen. Auch entfaltet Stankowytsch, der sich nach eigener Aussage vom „Melos der Zentral-Ukraine bzw. von der einzigartigen Mehrstimmigkeit des Saporoger Sitsch, also des Kosakentums, einerseits und von Karpaten- oder Huzulen-Folklore anderseits“ inspirieren ließ, hier mit betont archaisierender Harmonik und dem Einsatz zahlreicher Schlaginstrumente ein Folklorepanorama, dessen Eigenart sich kaum mit Begriffen wie „traditionell“ oder „modernistisch“ erfassen lässt.

Ein Avantgardist ist Stankowytsch in der Tat nie gewesen. Die formbildende Kraft der Tonalität hat er in seinem Schaffen nie verleugnet und auch in der Wahl der Gattungen stets die Anbindung an die Tradition gesucht. Einer bestimmten Stilrichtung oder Schule lässt er sich allerdings kaum zurechnen. Charakteristisch für Stankowytschs Komponieren ist sein breites Spektrum harmonischer Stilmittel. Die Einfachheit der heimatlichen Folklore und des orthodoxen Kirchengesangs fungieren als ein gedachtes Zentrum, von dem ausgehend er zu komplexen Harmoniegebilden gelangt, die jedoch stets die Beziehung zum Ursprung wahren. Von der Diatonik zum Cluster ist es für Stankowytsch nur ein kleiner Schritt – vor allem ein Schritt, bei dem die Richtung klar ist. Seine Fähigkeit zur musikalischen Synthese zeigt sich in seinen Werken besonders dann, wenn er originale Volksmelodien verarbeitet. Sie fügen sich nahtlos in den Kontext einer dissonanzgesättigten modernen Harmonik ein, die letztlich auf den gleichen Grundlagen aufbaut wie die Diatonik der Folklore. Viele Werke Stankowytschs gewinnen ihre Spannung aus der Gegenüberstellung scharf kontrastierender Gedanken. Elementare, grobkörnige Kurzmotive wechseln mit ausgedehnten elegischen Kantilenen. Auch instrumentatorisch werden diese Kontraste hervorgehoben. Überhaupt ist Stankowytschs Einfallsreichtum als Instrumentator schier unerschöpflich. Man höre sich einmal seine zwischen 1973 und 2003 entstandenen sechs Symphonien an, die sich in ihren Besetzungen deutlich voneinander unterscheiden. In Nr. 1 und Nr. 4, der Sinfonia larga und der Sinfonia lirica, verlangt er nur nach 15 bzw. 16 Solostreichern, denen er eine solche Vielfalt an Klängen abgewinnt, dass man mitunter meint, ein vollbesetztes Symphonieorchester zu hören. Nr. 2, die Heroische, und Nr. 6 sind seine einzigen Symphonien für eine „gewöhnliche“ Besetzung. Bei Nr. 3, Ich bestärke mich selbst, handelt es sich um eine Symphoniekantate für Soli, gemischten Chor und Orchester nach Gedichten von Pawlo Tytschyna. Nr. 5, die Symphonie der Pastoralen, nähert sich durch Verwendung einer Solovioline dem Konzertanten. Besonders intensiv hat sich Stankowytsch der Kammersymphonie zugewandt und gehört mit mittlerweile 15 Werken zu den produktivsten Komponisten auf diesem Gebiet. Offensichtlich reizt es ihn besonders, sich auf ein kleines Instrumentarium zu beschränken, um diesem einen maximalen Reichtum an Klängen zu entlocken. Jede der Kammersymphonien ist für eine andere Besetzung geschrieben. Wiederholt weist er einem bestimmten Instrument solistische Aufgaben zu (Nr. 3 Flöte, Nr. 5 Klarinette, Nr. 6 Horn, Nr. 9 Klavier). Das eigentliche Fach der konzertanten Musik hat Stankowytsch mit zwei Viola-, zwei Violoncello- und sieben Violinkonzerten ebenfalls reich bedacht.

Stankowytschs freier Umgang mit traditionellen Formkonzepten lässt sich exemplarisch anhand seiner Zweiten Symphonie studieren. Das Werk besteht aus drei Sätzen, die ohne Pause aufeinander folgen. Der erste stellt einem trotzigen, dreitönigen Streichermotiv ein melodiebetontes Thema in den Bläsern gegenüber und steigert beide in der Durchführung zu apokalyptischen Bildern. Der zweite, langsame Satz beginnt leise und polyphon in den Streichern, nimmt bald das Volkslied O schau, Mutter, schau auf und verarbeitet es auf vielfältige Weise. Er mündet, allmählich lebhafter werdend, nahtlos in das kurze Finale, das weniger ein eigenständiger Satz als eine gemeinsame Coda beider erster Sätze ist und mit Elementen beider die Symphonie zum kräftigen Ausklang führt.

Wiederholt hat Stankowytsch in seinen Werken Ereignisse der ukrainischen Geschichte gestaltet. Die Oper Wenn der Farn blüht, mit ihrer Thematisierung der Frühgeschichte und des Saporoger Kosakenstaates, wurde bereits erwähnt. Seine Taras-Passion (2013) behandelt das Schicksal des Nationaldichters Taras Schewtschenko (1814–1861), der wegen seiner als revolutionär eingestuften Gedichte zehn Jahre in die Verbannung nach Zentralasien geschickt wurde, wo ihm auf ausdrücklichen Befehl des Zaren verboten war, sich künstlerisch zu betätigen. Das 1992 komponierte Requiem für die Opfer der Hungersnot ist dem Gedächtnis der Toten des Holodomor gewidmet, der von der sowjetischen Regierung während der 1930er Jahre zur Schwächung des Bauernstandes gezielt ins Werk gesetzten Hungersnot, die in der Ukraine zu mehreren Millionen Toten führte. Diesem Werk voran ging 1991 das 2006 neu gefasste Kaddisch-Requiem „Babyn Jar“, das der Ermordung von 33.000 Kiewer Juden durch die SS im Jahr 1941 gedenkt. 2011, 25 Jahre nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl, komponierte Stankowytsch das Oratorium Die Mutter von Tschernobyl. Eines der jüngsten Werke dieses musikalischen Chronisten der Ukraine, das auf historische Geschehnisse Bezug nimmt, ist die 2015 entstandene Zwölfte Kammersymphonie. Es handelt sich hierbei um die kammerorchestrale Fassung zweier im Jahr zuvor, nach dem Ausbruch des ukrainischen Bürgerkriegs, komponierter Stücke für Violine und Klavier: Fresko des Maidans und Gebet für den Frieden.

Bis zum heutigen Tage ist Jewhen Stankowytsch, der seit 1988 als Kompositionsprofessor an der Nationalen Musikakademie der Ukraine lehrt und von 2005 bis 2010 als Vorsitzender des Nationalen Komponistenverbands der Ukraine amtierte, ungebrochen schöpferisch tätig. Neben den genannten Kompositionen umfasst sein Werkverzeichnis noch zahlreiche weitere Orchester-, Kammermusik-, Vokal- und Bühnenwerke, die es rechtfertigen, von ihm als dem hervorragendsten unter den lebenden ukrainischen Komponisten zu sprechen. Eine weitere Verbreitung seiner Werke auch außerhalb seiner Heimat erscheint gerade anlässlich seines 80. Geburtstages sehr wünschenswert.

[Norbert Florian Schuck, September 2022]

NB: Der Verfasser dankt Holger Sambale und Christoph Schlüren für wertvolle Hinweisungen und Korrekturen.

Roy Travis zum 100. Geburtstag

Die bei RCA erschienene Dimitri-Mitropoulos-Edition, die auf 69 CDs sämtliche Aufnahmen umfasst, die der große Dirigent für RCA und Columbia eingespielt hat, ist eine veritable Schatzkiste. Nicht zuletzt dokumentiert sie Mitropoulos‘ Einsatz für die zeitgenössische Musik der Vereinigten Staaten: Roger Sessions, Peter Mennin und Gunter Schuller sind mit Symphonien vertreten, Leon Kirchner mit seinem Klavierkonzert Nr. 1, Morton Gould und Elie Siegmeister mit kleineren Orchesterwerken und Samuel Barber mit der Oper Vanessa. Als mich kurz nach der Veröffentlichung (April 2022) ein guter Freund mit dieser Wunderschachtel bekannt machte, fanden wir beide Gefallen an einem weiteren US-amerikanischen Stück, dessen Komponist uns bislang völlig unbekannt geblieben war: dem Symphonic Allegro von Roy Travis. Eine kurze Suche im Netz ergab, dass die Edition genau rechtzeitig zum 100. Geburtstag des 2013 gestorbenen Komponisten erschienen ist, und dass es sich bei Travis offenbar um einen vielseitigen Künstler handelt, der stärkere Aufmerksamkeit verdiente als ihm in den letzten Jahren seines Lebens zuteil wurde. Widmen wir Roy Travis anlässlich seines Jubiläums das folgende Gedenkblatt!

Roy Elihu Travis, geboren am 24. Juni 1922 in New York City, gehört zu denjenigen Komponisten, die als Gewinner des Gershwin Memorial Contest, eines 1945 ins Leben gerufenen Wettbewerbs für Orchesterwerke junger Autoren, erstmals in der Öffentlichkeit von sich reden machten. Andere Beispiele sind etwa der gleichaltrige Peter Mennin, an den der Preis 1945 zum ersten Mal vergeben wurde, und der etwas jüngere Gordon Sherwood, der ihn 1957 erhielt. Anhand dieser drei Komponisten, die alle von jener Stilrichtung ausgehen, die Walter Simmons in seinem Buch Music of Stone and Steel als „Modern Traditionalism“ charakterisiert hat, zeigt sich, welch unterschiedliche Karrieren den Gershwin-Preisträgern bevorstehen konnten: Mennin wurde erst zum führenden US-Symphoniker seiner Generation und schließlich Präsident der Juilliard High School. Sherwood stürzte sich in dem Moment, als ihm im Musikbetrieb Amerikas alle Türen offen gestanden hätten, geradezu fluchtartig in eine abenteuerliche Vagabundenexistenz, konnte aber, nach jahrzehntelanger Vergessenheit, als über 70-Jähriger seine spektakuläre Wiederentdeckung erleben. Roy Travis‘ Leben verlief dagegen allem Anschein nach weniger aufsehenerregend. Nachdem sein Symphonic Allegro 1951 mit dem Gershwin Memorial Award ausgezeichnet und von den New Yorker Philharmonikern unter Mitropoulos eingespielt worden war, studierte er, unterstützt durch ein Fulbright-Stipendium, ein Jahr lang bei Darius Milhaud in Paris und wurde nach seiner Rückkehr selbst Musikpädagoge. Er unterrichtete in New York an der Columbia University (1952/53) und an der Mannes School of Music (1952–1957), bevor er 1957 an die Musikfakultät der University of California in Los Angeles wechselte. Dort wirkte er, seit 1968 Professor, bis zu seiner Pensionierung 1991.

War Travis also nur einer von vielen handwerklich beschlagenen Komponisten, die ihr Dasein als Lehrer fristeten, ohne außerhalb ihres engeren Wirkungskreises sonderlich bekannt zu werden? Offensichtlich nicht! Ein genauerer Blick auf sein Schaffen verrät, dass es sich bei ihm keineswegs um einen Akademiker handelte, der sich mit einmal verinnerlichten Konventionen begnügte. Tatsächlich gehört Travis in eine Reihe mit John Foulds und Walter Kaufmann, Komponisten, die sich mit wahrer Leidenschaft in Musiktraditionen außerhalb des abendländischen Kulturkreises vertieften, daraus mannigfaltige Anregungen für das eigene Schaffen gewannen und zu Pionieren des musikalischen Austauschs zwischen Ost und West wurden. Wie Foulds und Kaufmann beschäftigte sich auch Travis mit den Modi und rhythmischen Modellen der indischen Musik. Eine wenigstens ebenso große Bedeutung erlangte für ihn die traditionelle Musik des westlichen Afrika, mit der er sich auseinanderzusetzen begann, nachdem er in den 60er Jahren die Bekanntschaft des ghanaischen Meistertrommlers Robert Ayitee gemacht und an den von diesem an der University of California veranstalteten Kursen teilgenommen hatte. Travis transkribierte Tonaufzeichnungen ghanaischer und anderer westafrikanischer Lieder und Tänze und erlangte dadurch ein profundes Wissen über die Strukturen, die dem Musizieren der betreffenden Völker zugrunde liegen. Die erste künstlerische Frucht dieser Beschäftigung war seine Zweite Klaviersonate, die African Sonata, in deren vier Sätzen er auf Tanztypen der in Ghana bzw. Mali ansässigen Ashanti, Ewe und Bambara zurückgriff. Später begann der Komponist afrikanische und indische Instrumente mit abendländischen zu kombinieren. So existiert aus seiner Feder ein Konzert für Violine, Tabla (indische Trommel) und Orchester. Sein Werk Switched-On Ashanti basiert auf Tonbandaufzeichnungen des Meistertrommlers Kwasi Badu, die Travis mit einem Synthesizer bearbeitete. Diese werden im Konzert den Klängen einer Quer- bzw. Piccoloflöte gegenübergestellt. Travis umfangreichstes Werk, in welchem abendländische und afrikanische Traditionen verschmolzen werden, ist die abendfüllende Oper The Black Bacchants, nach den Bakchen des Euripides, deren Instrumentalensemble ein großes Symphonieorchester samt einer Vielzahl westafrikanischer Instrumente umfasst. Daneben entstanden weiterhin Kompositionen für konventionelle abendländische Besetzungen. Roy Travis starb am 19. Oktober 2013 im Alter von 91 Jahren über der Arbeit an seiner dritten Oper Hamlet.

Diskographie

(Von den nachfolgend aufgezählten LP-Aufnahmen ist bislang nur Mitropoulos‘ Einspielung des Symphonic Allegro auf CD wiederveröffentlicht worden.)

  • Symphonic Allegro (Columbia, 1952): New York Philharmonic, Dimitri Mitrpoulos (Dirigent).
  • Collage for Orchestra (Cri, 1970): Royal Philharmonic Orchestra, Arthur Bennett Lipkin (Dirigent).
  • Zwei Szenen aus der Oper The Passion of Oedipus (Orion, 1973): William Du Pré (Oedipus), Maureen Lehane (Jocasta), Joy Mammen (Oracle), John Robert Dunlap (Laios), Robert Lloyd (Corinthian Envoy), Richard Hale (Old Shepherd), The Royal Philharmonic Orchestra and Chorus, Jan Popper (Dirigent).
  • Duo Concertante, African Sonata, Switched-On Ashanti (Orion, 1973): Isidor Lateiner (Violine), Edith Grosz (Klavier), Richard Grayson (Klavier), Kwasi Badu (ghanaische Trommeln), Gretel Shanley (Flöte).
  • Symphonic Allegro, Songs and Epilogues, Piano Concerto (Orion, 1975): Harold Enns (Bass), Royal Philharmonic Orchestra; Irma Vallecillo (Klavier), Utah Symphony Orchestra; Jan Popper (Dirigent).

[Norbert Florian Schuck, Juni 2022]

Das Christus-Mysterium von Felix Draeseke

Das Fest der Auferstehung Jesu Christi ist ein idealer Anlass, auf das umfangreichste geistliche Werk hinzuweisen, das die Chorliteratur deutscher Sprache besitzt: Felix Draesekes Christus. Ein Mysterium in einem Vorspiele und drei Oratorien.

Felix Draeseke (1835–1913) gehört zu den herausragenden Kirchenkomponisten des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Dass er der geistlichen Musik einen wesentlichen Stellenwert in seinem Schaffen beimessen würde, schien ihm geradezu in die Wiege gelegt, waren doch sein Vater und beide Großväter hochrangige protestantische Kirchenmänner. Zwar stand für Draeseke spätestens seit seinem 17. Lebensjahr, als er Wagners Lohengrin zum ersten Mal gehört hatte, fest, dass er entgegen der Familientradition Musiker werden wollte, doch verfügte er aufgrund seiner Herkunft über ausgezeichnete Bibelkenntnisse, die sich durchaus mit denen eines Fachtheologen messen konnten.

In jungen Jahren fiel Draeseke nicht mit geistlichen Komposition auf. Er schloss sich als Schüler des Leipziger Konservatoriums dem Kreis der „Zukunftsmusiker“ um Franz Brendel an und wurde bald als „ultraradikaler“ Vertreter der später „Neudeutsche Schule“ genannten Richtung in Nachfolge Franz Liszts und Richard Wagners bekannt. Seine Aufmerksamkeit galt damals vor allem germanischen Stoffen (Oper König Sigurd, Ballade Helges Treue op. 1, Kantate Germania an ihre Kinder). Dass er sich zu dieser Zeit theoretisch mit kirchenmusikalischen Fragen beschäftigte, geht jedoch daraus hervor, dass er 1859 ankündigte, auf der Gründungsversammlung des Allgemeinen deutschen Musikvereins in Leipzig einen Vortrag über „Die protestantische Kirchenmusik und die Gründung einer festen Form für dieselbe, analog der katholischen Messform“ zu halten. (Den Vortrag sagte er damals kurzfristig ab, publizierte die darin enthaltenen Gedanken aber 1885 in dem Aufsatz „Kirchenmusikalische Zeitfragen“, erschienen in den Kirchlichen Monatsschriften).

In den 1860er Jahren machte Draeseke während eines längeren Aufenthalts in der Schweiz eine stilistische Metamorphose durch. Er ging auf Distanz zu seinen Frühwerken und betrieb intensive kontrapunktische Studien. 1870 wurde mit dem Lacrimosa op. 10 zum ersten Mal ein Kirchenmusikwerk Draesekes aufgeführt. Ihm folgten 1878 das Adventlied op. 30 (nach Friedrich Rückert) und 1881 das Requiem h-Moll op. 22, in welches das Lacrimosa eingearbeitet wurde. Diese Werke bildeten den Auftakt zu einem im Hinblick auf Gattungen, Besetzungen und Textwahl vielseitigen geistlichen Schaffen. Draeseke war zwar bekennender Protestant, sah allerdings in den festen Formen der katholischen Gottesdienstmusik ein nachahmenswertes Vorbild. Er vertonte die katholische Messe und das Requiem jeweils einmal mit Orchesterbegleitung, einmal a cappella, und schrieb mehrere lateinische A-cappella-Motetten. Daneben entstanden in deutscher Sprache drei Psalmen (opp. 56, 59, WoO 31), eine Sammlung geistlicher Lieder mit Klavierbegleitung (op. 75), die Osterszene nach Goethes Faust op. 39, und als bei weitem umfangreichste Arbeit das Mysterium Christus, dessen vier Teile die Opuszahlen 70 bis 73 umfassen.

Felix Draeseke, 1905

Die ersten Ideen zum Christus reichen bis in eine Zeit zurück, als Draeseke noch gar nicht mit geistlichen Werken öffentlich in Erscheinung getreten war. In diesem Sinne steht Christus sogar am Beginn seiner Laufbahn als Kirchenkomponist. Bis 1864 stellte der Komponist zusammen mit seinem Schwager, dem Pastor Adolf Schollmeyer, aus Bibelstellen den Text zusammen, doch dauerte es ganze drei Jahrzehnte, ehe er sich an die Vertonung wagte. Eine wesentliche Stütze bei dieser Arbeit war ihm seine Ehefrau Frieda, die er 1894 geheiratet hatte, und die als seine ehemalige Schülerin über große musikalische Sachkenntnisse verfügte. Ihren fortgesetzten Ermutigungen dankte Draeseke es, dass es ihm gelang, das riesige Projekt innerhalb von viereinhalb Jahren (zwischen Ostern 1895 und dem 15. September 1899) zum Abschluss zu bringen. In einem Brief an den Musikkritiker Eugen Segnitz, der für das Musikalische Wochenblatt eine Einführung schreiben wollte, äußerte Draeseke sich am 4. Februar 1903 ausführlich zur Entstehung des Christus:

Die Idee fasste ich schon im Anfang der [18]60er Jahre, zu welcher Zeit ich mit meinem Schwager, Pastor Schollmeyer zusammen das Textbuch fertig stellte. Aus dieser Zeit stammen auch einige grosse Themen, die ich nie aufgeschrieben, aber auch nicht vergessen habe, und später dann verwendete. 1864, als der später verschiedenartig umgeänderte Text vor mir lag, war ich mir klar dass ich das Werk auf meinem damaligen Standpuncte nicht bewältigen konnte und sehr grosse contrapunctische Vorarbeiten vorhergehen mussten, ehe daran zu denken war. Ausser dem Requiem [op. 22] waren es besonders die 6, 7 und 8stimmigen bei Kistner erschienenen Canons (op. 37) die mir jene Freiheit gaben, den Contrapunct genau so wie den freien Styl zu gebrauchen, sodass ich zu Zeiten mich in den Banden des Contrapunctes behaglicher gefunden habe, als wenn ich auf ihn verzichtete. – Aber es grauste mir lange vor der grossen Arbeit, die ich in meinem öden Junggesellendasein wol nicht geleistet hätte, und die unternommen und bis zum Ende geführt zu haben, ich im wesentlichen meiner lieben Frau verdanke. Als sie Ostern 1895 in die Kirche gegangen war hatte ich den Text des letzten (9ten) Oratorienteils, der mit der Auferstehung beginnt, aufs Clavier gelegt und den Chor der Grabeswächter geschrieben. Meine Frau bat mich gleich in dieser Weise fortzufahren und so war bis Himmelfahrt der Teil, soweit ich ihn vorläufig fertigstellen wollte (mit Ausnahme der Himmelfahrt und des grossen Schluss-Chores), vollendet worden. Im Mai 1899 ist dann das ganze Werk in Partiturschrift abgeschlossen worden; die Clavierauszüge habe ich nebenher und bald nachher auch persönlich gefertigt. Um das schwierigste und weniger dankbare zuerst zu versuchen machte ich mich an das zweite Christi Lehrtätigkeit umfassende Oratorium, und dann, als ich gefunden, dass es mir nicht so schwer angekommen sei, damit fertig zu werden, als ich erwartet hatte, an die zweite Abteilung des ersten Oratoriums, in der mich besonders die Versuchung durch Satan, […], sehr reizte. Da ich immer das ganze vor Augen hatte, sorgte ich dann für den Rahmen indem ich den Schluss des letzten Teiles ausführte: Himmelfahrt und Endgesang des ganzen Werkes welchem ich sofort den Anfangschor desselben folgen liess mit dem daran sich anschliessenden Vorspiel. Ein dritter grosser Höhepunct war schon der Schluss-Chor des IIten Oratoriums, IIte Abteilung, nach Auferstehung des Lazarus geschaffen worden, […]. Dann machte ich mich an die Passion, und schliesslich an den Johannes den Täufer vor dem ich mich am meisten fürchtete, der aber, wie ich hoffe den andern Teilen nicht nachsteht. –

Das ganze ist entschieden aus religiösem Bedürfnisse hervorgegangen und ich habe die angenehme Genugtuung gehabt, dass speciell positiv christlich gesinnte Hörer mir kundgegeben haben, dass sie und ihr religiöses Empfinden woltuende Eindrücke vom ‚Christus‘ empfangen haben. Nach der musicalischen Seite hin waren mir diese Bekenntnisse deswegen so sehr wertvoll, weil ich, […], mich durchaus als moderner Musiker gerirt und unbedenklich die Ausdrucksmittel meiner Zeit zur Darlegung meiner Gedanken in Anspruch genommen habe. Mit irgendwelchem Academismus wäre da nichts lebenvolles zu erzielen gewesen und gerade die Behandlung des Contrapunctes die hier zu Tage tritt dürfte sich wol in vollem Einklange befinden mit den in der Einleitung meines […] theoretischen Buches [Der gebundene Styl, Hannover 1902] stehenden Worten: Anschauungen nach welchen der Contrapunct ein unveränderliches Ansehen bewahren müsse und die Verehrung einer alten wohlconservierten Mumie in Anspruch zu nehmen habe, werden von der belehrenden Luft der Gegenwart rettungslos fortgeweht werden.“

Draesekes Christus ist nicht der erste Oratorienzyklus, der das Leben Christi zum Thema hat. Bereits Jahrzehnte zuvor hatten Sigismund Neukomm und Friedrich Schneider ähnliche Vorhaben verwirklicht. Der wesentliche Unterschied zwischen diesen Kompositionen und Draesekes Mysterium besteht in der streng zyklisch angelegten musikalischen Gestaltung des letzteren. Zwar besteht Christus aus „einem Vorspiel und drei Oratorien“, doch werden diese vier Teile durch gemeinsame Leitmotive miteinander verknüpft, sodass das ganze Mysterium nicht als Folge von vier Werken, sondern tatsächlich als ein einziges großes Werk erscheint. Diese Idee ist ohne Richard Wagner nicht zu denken, den Komponisten, dessen Musik Draeseke einst dazu brachte, die Musikerlaufbahn einzuschlagen, und der ihm bis zuletzt als „einzig maßgebender“ unter den neueren Tonsetzern erschien. Der Einfluss Wagners zeigt sich auch in der Anlage des Textes: Es gibt bei Draeseke keinen Evangelisten, der in der dritten Person das Geschehen erzählt. Stattdessen haben der Komponist und sein Schwager die Bibel konsequent dramatisiert. Eine szenische Aufführung wurde von Draeseke allerdings stets abgelehnt. Er betrachtete Christus nicht als geistliche Oper, sondern als genuines Stück Kirchenmusik, wenn auch in modernster Gestalt.

Wer aber an das Mysterium herangeht in der Erwartung, es mit einer Art geistlichem Ring des Nibelungen zu tun zu haben, und entsprechend ein stilistisch Wagner sehr nahes Stück vermutet, wird wohl enttäuscht werden. Bei aller Verehrung, die er dem älteren Meister entgegenbrachte, griff er nur in begrenztem Maße auf dessen Stilmittel zurück. Vor allem fällt auf, dass Draesekes Musik kleingliedriger ist als diejenige Wagners, dass er die für Wagner insbesondere ab Tristan und Isolde charakteristischen außerordentlich langsamen Zeitmaße nicht für sich übernommen hat. Auch hat Draeseke kein Geheimnis daraus gemacht, dass ihm an klaren tonalen Zentrierungen sehr gelegen war. Es müssten, schrieb er 1907 in einem Aufsatz namens „Was tut der heutigen musikalischen Produktion not?“, „gewisse Töne als Haupttonarten für eine zeitlang festgehalten, darf besonders die Ruhe der Themen nicht durch flatternde Modulationen erschüttert werden, […]. Bereichern mag man die Haupttonart so viel man wünscht und durch Hereinziehen selbst der fremdesten Töne, – aber für eine gewisse Zeit und besonders in den Themen sie festhalten, vergesse man ebenfalls nicht, soll die Verständlichkeit des Ganzen nicht leiden und die Einheit der Schöpfung nicht in Gefahr geraten.“ Draeseke ist ein außerordentlich einfallsreicher Harmoniker mit einer auffallenden Vorliebe für subdominantische Wendungen (die Doppelsubdominante hat in seinem Vokabular einen festen Platz), doch vermeidet er mehrdeutige Harmonien, wie sie im Gefolge von Wagners Tristan-Akkord aufkamen. Ein festgefügtes harmonisches Fundament ist Draeseke nicht zuletzt deshalb wichtig, da seine Musik im Allgemeinen stärker auf kontrapunktische Techniken gegründet ist als diejenige Wagners. In der Vorrede zum Christus heißt es:

Gewissen Anschauungen gegenüber, nach welchen der Contrapunkt in der Kirchenmusik sehr zu beschränken, womöglich gar zu verbannen wäre, steht der Komponist auf dem alten Standpunkte, in dem ihm genanntes Kunstmittel für den kirchlichen Stil absolut so nötig dünkt, wie das Brot fürs tägliche Leben.“

Alle großen geistlichen Werke Draesekes sind nach diesem Grundsatz entstanden. Das Hauptgewicht liegt immer auf den Singstimmen, die sämtlich selbstständig geführt werden. Das Orchester, wenn vorhanden, lässt Draeseke betont zurückhaltend agieren. Über weite Strecken stützt es den Chor durch Colla-parte-Spiel. Der virtuose Instrumentator, als den man Draeseke aus seinen Symphonien und Tondichtungen kennt, zeigt sich auch in den kirchlichen Werken, stellt seine Kunst aber hier völlig in den Dienst der Hervorhebung melodischer Linien. Umso frappierender wirken die sicher angebrachten koloristischen Effekte in bestimmten herausgehobenen Momenten. Das Christus-Mysterium stellt aufgrund seines enormen Umfangs von etwa fünf Stunden einen besonderen kontrapunktischen Kraftakt dar, der auch von den Ausführenden als solcher bewältigt werden will. Solisten und Chorstimmen müssen es verstehen, sich als Teil eines Ganzen zu begreifen und gut aufeinander zu hören. Der Dirigent muss ein sicheres Gefühl für Polyphonie besitzen, um alle Feinheiten des „gebundenen Styls“ in Chor und Orchester zur Geltung zu bringen. Kapellmeister, die lediglich die jeweilige Oberstimme hervorzuheben und die übrigen als undifferenzierte Begleitung zu behandeln pflegen, stehen in diesem Werk auf verlorenem Posten.

Der Christus gliedert sich in vier Hauptteile, die Leben und Wirken Christi von der Geburt bis zur Auferstehung schildern:

Vorspiel: Die Geburt des Herrn op.70

Erstes Oratorium: Christi Weihe op.71

Zweites Oratorium: Christus der Prophet op.72

Drittes Oratorium: Tod und Sieg des Herrn op.73

Jeder dieser Hauptteile übertrifft den vorangegangenen an Länge. Das Vorspiel dauert ungefähr 35 Minuten und eignet sich deshalb zu einer Aufführung mit dem etwa einstündigen Ersten Oratorium an einem Abend. Zweites und Drittes Oratorium sind dagegen mit rund anderthalb bzw. zwei Stunden abendfüllend. Der Komponist hat ausdrücklich betont, dass nicht nur jedes einzelne Opus der Tetralogie separat aufgeführt werden kann, sondern auch einzelne Abteilungen daraus. Insgesamt besteht das Mysterium aus neun Abteilungen, die jeweils einem Opernakt entsprechen. Das Erste Oratorium umfasst zwei, die beiden anderen jeweils drei, das Vorspiel ist eine Abteilung für sich. Aus dem Kontext gelöst, ergeben sich auf diese Weise neun Kantaten, die zu verschiedenen kirchlichen Anlässen verwendet werden können. Der Zusammenhang aller Teile miteinander wird freilich nur in einer Gesamtaufführung deutlich. Auch erschließt sich auf diese Weise die Bedeutung der drei Leitmotive besser, die das Werk durchziehen. Zwei davon sind Christus zugeordnet. Das erste Christus-Motiv, das wichtigste Motiv des Werkes, ist eine dem gregorianischen Choral entlehnte, im Rahmen einer Quarte ab- und wieder ansteigende Melodielinie:

Das zweite verdeutlicht Christus den Erlöser. Es handelt sich um eine auf Dreiklangstönen basierende Fanfare:

Diesen beiden Christus-Motiven steht das Satans-Motiv gegenüber, das nicht nur während des einzigen tatsächlichen Auftritts Satans (Oratorium I, Abteilung 2) erklingt, sondern auch andere Gegenspieler Jesu charakterisiert und sie damit als Satans Verbündete kennzeichnet. Im Gegensatz zu den Motiven Christi, ist das Satans-Motiv durch den Tritonusabstand zweier Moll-Harmonien in sich gespannt:

Draesekes Christus erregte seinerzeit große Aufmerksamkeit im Musikleben Deutschlands, doch kam es zunächst aufgrund der großen Ansprüche, die das Werk an die Ausführenden stellt, jahrelang nur zu Aufführungen einzelner Oratorien oder Abteilungen des Mysteriums. Erst 1912, verteilt auf den 6., 13. und 20. Februar, fand im Großen Saal der Berliner Musikhochschule durch den Bruno-Kittel-Chor und das Blüthner-Orchester unter Leitung von Bruno Kittel die erste Gesamtaufführung statt. Die Titelrolle sang der Bariton Albert Fischer. Kurz darauf, am 5., 12. und 16. Mai, folgte eine zweite Wiedergabe des kompletten Werkes in Dresden, der Heimatstadt des Komponisten. Auch hier dirigierte Bruno Kittel seinen Chor, der durch zwei Dresdner Vereine verstärkt wurde. Den Christus sang Karl Perron, die Instrumentalbegleitung übernahm die Städtische Kapelle Chemnitz. Als Reaktion auf diese Konzerte wurde Draeseke die Ehrendoktorwürde der Berliner Universität verliehen, und die Stadt Dresden gestand ihm einen jährlichen Ehrensold von 3000 Mark auf Lebenszeit zu. Von letzterem konnte der Komponist nur noch die erste Zahlung in Empfang nehmen, da er wenige Monate später starb.

Auch wenn Teile des Christus weiterhin gelegentliche Darbietungen erfuhren, erklang das Werk in voller Länge erst 1990 wieder, als Udo-Rainer Follert es in Speyer dirigierte. Ein Jahr später folgte unter Hermann Rau in Heilbronn die vierte Gesamtaufführung. Draesekes Christus ist ein langes, ungemein anspruchsvolles Werk, aber auch das erklärte Magnum Opus eines Großmeisters der Chorpolyphonie. Dirigenten, Sängern, Instrumentalisten, die ein besonderes Vergnügen daran haben, vielstimmig ineinander verflochtene Linien zum klingenden Leben zu erwecken, bietet sich in dieser Tetralogie ein Schatz gewaltigsten Ausmaßes. Ihn gewinnt, wer ihn zu heben versteht!

Aufnahme und Noten

Von der Speyerer Aufführung 1990 existiert ein Mitschnitt, der bei Bayer Records auf fünf Cds veröffentlicht worden ist. Er stellt bislang das einzige Tondokument des Christus dar:

Bayer Records, BR 100 175–179; EAN: 4011563101758

Phillip Langshaw (Christus, Bariton), Carola Bischoff (Sopran), Adelheid Vogel (Sopran), Elvira Dreßen (Alt), Karl Markus (Tenor), Bernd Kämpf (Bass), Jürgen Sonnenschmidt (Orgel), Evangelische Jugendkantorei der Pfalz, Heilbronner Vokalensemble, Pfälzische Kurrende, Staatliche Philharmonie Breslau, Udo-Rainer Follert (Dirigent)

Eine vorläufige Edition des Notentextes aller vier Hauptteile hat die Internationale Draeseke-Gesellschaft auf imslp zur Verfügung gestellt (siehe hier).

Zu Lebzeiten Draesekes wurden nur das Vorspiel und das Dritte Oratorium als Partitur veröffentlicht. Nachdrucke dieser Ausgaben sind bei Musikproduktion Jürgen Höflich, München, erhältlich.

[Norbert Florian Schuck, April 2022]

Freie Tonalität in stringenter Fortschreitung

Ein Portrait des Komponisten Josef Schelb (* 14. März 1894 in Krozingen; † 8. Februar 1977 in Freiburg im Breisgau)

Überblickt man den Lebensweg von Josef Schelb (1894–1977), reflektiert dieser an mancher Stelle beinahe exemplarisch das Schicksal vieler Tonkünstler des 20. Jahrhunderts, zeugt von großen Visionen und herben Rückschlägen. Schelb stand über Jahrzehnte im Licht der Öffentlichkeit, wohl aber ohne jemals als einer der „Stars“ der Szene zu gelten. Dabei steht außer Frage, dass er eine wahre Künstlernatur gewesen ist, die sich mit Talent und unermüdlichem Fleiß bis zuletzt aufopfernd in den Dienst der Musik stellte. Mehr denn je ist es an der Zeit, sein Schaffen aufblühen zu lassen, um es vor der Vergessenheit zu retten.

Geboren wurde er als Christian Albert Joseph Schelb am 14. März 1894 in Krozingen, heute Kurort, nahe Freiburg in einem interessiert laienmusikalischen Haushalt. Sein erster wichtiger Lehrer wurde der Pianist und als Symphoniker bedeutende Hans Huber (1852–1921), zu dem Schelb nach Basel pendelte. Nach seinem Abitur zog er zum Studieren nach Genf, wo der damals populäre Liszt-Schüler Bernhard Stavenhagen (1862–1914) ihm Unterricht gab; daneben besuchte er die Kontrapunktklasse von Otto Barblan (1860–1943). Zwanzigjährig erhielt er das „Diplôme de Virtuosité avec Distinction“, etablierte sich schon während des Ersten Weltkrieges als Pianist und lehrte über seinen Wehrdienst hinaus zwischenzeitlich am Freiburger Konservatorium.

Im Jahr 1924 erhielt Josef Schelb eine Anstellung am Konservatorium in Karlsruhe, die er (mit Unterbrechung in den 40er-Jahren) bis 1958 innehatte. Die vielfältigen Berichte aus dieser langen Epoche seines Lebens lassen schlussfolgern, dass Schelb ein gewissenhafter wie bemühter Lehrer war, der jedoch immer das Künstlerische dem Pädagogischen vorzog. Er beteiligte sich rege an Lehrerkonzerten und brachte eine Vielzahl seiner Kompositionen in den Veranstaltungen der Ausbildungsstätte unter, doch durch seine intensiven Konzertvorbereitungen und seinen kompositorischen Fleiß kam es oftmals zu Zeitkonflikten: Über die Jahre verteilt finden sich mehrere Beschwerden, da er oft zu spät erschien oder bei wichtigen Institutsveranstaltungen fehlte. Schelb versuchte mehrfach, seine Mindestunterrichtszeit zu senken, um mehr Zeit fürs Komponieren und Üben zu haben. Ein früher Höhepunkt seiner Karriere war eine dreimonatige Amerikareise mit dem Violinisten Juan Manén (1883–1971).

Am 21. Juli 1936 heiratete Josef Schelb die 1915 geborene Sängerin Lotte Schuler, die vor ihrer Gesangsausbildung Schelbs Klavierklasse besuchte. Lotte Schelb hob die meisten der Vokalwerke ihres Mannes aus der Taufe. 1938 erlangte das Konservatorium in Karlsruhe staatliche Anerkennung, wodurch auch Schelb eine angemessenere Vergütung zuteil wurde; im Folgejahr wurde er verbeamtet und zum „Dozentenführer“ ernannt, was aber hauptsächlich lästige Pflichten ohne künstlerische Mitsprachen mit sich brachte.

Während eines Fliegerangriffs 1942 wurden große Teile des Konservatoriums zerstört und auch Schelbs Wohnung fiel den Bomben zum Opfer, wobei große Teile seiner bisherigen Kompositionen unwiederbringlich verbrannten. Schelb nutzte den Einschnitt, um sich vorläufig für ein Jahr beurlauben zu lassen, damit er sich aufs Konzertieren konzentrieren konnte: Aufgrund der „Wichtigkeit der Wehrmachtsbetreuung während des Krieges durch gute Konzerte“ wurde ihm die Abwesenheit gewährt. Josef Schelb verlängerte seine Beurlaubung jährlich bis Kriegsende. Für den letzten Volkssturm wurde er eingezogen, er setzte sich jedoch vor dem Einsatz ab.

Wegen seiner hohen kulturellen Stellung besonders als Dozentenführer sowie seines allgemeinen Ansehens während der NS-Zeit (er war 1933 – eigenen Aussagen zufolge aus Zwang – Mitglied der NSDAP geworden) hatte es Josef Schelb in der Zeit nach dem Krieg schwer. Er wurde trotz vielfacher Stellungnahmen und Empfehlungsschreiben durch Kollegen, welche ihm unpolitische bis systemkritische Haltung attestierten, nach mehreren Verhandlungen erst 1947 als Mitläufer gegen Geldstrafe entnazifiziert. Im Februar 1948 erlangte er seine alte Stellung zurück. Schelb hielt sie bis Ende 1958, als er sich aus gesundheitlichen Gründen vorzeitig pensionieren ließ.

In den letzten knapp zwanzig Jahren wirkte Josef Schelb als freischaffender Komponist, der bis zuletzt mit ungebrochenem Eifer neue Werke schrieb. Seine Musik genoss durchaus Ansehen, wurde im Rahmen großer, öffentlichkeitswirksamer Konzerte und Festivals uraufgeführt; besonders die Musica Viva profilierte sich durch eine Vielzahl an Premieren. Dabei muss angemerkt werden, dass Schelbs kompositorische Präsenz im Konzertleben in erster Linie auf die unermüdlich neuen Uraufführungen zurückzuführen ist, denn nur die wenigsten der Werke wurden Zeit seines Lebens wiederholt.

1976 erlitt Schelb einen Schlaganfall, von dem er sich nie mehr ganz erholte. Am 7. Februar 1977 starb er in Freiburg, wo er im Familiengrab beigesetzt wurde.

Die Musik Josef Schelbs beweist sich durch Eigenständigkeit. Am einfachsten fasslich zeigt sie sich durch ihren formalen Sinn, denn die Werke wie deren einzelne Sätze sind in klassischen Formschemata errichtet, die recht streng eingehalten werden. Halt gibt ebenfalls die motivische Arbeit, die stringent durch die Werke navigiert und ein Gefühl vermittelt, wo im Werk man sich befindet. Modern hingegen ist der Inhalt, der sich kaum an harmonische Gesetzmäßigkeiten hält, sondern frei durch den Tonraum mäandert. Interessanterweise nutzt Schelb dabei vergleichbar wenige chromatische Verläufe, sondern erlaubt sich, neue Zwischenzentren auch sprunghaft zu erreichen, wodurch er die Dichte der Kontraste zur ständigen Verfügung hat, im Umkehrschluss Abwechslung durch rasche Änderungen bezüglich Dynamik, Artikulation und Tempo schaffen muss, was nicht zuletzt die Musik auszeichnet.

Exemplarisch sollen an dieser Stelle drei Werke aus dem Bereich der Kammermusik kurz vorgestellt werden, deren Noten bereits veröffentlicht vorliegen und von denen entweder bereits eine Aufnahme existiert oder sich zumindest auf dem Wege der Publikation befindet.

Das früheste der hier zu nennenden Werke ist das Zweite Klaviertrio von 1954, ein lebendiges, keck sprunghaftes Werk, das seine packende Energie aus dem regen Zusammenspiel der Instrumente zieht. Motorische Begleitfiguren treiben nach vorne, während die melodischen Stimmen kontrapunktisch kommunizieren, sich in den Verschiedenheiten ergänzen. Die ersten zwei Sätze erscheinen wie aus einem Guss, wobei das Vivace leggiero die Wucht des Kopfsatzes noch potenziert, dabei Motive aus diesem neu entwickelt. Das Adagio basiert auf einer Zwölftonreihe, die aber einerseits verschiedene Dreiklangbrechungen beinhaltet und somit Ausgangspunkt für die harmonische Entwicklung bildet, andererseits nicht durch dodekaphone oder gar serielle Fortspinnung weitergeführt wird, sondern als klar erkenntliches Thema behandelt wird. Dies nimmt Schelb als ein in vielen Werken vergleichbar erscheinendes Prinzip. Auch das Finale beginnt mit einer Zwölftonreihe, doch hier auseinandergerissen in zwei getrennte Motive plus den Auftakt zur Fortführung des Materials.

Während das Trio durch seine heitere Kurzatmigkeit und den musikalischen Scherz lebt, kommt im Quartett für Violine, Horn, Cello und Klavier aus dem Jahr 1962 mehr Dramatik auf. Das Werk ist ungemein dichter konzipiert und weist größere Flächen auf, die dabei für ein freitonales Werk bewundernswert orientierungsbewusst durchschritten werden. Schelb verwendet das Horn gerne für Haltenoten und das Klavier für motorisch gleichförmige Figuren, während sich die Streicher rhythmisch geladen ergänzen. Allgemein nutzt er prägnante Rhythmik für innermusikalischen Zusammenhalt wie auch Wiedererkennbarkeit seiner Motive, meißelt gerade durch dieses Element die Gesamtstruktur heraus.

Im späten Klavierquintett von 1970 sucht Josef Schelb vermehrt die Einheit und Ausgewogenheit. Die vier Sätze weisen annähert gleiche Länge auf, tarieren die ruhigeren und drängenderen Momente untereinander aus; auch die Instrumente wirken weniger kontrapunktisch gegeneinander, sondern entfalten Einklang. Die Tonsprache, vor allem aber die Rhythmik wirkt gesetzter, weniger sprunghaft und mehr auf große Bögen konzentriert. Im Quintett kehrt sich Schelb vermehrt zu polytonalen Strukturen, die dafür untereinander klarere Verläufe besitzen. So heben die drei hier angeführten Werke gänzlich unterschiedliche Aspekte der Musik Josef Schelbs hervor, legen eine klare Entwicklungslinie frei und entfalten parallel eine durchgehend wiedererkennbare Handschrift.

[Oliver Fraenzke, April 2022]

Ein Quartett für den Frieden: Robert Simpsons Streichquartett Nr. 10

CD: Hyperion CDA66225; EAN: 0 34571 16225

Noten: Roberton Publications 95448

Robert Simpson war Symphoniker durch und durch. Wie nur wenige andere Komponisten seiner Zeit beherrschte der 1921 geborene Brite die Kunst des Spannungsaufbaus über lange Strecken hinweg. Motivisch dicht gearbeitet, meist nur wenige motivische Zellen fortwährend variierend, dabei von einer nirgends nachlassenden Bewegungsenergie getragen, sind seine rund 60 Kompositionen durchweg Meisterleistungen in der Gestaltung großer Zusammenhänge. In einigen seiner Werke finden sich Abschnitte, die zum Eruptivsten gehören, was im 20. Jahrhundert geschrieben worden ist. So entfalten beispielsweise die Ecksätze der Fünften Symphonie eine geradezu manische Aktivität; zwei Blechbläserstücke werden durch ihre Titel Volcano und Vortex hinreichend charakterisiert; und der Schlussteil der Siebten Symphonie dürfte wohl der mächtigste Eissturm sein, den je ein Komponist durch den Konzertsaal hat tosen lassen.

Simpson komponierte nicht aus der abgesicherten Position akademisch kodifizierter Regeln heraus. Seine Motivtransformationen, seine Stimmführung, seine Harmonik wirken im besten Sinne abenteuerlich. Die Form eines Stückes war für ihn nichts, das sich im Vorhinein festlegen ließe, sondern ergab sich immer aus dem jeweiligen Kompositionsprozess, der durchaus auch für den Komponisten selbst Überraschungen bereit halten konnte. Das Verhältnis zwischen Schöpfer und Schöpfung während des Schaffens umschrieb er einmal dergestalt, dass er sich daran erfreue, ein wildes Tier („beast“) loszulassen und es dann zu reiten.

Die Ausbrüche und großen Steigerungen der Simpsonschen Musik stehen freilich stets in einem Kontext, der auch Momente der Ruhe und Einkehr umfasst. Die beiden erwähnten Symphonien enden leise und enthalten ausgedehnte langsame Abschnitte, die sich kaum übers piano erheben. Auch große Teile der raschen Sätze Simpsons spielen sich im piano-Bereich ab. Der häufige Gebrauch von Vortragsbezeichnungen wie tranquillo, dolce und cantabile sollte zudem eine Warnung davor sein, den Komponisten auf die schroffen und kantigen Charakteristika seines Schaffens zu reduzieren.

Die Weltanschauung dieses Mannes, der fähig war Musik von äußerster Heftigkeit zu schreiben, war zutiefst pazifistisch. Er wuchs in einer Familie auf, deren sämtliche Mitglieder in der Heilsarmee aktiv waren. Seinen eigenen Angaben zufolge wurde er als Neunjähriger zum entschiedenen Gegner aller kriegerischer Handlungen, nachdem er auf einer Heilsarmee-Veranstaltung die Rede eines ehemaligen Soldaten über dessen Erlebnisse im Ersten Weltkrieg gehört hatte. Beeindruckt vom Wirken Albert Schweitzers schwankte Simpson als junger Mann eine Zeit lang, ob er Musiker oder Mediziner werden sollte. Als er nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zum Kriegsdienst eingezogen wurde, verweigerte er den Dienst an der Waffe und verbrachte den Rest des Krieges als Mitglied einer mobilen Sanitätseinheit. In der Nachkriegszeit verfolgte er das atomare Wettrüsten der beiden Machtblöcke mit großer Sorge. Zunehmend abgestoßen von dem aufrüstungsfreudigen Kurs der Regierung Thatcher verließ er Großbritannien 1986 und zog nach Irland.

Ein schwerer Schlaganfall riss Simpson 1991 aus der produktivsten Phase seines Lebens. Hatte er in den vorangegangenen zehn Jahren rund die Hälfte seines Lebenswerks geschaffen, so gelang es ihm bis zu seinem Tode 1997 nur noch, ein bereits begonnenes Streichquintett fertigzustellen. Zu den Projekten, die Simpson nicht mehr realisieren konnte, gehört seine Zwölfte Symphonie, die als Chorsymphonie gedacht war. Es hat sich allerdings ein Programm erhalten, demzufolge das Werk die Evolution des Lebens zum Thema haben und auf eine pazifistische Botschaft hinauslaufen sollte:

„I. The formation of the sun and solar systems in a gas cloud.

II. The appearance of the most primitive form of live.

III. Division into plant and animal kingdoms.

IV. The active, aggressive animal – the growth of intelligence.

V. Violence. The aggressive stimulus to inventiveness.

VI. Wisdom. At all times it has existed, but has never been able to prevent the pervasive violence.

VII. The species has hitherto been able to survive its own violence, but no longer. Now it can destroy itself.

VIII. Non-violence or non-existence (Martin Luther King). The laws of chance provide for no other solution.“

Ein ausdrücklich dem Thema „Frieden“ gewidmetes Werk existiert jedoch aus Simpsons Feder: das Streichquartett Nr. 10, dem er den Titel For peace gab. Es entstand 1983 im Auftrag des dem Schaffen des Komponisten besonders verbundenen Coull Quartet, das am 23. Juni 1984 in der University of Warwick die Uraufführung spielte. Im Vorwort zur Partitur schrieb Simpson, diese Musik sei „kein Ausdruck quälender Angst“, sondern „versuche den Zustand des Friedens zu definieren“. Wie das Programm zur Zwölften Symphonie verrät, sieht Simpson den Frieden als Entschluss der Menschen gegen die Entfesselung der zerstörerischen (und selbstzerstörerischen) Kräfte, die ihnen durch die Evolution zuteil geworden sind. Es geht um den bewussten Umgang mit etwas, das in der Welt ist und weder ungeschehen gemacht, noch geleugnet werden kann. Frieden zu halten ist mithin ein Akt der Entscheidung und des Handelns.

Wie schlägt sich das in der Musik nieder? Simpson hat nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass er nichts davon hielt, die auf Quintverwandtschaften aufgebaute Tonalität durch präfixierte Systeme wie die Zwölftontechnik zu ersetzen. Er arbeitet immer mit tonalen Bezügen. Allerdings vermeidet er weitgehend den Einsatz klassischer Dominantharmonien und hält stattdessen die Musik nahezu durchgehend in einem harmonischen Schwebezustand. Bereits die Themen selbst durchschreiten in der Regel mehrere tonale Zentren. Simpson denkt polyphon und bildet durch Stimmführung eine Vielzahl Vorhaltsdissonanzen unterschiedlicher Spannungsgrade, die er oft nicht auflöst. Daraus ergibt sich, dass in seiner Musik über lange Strecken Dissonanzen auf Dissonanzen folgen. Verwundert es angesichts dieser Stilmittel, dass er sein Komponieren als einen Ritt auf einem wilden Tier beschrieb? Eine latente Spannung ist also bei Simpson immer vorhanden, auch im Streichquartett „für den Frieden“. In diesem Werk enthält er sich nach eigenen Worten der „Agressionen, nicht aber der starken Gefühle“. Die Herausforderung bestand für den Komponisten offenbar darin, mit Stilmitteln, die zur Schärfung des Tons und zur Zuspitzung konflikthafter Situationen bestens geeignet sind, ein Werk friedlichen Grundcharakters zu schaffen.

Simpsons Zehntes Streichquartett ist dreisätzig und dauert ungefähr 27 Minuten. Einem Allegretto-Kopfsatz (3/4-Takt) folgt ein ganz kurzes, scherzoartiges Prestissimo (2/4-Takt). Das Finale ist ein langsamer Satz (Molto Adagio, 3/4-Takt, am Ende 9/8-Takt bei gleichem Tempo), der allein etwa zwei Drittel der Gesamtspielzeit einnimmt. Satzfolge und Proportionen des Werkes erinnern an Beethovens Klaviersonate op. 109, allerdings ist nicht bekannt, ob Simpson – immerhin einer der besten Beethoven-Kenner – eine Anspielung an dieses Stück beabsichtigt hat. Alle drei Sätze sind überwiegend leise gehalten, aber jeder von ihnen steigert sich gegen Ende zu einem Höhepunkt im fortissimo, bevor sich die Musik wieder beruhigt. Dass der Frieden durchaus gefährdet ist, macht vor allem der letzte Satz deutlich. Sein Hauptgedanke ist ein Doppelthema, dessen zwei Stimmen vorwiegend in konsonanten Zusammenklängen geführt werden, wobei sich keine eindeutige Tonika durchsetzt. Es gewinnt im Laufe des Satzes durch rhythmische Variation ein wenig an Lebhaftigkeit, ohne dadurch seine ruhige Grundstimmung einzubüßen. Auch verbleibt die Musik über weite Strecken in der Zweistimmigkeit. Umso mehr überrascht das Fugato im letzten Satzdrittel. Mit der Ruhe ist es hier schlagartig vorbei: Alle vier Instrumente spielen durchweg fortissimo, immer kleinere Notenwerte dominieren das Geschehen und scheinen das Adagio in ein entfesseltes Allegro verwandeln zu wollen. Da besinnt sich die Musik plötzlich eines anderen und sinkt ins pianissimo zurück. Die erste Violine spielt eine graziöse Melodie, ein letztes Mal erscheint das Hauptthema in seiner Anfangsgestalt, und das Werk verklingt in einem ganz leisen Quartsextakkord.

Im Rahmen dieser kurzen Vorstellung ist es unmöglich, auf die ganzen Feinheiten ausführlich einzugehen, die dieses Quartett (wie auch die übrigen Streichquartette Simpsons) bietet. Wer hören will, wie Robert Simpson sich die musikalische Umsetzung des Friedens dachte, greife zu der Einspielung, die das Coull Quartett 1986 für Hyperion gemacht hat. Die Partitur ist 1990 bei Roberton Publications erschienen.

[Norbert Florian Schuck, März 2022]

Tribut an das „unergründliche Leben“ – Halvor Haug zum 70. Geburtstag

Photo © Kristina Fryklöf

Wenn im Schlussteil der Dritten Symphonie Halvor Haugs plötzlich mittels Tonband ein Sprosser (die nordische Nachtigall) zu singen beginnt und sich die Hauptmotive des Werkes um diesen Gesang herum völlig zwanglos gruppieren, dabei zugleich die musikalische Entwicklung so schlüssig zum Ende führen, dass einzig dieser Ausklang für das Stück passend erscheint, dann merkt man als Hörer, dass man Zeuge eines Triumphs künstlerischer Originalität geworden ist, wie er nur einem Komponisten gelingt, dessen für die Welt und für seine innere Stimme gleichermaßen offenes Ohr ihn zu einer Persönlichkeit von ausgeprägter Eigenart hat werden lassen. Dass Haug für den Vogelruf nicht auf ein beliebiges Tondokument zurückgriff, sondern auf eine von ihm selbst gemeinsam mit dem Dirigenten Ole Kristian Ruud während einer Wanderung gemachte Aufzeichnung, verdeutlicht, welch große Bedeutung dem intensiven Erleben der Natur und ihrer elementaren Klangphänomene für seine kompositorische Arbeit zukommt. Eine seiner Tondichtungen setzt im Gewand des Streichorchesters dem Gesang der Tannen ein Denkmal, die vor seinem Arbeitszimmer standen, bis sie einem Bauprojekt zum Opfer fielen. In einer andern übersetzte er eine Winterlandschaft in Musik. Zu seinen Frühwerken, die ihn ab den 1970er Jahren bekannt machten, gehört eine der spannendsten Unternehmungen Die Stille hörbar werden zu lassen – ein veritables kleines Instrumentaldrama für Streichorchester. Von den Tagesmoden des Musikbetriebs unbeirrt, ist der 1952 geborene Norweger stets den Weg gegangen, der ihm als der richtige erschien. Er gehört zu jenen Komponisten, deren Schaffen eine Kategorie für sich bildet, an welchen alle Versuche, sie einer bestimmten „Schule“ oder „Stilrichtung“ zuzuordnen, scheitern müssen. Am 20. Februar wird Halvor Haug, einer der großen skandinavischen Tondichter unserer Zeit, 70 Jahre alt.

Halvor Haug wurde in Trondheim geboren und wuchs in Bærum nahe Oslo auf. In seiner Kindheit spielte Musik eine wichtige Rolle: Er erlernte frühzeitig das Klavier- und Trompetenspiel und gehörte insgesamt neun Jahre lang einem Bläserensemble an. Jedoch war das Musizieren damals nur eines von vielen Interessengebieten eines Jungen, der sich bevorzugt in der freien Natur aufhielt und viel Sport trieb. Mit 17 Jahren begann er, sich intensiver mit klassischer Musik auseinanderzusetzen, und nahm bald darauf ein Studium am Østlandets Musikkonservatorium in Oslo auf, wo sein Theorielehrer Kolbjørn Ofstad (1917–1996) sein Kompositionstalent erkannte und ihn ermutigte, seine ersten Klavierstücke für Orchester zu bearbeiten. 1973 ging Haug nach Helsinki und studierte ein Jahr lang an der Sibelius-Akademie bei Erik Bergman (1911–2006), einem der Pioniere des Modernismus in Finnland, und dem vor allem als Symphoniker bekannten Einar Englund (1916–1999), dem er gründliche Unterweisungen in russisch geprägter Orchestrierungstechnik verdankte. Nachdem er sein Studium in Oslo bei seinem früheren Lehrer Ofstad abgeschlossen hatte, schrieb er mit dem Symphonischen Bild 1975/76 sein erstes von ihm als vollgültig anerkanntes Werk. Das Stück erregte die Aufmerksamkeit der Dirigenten Okko Kamu und Per Dreier, die es in ihre Programme aufnahmen und dadurch dem jungen Komponisten zu ersten Erfolgen verhalfen. 1978 brach Haug zu einem einjährigen Aufenthalt nach London auf, den er vorrangig dazu nutzte, das reiche Konzertleben der Weltstadt auf sich wirken zu lassen. Während seiner Zeit in England war ihm der große Symphoniker und Streichquartettmeister Robert Simpson (1921–1997) ein anregender und verständnisvoller Mentor: „Er half mir, auf das zu vertrauen, was meine innere Stimme mir sagt: Was du fühlst, ist richtig für dich selbst.“

Nach Norwegen zurückgekehrt, arbeitete Haug zwei Jahre lang als Musikkritiker, lebte dann aber nur noch seinem kompositorischen Schaffen. Mit den orchestralen und kammermusikalischen Werken, die er während der 1980er Jahre komponierte, vor allem den ersten beiden Symphonien, etablierte er sich endgültig im norwegischen Konzertleben. Zum wichtigsten Förderer wurde ihm Ole Kristian Ruud, der von 1987 bis 1995 als Chefdirigent des Trondheimer Symphonie-Orchesters wirkte und mehrere Werke Haugs uraufführte. Als einer der meistbeachteten norwegischen Komponisten seiner Generation erhielt Haug zahlreiche Kompositionsaufträge, die teils mit wichtigen öffentlichen Anlässen verbunden waren. Seine letzten drei Symphonien schrieb er 1993 und 2002 für das Symphonie-Orchester Trondheim bzw. 2001 für die Osloer Philharmonie. Die „Symphonische Vision“ Insignia für Kammerorchester wurde 1994 zur Feier der Olympischen Winterspiele in Lillehammer komponiert. 1996 war er offizieller Komponist des Kammermusikfestivals Stavanger, auf welchem sein Zweites Streichquartett zur Uraufführung gelangte. Sein 1997 entstandener symphonischer Liederzyklus Glem aldri henne (Vergiss sie nie) war ein Auftragswerk seiner Geburtsstadt Trondheim im Vorfeld ihrer 1000-Jahr-Feier.

Leider sind seit 20 Jahren keine neuen Werke Halvor Haugs mehr in der Öffentlichkeit bekannt geworden. Die Vierte und Fünfte Symphonie, die kurz hintereinander 2002 zur Uraufführung gelangten, belegen, dass sich der 50-jährige Komponist auf dem Höhepunkt seiner Schaffenskraft befand. Angesichts dessen kann man es nur bedauern, dass ihn der Ausbruch einer chronischen Erkrankung anscheinend dauerhaft an der Fortführung seiner schöpferischen Arbeit hindert. Haugs Werke sind in den letzten Jahren gerade in Deutschland auf besonderes Interesse gestoßen, und die noch nicht lange zurückliegende Veröffentlichung dreier bislang ungedruckter Kompositionen im Münchner Verlag Musikproduktion Höflich zeigt, dass der Komponist – dessen Musik hauptsächlich vom schwedischen Verlag Gehrmans herausgegeben wird – weiterhin die Verbreitung seiner Musik aufmerksam verfolgt.

Haugs Werkverzeichnis umfasst etwa 40 Kompositionen. Der Schwerpunkt liegt eindeutig auf symphonischer Musik, doch liegen aus seiner Feder auch eine Anzahl kammermusikalischer Werke vor. Für Singstimmen schrieb Haug nur wenig, und es erscheint charakteristisch, dass die menschliche Stimme bei ihm immer in einem symphonischen Kontext auftaucht: als Mezzosopransolo in dem Orchesterliederzyklus Glem aldri hemme, als Kinderchor in dem „Symphonischen Epos“ Menneskeverd og fred (Menschenwürde und Frieden), und als wortloser Doppelchor für Frauenstimmen in der Zweiten Symphonie.

Photo © Kristina Fryklöf

Stilistisch ist Haug von Anfang an ein ganz eigener Kopf, was sich namentlich zeigt, wenn man seine Musik mit der seiner Lehrer vergleicht. Serielle Techniken, wie überhaupt die Idee eines vorgefertigten musikalischen Materials, wie sie für Erik Bergman zunehmend Bedeutung erlangten, haben für Haug nie eine Rolle gespielt. Auch blieb Einar Englunds klassizistisches Formideal ohne Einfluss auf ihn. Mit Robert Simpson teilt er dagegen die Aufbruchsstimmung ins Unbekannte, die der Anfang seiner Werke regelmäßig hervorruft – nicht ohne Grund trägt ein Orchesterwerk Haugs den Titel Il Preludio dell‘ ignoto – und die freie Formung mittels permanenter Verwandlung weniger motivischer Zellen, die keinerlei Vorhersehbarkeit der musikalischen Entwicklung, sehr wohl aber den Eindruck kräftiger Naturwüchsigkeit aufkommen lässt. Der deutlichste Unterschied zwischen beiden Komponisten liegt in ihrer Tempogestaltung. Während für Simpson gleichsam das Allegro der Normalzustand ist und die langsamen Abschnitte seiner Werke sehr oft einen vorbereitenden oder nachklingenden Charakter aufweisen, bewegt sich Haug bevorzugt in mäßigen und langsamen Tempi, die sich in besonderen Momenten zu rascherer Bewegung steigern. Sein untrügliches Gespür für tonale Bezüge sorgt dafür, dass die Spannung dabei nie verloren geht. Gern lässt er voneinander weit entfernte Harmonien unmittelbar aufeinandertreffen und führt dadurch dem musikalischen Geschehen neue Kraft zu.

Haug beschrieb seinen Schaffensprozess als „nicht bewusst auf intellektuelle Art, eher emotional. Schwierigkeiten, Gegensätze, Spannung trage ich in mir. Energie ist von zentraler Bedeutung.“ Zwar verliert er beim Komponieren nie den Anfang des Stückes aus den Augen, ebenso wenig den Höhepunkt, auf den dieser zustrebt, doch hat ihn der Schaffensprozess – Robert Simpsons Satz, dass Komponieren „kontrollierte Inprovisation“ sei, dürfte auch auf Haug vollkommen zutreffen – mitunter zu Lösungen geführt, die ihn selbst überraschten. So erkannte er erst nach weit fortgeschrittener Arbeit an der Dritten Symphonie die Integration des bereits erwähnten Nachtigallenrufs als bestmöglichen Schluss des Werkes. Dies war sein Tribut an das „Unergründliche Leben“, das der Symphonie den Titel gab.

Haugs Musik macht keine Umschweife und besticht durch ihre emotionale Direktheit. Zu seinem 70. Geburtstag kann man dem Komponisten nur wünschen, dass sie auch weiterhin innerhalb wie außerhalb seiner Heimat treue Freunde und weite Verbreitung finden möge.

Verzeichnis der Werke Halvor Haugs

Halvor Haugs Kompositionen sind bei Gehrmans Musikförlag (Stockholm), Norsk Musikforlag (Oslo) und Musikproduktion Höflich (München) erhältlich. Die nicht verlegten Werke können über den Notendienst der Norwegischen Nationalbibliothek Oslo (NB noter) bezogen werden.

Orchesterwerke:

Symfonisk bilde (Symphonisches Bild), 1975/76 (Gehrmans)

Symfoniske konturer (Symphonische Konturen), 1977 (NB noter)

Konzert für Horn und Orchester, 1978 (NB noter)

Poema Patetica, 1980 (Gehrmans)

Poema Sonora, 1980 (NB noter)

Symphonie Nr. 1, 1981/82 (Norsk Musikforlag)

Sinfonietta, 1983 (Norsk Musikforlag)

Symphonie Nr. 2 für Orchester, wortlosen Frauenchor und Orgel, 1984 (Gehrmans)

Menneskeverd og fred – Symfonisk epos (Menschenwürde und Frieden) für Kinderchor und Orchester, 1985 (NB noter)

Vinterlandskap (Winterlandschaft), 1986 (NB noter)

Symphonie Nr. 3 Det uuntgrunnelige livet (Das unergründliche Leben) für Orchester und Tonband, 1991–1993 (Gehrmans)

Ouvertüre Norske aspekter (Norwegische Ansichten), 1993 (NB noter)

Insignia – Symfonisk vision für Kammerorchester, 1993 (Gehrmans)

Glem aldri henne (Vergiss sie nie), Liederzyklus für Mezzosopran und Orchester nach Gedichten von Gunnar Reiss-Andersen, 1997 (Gehrmans)

Il Preludio dell‘ ignoto (Das Vorspiel zum Unbekannten), 2000 (Gehrmans)

Symphonie Nr. 4, 2001 (Gehrmans)

Symphonie Nr. 5, 2002 (Gehrmans)

Werke für Streichorchester:

Stillhet (Die Stille), 1977 (Norsk Musikforlag)

Furuenes sang (Gesang der Tannen), 1987 (Gehrmans)

Intermezzo aus dem Liederzyklus Glem aldri henne, 1997 (Gehrmans)

Werke für Blasorchester:

Cordiale für Blasorchester, 1982 (NB noter)

Exit für Blasorchester und Orgel ad libitum, 1985 (NB noter)

Concertino für Blechbläser (4 Trompeten, 4 Hörner, 4 Posaunen, 2 Tuben) und Schlagzeug, 1988 (Musikproduktion Höflich)

Kammermusik (2–5 Instrumente):

Sonatine für Violine und Klavier, 1973 (Musikproduktion Höflich)

Duetto Bramoso (Eifersüchtiges Duett) für Violine und Gitarre, 1976 (Musikproduktion Höflich)

Symphony for five für Flöte (Altflöte), Klarinette (Bassklarinette), Horn, Gitarre und Klavier, 1979 (NB noter)

Quintett für zwei Trompeten, Horn, Tenorposaune und Bassposaune (Tuba), 1981 (Norsk Musikforlag)

Streichquartett Nr. 1, 1985 (Gehrmans)

Dialog für zwei Harfen, 1987 (Gehrmans)

Essay für Altposaune und Streichquartett, 1987 (NB noter)

Klaviertrio, 1995 (Gehrmans)

Streichquartett Nr. 2, 1996 (Gehrmans)

Duo für Violine und Violoncello, 2002 (Gehrmans)

Opus for tre naboer – Andante con amore (Werk für drei Nachbarn) für Violine, Violoncello und Klavier, [ohne Datum] (NB noter)

Werke für Soloinstrumente:

Tre „utfall“ (Drei „Ergebnisse“) für Gitarre, 1974 (Norsk Musikforlag)

Drei Inventionen für Gitarre, 1976 (Gehrmans)

Fantasia für Oboe, 1977 (NB noter)

Impression für Klavier, 1980 (Gehrmans)

Sonata Elegica für Violoncello, 1981 (Norsk Musikforlag)

[Norbert Florian Schuck, Februar 2022]

(Der Autor dankt Christoph Schlüren herzlich für die Bereitstellung von Informationen und die Vermittlung der Photographien)

Der Komponist Wilhelm Furtwängler und seine Gegner (2)

Hatten wir uns in Teil 1 dieses Aufsatzes den drei großen Vorurteilen gegen den Komponisten Wilhelm Furtwängler und ihrer Widerlegung gewidmet, so befasst sich der zweite Teil (der heute zum 136. Geburtstag Furtwänglers erscheint) zunächst mit den Reaktionen der Musikkritik auf die 2021 bei cpo erschienene Aufnahme der Ersten Symphonie durch die Württembergische Philharmonie Reutlingen unter Fawzi Haimor und schließt mit einer Untersuchung der Vorgehensweise eines besonders hartnäckigen Gegners des Komponisten.

Presseschau: Fawzi Haimors Einspielung der Ersten Symphonie

Vor kurzem erschien bei cpo eine Aufnahme der Ersten Symphonie durch die Württembergische Philharmonie Reutlingen unter Fawzi Haimor. Sie bedeutet in der Diskographie insofern einen Markstein, als dass mit Haimor sich erstmals ein Dirigent des Werkes angenommen hat, der an ihm keine Grundlagenarbeit mehr geleistet hat, denn der Dirigent der Erstaufnahme, Alfred Walter, leitete auch die Uraufführung, George Alexander Albrecht, der die zweite Einspielung durchführte, war Herausgeber des Erstdrucks. Es ist also ein Schritt getan vergleichbar dem, als der Komponist 1954, kurz vor seinem Tod, mit Rolf Agop erstmals einem anderen Dirigenten seine Zweite Symphonie anvertraute – gewissermaßen ein Schritt in die Normalität. Die Kritiken fielen für das Werk nahezu durchweg anerkennend aus.

So meint Operalounge zum Finale der „überraschenden Ersten“: „Es grenzt an Unmöglichkeit, hiervon unberührt zurückzubleiben.“

In Svens Opernparadies liest man, dass von diesem „überaus melodischen Werk“ eine Interpretation vorgelegt wurde, „die man unbedingt gehört haben sollte“. Außerdem sei es ein „Vorurteil“, wenn behauptet würde, Furtwänglers Werke seien „hoffnungslos veraltet“.

Auf der Angebotsseite von jpc haben die dort regelmäßig schreibenden Rezensenten „meiernberg“ und „JAW-Records“ dem Werk und der Einspielung die Höchstpunktzahl (5/5) gegeben.

Die Neckar-Chronik gibt dem Interview mit dem Dirigenten Fawzi Haimor den Titel: „Meistersinfonie aus dunkler Zeit“.

Dagegen wärmte der Kulturabdruck alte Kamellen auf: „Die 1. Symphonie, die zwischen 1938 und 1941 entstand und am äußersten Rand der Spätromantik einen monströsen Kampf gegen das Verschwinden derselben führt, ist ein besonders undankbares Objekt. Denn obwohl die vier Sätze mit klassischen Grundmustern und Nachklängen aus der Welt Anton Bruckners aufwarten, verliert sich der Hörer immer wieder in Furtwänglers labyrinthischen Tonfolgen. Nach 90 Minuten bleibt das Gefühl einer vielfachen Überspannung und die Frage, ob hier nicht ein Kosmos um einen leeren Kern kreist.“

In Crescendo bemerkte Christoph Schlüren: „Tatsächlich handelt es sich bei Fawzi Haimors Reutlinger Aufnahme für cpo um die aufnahmetechnisch bislang gelungenste Darbietung des knapp 90-minütigen Kolossalwerks, das in seiner Innenschau so gar nichts gründerzeitlich Macherhaftes bietet, sondern die von aller Effekthascherei völlig unabhängige Konzentration auf die pure organische Formentwicklung einfordert. Und wir warten weiter auf einen Dirigenten, der die gewaltigen Spannungsbögen adäquat zu verwirklichen versteht. Dann können wir auch dieses Werk, das noch immer erratisch erscheint, verstehen.“

Auf Classical CD Reviews hielt Gavin Dixon zwar an der Auffassung fest, Furtwänglers „major flaw“ sei „a tendency towards large-scale, expansive structures, which, although in traditional forms, are not supported by the scale or invention of his melodic writing“ – also dem von mir in Teil 1 beschriebenen Vorurteil Nr. 3 –, gesteht ihm jedoch als Komponisten „a distinctive voice“ zu und lobt immerhin das Scherzo ohne Einschränkung.

Ähnlich äußert sich Rob Maynard auf Musicweb International, der seinen Artikel mit folgendem Fazit beschließt: „We must hope that it foreshadows a full cycle of Furtwängler’s symphonic oeuvre that will bring his frequently flawed but nonetheless fascinating – and most certainly enjoyable – music to a wider audience.“

Ich selbst habe die Aufnahme auf Klassik-Heute rezensiert und dort auch meine vom Großteil der zitierten Rezensionen abweichende Ansicht dargelegt, warum ich Haimors Einspielung nicht für diejenige Aufnahme halte, die den bestmöglichen Eindruck von der Komposition vermittelt. Aber darum geht es hier nicht. Wichtig erscheint mir festzuhalten, dass unter den Kritiken der cpo-CD die positiven Stimmen weit überwiegen. Man kann anscheinend tatsächlich davon sprechen, dass die lange Zeit dominierende, von Vorurteilen geprägte Sicht auf den Komponisten Furtwängler nun einer unvoreingenommenen, von echtem Interesse geprägten Herangehensweise an seine Musik weicht.

Norman Lebrechts Attacke

Doch halt! Da meldet sich ein älterer Herr zu Wort, um energisch sein Veto einzulegen. Es ist der britische Kritiker und Buchautor Norman Lebrecht, der sich in der Vergangenheit regelmäßig zu Wilhelm Furtwängler geäußert hat. Er steht offenbar im Ruf, ein Furtwängler-Experte zu sein, denn sonst hätte ihn die Deutsche Grammophon 2019 kaum damit beauftragt, einen Einführungstext zu ihrer 34 CDs und eine DVD umfassenden Edition sämtlicher DG- und Decca-Aufnahmen Furtwänglers zu schreiben. Seine Kritik der Haimor-Aufnahme unterscheidet sich von den oben erwähnten dadurch, dass sie in einem Kontext steht, den ihr Autor im Laufe vieler Jahre schuf. Lebrecht inszeniert sich als eine Art Enthüllungsjournalist der Musikwelt. Eine Konstante seiner Tätigkeit als Autor ist die Suche nach charakterlichen Schwächen namhafter Musiker. Liest man seine Texte, meint man mitunter, ihn geradezu aufjauchzen zu sehen vor Freude, wenn er meint, etwas gefunden zu haben, das ihm die Möglichkeit gibt, eine bekannte Figur des Musiklebens als fehlerhaften Menschen darstellen zu können. Der Energie, die Lebrecht in Suchaktionen dieser Art steckt, steht eine bemerkenswerte Unachtsamkeit in Sachen Fakten gegenüber. Wer sich kurz informieren möchte, wie dicht in seinen Veröffentlichungen Fehler auf Fehler folgt, der lese die in der englischen Wikipedia zitierten Ausschnitte aus Besprechungen des Buches The Maestro Myth (1991, deutsch: Der Mythos vom Maestro) durch John von Rhein (Chicago Tribune), Roger Dettmer (Baltimore Sun) und Martin Bernheimer (Los Angeles Times).

Lebrechts Texte sind als Informationsliteratur nicht zu gebrauchen. Ihr Erfolg gründet sich auf die Art und Weise, wie der Autor Fakten, oder was er dafür hält, präsentiert. Wer sich von seiner Diktion einlullen lässt und ausreichend unkritisch alles schluckt, was Lebrecht seinen Lesern vorsetzt, wird am Ende damit belohnt, dass er es ihm gleichtun und sich wonnig in Schadenfreude suhlen kann. Diese Schadenfreude erscheint als die eigentliche Motivation der Lebrechtschen Schriftstellerei.

Wilhelm Furtwängler gehört offensichtlich zu Lebrechts Lieblingszielscheiben. Was Lebrecht über Furtwängler schreibt, ist im Grunde nicht interessant. Aber es ist interessant zu sehen, wie er gegen Furtwängler vorgeht und wie er Furtwänglers Kompositionen in diesem Zusammenhang benutzt. Zunächst lässt sich feststellen, dass er Furtwängler keineswegs pauschal verdammt. Auch für Lebrecht ist Furtwängler ein großer Dirigent. Das muss er auch sein, denn Lebrecht gibt sich nicht mit kleinen Fischen zufrieden. Einem großen Mann Anrüchiges anzuhängen, das ist seine Freude. Außerdem gehört Lebrecht zu jenen Autoren, die nie ernsthaft gegen den Strom schwimmen. Er möchte ein großes Publikum bedienen und braucht demzufolge die gängigen Klischees seiner Zeit, an die er anknüpfen und die er in seinem Sinne zuspitzen kann. Also kann er sich in diesem Falle gar nichts anderes leisten als den Dirigenten Furtwängler einen großen Mann sein zu lassen. Er versucht deshalb, ihn auf anderen Gebieten zu demontieren: Sein Ziel ist es zu zeigen, dass der berühmte Dirigent als Komponist wie als Mensch versagt habe. Auch dazu bedient er sich gängiger Klischees. Erwartet man etwas anderes?

Im Jahre 1992 veröffentlichte Lebrecht bei Simon & Schuster, New York, einen Companion to 20th Century Music, der acht Jahre später unter dem hochtrabenden Titel Complete Companion to 20th Century Music in erweiterter Form neu aufgelegt wurde. Auf S. 127 der Erstfassung findet sich über Furtwänglers Werke der folgende Absatz, der wörtlich auch in die Neufassung übernommen wurde:

He saw himself, like Mahler, as primarily a composer, yet his music is of little consequence. In three symphonies (1941–54), he seems repeatedly to linger and luxuriate in the sound he has created, though none of it bears the mark of an original mind. The works lack momentum, daring and, above all, anything personal to say – an unbelievable neutrality, given the times and the composer’s musical stature. The third in C-minor is classically formed and derivative of Bruckner. There is also a piano concerto that does a thematic tour around the great composers.“

Hier finden sich alle im ersten Teil des vorliegenden Textes ausführlich behandelten Vorurteile gegen Furtwängler gleichsam in der Nussschale zusammengefasst. Vor allem die Behauptung einer Bruckner-Abhängigkeit der Dritten Symphonie kann jeden, der mit dem Werk einigermaßen vertraut ist, nur belustigen. Kennt jemand eine Bruckner-Symphonie, die mit einem langsamen Satz beginnt, oder ein Scherzo enthält, in dem das Trio die Stelle einer Sonatendurchführung vertritt? Kann man sich auch nur ein Thema aus Furtwänglers Werk in eine Bruckner-Symphonie versetzt vorstellen? Welche Themen anderer Komponisten Lebrecht im Klavierkonzert gehört hat, verschweigt er. Würde er seine Funde öffentlich machen, hätte er zwei Möglichkeiten: Entweder müsste er zugeben, dass die Ähnlichkeiten zu gering sind um von einer „thematic tour“ zu sprechen (unter der er sich wahrscheinlich eine Art Potpourri vorstellt), oder dass Furtwängler die fremden Themen (welche auch immer es sein mögen) so stark verwandelt hat, dass sie zu seinen eigenen geworden sind. Außerdem fällt auf, dass Lebrecht sich in der Tonart der Dritten Symphonie irrt (cis-Moll muss es heißen, nicht c-Moll!). Furtwängler schien ihm wohl der Mühe nicht wert gewesen zu sein, den Fehler in der zweiten Auflage auszubessern. Dort steht er noch auf S. 136.

Seine zweite Angriffsfläche sieht Lebrecht in Furtwänglers Charakter im Allgemeinen und seinem Handeln während der NS-Zeit im Besonderen. Da greift er sehr hoch: „Moralisch lässt sich an Furtwängler nichts finden, das man bewundern könnte“, heißt es im Begleittext zur oben genannten Edition der Deutschen Grammophon. Was soll man davon halten angesichts dessen, dass Furtwänglers Einsatz für zahlreiche von den Nationalsozialisten Verfolgte eine durch Quellen hinreichend belegte Tatsache ist, und dass es darunter wenigstens zwei Fälle gegeben hat, in denen akut bedrohte Menschenleben durch eine direkte Intervention Furtwänglers gerettet worden sind (Carl Flesch und Heinrich Wollheim)? Aber nein, Lebrecht will in ihm nur einen „Günstling des Führers“ sehen, der „[n]ach einem Zwist mit Joseph Goebbels wegen einer Hindemith-Symphonie [gemeint ist Mathis der Maler] […] für kurze Zeit von seinem Amt bei den Berliner Philharmonikern suspendiert“, dann aber „von Hitler höchstselbst wieder eingesetzt“ worden sei. Wieder ein Lebrechtscher Fehler! Furtwängler ist als Chefdirigent der Philharmoniker 1934 aus eigenem Antrieb zurückgetreten und übernahm dieses Amt erst 1952 wieder. Es hat ihn niemand suspendiert, und erst recht hat ihn kein Hitler wieder eingesetzt.

Anscheinend immer bereit, in diese Kerbe zu hauen, frohlockte Lebrecht am 27. März 2019 auf seiner Seite Slipped Disc über ein angebliches „unknown pic[ture] of Furtwängler and the Füh[rer]“, das er mit folgenden Zeilen begrüßte: „After decades of censorship, whitewash and hagiolatry, documents continue to emerge of Wilhelm Furtwängler’s deeply compromised position with the leadership of the Third Reich. This latest discovery is from the Süddeutsche Zeitung archives. It shows Furtwängler conducting a factory concert in 1939 in front of a huge portrait of his Führer.“ Wer genau liest, wird feststellen, dass Lebrecht seine Leser mit der Überschrift in die Irre führt, denn, wie er ja selbst im Text schreibt, handelt es sich nicht um ein Bild, das Furtwängler mit Hitler zeigt, sondern lediglich um eine Aufnahme Furtwänglers vor einem überdimensionalen Hitler-Plakat (dem er übrigens mit nicht gerade begeistertem Blick den Rücken zukehrt). Das eigentlich Interessante an Lebrechts Beitrag ist allerdings, dass diese „latest discovery“ gar nicht neu ist. Das Bild, von dem er spricht, war der Öffentlichkeit spätestens bekannt, seit Fred K. Prieberg es 1986 in seinem Buch Kraftprobe. Wilhelm Furtwängler im Dritten Reich publiziert hatte, auf dessen Schutzumschlag es außerdem zu sehen ist. 1986 bis 2019 macht 33 Jahre. Lebrecht hat sich also wieder einmal geirrt. Nicht „censorship, whitewash and hagiolatry“ haben dafür gesorgt, dass er die Photographie erst mit solch immenser Verspätung zur Kenntnis genommen hat, sondern schlicht seine Unwilligkeit, sich korrekt zu informieren. Bezeichnend erscheint auch der Umstand, dass er auf ein Bild, das vor Jahrzehnten in dem Buch eines Musikhistorikers abgedruckt wurde, durch die Süddeutsche Zeitung aufmerksam geworden ist. (Die Photographie gefiel Lebrecht übrigens so gut, dass er sie am 25. September 2019 zur Illustration eines weiteren Beitrags auf Slipped Disc verwendete, in welchem er „a series of videocasts, elaborating on the unofficial aspects of the great conductor“ ankündigte.)

Das angeblich neu entdeckte Bild 2019 auf Lebrechts Seite…
… und 1986 auf dem Umschlag von Priebergs Buch.

Soviel zu Lebrechts früheren Eskapaden. Die Veröffentlichung von Fawzi Haimors Aufnahme der Ersten Symphonie durch cpo nahm er nun zum Anlass, seinem jahrzehntelangen Verächtlichkeitsfeldzug die Krone aufzusetzen.

Seine Kritik findet sich im englischen Original auf My Scena, ist aber auch bereits auf Französisch, Tschechisch und Spanisch erschienen. Auf seiner eigenen Seite kündigte Lebrecht noch weitere Übersetzungen an.

Was er da in die Welt hinausgeschickt hat, ist, um es vorneweg zu sagen, ein Gebräu aus offensichtlichen Fehlern, Halbwahrheiten, Verleumdungen und schwachen Versuchen witzig zu sein. Aber sehen wir uns den Text Absatz für Absatz genauer an!

In the spring of 1943, with millions being murdered across the continent of Europe, Germany’s wealthiest conductor summoned the Berlin Philharmonic Orchestra to rehearse a symphony he had written in B minor, his first. Furtwängler had been writing it, on and off, since 1908 and had lately added a fourth movement for which he had high hopes. These aspirations were dashed on first play-through. ‘Am very depressed,’ he told his wife. [/] Of all things to get depressed about at this darkest moment in modern history, a symphony seems relatively trivial, but such was the size of the maestro’s ego that it occluded most things around him, including the Nazi horrors which he chose to ignore. The symphony was supposed to be his ticket to posterity and he must have realised, during rehearsal, that it would not buy him a ride anywhere beyond the suburbs.“

→ Zunächst fällt wieder ein sachlicher Fehler auf: Die Erste Symphonie wurde weitgehend in den späten 30er und frühen 40er Jahren komponiert. Will man ihre Entstehungsgeschichte mit dem Largo-Satz beginnen lassen, der mit dem Kopfsatz der Ersten Symphonie das Anfangsthema (und nur dieses) gemeinsam hat, und von Furtwängler 1906 in seinem ersten Konzert uraufgeführt wurde, so muss man die Anfänge der Komposition ins Jahr 1905 verlegen, nicht 1908.

→ Lebrecht beginnt effektvoll mit dem Zweiten Weltkrieg. Furtwängler soll hier als moralisch fragwürdiger, egoistischer Mensch erscheinen, der es sich mitten im Krieg gut gehen lässt („Germany’s wealthiest conductor“) und sich nur um seine Kompositionen sorgt. Schwerer wiegt die Behauptung, Furtwängler hätte sich entschieden, die Nazi-Greuel zu ignorieren. Erneut muss man sich fragen: Wie kann man einem Manne, der sich persönlich für Verfolgte eingesetzt hat, der aus Protest gegen die Beeinflussung des Kulturlebens durch die Politik bereits 1934 alle öffentlichen Ämter niederlegte, der sich weigerte in von der Wehrmacht besetzten Ländern zu dirigieren, der sich dem Missbrauch seiner Person durch die NS-Propaganda so weitgehend entzog, wie es ihm möglich war, vorwerfen, er habe die Augen vor der nationalsozialistischen Terrorherrschaft verschlossen? Man lese zu diesem Thema seriöse Bücher wie Klaus Langs Wilhelm Furtwängler und seine Entnazifizierung (Aachen: Shaker Media 2012) und Fred K. Priebergs Kraftprobe. Wilhelm Furtwängler im Dritten Reich (Wiesbaden: F. A. Brockhaus 1986).

→ Lebrecht meint, Furtwänglers Niedergeschlagenheit nach der Probe wäre Wasser auf seine Mühlen. Nun hat Furtwängler tatsächlich nie wieder einen Takt aus der Ersten Symphonie dirigiert. Dies bedeutet aber nicht, er hätte das Werk als misslungen betrachtet und beiseite gelegt. Nein, er überarbeitete es ein weiteres Mal, sodass er 1946 Eugen Jochum schreiben konnte: „Von meinen Symphonien wird eine in diesem Jahr, die andere ein Jahr später herauskommen.“ (Klaus Lang: Wilhelm Furtwängler und die Tragik seines Komponierens, Aachen: Shaker Media 2013, S. 55) Dies hätte er (damals noch unter Auftrittsverbot) nicht geschrieben, wenn ihm die Erste zu dieser Zeit nicht aufführungsreif erschienen wäre. Während er die Zweite (die er 1948 uraufführte) als „fix und fertig“ ansah, war die Erste für ihn aber nur „fertig“ (ebenfalls an Jochum 1946, siehe Lang: Tragik, S. 49), und noch 1954 feilte er an einzelnen Stellen der Partitur. Dass er bis in sein Todesjahr um die endgültige Gestalt dieses Werkes rang, zeigt deutlich genug, wie wichtig ihm dieses Stück war. Ein Künstler macht sich nicht eine solche Arbeit mit einem Werk, das er für misslungen hält! Es kam lediglich durch den Tod des Komponisten zu keiner „Fassung letzter Hand“. Furtwängler hat die Erste Symphonie „’fertig‘, aber mit einigen Fragezeichen für die Nachwelt hinterlassen“, wie Sebastian Krahnert über den vergleichbaren Fall des Klavierquintetts schreibt.

Furtwängler died in 1954 and, though his cult as a legendary conductor continued to grow, his first symphony did not get performed until 1991. Two recordings were issued soon after, neither of them convincing. I was hoping for more from the Württemberg Philharmonie of Reutlingen, conducted by Fawzi Hamor [sic], on a label that performs noble service to German music, great and small. It soon confirmed my long impresion [sic] that Furtwängler’s composing talent was too small to be measured on any musical scale.“

→ Natürlich lässt sich Lebrecht nicht entgehen, die lange Zeitspanne zwischen Furtwänglers Tod und der Uraufführung hervorzuheben. Der Grund für die verspätete Uraufführung (die Ersteinspielung geschah bereits 1989) lag, ähnlich wie im Falle des Klavierquintetts, in dem philologisch problematischen Zustand der Partitur begründet. Die Furtwängler-Pflege konzentrierte sich zunächst auf die Werke, zu denen ein Notentext letzter Hand vorlag.

→ Kann man Lebrecht angesichts seiner Sätze von 1992 tatsächlich glauben, wenn er schreibt: „I was hoping for more“, oder ist dies nur reine Rhetorik?

If Bruckner married Mahler and hired Wagner and Brahms to tutor their backward child, the infant might have doodled something like Furtwängler’s B-minor symphony. This work is not so much composed as collaged. Trademarked themes of other composers are pasted onto a vast canvas of almost ninety minutes, each movement opening with a tune you know you’ve heard before. [/] The wholesale theft of classical treasures becomes so blatant that, six minutes into the Adagio, Furtwängler starts churning out chunks of Beethoven’s ninth symphony, as if we’d never know. Vanity aside, he repeats himself (or others) over and over again until you wonder how it was possible that so insightful and atmospheric a conductor could be so deaf and senseless to his own emanations. The fine musicians of Reutlingen do their level best to get us through; the fawning sleeve-notes are the most muddled I have read in years.“

→ Hier wird Lebrecht nicht nur gegen Furtwängler ehrenrührig, sondern auch gegen Eckhardt van den Hoogen, den Autor des Begleittextes. Als Übersetzung des Wortes „fawning“ wird mir von den konsultierten Nachschlagewerken nicht nur „liebedienernd“, sondern auch „kriecherisch“, „hündisch“, „schwanzwedelnd“ angeboten. Mit diesem Wort wird ein Autor bedacht, der sich sorgfältig mit Leben und Werk des von ihm dargestellten Komponisten vertraut gemacht hat und auf Grundlage dieses umfassenden Wissens in seinem Text ein möglichst getreues Charakterbild des Künstlers zu vermitteln strebt. Van den Hoogens Art, sich gleichsam in die Psyche der Komponisten, über die er schreibt, hineinzudenken, mag nicht Jedermanns Sache sein und birgt gewiss Risiken. Gerade aber, weil van den Hoogen diese Risiken auf sich nimmt, verdient er Respekt. Er ist ein Autor, der wagt, was sich viele andere nicht trauen. Und das Ergebnis gibt ihm meistens Recht. Der Furtwängler-Text macht darin keine Ausnahme.

→ Zum Schluss seines Artikels lässt Lebrecht die Katze aus dem Sack und zeigt uns, dass er offensichtlich rettungslos in Reminiszenzenjägerei befangen ist. Nach Anklängen an andere Werke Ausschau zu halten, mag ein hübscher Zeitvertreib sein und mitunter auch tatsächlich Interessantes zu Tage fördern, aber was ist davon zu halten, wenn diese Tätigkeit mit solch fanatischem Ernst betrieben wird, wie Lebrecht es hier tut? Lebrechts Worte sind ein Dokument uneingestandener Hilflosigkeit. Man hat einen routinierten Kritiker vor sich (oder besser: einen in Routine erstarrten Kritiker), welcher 1. offensichtlich weder willens noch fähig ist, sich mit dem Werk ernsthaft auseinanderzusetzen, und 2. die Vorurteile, die er gegenüber dem Komponisten hegt und selbstgefällig pflegt, auf Biegen und Brechen sich und anderen bestätigen will. Für Lebrecht ist Furtwängler also ein Dieb (bereits 1992 klingt dies in seiner Einschätzung des Klavierkonzerts an), und der Kritiker hält sich für besonders schlau, weil er meint, diesen „Dieb“ überführt zu haben. Wenn man weiß, dass Lebrecht ein leidenschaftlicher Verehrer Gustav Mahlers ist, und bedenkt, dass er bereits 1992 in seinem Handbuchartikel Furtwängler und Mahler einander gegenübergestellt hat, so möchte man glauben, er versuche hier die Vorwürfe, die man früher Mahler gemacht hat, auf einen anderen Komponisten (der zugleich, wie Mahler, ein großer Dirigent war) zu übertragen und damit gleichsam ein Negativbeispiel zu Mahler zu schaffen: Seht her – scheint er uns zwischen den Zeilen sagen zu wollen –, die Diebstähle, die man Mahler zu Unrecht vorwarf, Furtwängler hat sie begangen! Da stellt sich die Frage, was eigentlich so schlimm daran sein soll, wenn ein Komponist aus einem fremden Einfall einen eigenen macht. Dass bei Mahler die Anfangsthemen der Dritten und Sechsten Symphonie und das Rondo-Thema der Siebten auffallend an Melodien von Brahms, Bruckner und Wagner anklingen, ist doch keine Schande! Wenn Mahler hier den Reminiszenzenjägern Köder ausgelegt hat, so tat er das – Humorist, der er war –, um sie zu foppen. Bereits bei der Komposition dürfte er innerlich darüber gelacht haben, dass das „jeder Esel hören wird“, um es mit Brahms zu sagen. Außerdem hat er allen Themen etwas Neues, Eigenes hinzugefügt. In der Form, in der er sie präsentiert, sind sie nicht mehr die Themen anderer Komponisten.

Mahler ist kein Melodiendieb. Noch unsinniger wirkt der Versuch, Furtwängler dergleichen anzuhängen, denn dessen melodische Erfindung war so eigen, dass jedes Zitieren fremder Musik im Kontext seines Stiles wie ein Fremdkörper hätte wirken müssen. Dabei gibt es allerdings Reminiszenzen in Furtwänglers Werken. Ich erinnere an ein Thema im Kopfsatz der Ersten Symphonie, dessen Anfang im zweiten Satz der Dritten wieder auftaucht. Auch fängt das Symphonische Konzert mit beinahe dem gleichen Motiv an wie die Zweite Symphonie. Themen, die auf Tonleiterausschnitten basieren, oder solche mit sinusartigen Melodieverläufen gibt es in jedem Werk Furtwänglers, sodass schon dadurch Anklänge der Werke untereinander gewährleistet sind. Dies liegt schlicht daran, dass Furtwängler der Archetyp eines „Igels“ ist. So nennt Isaiah Berlin in seinem Buch Der Igel und der Fuchs, anknüpfend an das antike Sprichwort „Der Fuchs weiß verschiedene Sachen, der Igel aber nur eine große“ diejenigen Künstler und Denker, die von einer großen Idee besessen sind, auf welche sie alles beziehen. Auch Furtwängler hat sein Leben lang eigentlich immer das gleiche Ziel verfolgt. Die einzelnen Werke sind individuelle Lösungen einer stets gleich bleibenden Aufgabenstellung – wie bei Bruckner, der ja auch als „Igel“ in Reinform gelten kann (als spätere Vertreter dieses Typus lassen sich etwa Allan Pettersson, Robert Simpson, Peter Mennin nennen). Und so wie Bruckner mit gewisser Regelmäßigkeit sich selbst zitiert, vielleicht sogar unbeabsichtigt, so tut dies Furtwängler ebenfalls.

Ich gebe gern zu, dass mir die Anklänge an Beethovens Neunte, die Lebrecht im Adagio der Ersten Symphonie Furtwänglers zu hören meint, nie aufgefallen sind. Warum nicht? Weil dieses Adagio mich durch das, was es ist, so gefesselt hat, dass ich mich nicht darum kümmerte, ob Reminiszenzen an ein anderes Meisterwerk darin sind oder nicht. Gedanken darüber, was es zur individuellen Beschaffenheit dieses Satzes zu sagen geben könnte, kommen Lebrecht gar nicht. Meint er ernsthaft, dass es das Wesentliche an diesem Stück sei, dass Furtwängler hier „gestohlen“ habe? Lebrecht hat mit seinen Lesern etwas Bestimmtes vor: Sie sollen gedanklich gelenkt werden, und zwar nicht hin zu einem besseren Verständnis des Werkes, sondern sie sollen ebenso eine Mauer zwischen sich und dem Werk hochziehen, wie sie Lebrecht für seine Person errichtet hat. Wenn in der Kritik steht, jeder Satz der Symphonie beginne mit einem Thema, von dem man wisse, dass man es schon einmal gehört habe, so ist das eine Aufforderung an die Leser, sich, wenn sie denn dazu kommen das Stück zu hören, auf die Frage zu konzentrieren, wo man dieses oder jenes Thema bereits gehört haben könnte. Sie sollen davon abgelenkt werden, den musikalischen Ereignissen zu folgen, so wie Lebrecht ihnen nicht mehr folgen kann, da seine alten Vorurteile gegen Furtwängler ihm den Weg versperrt haben. Man erlebt in seinem Text, wie ein Kritiker, um seine einmal gefestigten Ansichten über einen Komponisten zu bestätigen, alle seine Kräfte zur Reminiszenzenjagd aufbietet, um wenigstens irgendetwas zu finden, das gegen den Komponisten verwendet werden kann. Dass Lebrecht dann keine Kraft mehr hat, sich auf das Werk selbst zu konzentrieren, ist die natürliche Folge.

Sowenig man Furtwängler einen derivativen Komponisten nennen kann, so sehr sind Lebrechts Ausführungen zu seinem Schaffen von Anfang bis Ende ein Derivat, zusammengeleimt aus dem Billigsten, was an Klischees und Vorurteilen über Furtwänglers Kompositionen im Laufe der Zeit von Unwissenden und Übelwollenden in Umlauf gebracht worden ist. Unter seinen Händen ist dieses Gedankengut geradezu eine Karikatur seiner selbst geworden. Man kann beinahe von einer unfreiwilligen Satire sprechen. Kann man angesichts dieser Bankrotterklärung eines der hartnäckigsten Verleumder Furtwänglers vermuten, dass die Gegner des Komponisten ihr Pulver verschossen haben? Gewiss wird man sie noch zu der einen oder anderen Schlammschlacht ausrücken sehen, aber ihre hohlen Phrasen, die sie mangels tatsächlicher Argumente gezwungen sind fortwährend zu wiederholen, werden sich immer weiter abnutzen. An Furtwänglers Werken werden ihre Attacken zerschellen wie eh und je. Dem Konzertleben, den Tonträgerproduktionen und der Musikwissenschaft dagegen steht ein zahlenmäßig nicht großes, aber dafür umso gehaltvolleres Schaffen zur Verfügung, das diejenigen reich belohnen wird, die sich mit Ernst und Zuneigung seiner Ergründung widmen. Es verdiente eine bessere Pflege als sie ihm im 20. Jahrhundert zu Teil wurde. Tun wir es nicht Lebrecht und seinesgleichen gleich, sondern:

Hören wir dem Komponisten Wilhelm Furtwängler gut zu!

Programmzettel zur ersten Aufführung von Furtwänglers Zweiter Symphonie, die nicht vom Komponisten selbst geleitet wurde. Es dirigierte Rolf Agop (1908-1998).

[Norbert Florian Schuck, Januar 2022]

Musik zur Weihnachtszeit: Das Weihnachts-Oratorium von Richard Wetz

Unter den oratorischen Werken, die die Weihnachtsgeschichte thematisieren, nimmt das Weihnachts-Oratorium auf alt-deutsche Gedichte für Sopran- und Bariton-Solo, gemischten Chor und Orchester op. 53 von Richard Wetz (1875–1935) eine besondere Stellung ein. 1929 vollendet, fällt seine Entstehung in eine Zeit, in der nur verhältnismäßig wenige Komponisten größere Konzertwerke zum Thema „Weihnachten“ schrieben. Zu nennen sind unter Wetzens Generationsgenossen Ottorino Respighi mit seiner Lauda per la Natività del Signore (1930) sowie Walter Braunfels mit seiner Adventskantate op. 45 und seiner Weihnachtskantate op. 52 aus dem Zyklus Das Kirchenjahr (1934–1937). Im Gegensatz zu Wetzens Weihnachtsoratorium ist allerdings keines dieser Werke abendfüllend. Die Christnacht op. 85 von Joseph Haas (1933) hebt sich von Wetz auf andere Weise ab, denn es handelt sich um ein betont volkstümlich gehaltenes geistliches Liederspiel. Mit seiner einfachen, von der Idee der „Gebrauchsmusik“ beeinflussten Gestaltung wurde dieses Werk ebenso wegweisend für zahlreiche spätere Weihnachtsmusiken wie Hugo Distlers Weihnachtsgeschichte op. 10, die, zur gleichen Zeit entstanden, eine Rückbesinnung auf die strenge A-cappella-Polyphonie eines Heinrich Schütz einleitet.

Aber auch aus der entgegengesetzten Perspektive des Zeitstrahls betrachtet, wirkt Wetzens Oratorium in seiner Zeit isoliert, da eine verstärkte Hinwendung zur Komposition von Weihnachtsoratorien sich letztmals in der Zeit um 1900 feststellen lässt: Heinrich von Herzogenberg komponierte 1894 Die Geburt Christi op. 90, Philipp Wolfrum 1898 Ein Weihnachtsmysterium op. 31, der Dresdner Kreuzkantor Oskar Wermann sein Weihnachs-Oratorium op. 110 1904, im gleichen Jahr wie Andreas Hallén sein Juloratorium. Somit erscheint im historischen Zusammenhang das Wetzsche Weihnachtsoratorium nicht nur als letztes groß dimensioniertes Weihnachtswerk spätromantisch-symphonischen Stils (oder zumindest als eines der letzten), sondern überhaupt als ein erratischer Block, der sich markant aus der geistlichen Chorliteratur seiner Zeit heraushebt.

Der Komponist war sich dessen durchaus bewusst. Am 6. Februar 1927, etwa zwei Monate bevor er mit der Komposition begann, schrieb er in einem Brief an seine Jugendfreundin Martha Grabowski: „Auf diesem Gebiete habe ich nur einen zu fürchten, freilich den gewaltigen Johann Sebastian Bach. Aber ich denke gar nicht daran, ihm auch nur an die Seite und in seine Nähe zu treten, wie ich ja auch im ‚Requiem‘ [op. 50, 1925] mich ganz fern von Mozart gehalten habe.“

In der Tat: Wer den vor Freude und Zuversicht strotzenden Eingangschor des Bachschen Werkes im Ohr hat und sich die Eröffnung eines Weihnachtsoratoriums gar nicht mehr anders denken kann, wird womöglich erschrecken angesichts der Klänge, mit denen Wetz die ersten sechs Minuten seines Weihnachtsoratoriums gestaltet. Die vier Anfangstakte, in denen über einem Orgelpunkt der tiefen Streicher leise Akkorde der Flöten, Klarinetten und Hörner mildes Licht in die Dunkelheit werfen, könnten eine Totenmesse einleiten. Tatsächlich ähneln sie auffallend dem Beginn des Wetzschen Requiems. Dann eröffnen die Bratschen eine ausdrücklich als „sehnsuchtsvoll“ bezeichnete langsame Fuge in e-Moll, die sich bis zum Fortissimo steigert, um anschließend wieder abzuschwellen. Während sie im Pianissimo versinkt, erklingt ein unscheinbares Motiv in den Posaunen, das sich nach einer Generalpause unvermittelt in dissonanten Imitationen aufbäumt. Das erste Intervall, das gesungen wird, ist ein Tritonus. Über heftig bewegten Ostinati sammelt sich der Chor zu einem dreifachen Aufschrei: „O Heiland, reiß den Himmel auf“. Damit wird ein stürmischer Satz in Gang gebracht, in dem der Chor in immer wieder neuen Fugati Anlauf nimmt, das Erscheinen des Heilands zu erflehen, um schließlich mit der Forderung – von einer Bitte lässt sich kaum noch sprechen – „Komm tröst‘ uns hie im Erdental“ in sich zusammenzustürzen. Hier wird weder gejauchzt, noch frohlockt. Das ist Musik der Verzweiflung. Das Erdental, von dem die Rede ist, wird eindeutig als irdisches Jammertal gezeichnet.

Damit haben wir den Schlüssel zum Verständnis des Wetzschen Weihnachtsoratoriums. Begeht Bach Weihnachten als das Fest unerschütterlicher Glaubensgewissheit, so liegt der Anlass für Wetz darin, die Ankunft Dessen zu feiern, der den Menschen Trost im leidvollen Erdendasein spendet und ihnen letztlich Erlösung bringt. Die hymnisch strahlenden Schlüsse, in welche alle drei Teile des Werkes münden, bringen eine Freude zum Ausdruck, die sich aus der Erfahrung des Leides speist. Die Gedankenwelt, der dieses Weihnachtsoratorium entstammt, gehört einem Künstler, der zeitlebens gleichermaßen von der pessimistischen Philosophie Schopenhauers wie von Goethes Glauben an das Wirken des Göttlichen in der Natur geprägt war und dessen Gefühlsleben sich in ständiger Spannung zwischen diesen beiden Polen befand. Weltschmerz und Entsagung einerseits, zum andern der Lobpreis des „einigen, ewigen, glühenden Lebens“, von dem Hölderlin am Schluss seines Hyperion spricht (den Wetz als Kantate vertonte), geben dem gesamten Schaffen des Komponisten das Gepräge. Dabei scheidet Wetz die beiden Ausdruckssphären weniger voneinander als dass er sie miteinander verbindet. Dem Licht ist bei ihm nahezu immer Schatten beigemischt und umgekehrt. In Harmonik und Instrumentation kultiviert er eine Tonsprache feinster Hell-Dunkel-Effekte, sodass man geneigt ist, ihn einen ausgesprochenen Chiaroscuro-Komponisten zu nennen.

Im Weihnachtsoratorium kommt diese Haltung darin zum Ausdruck, dass der Komponist auch nach dem Abklingen der düsteren Einleitungsmusik, wenn sich ein freudiger Grundcharakter eingestellt hat, deutlich die Sphäre des zu überwindenden Leides betont, wo sein Text dies gestattet. So folgt direkt auf Mariae Verkündigung und Empfängnis die Hinweisung auf den Kreuzestod Jesu („mit seiner bittern Marter hat er uns all erlost“, Teil 1, Takt 338ff.), und wenn Christus im Stall zu Bethlehem von den Hirten mit den Worten gepriesen wird: „du machst mich jeden Jammers frei“ (Teil 2, Takt 479ff.), so liegt der Akzent der Vertonung eindeutig auf dem Jammer. Die Freude auszudrücken, in welche „Angst und Not“ verkehrt werden, bleibt der anschließenden Chorfuge vorbehalten. Nach der Geburt Christi kommentiert Wetz die Menschwerdung Gottes im Orchester mit einem Beinahe-Selbstzitat (Teil 2, Takt 110):

Es handelt sich um ein Motiv, das, immer etwas abgewandelt, in mehreren seiner Werke auftaucht und sich erstmals am Beginn der Kleist-Ouvertüre op. 16 (1899/1903) findet, die es mottoartig durchzieht. Kleist symbolisierte für Wetz den an der Welt scheiternden, aber mit seinem Werk triumphierenden Künstler. Die Anspielung auf die Kleist-Ouvertüre gerade an dieser Stelle des Weihnachtsoratoriums lässt sich kaum anders deuten als dass Wetz auch Jesus mit seiner Geburt in eine Welt geschickt sieht, in welcher ein schreckliches Ende auf ihn wartet, über die er jedoch letztlich den Sieg davonträgt.

Viel milder und zarter mischt Wetz Licht und Schatten in den instrumentalen beziehungsweise vom Frauenchor gesungenen Hirten- und Kinderszenen des zweiten und dritten Teils („Hirtenmusik“, Teil 2, Takt 316ff.; „Christkindle, Christkindle, komm doch zu uns herein“, Teil 2, Takt 402ff.; „Du lieber, frommer, heilger Christ“, Teil 3, Takt 282ff.). Die freundlichen, leicht beschwingten Melodien in mäßig bewegtem Tempo erklingen hier zunächst in Moll, bevor sie sich nach Dur aufhellen. Durchgangs- und Vorhaltsdissonanzen, die sich aus der Stimmführung ergeben, bewirken, dass der Musik eine gewisse Herbheit immer erhalten bleibt. Ein weiteres Stilmittel, dessen sich Wetz im Verlauf des Werkes immer wieder bedient, um das Mysterium der Christgeburt zu charakterisieren, ist die plötzliche „Entrückung“ der Musik in andere Tonarten nebst harmonischen Schwebezuständen. Beispielsweise zeichnet er den „alten Stall“ in Bethlehem, indem er über einem Quint-Oktav-Orgelpunkt D-A-d die Musik durch die Dreiklänge von d-Moll, C-Dur, B-Dur, as-Moll, d-Moll, es-Moll, des-Moll, as-Moll, Ges-Dur wandern lässt, um ihn anschließend in einem übermäßigen Dreiklang über Des, der verminderten Dominante zu A, der Subdominate zu D und der Dominante zu H „als wie einen Kristall“ glänzen und scheinen zu lassen (Teil 2, Takt 229–236). Das Orchester reicht dem eine „sehr weiche“ Passage nach, die mittels Quintparallelen in Violinen und hohen Holzbläsern das Schimmern noch verstärkt.

Wetz arbeitete an seinem Oratorium ziemlich genau zwei Jahre. Den Vermerken am Ende der bei Kistner & Siegel erschienenen Partitur zufolge, begann er die Komposition am 12. April 1927 und vollendete sie am 22. April 1929. Als Textgrundlage dienten ihm, wie der Titel des Werkes besagt, „alt-deutsche Gedichte“, die er zu drei Teilen zusammenfasste: „Erwartung und Verkündigung“, „Die Geburt Christi“ und „Die heiligen drei Könige“. Die dichterische Geschlossenheit dieser Texte verdeckt, dass sie aus sehr unterschiedlichen Quellen zusammengesetzt sind, deren Entstehungsdaten zum Teil mehrere Jahrhunderte auseinanderliegen (das jüngste Textstück war erst 80 Jahre vor Beginn der Komposition erschienen). Dichtungen prominenter Autoren finden sich ebenso darunter wie Volkspoesie, Texte katholischen Ursprungs stehen neben protestantischen, gottesdienstliche Gesänge neben geistlichen Kinderliedern. Die Formenvielfalt der Texte und ihre konfessionelle Mischung verraten, dass es Wetz nicht darum ging, ein in irgendeiner Weise liturgisch gebundenes Werk zu schaffen. Er selbst war katholisch getauft und blieb auch zeitlebens Mitglied der katholischen Kirche, ohne dass man ihn einen praktizierenden Katholiken nennen kann. Er schätzte Luther und betrachtete die Reformation als hochbedeutendes Ereignis, allerdings eher unter historischem als theologischem Gesichtspunkt. Interessanterweise sah er sein Christusbild als von dem Rationalisten David Friedrich Strauss bedeutend geprägt – im Weihnachtsoratorium dürfte sich davon kaum eine Spur finden lassen. Diese persönliche Indifferenz in religiösen Dingen kontrastiert auffallend zu der großen Zahl geistlicher Texte, die Wetz vertont hat – ein Sachverhalt, der seinen Biographen Rudolf Benl dazu brachte, den Komponisten als einen rastlosen Gottsucher zu charakterisieren. Vielleicht hat Wetz den Heiligen drei Königen in seinem Weihnachtsoratorium gerade deshalb vergleichsweise viel Raum zugestanden, da sie doch ebenfalls Gottsucher, im wahrsten Sinne des Wortes, sind.

Die Textwahl belegt zudem die außerordentliche Belesenheit des Komponisten, der brieflich berichtete, während der Instrumentation des fertigen ersten Teils im August 1928 „30 Bände [!] ausgelesen“ zu haben. Da Wetz in der Partitur seine Quellen nicht genannt hat, seien sie im Folgenden aufgeschlüsselt:

Teil 1

O Heiland reiß den Himmel auf (Friedrich Spee von Langenfeld, 1622)

Kommst du, kommst du, Licht der Heiden (Ernst Christoph Homburg, 1659)

Es wollt gut Jäger jagen (Nürnberg, 1551)

Und unser lieben Frau’n, der träumete ein Traum (Graz, 1602)

Komm, Herr Gott, du höchster Hort (Heinrich Bone, 1847)

Teil 2

Kaiser Augustus legete an (Nikolaus Herman, 1560)

Gott, dem der Erdenkreis zu klein (Leipzig, 1724)

In unser armes Fleisch und Blut (Martin Luther, 1524)

Da Christ geboren war (Michael Weiße, 1531)

Auf, auf nun ihr Hirten, und schlaft nicht so lang (alpenländisch, 18. Jahrhundert)

Laufet ihr Hirten, lauft alle zugleich (Schlesien, vor 1842)

O heilig Kind, wir grüßen dich (Franz von Pocci, 1834)

Christkindle, Christkindle, komm doch zu uns herein (Elsass, 18. Jahrhundert)

Wir singen dir, Immanuel (Paul Gerhardt, 1653)

Teil 3

Es führt drei Könige Gottes Hand (Köln, 1632)

Jauchzet ihr Himmel (Gerhard Tersteegen, 1731)

Du lieber, frommer, heilger Christ (Ernst Moritz Arndt, vor 1810)

Empor zu Gott mein Lobgesang (Friedrich Adolf Krummacher, 1811)

Alles, was aus Gott geboren (Salomo Franck, 1715)

Wie man sieht, scheute Wetz nicht davor zurück, Texte zu verwenden, die bereits zuvor von anderen Komponisten vertont wurden, etwa Brahms (Es wollt gut Jäger jagen op. 22/4) oder Reger (Unsrer lieben Frauen Traum op. 138/4), ja er baute sogar ein paar Verse ein, die eigens für Bachsche Kantaten geschrieben wurden: „Gott dem der Erdenkreis zu klein“ entstammt Gelobet seist du Jesu Christ BWV 91, die Schlussverse des Oratoriums, „Alles, was aus Gott geboren, / ist zum Siegen auserkoren“, sind Ein feste Burg ist unser Gott BWV 80 entnommen. Für den freien Umgang des Komponisten mit seiner Textvorlage ist charakteristisch, dass er Francks nüchternes „von Gott geboren“ zu „aus Gott geboren“ gesteigert hat (eventuell ein Reflex auf das „Deus sive natura“ des von ihm hochverehrten Spinoza). Größere Eingriffe nahm er in Tersteegens Jauchzet ihr Himmel, frohlocket ihr Erden vor, um den Text in ein einfacheres Versmaß zu bringen. Auch vertonte er nur von einem Teil der Gedichte alle Strophen. Eine originale Liedmelodie hat Wetz in keinem der Fälle übernommen und auch sonst keine präexistenten Themen (etwa Choräle) verwendet.

Literarisches Rückgrat aller drei Teile ist ein längeres Erzählgedicht, in welchem die Handlung des jeweiligen Abschnitts geschildert wird. Die beiden letzten Teile beginnen mit einer solchen Erzählung, während sie im ersten Teil erst nach dem Eingangschor und dem in die Bitte „Jesu meines Herzens Tür steht dir offen, komm zu mir“ mündenden Bariton-Solo mit „Es wollt gut Jäger jagen“ einsetzt. In den Teilen 2 und 3 fungiert der Bariton als Erzähler, seine Rolle erscheint hier der des Evangelisten in barocken Oratorien angenähert. Den Bericht von der Verkündigung Mariae im ersten Teil lässt Wetz dagegen von einem vierfach geteilten, vorwiegend imitatorisch gesetzten Frauenchor vortragen, dergestalt den mysteriösen, übernatürlichen Teil der Geschichte von Christi Geburt gegen den irdischen abgrenzend.

Jeder Großabschnitt des Weihnachtsoratoriums ist in einem Zug durchkomponiert, wobei die einzelnen Unterabschnitte relativ in sich geschlossen und durch eigene Melodien vom Rest des Werkes abgegrenzt sind. Einigen Motiven kommt jedoch eine mehr als lokale Bedeutung zu, sie durchziehen als „Gefühlswegweiser“ (um Richard Wagners ursprüngliches Wort für „Leitmotiv“ zu verwenden) größere Teile des Werkes. Die beiden wichtigsten erscheinen zuerst, gegen Anfang des ersten Teils. Bereits erwähnt wurde das aufsteigende Motiv aus Quarte, Sekunde und Quarte (bzw. Tritonus), das am Ende des Orchestervorspiels erklingt und dann den ersten Chor ankündigt (Teil 1, Takt 68ff.). Es tritt im zweiten Teil nur zweimal kurz auf, ist aber in den Eckteilen häufiger zu hören. Ich möchte es das „Erwartungsmotiv“ nennen, denn es erscheint immer dann, wenn es im Text in irgendeiner Form um Erwartung geht. Seine harmonische Struktur sorgt dabei stets für eine Zunahme der Spannung:

Noch wesentlich bedeutender ist das zweite Hauptmotiv des Werkes. Es symbolisiert die Person Christi und ist entsprechend in allen drei Teilen des Oratoriums sehr präsent. Zum ersten Mal hört man es nach dem ersten Bariton-Solo, wenn das Orchester auf die Worte des Solisten: „Jesus, […], komm zu mir“, mit diesem Motiv gleichsam verdeutlicht, dass die Bitte erhört wurde, der Heiland tatsächlich kommt. Man kann es somit das „Heilands-“, oder „Christus-Motiv“ nennen. Im Gegensatz zum Erwartungsmotiv wird der Erlöser durch ein gelöstes Fortschreiten in Sekunden und Terzen dargestellt. Man kann das Motiv übrigens in die Tradition musikalischer Kreuzessymbole einordnen, was sich leicht zeigt, wenn man zwischen dem ersten und dem letzten sowie dem dritten und dem vierten Ton jeweils eine Linie zieht:

Beide Hauptmotive sind rhythmisch und melodisch äußerst einfach gestaltet, was ihre Verwendung als Wegmarken innerhalb der Handlung erleichtert. Sie werden im Verlauf des Werkes auf vielfältige Weise harmonisiert und in unterschiedliche Kontexte gestellt, bleiben jedoch in jedem Zusammenhang deutlich vernehmbar. In der Regel erklingen sie im Orchester, sind aber in wenigen besonderen Situationen auch textiert zu hören. So berichtet der Frauenchor von Mariae Empfängnis, indem seine Stimmen in Abständen von Quarte, großer Sekunde und Quarte einsetzen (Teil 1, Takt 281f.):

Einige Takte später wird deutlich gemacht, dass das Heilandsmotiv tatsächlich Jesus Christus symbolisiert, indem der volle Chor im fortissimo auf seine Melodie singt: „Herr Jesus Christ der Heiland, also ist er genannt“ (Teil 1, Takt 327ff.):

Neben den zwei Hauptmotiven treten noch drei weitere „Gefühlswegweiser“ als wichtig hervor, ohne allerdings eine ebenbürtige Bedeutung zu erlangen. Sie bestimmen einzelne Teile des Werkes stark, fehlen dafür in anderen ganz und unterscheiden sich von den Hauptmotiven durch ihre größere Ausdehnung und ihr schärferes rhythmisches Profil. Es empfiehlt sich wohl, hier eher von Themen als von Motiven zu sprechen. Eines ist, wie das Erwartungs- und das Heilandsmotiv, instrumentalen Ursprungs. Es handelt sich um das Thema des fugierten Vorspiels zum dritten Teil, das auch im weiteren Verlauf dieses Großabschnitts immer wieder gliedernd auftaucht. Wetz macht es uns durch die Überschrift des Vorspiels leicht, seine Bedeutung zu erkennen: „Die Wanderung der [heiligen drei] Könige“:

Die beiden anderen wichtigen Themen hört man zuerst gesungen. Die Texte, mit denen sie bei ihrem ersten Erscheinen unterlegt sind, werden folglich dem Hörer auch dann ins Gedächtnis zurückgerufen, wenn die Melodien im Folgenden instrumental erklingen. Das eine steht für Maria:

Der Komponist dachte bei diesem Thema übrigens nicht nur an die Mutter Christi, sondern auch an Maria von Pott, eine Krankenschwester, mit der er zu Beginn der 1920er Jahre eine Liebesbeziehung unterhielt, und der er auch dann noch freundschaftlich verbunden blieb, nachdem sie einen wohlhabenden Landwirt geheiratet hatte. Am zweiten Weihnachtstag 1927 schrieb er ihr: „[…] wenn Du mal mein Weihnachtsoratorium hören wirst, wirst Du Dich freuen, wie schön ich immer Deinen Namen komponiert habe.“ Das Marienthema taucht erstmals gegen Mitte des ersten Teils auf, wenn dem „guten Jäger“ auf der Heide „Maria, die Jungfrau schön“ begegnet (Teil 1, Takt 213ff.) und ist letztmals in der Hirtenmusik des zweiten Teils zu hören (Teil 2, Takt 355ff.).

Das andere wichtige Thema, das seinen Ursprung im Gesang hat, taucht nur im zweiten Teil auf. Es ist zum ersten Mal auf die Worte „Da Christ geboren war, freut sich der Engel Schar“ zu hören (Teil 2, Takt 147ff.), liegt in leicht veränderter Form dem Chor „Wir singen dir, Immanuel“ zugrunde (Teil 2, Takt 426ff.) und begleitet im Orchester den auf die Halleluja-Fuge folgenden Schlusschoral dieses Großabschnitts (Teil 2, Takt 622ff.). Nennen wir es getrost „Christgeburtsthema“:

Es bleibt, einen kurzen Überblick über den Verlauf der drei Teile zu geben. Das fugierte Vorspiel zum ersten Teil und der erste Chor wurden bereits erwähnt. Nachdem der e-Moll-Sturm abgeklungen ist, hört man zart und leise den Bariton in Ces-Dur, später F-Dur, um die Ankunft des „Lichtes der Heiden“ und des „starken Trosts im Leiden“ bitten. In B-Dur erscheint erstmals das Heilandsmotiv. In dieser Tonart setzt nun der Frauenchor mit der Erzählung von Gott als dem „guten Jäger“ ein, der Maria auf der Heide antrifft. In der Verkündigungsszene wird der Engel vom Bariton, Maria vom Sopran dargestellt, wobei Wetz die beiden vom Sopran gesungenen Verse mit dem Erwartungs- und dem Heilandsmotiv beginnen lässt, dergestalt die Ergebenheit Marias in das ihr von Gott zugedachte Geschick symbolisierend. Ein kurzes, leises und dunkel getöntes Orchesterzwischenspiel (d-Moll), das Anklänge an den Eingangschor mit dem Heilandsmotiv verbindet, leitet zum Bericht des Baritons von Marias Traum über (in G-Dur beginnend): „Und unser lieben Frau’n, der träumete ein Traum, / wie unter ihrem Herzen gewachsen wär‘ ein Baum / […] / Und wie der Baum ein Schatten gab, / wohl über alle Land“, „Herr Jesus Christ der Heiland, also ist er genannt“, ergänzt der Chor lautstark in e-Moll. Leise „Kyrieleis“-Rufe führen zu einem Choral (F-Dur), der mit mächtigem Crescendo in einen an den Eingangschor gemahnenden Aufschrei mündet: „Es harret dein die ganze Welt“. Die Steigerung wird instrumental mit einem Nachspiel des Orchesters fortgesetzt, dem das Heilands- und das Erwartungsmotiv als Ostinati zugrunde liegen und das letztlich in B-Dur schließt, der am weitesten vom e-Moll des Anfangs entfernten Tonart.

Ein unruhiges Vorspiel eröffnet den zweiten Teil in d-Moll, bevor der Bariton in C-Dur mit der Erzählung von der Wanderung Marias und Josephs nach Bethlehem anhebt. Den Moment der Geburt Christi verdeutlichen das Marienthema und das Heilandsmotiv. Die Chorsoprane kommentieren die Menschwerdung Gottes, während das Orchester über einem Orgelpunkt auf B mysteriöse Harmoniewechsel, begleitet von eigenartig pochenden Holzbläsern, vollzieht. Es folgt das Quasi-Zitat aus der Kleist-Ouvertüre. In G-Dur verkünden anschließend der Solo-Sopran und ein bassloser Chor die Freude der Engel über Christi Geburt. Im folgenden Unterabschnitt wechseln zwei Melodien einander ab: eine lebhafte, mit der der Bariton die Hirten zusammenruft, und eine ruhige, mit der der Sopran das Kind betrachtet. Letztere wird später vom Chor aufgegriffen, in erstere stimmt schließlich auch der Sopran koloraturenreich ein. Zuerst ist das Geschehen in Moll-Tonarten gehalten (e, h, a), dann setzt sich A-Dur durch. Der gleiche Dur-Moll-Wechsel vollzieht sich auch in der rein instrumentalen Hirtenmusik (g/G), die das Heilandsmotiv und das Marienthema in wiegendem 6/8-Takt variiert. Ein Choral in Es-Dur und ein pittoresker Frauenchor in g-Moll/G-Dur folgen. Ein „freudig bewegter“ Chor, der „Immanuel“, dem „Friedensfürsten“ und „Gnadenquell“ ein Loblied singt (F-Dur) und als Mittelteil ein ruhiges kanonisches Duett der Solostimmen (h-Moll) enthält, die hier eindeutig Maria und Joseph darstellen, bereitet die ebenfalls lebhafte Halleluja-Fuge vor. Diese ist ein Glanzstück des Kontrapunktikers Wetz, dem man die gute Schulung anhand der (wie er sich ausdrückte) „prächtigen alten Knaben“ aus dem 16. bis 18. Jahrhundert anmerkt, die er als Leiter des Erfurter Madrigalchors regelmäßig zur Aufführung brachte. Eine kurze homophone Coda beschließt den zweiten Teil kraftvoll in F-Dur.

Ist der zweite Teil als deutlicher Kontrast zum ersten angelegt, so knüpft der dritte in mancherlei Hinsicht an diesen an. Auch hier steht ein fugiertes Vorspiel am Anfang (b-Moll). Vielleicht hat Wetz, als er die beschwerliche Gottsuche der Heiligen drei Könige auf diese Weise gestaltete, an die eigentliche Bedeutung des Wortes „Ricercar“ (= Such-Stück) gedacht? Die Fuge verläuft in zwei Steigerungswellen, deren zweite in das Heilandsmotiv mündet. Es erklingt hier im dreifachen forte des vollen Orchesters, als deutliche Reminiszenz an die Stelle „Herr Jesus Christ, der Heiland“ im ersten Teil. Danach wird der fugierte Tonsatz aufgegeben und die Erzählung des Baritons beginnt. Sie wird, der Dichtung folgend, in regelmäßigen Abständen von Reflexionen des Chores unterbrochen, deren zweite („O Gott, erleucht vom Himmel fern, die ganze Welt mit diesem Stern“, D-Dur) mit ihrem imitatorischen Satz wie eine besänftigte Variante des Eingangschors von Teil 1 wirkt. Nach der Ankunft der Könige im Stall jubeln Sopran und Bariton: „Jauchzet ihr Himmel, frohlocket ihr Erden, / Gott und der Sünder solln Freunde nun werden.“ Ihre Bitte: „Verleih uns die Huld und schenke uns bald, / heiliger Christ, die Kindergestalt“ gibt das Stichwort zu einem Frauenchor, der ausdrücklich als „kindlich“ bezeichnet ist und von verspielten Instrumentalmotiven begleitet wird. Hier vollzieht sich zum letzten Mal der für das Werk so charakteristische Tongeschlechtswechsel von Moll nach Dur (e zu G, dann zu E). Die im Moll zunächst wehmütig anmutende Gesangsmelodik wandelt sich im Dur zu unbeschwerter Heiterkeit. In den Orchesterritornellen fehlt die Imitation einer Kindertröte nicht. Dieses Geschehen überführt Wetz bruchlos in einen C-Dur-Choral, welcher das Finale des ganzen Werkes einleitet, eine ausgedehnte Doppelfuge über die Worte: „Alles, was aus Gott geboren, / ist zum Siegen auserkoren. / Halleluja.“ Das erste Thema ist in breiten Notenwerten gehalten, das zweite („Halleluja“) erscheint zuerst in den Solostimmen und hat figurativen Charakter. Obwohl Wetz an kontrapunktischen Künsten nicht spart (Engführungen), wirkt diese Fuge durch mehrere homophone Zwischenspiele lockerer gefügt und gelöster als diejenige des zweiten Teils. An äußerer Prachtentfaltung übertrifft sie sie deutlich. „Anwachsend zur höchsten Kraft“ schließt das Weihnachtsoratorium mit dem Heilandsmotiv in C-Dur. Das Ende des dritten Teils (C) liegt also eine Quinte über dem des zweiten (F) und zwei Quinten über dem des ersten (B). Das tonale Emporstreben der Musik wird zum Symbol für das Emporstreben des Göttlichen in der Welt.

Aufnahmen

Bislang kann man sich nur anhand einer einzigen CD-Aufnahme einen klingenden Eindruck des Weihnachtsoratoriums von Richard Wetz verschaffen. Es handelt sich um den Mitschnitt eines Konzerts aus der Erfurter Thomaskirche vom 27. November 2010. Marietta Zumbült (Sopran) und Máté Sólyom-Nagy (Bariton) sangen gemeinsam mit dem Dombergchor Erfurt (Einstudierung: Silvius von Kessel) und dem Philharmonischen Chor Erfurt (Einstudierung: Andreas Ketelhut). Es spielte das Thüringische Kammerorchester Weimar unter der Leitung von George Alexander Albrecht. Die Aufnahme ist bei cpo erschienen:

cpo, 777 638-2; EAN: 7 61203 76382

Der Verfasser dieses Artikels war damals bei dem Konzert anwesend. In gleicher Besetzung wurde das Werk 2012 noch einmal in Weimar (Weimarhalle) zu Gehör gebracht, wobei die Ausführenden ihre Leistung gegenüber 2010 steigern konnten.

[Norbert Florian Schuck, Dezember 2021]

Kleines Beethoven-Vademecum (4): Beth Levin und Beethovens Tempo

Aldilà Records, ARCD 011; EAN: 9 003643 980112

Was ist ein richtiges Tempo? Eine erschöpfende Antwort auf diese Frage zu geben, über die im Laufe der Zeit eine gewiss nicht geringe Zahl Musiker und Hörer nachgedacht hat, soll im Folgenden nicht versucht werden. An dieser Stelle wollen wir uns darauf beschränken, die Sinne zu schärfen. Als Gegenstand der Betrachtung wähle ich eine einzelne Aufnahme, die mir besonders gut geeignet erscheint, ein Gespür für die Problematik des richtigen Tempos zu entwickeln: 2019 spielte Beth Levin in Baltimore Ludwig van Beethovens Große Sonate für das Hammerklavier B-Dur op. 106. Der Mitschnitt des Konzerts, in welchem die Pianistin neben Beethovens Werk auch Georg Friedrich Händels Suite d-Moll HWV 428 und Anders Eliassons Carosello (Nr. 3 der Stücke, die der schwedische Meister unter dem Gattungstitel „Disegno“ zusammenfasste) zu Gehör brachte, erschien rechtzeitig zum 250. Geburtstag Beethovens 2020 unter dem Titel Hammerklavier Live bei Aldilà Records.

Bekanntlich versah Beethoven den ersten Satz der Großen B-Dur-Sonate mit der Metronomisierung Halbe = 138, und ebenso bekanntlich haben nur wenige Pianisten den Versuch unternommen, den Satz in dieser Geschwindigkeit zu spielen. Arthur Schnabel, Walter Gieseking und Michael Korstick kamen dabei am nächsten an das von Beethoven notierte Tempo heran. Aber sie blieben Ausnahmen. Die meisten anderen wählten ein mäßigeres Zeitmaß. Der Aussage Hermann Kellers, dass „nach [Beethovens Metronomisierung] der erste Satz in einem so unsinnig schnellen Tempo zu spielen wäre, daß dieses Tempo nicht nur kaum ein Spieler erreichen kann, sondern daß dadurch auch der musikalische Inhalt des Satzes völlig zerstört werden würde“ (Hermann Keller: „Die Hammerklavier-Sonate“, Neue Zeitschrift für Musik 1958), hat die Mehrheit der Pianisten vielleicht nicht verbal, wohl aber in der musikalischen Praxis zugestimmt. Da sich das Problem der Realisierbarkeit der Metronomangaben Beethovens auch in anderen Fällen einstellt, wurde oft vermutet, er habe ein defektes Metronom besessen. Auch erscheint es möglich, er habe das Metronom schlicht falsch abgelesen (wie Almudena Martín Castro und Iñaki Úcar Marqués in einer Studie plausibel gemacht haben). Es verhalte sich mit dem Metronom wie es wolle; interessanter dürfte sein, dass Schnabel, Gieseking und Korstick das Ritardando, das Beethoven im achten Takt des Satzes vorschreibt, bereits im vorangehenden Takt vorbereiten, sie mithin also alle empfinden, die Verlangsamung solle nicht plötzlich erst da stattfinden, wo sie tatsächlich laut Notation verlangt wird. Darin bloß eine körperliche Entspannungsreaktion auf die im „korrekten“ Tempo vorgetragenen, vollgriffigen Anfangstakte zu sehen, wäre zu kurz gedacht, schließlich zeigt sich das gleiche Phänomen auch bei Pianisten, die deutlich langsamer spielen (etwa bei Daniel Barenboim, der den Satz in rund 12 ½ Minuten, einschließlich Expositionswiederholung, darbietet). Die Notwendigkeit einer allmählichen Verlangsamung stellt sich bei den Musikern gleichsam von selbst ein. Warum ist das so? Betrachten wir die Takte 7 und 8, so bemerken wir, dass die Musik hier auf eine Dominantharmonie zusteuert und auf dieser kurz inne hält (Fermate). Die Bewegung hin zu dieser Dominante zeichnet sich in Takt 7 bereits deutlich ab. Harmonisch bringt der Takt 8 zu Ende, was sich im Takt 7 (und den vorangehenden Takten) angedeutet hat. Die Pianisten empfinden diesen Zusammenhang und setzen ihn um in Form eines Ritardandos, das an Länge das vom Komponisten vorgeschriebene übertrifft.

Damit ist die Frage aufgeworfen, was sich eigentlich in Notenschrift festhalten lässt. Will Beethoven, dass im Takt 8 des Allegros von op. 106 ein Ritardando gemacht wird, oder will er, dass nur an dieser Stelle ein Ritardando gemacht wird? Spielen die Pianisten richtig, wenn sie bereits in Takt 7 leicht und dann in Takt 8 deutlich verlangsamen, oder spielen sie richtig, wenn Takt 7 im raschen Tempo des Anfangs gespielt und erst in Takt 8 verlangsamt wird? Und wie stark soll das Ritardando in Takt 8 sein? Dazu steht in den Noten nichts. Außer den Ritardandi und den ihnen folgenden A-Tempo-Vorschriften enthält der Satz keine weiteren Angaben zur Gestaltung der Zeitmaße. Damit scheint die Frage geklärt, welches Tempo als das Maßgebliche für den ganzen Satz anzusehen ist, nämlich offiziell Halbe = 138. Aber ist dieser Schluss zwingend?

Sehen wir uns ein Stück aus späterer Zeit an: Die Vierte Symphonie von Jean Sibelius, ein Werk, das einer Epoche entstammt, die zu Tempi und Vortrag stärker differenzierte Angaben anzubringen pflegte als dies zu Beethovens Zeit üblich war. Berühmt ist die Coda des Finalsatzes dieser Symphonie, in der ein Zerfallsprozess auskomponiert wird. Metronomangaben enthält die Partitur nicht, für den ganzen Finalsatz gilt (wie für Beethovens Sonatenkopfsatz) eine einzige Tempovorschrift: „Allegro“. Soll die Coda also gleich schnell gespielt werden wie der Satzanfang? „Nein“, sagt – Jean Sibelius! Nachträglich wiederholt um Metronomangaben gebeten, schrieb der Komponist zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Zahlen auf. Die Coda des Finales bezeichnete er mit einer vom Rest des Satzes abweichenden Metronomisierung. Wer nur die Partitur kennt, kann das nicht wissen. Es entzieht sich meiner Kenntnis, wie viele Dirigenten um Sibelius‘ Metronomisierungen wussten. Es findet sich aber kaum einer, der am Ende der Vierten Symphonie das Tempo nicht wenigstens minimal verlangsamt.

Interessant erscheinen in diesem Zusammenhang auch die unterschiedlichen Auffassungen der Dirigenten vom Schluss des Kopfsatzes der Achten Symphonie Anton Bruckners (zweite Fassung). Bruckner selbst beschrieb ihn als Sterbeszene: Es sei, als wenn einer einer im Sterben liege, und gegenüber hänge die Uhr, die, während sein Leben zu Ende gehe, immer gleichmäßig fortschlage. Es ist wiederholt darauf aufmerksam gemacht worden, dass eine Uhr kein Ritardando mache. In dieser unerbittlichen Gleichmäßigkeit bringen beispielsweise Hans Rosbaud und Jascha Horenstein den Satz zum Abschluss. Hat dann Wilhelm Furtwängler Unrecht, wenn er diese Takte als lang gezogene allmähliche Verlangsamung spielen lässt, oder Sergiu Celibidache, wenn er das Gleichmaß bis kurz vor Schluss durchhält und beim letzten Erklingen des Motivs ein Ritardando anbringt? Muss ein Dirigent, weil der Komponist selbst die Musik so beschrieb, sich verpflichtet fühlen, das Bild von der tickenden Uhr umzusetzen? Man sollte auch bedenken, dass Bruckners Worte aus einem Brief an den jungen Felix Weingartner stammen, den er um eine Aufführung des Werkes bat, und der damals noch ein leidenschaftlicher Anhänger der Programmmusik war. Ein echtes Programm hat Bruckner seiner Symphonie nie beigelegt.

Aber kehren wir zu Beethovens Sonate op. 106 zurück und widmen uns der Einspielung Beth Levins! Ihre Aufführung des Werkes kann man ohne zu untertreiben eine besondere nennen – ich möchte sagen: eine besonders mutige. Die Pianistin vermeidet nämlich metronomisch normierte Tempi und absolut festgelegte Geschwindigkeiten, was vor allem im Kopfsatz zu mitunter sehr starken Temposchwankungen führt. Beethovens Vorgabe „Allegro“ scheint sie aufzufassen als: „ein Stück im Allegro-Charakter“, offensichtlich bedeutet sie ihr nicht, dass ein einzelnes Tempo über den ganzen Satz hinweg durchgehalten werden muss. Würde Levins Aufnahme sich durch nichts anderes als ständige Tempowechsel aus der Masse der Einspielungen herausheben, so wäre sie nicht weiter interessant, ja man würde sie vielleicht als Dokument selbstherrlicher Interpretenwillkür wahrnehmen. Aber das ist sie gerade nicht! Levins Tempi sind keineswegs willkürlich gewählt, sondern lassen sich durchweg aus dem Verlauf der Musik heraus legitimieren. Wir haben oben anhand der Aufnahmen Schnabels, Giesekings und Korsticks feststellen können, dass auch Pianisten, die nach metronomischer Genauigkeit streben, ihr Tempo vorübergehend abwandeln, weil die harmonische Beschaffenheit der Musik ihnen dies als angemessen erscheinen lässt. Beth Levins Tempowahl speist sich aus keiner anderen Quelle. Sie orientiert sich an den tonalen Schwerpunkten der Musik. Die einzelnen Phrasen lässt sie sich auf ein temporäres harmonisches Ziel hin entfalten bzw. von einem Ausgangspunkt weg. Die Geschwindigkeit ergibt sich dabei aus der jeweiligen Situation heraus. So, wie sie unter Levins Händen zu hören sind, haben bestimmte Geschehnisse von der Pianistin eine Beschleunigung oder Verlangsamung des Tempos geradezu gefordert, um besonders deutlich in ihrer Eigenart wie in ihrer Funktion im Zusammenhang des Ganzen erfassbar zu werden. Sei es das Ansteuern eines harmonischen Zentrums oder das Wegstreben von ihm, eine Veränderung in der Beschaffenheit des Tonsatzes, die Darstellung der Wechselwirkung polyphoner Linien: Immer besteht für Beth Levin ein triftiger Grund, das Zeitmaß so zu gestalten, wie sie es tut.

Anhand der ersten Takte des Kopfsatzes soll nun verdeutlicht werden, wie Levin im einzelnen vorgeht. Die akkordisch gesetzten ersten vier Takte nimmt sie nicht sehr schnell, aber vergleichsweise rasch. Dem erstmaligen Durchschreiten harmonischer Zwischenstufen in den nächsten vier Takten widmet sie mehr Zeit, betont die Sequenz, achtet auf die gleichmäßige Viertelbewegung im Bass, und wird, wie ausdrücklich in der Partitur gefordert, noch einmal langsamer, wenn sich die Musik kurz auf der Dominante niederlässt. Wenn die Musik von Takt 5 in Takt 9 eine Oktave höher noch einmal ansetzt, geschieht dies wieder Tempo von Takt 5. Ab Takt 12, wo die eintaktigen Phrasen sich zu zweitaktigen weiten, spielt Levin etwas rascher. Das damit verbundene Crescendo lässt sie vorrangig in der absteigenden Basslinie stattfinden, dadurch deren Sonderstellung gegenüber den anderen Stimmen betonend. Das Periodenende wird mit einem kleinen Ritardando markiert. Die in Takt 17 mit dem Wiedereintritt der Tonika beginnende neue Periode bewegt sich anders als die vorigen. In der rechten Hand wechselt je ein Takt in Halben mit einem in Vierteln (mit verschiedener Begleitung in der linken Hand). Levin hebt dies hervor, indem sie die Takte in Halben geringfügig langsamer nimmt als die Takte in Vierteln; somit ergibt sich von selbst eine Beschleunigung, wenn sich in Takt 25 die Viertel-Bewegung durchsetzt. Ist diese Steigerung in Takt 27 auf ihrem melodischen Höhepunkt angelangt, so beschleunigt Levin noch etwas, wenn die Musik nun in die Tiefe stürzt um ab Takt 31, wenn sie, auf der Domiante angelangt, ohne Harmoniewechsel wieder in die Höhe steigt und dabei leiser wird, deutlich langsamer zu werden. Man könnte, so weitermachend, jede Seite der Partitur mit der Aufnahme abgleichen und fände die Tempowahl der Pianistin stets in der musikalischen Struktur begründet. Das feine Herausarbeiten der Einzelheiten, oft in Verbindung mit verbreitertem Tempo, und der dabei durchweg gewahrte Überblick Beth Levins über den Fortgang der Handlung lassen die ungeheuren Spannkräfte der Musik erst recht hervortreten. Zu jedem Augenblick möchte man sagen: „Verweile doch, Du bist so schön!“, und doch herrscht faustischer Vorwärtsdrang. Selten hört man das Ringen zwischen Rubato und Momentum in einer solchen Deutlichkeit wie hier!

Über die Proportionen des Werkes in Levins Aufnahme mögen hier noch die Spieldauern der einzelnen Sätze Auskunft geben:

Allegro: 12:04 (ohne Expositionswiederholung)

Scherzo: 03:11

Adagio: 17:10

Finale: 14:11

Beth Levins Album Hammerklavier Live ist übrigens nicht nur wegen Beethovens op. 106 empfehlenswert. Auch die Werke der anderen beiden Großmeister laden, abgesehen davon, dass sie größtes Hörvergnügen bereiten, dazu ein, über die Wiedergabe von Musik nachzudenken. Wie geht man damit um, dass Händel seine Klavierwerke nur äußerst spärlich mit Vortragsbezeichnungen versehen hat? – Eliassons Carosello aus dem Jahr 2005 wird weitgehend von einer Drei-Achtel-Bewegung getragen. Die Harmonik prägt klare tonale Zentrierungen aus, ohne dass je sich eine Tonika eindeutig durchsetzt. Beth Levin gibt der Darstellung dieser harmonischen Schwebezustände den Vorzug vor einer konsequenten Umsetzung mechanischer Karussellrotation. Man hört sozusagen ein imaginäres, unwirkliches, erträumtes Karussell, dessen Reiz gerade darin besteht, dass es sich gar nicht gleichmäßig drehen will. Übersteigt hier nicht die Kunst den Trott der profanen Welt? Und gilt nicht letztlich für Levins Beethoven-Darbietung das Gleiche?

[Norbert Florian Schuck, Dezember 2021]

Kleines Beethoven-Vademecum (3): Hans Rosbauds Vermächtnis

SWR Classic, SWR19089CD; EAN: 7 47313 90898

In dieser Folge unseres Kleinen Beethoven-Vademecums werden die bei SWR Classic gesammelt herausgebrachten Beethoven-Aufnahmen eines besonderen Dirigenten vorgestellt: Hans Rosbaud.

Den Symphonien Ludwig van Beethovens dürften sich so viele Dirigenten gewidmet haben wie keiner anderen Gruppe von Orchesterwerken irgendeines Komponisten. Man hat also die Wahl zwischen Unmengen an Gesamteinspielungen und Einzelaufnahmen. Nicht selten liegen von einem Kapellmeister alle oder zumindest einige der Stücke mehrmals auf Tonträgern vor. Wie es bei so ungeheuer populären und entsprechend oft aufgeführten Werken kaum anders der Fall sein kann, geht mit der Vielzahl der Interpreten auch eine Vielfalt der Darbietungsweisen einher, die immense Qualitätsunterschiede einschließt. Wer hat nicht alles versucht, mit Beethoven seine musikalische Visitenkarte abzugeben? Als was ist Beethoven im Laufe der Zeit nicht alles präsentiert worden? Man hat ihn auf Hochglanz poliert, gegen den Strich gebürstet, in metronomisch exakten Gleichschritt gebracht und denselben durch Dauerrubato gezielt vermieden. Beethoven ist des Einen Romantiker und des Anderen Klassizist, für Manchen gar ein alles zertrümmernder Revolutionär. Die Symphonien gibt es „sachlich-nüchtern“ ebenso wie hyperemotional. Der eine Dirigent verspricht uns den „Beethoven fürs 21. Jahrhundert“, der andere will den Komponisten gar nicht aus dem 18. – oder was er dafür hält – herauslassen. Für Non-Vibrato-, Non-Legato- und Staccato-Freunde hat man die Symphonien schon aufgenommen, und auch der Heavy-Metal-Beethoven scheint auf dem Wege zu sein. Abseits der großen Konzerthallen und Plattenproduktionen, abseits der Quellen der Tagesmode, finden sich schließlich die regionalen Klangkörper, die auf ihr Wirken hinweisen möchten. Dass sie dazu gern Beethoven wählen, wer möchte es ihnen verargen? Mit den Werken des meistgespielten Symphonikers lässt sich nun einmal gut zeigen, was ein Kapellmeister in der Provinz mit seinem Orchester leisten kann. Angesichts der großen Zahl an Aufnahmen, die im Laufe der Zeit von Beethovens Symphonien gemacht worden sind, kann man sich durchaus fragen, welche Dirigenten den Kompositionen am ehesten gerecht geworden sind.

„Beethoven was a complete artist“, sagt Donald Francis Tovey zu Beginn seiner leider unvollendet gebliebenen Beethoven-Monographie. Ein vollständiger Künstler – damit ist viel mehr gemeint als nur die vollkommene Beherrschung des Handwerks und die Fähigkeit, es souverän im Dienste der Formung musikalischer Gedanken zu gebrauchen. Letztlich war Beethoven auch einer der vielseitigsten Schöpfer musikalischer Charaktere. Wie jedes seiner Sonatenwerke, von den kurzen, zweisätzigen Klaviersonaten bis hin zum cis-Moll-Streichquartett und zur Neunten Symphonie seine individuelle, nur ihm eigene Form besitzt, so haben sie alle auch ihr persönliches Profil, einen bestimmten Grundcharakter, dem sich aber auch weitere Charakterzüge beimischen können – in Form zum Kopfsatz kontrastierender Sätze, wie auch als Kontraste innerhalb der Sätze selbst. Kurzum: Beethovens liebt es, seine Werke als das zu gestalten, was man in der Wortdichtung „runde Charaktere“ nennen würde. Und wie unterschiedlich ist die Grundstimmung der Stücke! Nicht nur stehen beispielsweise das Violinkonzert, das Vierte Klavierkonzert und die Pastorale in mehr oder weniger direkter Nachbarschaft zur Fünften Symphonie und zur Appassionata. Auch Werke, die gewöhnlich aufgrund ihrer Tonart als zusammengehörige Gruppe betrachtet werden, erweisen sich bei näherer Betrachtung als recht verschieden. So redet man gern von Beethovens c-Moll-Stücken als seien die betreffenden Werke einander charakterlich besonders ähnlich. Aber ist es nicht eher erstaunlich, welch unterschiedliche Akzente Beethoven im ersten Satz der Fünften Symphonie und in der Coriolan-Ouvertüre setzt? Und im Streichquartett op. 18/4, und in der Klaviersonate op. 10/1? Oder nehmen wir uns die zahlreichen Werke in F-Dur vor, in welcher Tonart Beethoven ein Viertel seiner Streichquartette komponiert hat. Kinder vom selben Vater gewiss, aber wie hat doch jedes seinen eigenen Kopf!

Dieser Vielgestaltigkeit der Beethovenschen Erfindungsgabe haben große Musiker in ihren Wiedergaben seiner Werke stets Rechnung zu tragen gesucht. Die Unterschiede zwischen den einzelnen Aufführungen spiegeln die individuelle Herangehensweise der Interpreten wieder, doch lässt sich als gemeinsamer Nenner anführen, dass sie alle darauf aus gewesen sind, den Gedankenreichtum, von dem Beethovens Kompositionen zeugen, klingende Wirklichkeit werden zu lassen, den Komponisten als „vollständigen Künstler“ zu präsentieren. Ein Dirigent, der in diesem Sinne mit besonderem Geschick für die Orchesterwerke gewirkt hat, ist Hans Rosbaud (1895–1962), dessen zwischen 1953 und 1962 mit dem Südwestfunk-Orchester Baden-Baden aufgezeichnete Beethoven-Aufführungen von SWR Classic im Jahr 2020 auf sieben CDs veröffentlicht worden sind.

Man hat bereits zu seinen Lebzeiten versucht, Rosbaud Etiketten aufzukleben, ihn in Schubladen einzusortieren – in recht unterschiedliche Schubladen! Rosbaud selbst stellte fest, dass er in Donaueschingen als Modernist galt, in Aix-en-Provence als Mozartianer, in München als Bruckner-Dirigent. Nun, die Leute hatten Recht – wie auch diejenigen Recht hatten, die Rosbaud besonders mit Mahler assoziierten, und auch die, für die er aufgrund seiner von der Deutschen Grammophon produzierten LP mit Orchesterstücken Sibelius‘ ein bedeutender Sachwalter dieses Komponisten war. Ja, Rosbaud war dies alles. Nur eines war er nicht, und wollte es auch nie sein: ein einseitiger Spezialist. Am dauerhaftesten hielt sich nach seinem Tode sein Ruf als Förderer der Avantgarde, was insofern berechtigt war, als dass kein anderer Dirigent sich nach dem Zweiten Weltkrieg so energisch dafür einsetzte, die Werke Schönbergs und seiner Schüler dem Musikleben Deutschlands zurückzugewinnen und kein anderer auf den Donaueschinger Musiktagen so viele Uraufführungen junger Avantgardisten dirigierte, darunter Ligetis Atmosphères und Pendereckis Fluorescences. Auch die Uraufführung von Schönbergs Moses und Aron (konzertant Hamburg 1954, szenisch Zürich 1957) gehört zu Rosbauds Verdiensten. Allerdings beschränkte sich sein Einsatz für neue Musik keineswegs auf zwölftönige, serielle und postserielle Stücke. So zählen zu den von Rosbaud uraufgeführten Werken ebenso Johann Nepomuk Davids Erste und Karl Amadeus Hartmanns Zweite Symphonie, die jeweils einzigen Symphonien des bayrischen Spätromantikers Heinrich Kaspar Schmid und des im Krieg getöteten Jarnach-Schülers Leo Justinus Kauffmann, sowie die Ouvertüre zu einem frohen Spiel von Joseph Haas. Beinahe wäre er auch Uraufführungsdirigent der Zweiten Symphonie Wilhelm Furtwänglers geworden, doch entschied sich der Komponist letztlich, das Werk selbst als erster herauszubringen.

In einer autobiographischen Skizze (kurz nach seinem Tode 1963 veröffentlicht in: Das musikalische Selbstportrait, hrsg. von Josef Müller Marein und Hannes Reinhardt) schrieb Rosbaud, er sei „im Laufe der Zeit dahinter gekommen, daß all diese verschiedenen Dinge, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben, sich in Wirklichkeit zu einem Großen und Ganzen ergänzen“. Damit meinte er nicht nur die alte und die neue Musik und ihre verschiedenen Stilrichtungen, sondern auch außermusikalische Wissensgebiete, wie Sprachen (er las Altgriechisch und Latein und sprach fünf lebende Sprachen fließend) und „naturwissenschaftliche Dinge“, wie Kernphysik, die den „leidenschaftlichen Mathematiker“ (wie ihn Müller-Merein nennt) „unendlich fessel[te]n“. Es machte ihn glücklich, sich „immer wieder neue und möglichst schwere Aufgaben“ zu stellen, „die ich lösen will“. Zu diesem Bild eines vielseitig interessierten Menschen passt, dass Rosbaud sich als ausübender Musiker nicht nur auf das Dirigieren beschränkte. So trat er immer wieder auch als Pianist in Erscheinung und hat diesen Teil seines Wirkens durch mehrere Aufnahmen dokumentiert, beispielsweise als Liedbegleiter von Boris Christoff oder Elisabeth Schwarzkopf. Mit Maria Bergmann und den Schlagzeugern Werner Grabinger und Erich Seiler nahm er Béla Bartóks Sonate für zwei Klaviere und Schlagzeug auf. Zu Beginn seiner Laufbahn komponierte er auch häufiger. Vielleicht würde es sich lohnen, einmal eines der Werke Rosbauds zur Aufführung zu bringen? Es ist jedenfalls denkbar, dass der Schüler Bernhard Sekles‘ auch auf diesem Gebiet Tüchtiges geleistet hat. Ein Klaviertrio von ihm wurde übrigens unter Mitwirkung seiner Mitschüler Paul und Rudolf Hindemith zur Uraufführung gebracht.

Rosbaud wuchs sozusagen nach guter alter Sitte in das Kapellmeisterhandwerk hinein, nämlich als ein Musiker, der beinahe alle Orchesterinstrumente spielen gelernt hatte. Sein Lehrer Sekles stellte ihm deshalb folgendes Zeugnis aus: „Er ist auf diese Weise in der Lage, den einzelnen Orchestermusikern Ratschläge zu geben, wie es heutzutage kaum einem Dirigenten möglich ist. Da sich zu all diesen Eigenschaften eine durchaus ideal gerichtete Gesinnung, eine seltene Begeisterungsfähigkeit und ein stählerner Wille gesellt, nicht zuletzt auch die Fähigkeit, diesen Willen in der bezwingendsten Form durchzusetzen, so ist Hans Rosbaud für jedes Musikinstitut ein unschätzbarer Gewinn.“

Bei jeder Aufgabe, die er sich stellte, ging Rosbaud mit untrüglicher Professionalität ans Werk. Um eine möglichst gelungene Aufführung zu garantieren, scheute er auch vor überdurchschnittlich vielen Proben nicht zurück. Zugleich war er in der Lage, eine ihm neue Partitur in kürzester Zeit zu erfassen. Beide Eigenschaften bewährten sich bei den Uraufführungen von Schönbergs Moses und Aron: Zur Vorbereitung der konzertanten Premiere standen ihm nur wenige Tage zur Verfügung, da er kurzfristig für den eigentlich vorgesehenen Dirigenten Hans Schmidt-Isserstedt eingesprungen war; für die szenische Premiere nahm er sich dann außerordentlich viel Zeit: Laut Kurt Honolka (Knaurs Weltgeschichte der Musik, 1979) modellierte Rosbaud das schwierige Werk in nicht weniger als 324 Einzelproben. „Ehe wir die Partitur nicht vollkommen servieren, werden wir sie nicht beurteilen können!“, hat er bei anderer Gelegenheit einmal geäußert. Dies kann als Maxime seines Arbeitens als ausführender Musiker gelten.

Rosbaud hatte in den 20er Jahren zu den Pionieren orchestralen Musizierens im Rundfunk gehört. In der Nachkriegszeit wurde das Südwestfunk-Orchester Baden-Baden zum Zentrum seines Wirkens, dessen Chefdirigent er von 1948 bis zu seinem Tode war. Ihm zu Ehren wurde das Baden-Badener Aufnahmestudio des Senders in „Hans-Rosbaud-Studio“ umbenannt. (Es ist geplant, diese wichtige Spielstätte deutscher Musikgeschichte 2024 abzureißen.) Einige seiner Aufnahmen mit dem Südwestfunk-Orchester sind seit längerer Zeit auf dem Markt verfügbar, doch erst vor wenigen Jahren wurde damit begonnen, Rosbauds Vermächtnis beim SWR systematisch zu veröffentlichen. Die von SWR-Classic herausgebrachte Reihe hat mittlerweile den stattlichen Umfang von zwölf Folgen erreicht, von denen die Hälfte sechs bis neun CDs stark sind. Man kann Rosbaud erleben mit: Haydn, Mozart, Beethoven, Weber und Mendelssohn, Chopin, Schumann, Wagner, Bruckner, Brahms, Tschaikowskij, Mahler sowie Sibelius. Weitere werden hoffentlich bald folgen. Die Beethoven- und Mahler-Editionen enthalten auch Aufnahmen mit dem Kölner Rundfunk-Sinfonie-Orchester, das von Rosbaud ebenfalls häufig dirigiert wurde.

Als Beethoven-Dirigent ist Rosbaud bei SWR Classic auf insgesamt sieben CDs dokumentiert. Die Edition umfasst die Symphonien Nr. 1–3 und Nr. 5–8 (die Achte findet sich in zwei Aufnahmen von 1956 und 1961), fünf Ouvertüren (Coriolan, Egmont, Fidelio, König Stephan, Leonore III), sowie an konzertanten Werken das Violinkonzert, das Fünfte Klavierkonzert und das Tripelkonzert (mit durchweg hervorragenden Solisten: Ginette Neveu, Robert Casadesus, und dem wie ein Instrument spielenden Trio di Trieste). Eine umfangreiche Werkliste – und doch ein Fragment. Die Vierte und die Neunte Symphonie vermisst man umso schmerzlicher, da Rosbaud (man möchte sagen: natürlich) alle Beethoven-Symphonien im Repertoire gehabt und diese mitunter auch zyklisch in Konzertreihen präsentiert hat. Auch anhand der weiteren Folgen der Edition wird deutlich, dass leider nur von einem Teil der Werke, die Rosbaud dirigiert hat, Aufnahmen auf uns gekommen sind. Von den oben genannten Symphonikern liegen nur im Falle von Brahms alle Symphonien vor (dafür Nr. 1 und Nr. 3 in zwei Aufnahmen). Bei Bruckner und Mahler bietet sich ein ähnliches Bild wie bei Beethoven: Von Mahler fehlen alle Symphonien mit Chor, von Bruckner die Nr. 1. Letzteres Werk möge kurz zum Anlass dienen darauf hinzuweisen, dass einst mehr Aufnahmen Rosbauds existiert haben müssen. So erwähnt Robert Simpson 1950 in der Zeitschrift Music Survey, dass Einspielungen der Ersten, Zweiten, Vierten, Sechsten und Achten Symphonie Bruckners durch die Münchner Philharmoniker unter Rosbauds Leitung vom Third Programme der BBC ausgestrahlt worden sind. Aller Wahrscheinlichkeit nach handelte es sich um Aufnahmen des Bayerischen Rundfunks. Was ist aus ihnen geworden? Wurden sie gelöscht, oder darf man hoffen, dass sie sich erhalten haben? Mindestens von einem Werk Beethovens, das in der SWR-Edition nicht enthalten ist, ist eine Aufführung Rosbauds aus früherer Zeit überliefert: 1940 hatte er mit dem Orchester des Deutschlandsenders die Ouvertüre Die Weihe des Hauses aufgenommen.

Aber schauen wir nicht zu lang auf die Lücken, sondern freuen wir uns an dem, was wir haben, denn dies ist letzten Endes eine beträchtliche Anzahl Aufnahmen, sämtlich dargeboten in überragender Qualität. Die ersten beiden Symphonien hat Rosbaud mit dem Kölner Rundfunk-Sinfonie-Orchester eingespielt, die übrigen in der SWR-Box präsentierten Werke mit seinem Stammorchester vom Baden-Badener Südwestfunk. Hört man hinein, fällt zunächst die Gediegenheit des Orchesterspiels auf. Mit der ihm eigenen Sorgfalt hat Rosbaud in intensiver Probenarbeit die verschiedenen Klanggruppen aufeinander abgestimmt und an keiner Stelle des musikalischen Verlaufs das klingende Ergebnis dem Zufall überlassen. Überall spürt man die genau modellierende Hand eines Musikers, der das Orchester als ein großes, vielstimmiges Instrument begreift und die Möglichkeiten der Artikulation, die es ihm bietet, ausgiebig nutzt. Beethovens Kontrapunkt findet in ihm einen idealen Darsteller, denn Rosbaud ist im polyphonen Satz hörbar in seinem Element. Nicht nur die fugierten Abschnitte kommen wunderbar zur Geltung, auch im schlichter gestalteten Tonsatz behält der Dirigent Nebenstimmen stets im Blick, weiß, dass eine Begleitung eine wichtige zweite Ebene ist, die im Hintergrund deutlich präsent sein muss. Dadurch werden auch die Feinheiten der Instrumentation Beethovens erlebbar. Rosbaud erzeugt einen tiefen, vielschichtigen Orchesterklang, macht deutlich, wie abwechslungsreich Beethoven seine musikalischen Gedanken instrumental eingekleidet hat.

Man kann Rosbaud wohl einen analytischen Musiker nennen, doch trifft man damit nur eine Seite seines Wesens. Dass seine Durchleuchtung von Beethovenschen Instrumentation und Tonsatz so intensiv wirkt, verdankt sich dem Umstand, dass Rosbaud ein untrügliches Empfinden für melodische Entwicklung und damit für Tonalität und Formung besaß. Die erklingende Musik ist stets im Fluss, nimmt eine bestimmte Entwicklung. Nie verliert der Dirigent den Überblick über den Zusammenhang, in welchem die gerade gespielten Töne stehen, ob sie Spannung aufbauen, oder zu einer Entspannungsepisode gehören. Besondere Aufmerksamkeit wendet er Phrasenenden zu, jenen Stellen, die den Übergang von einer musikalischen Sinneinheit zur nächsten markieren. Weniger achtsamen Dirigenten geht gerade hier oft der rote Faden verloren. Rosbaud, der die Musik in großen Zusammenhängen erfasst, führt das Orchester sicher von einer Phrase zur nächsten, lässt die musikalische Handlung als Folge weitgeschwungener Perioden entstehen. Wie Rosbaud mit den Kräften Haus hält, lässt sich gut anhand des Kopfsatzes der Sinfonia eroica nachvollziehen. So entwickelt er zu Beginn nach den zwei Orchesterschlägen, in denen er die Bläser deutlich hervortreten lässt, die Musik in langem Crescendo auf das Sforzato des zehnten Taktes hin. Dieses lässt er nicht als grobe Betonung des ersten Taktschlags eintreten, sondern als nochmaliges kurzes Aufblühen, wodurch der Hauptakzent der Periode auf eine leichte Taktzeit hinübergezogen und die Metrik zusätzlich belebt wird. Danach herrscht spannungsvolles Piano in den deutlich pochenden Streichern. Die „Echoeffekte“ stehen nicht isoliert, sondern sind als Glieder einer langen Melodie wahrzunehmen. Nach Erreichen des Beinahe-Tutti in Takt 23 (fp) achtet Rosbaud darauf, dass die Akkordbrechungen der zweiten Violinen und Celli nicht zugedeckt werden. Die anschließenden, von Synkopen und Sforzati geprägten Takte erscheinen bei aller Schärfe der Artikulation als eine ausgedehnte, gleichmäßige Klangfläche, in welcher die Spannung festgehalten wird, damit sie beim eigentlichen Höhepunkt in Takt 37 umso wirkungsvoller entladen werden kann. Im letzten Takt dieses Tuttis lässt Rosbaud die Lautstärke ganz leicht abschwellen, um den folgenden leisen Abschnitt nicht zu stark abgehoben erscheinen zu lassen. Der Dirigent hat immer im Blick, was als nächstes folgt. Beeindruckend gelingt ihm die Vermittlung zwischen schroffsten Gegensätzen in der Mitte der Durchführung: Auf dem Höhepunkt des ersten Durchführungsteiles werden die schreienden Dissonanzen unerbittlich durch markiertes Spiel betont, und auch im anschließenden Diminuendo der Streicher wird das Marcato bis zum Phrasenende durchgehalten, wenn die Musik ins Piano übergeht, in welchem dann das e-Moll-Thema einsetzt. Der Neuheit dieses zuvor nicht erklungenen Gedankens Rechnung tragend, entlockt Rosbaud seinen Musikern hier ein so inniges Cantabile, wie man es im ganzen Satz noch nicht gehört hat.

Rosbaud lässt sich im allgemeinen Zeit. Er hat offensichtlich die von Beethoven nachträglich den Werken hinzugefügten Metronomzahlen nicht als verpflichtend empfunden, konnte denjenigen Dirigenten nachfolgender Generationen also kein Vorbild sein, die sich anschickten, diese Vorgaben „historisch informiert“ in die Praxis umzusetzen. Dass die einst herrschenden Zweifel an der Richtigkeit der Beethovenschen Metronomangaben in jüngerer Zeit erneut aufgekommen sind – die These Almudena Martín Castros und Iñaki Úcar Marqués‘, dass Beethoven Mälzels Metronom schlicht falsch abgelesen und deswegen durchweg zu rasche Tempi notiert hat, hat einiges für sich –, sollte zum Anlass genommen werden, von der Idee, es gäbe absolut richtige Tempi, die in jeder Aufführungssituation unbedingt zu beachten wären, Abstand zu nehmen, und die Tempowahl eines Dirigenten danach zu beurteilen, in wie fern damit der Dramaturgie des aufgeführten Werkes Rechnung getragen wird. Dass Rosbaud gemessene Tempi kein Selbstzweck sind, zeigt sich anhand der Einleitung zur Siebten Symphonie, die er, verglichen mit den Eröffnungen der Ersten und Zweiten, ziemlich zügig dirigiert, und im zweiten Satz dieses Werkes, der ein echtes Allegretto ist. Seine Zeitmaße erscheinen im Hinblick darauf gewählt, wichtige Details zur Geltung zu bringen und den Zusammenhalt aller Abschnitte des jeweiligen Satzes zu gewährleisten. Darum sind sie „richtig“. Das relativ breite Grundtempo des Finales der Fünften Symphonie beispielsweise (10 Minuten ohne Wiederholung) bewährt sich in zweierlei Hinsicht: Zum einen wird es dem hymnischen Charakter der Hauptthemen gerecht, zum andern ermöglicht es, die Geschwindigkeit in der Coda zum Presto zu beschleunigen, ohne dass es dabei übereilt zugeht. Die letzten Takte der Symphonie, in denen vielen Dirigenten im wahrsten Sinne des Wortes der Atem ausgeht, erfüllt Rosbaud bis zum Schluss mit Spannung. Überhaupt fasst er rasche, laute Werkschlüsse nie als Anhängsel auf, in denen sich die Musiker tumultuarisch gehen lassen dürfen. Immer weiß er seinen Orchestern gegen Ende noch ungeahnte Kräfte zu entlocken, die deutlich machen, dass er seine Aufführung gezielt auf diese Momente hin angelegt hat: Man höre etwa, wie prachtvoll sich die Schlüsse der Zweiten Symphonie, der Leonoren- und der Egmont-Ouvertüre entfalten, wie erhaben Beethoven hier klingt!

Rosbaud wird oft als ein „sachlicher“ Dirigent bezeichnet. Wenn man darunter einen bloßen Notenwiedergeber versteht, der sich nicht um das schert, was im Notentext nicht steht, so wäre das eine Fehleinschätzung. Berechtigt erscheint das Wort, wollen wir darunter einen Musiker verstehen, der der Sache, also dem Werk, auf den Grund geht, um dessen Eigenarten zur Geltung zu bringen, der – um Rosbauds eigene Worte zu benutzen – die Partitur „vollkommen serviert“. Was aber lässt sich unter einer solchen Vollkommenheit anderes denken, denn eine meisterhafte Komposition als einen „runden Charakter“ erfahrbar zu machen? An Rosbauds Beethoven-Einspielungen fasziniert letztlich vor allem, dass der Dirigent tatsächlich die Vielseitigkeit dieser Musik zu erfassen sucht und sie nicht durch einseitige Interpretation einebnet. Das zeigt sich namentlich an der immer wieder begegnenden Mischung „harter“ und „weicher“ Artikulation, die komplexe Szenarien schafft, etwa wenn im Allegretto der Siebten Symphonie der gleichförmige Grundrhythmus des Satzes hart und markant, die darüber erklingende Melodie aber ausgesprochen gesanglich gespielt wird, oder im Fugato des Trauermarsches der Eroica das Gegeneinander von Staccato und Legato deutlich hörbar ist. Im Trio der Achten Symphonie – nach einem in seiner Mischung aus Derbheit und Grazie wunderbar getroffenen Menuett – entlockt der oft als nüchtern verschrieene Dirigent den Hörnern und Klarinetten Töne wärmster Waldesromantik, zu kernigen Triolen der Celli. Wie hoch steht diese Kunst über dem handwerklich präzisen, aber geistlosen Töneaufsagen der Gielen und Boulez (die Rosbaud auch als Schönberg-Dirigent weit überragt) einerseits und dem oberstimmen-, meist violinbetonten, mit verschwommener Begleitung unterfütterten Weichspülstil eines Karajan anderseits!

Man kann SWR Classic gar nicht genug danken für die Veröffentlichung dieser Beethoven-Aufnahmen. Sie dokumentieren das von ebenso großer Sorgfalt wie Einfühlsamkeit geprägte Musizieren eines außerordentlichen Dirigenten, der im besten Sinne ein Sachwalter der von ihm aufgeführten Werke gewesen ist. „Beethoven was a complete artist“ – wer ihn als solchen kennen lernen möchte, dem seien die Rosbaud-Aufnahmen wärmstens ans Herz gelegt.

[Norbert Florian Schuck, Dezember 2021]

Der Komponist Wilhelm Furtwängler und seine Gegner (1)

Am 30. November 2021 jährt sich Wilhelm Furtwänglers Todestag zum 67. Mal – kein runder Jahrestag zwar, nichtsdestoweniger ein guter Anlass, mit seinen Kritikern ins Gericht zu gehen, nämlich: kritisch zu betrachten, was sich an Vor- und Fehlurteilen über Furtwänglers Kompositionen in jahrzehntelanger Wiederholung verkrustet hat. Der erste Teil widmet sich einer ausführlichen Darstellung und Widerlegung der drei großen Vorurteile über den Komponisten Wilhelm Furtwängler.

Über wenige große Komponisten ist so viel Unsinn geschrieben worden wie über Wilhelm Furtwängler. Vorurteile gegen seine Musik lassen sich noch in Literatur finden, die Jahrzehnte nach seinem Tod erschienen ist. Ja, man kann sagen, es hat sich seit seinen Lebzeiten eine Tradition der Schmähung des Komponisten Furtwängler gebildet. Ihr Vokabular ist arm und darum repetitiv. Immer wieder liest man die gleichen wenig bis nichts sagenden Floskeln, die sich letztlich gegen ihre Urheber richten. Sie sind teils ideologischer Art, teils schlicht auf die Unfähigkeit der Autoren zurückzuführen, den Verlauf der Werke nachzuvollziehen, und natürlich verquickt sich beides häufig.

Es lassen sich innerhalb der entsprechenden Literatur drei Haupttendenzen feststellen. Handeln wir sie ab!

Vorurteil Nr. 1: Der nicht in seine Zeit Gehörige

Der vielleicht beliebteste Vorwurf, der gegen Furtwänglers Musik erhoben wird, ist der, sie sei (um es in abgegriffenen Floskeln auszudrücken) nicht „auf der Höhe der Zeit“ oder würde „den Forderungen der Zeit“ nicht gerecht. Das liest sich dann etwa so:

So vermag er nicht zu spüren, dass die Epoche der romantischen Aussage heute der Vergangenheit angehört, nachdem ihr Kreis völlig abgeschritten war. Dies aber will der Komponist Furtwängler nicht wahrhaben. […] Was einst die Unschuld in der Musik zu manifestieren vermochte, was von der Natürlichkeit der Aussage gezeichnet war, was einst aus dem tonalen Kadenzprinzip einen lebendigen Organismus schuf, das ist heute steril und erschöpft. Furtwänglers Zweite Symphonie in e-Moll ist dafür ein Beweis.“ (Süddeutsche Zeitung, 10. Januar 1950)

Da forscht ein unermüdlicher Sinnsucher und hofft wie Parsifal auf Erlösung im Reich der Klänge, verweigert sie sich aber immer wieder selbst, indem er, diesmal eher ein Don Quijote, anrennt gegen die Windmühlen seiner Zeit.“ (Rondo, 5. September 2002)

Bei ihrer Uraufführung [gemeint ist die Symphonie Nr. 2] rührte sie die Frage des Spätgeborenen an, dessen Tragik es ist, die Sprache einer Zeit zu sprechen, die er existenziell längst verlassen hat.“ (Kurier, 21. September 1954)

In seiner zweiten Symphonie unternimmt Furtwängler den Versuch – wir wiederholen uns, Verzeihung – [Ja, ihr wiederholt euch, Verzeihung!] – fünfzig Jahre Musikentwicklung zu negieren und wieder in der Tonsprache der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts zu sprechen.“ (Münchner Merkur, 15. Dezember 1954)

Äußerungen dieser Art gehen von dem Gedanken aus, dass sozusagen von „der Geschichte“ selbst (also von wem?) regelmäßig Parolen ausgegeben werden, was gerade als zeitgemäß und darum als bedeutend zu gelten habe, und jeder, der sich nicht an diese Vorgaben hält, mit Nichtbeachtung oder gar Verachtung abzustrafen sei. Hierbei wird mit der Schere im Kopf gedacht, denn es läuft darauf hinaus, die Existenz aller Phänomene zu leugnen, die nicht ins geistige Prokrustesbett der jeweiligen Autoren passen. Das Geleugnete ist aber nichtsdestoweniger da! Ein solches Denken verhindert von vornherein ein ganzheitliches Erfassen historischer Epochen, in welchen ja stets Traditionen und Neuerungen nebeneinander existiert haben und existieren. Zu welchen Ergebnissen dieses Scherendenken führt, zeigt folgender Passus aus Diether de la Mottes Harmonielehre (Kassel 1976, S. 261):

10 bis 30 Jahre nach entschiedener Abkehr der meisten Komponisten von der Dur-Moll-Tonalität und dem Prinzip des Klangaufbaus durch Terzenschichtung entwickelten Schönberg und Hauer unabhängig voneinander unterschiedliche Zwölftontechniken, formulierte Hindemith in seiner ‚Unterweisung‘ die Gesetze seiner neuen Harmonik, stellte Messiaen eine neue modale Ordnung auf.“

Es lohnt sich, intensiv über diesen Satz nachzudenken, namentlich über die „Terzenschichtung“! Im jetzigen Zusammenhang soll lediglich die „Abkehr der meisten Komponisten von der Dur-Moll-Tonalität“ interessieren, die der Autor, rechnet man nach, auf um 1910 ansetzt. Noch einmal: Die Abkehr der meisten Komponisten von der Dur-Moll-Tonalität um 1910! Ich will de la Motte gar nicht vorwerfen, dass er mit Absicht unwahre Behauptungen in die Welt gesetzt hätte. Nein, er sprach einfach direkt aus, was für ihn und viele seiner Zeitgenossen Wahrheit war. So weit konnte es nur kommen, weil die Scheren in den Köpfen so sauber schnitten, dass die Menschen gar nicht mehr bemerkten, dass geschnitten wurde. Wer also nach 1910 in Dur und Moll komponierte, den gab es im Bewusstsein gewisser Autoren und ihrer Leser gar nicht mehr, und wenn doch noch jemandem der Name eines solchen Komponisten geläufig war, so konnte dieser für seine Werke jedenfalls nicht die hohe Ehre in Anspruch nehmen, zur Musik des 20. Jahrhunderts dazuzugehören! (Es fragt sich natürlich auch, ob nicht in Hindemith mehr Dur und Moll steckt, als de la Motte wahrhaben will. Und was ist mit Prokofjew, Schostakowitsch, Chatschaturjan, Walton, Britten, Barber, Poulenc, Milhaud, Honegger, um nur einige der populärsten zu nennen, die #- und b-Vorzeichnungen, ja gar C-Dur nicht gescheut haben?) Dass gegen Ende des 20. Jahrhunderts plötzlich ganze Serien von CDs mit in unzweideutigem Dur und Moll komponierter Musik ebendieses 20. Jahrhunderts auf dem Markt erschienen, ist die logische Folge dieser Verdrängung. Man merkte schließlich allgemein, dass mehrere Generationen von Musikgeschichtsschreibern und Journalisten bei sich und anderen die Schere angesetzt hatten, und fragte völlig zurecht, was da weggeschnitten wurde. Der Schluss, der aus dieser Geschichte folgt, lautet: Musik des 20. Jahrhunderts ist Musik, die zwischen 1901 und 2000 entstanden ist. Jede andere Definition ist ideologisch motiviert.

Erst wenn man erkannt hat, dass Wilhelm Furtwängler eine genauso charakteristische Erscheinung seiner Epoche ist wie beispielsweise Arnold Schönberg, Igor Strawinsky, Paul Hindemith (drei Komponisten, deren Werke er dirigierte, obwohl er sie nicht sonderlich mochte), wird man ein lebendiges Bild dieser Epoche gewinnen können, wird man eine Vorstellung davon bekommen, welche Spannungen in ihr wirksam waren. Dann erweist sich die Behauptung, Furtwänglers Werke hätten fünfzig, ja siebzig Jahre zuvor komponiert werden können als das, was sie ist: ein Trick, den gewisse Autoren anwenden, um ihr auf Verdrängung gegründetes Musikgeschichtsbild aufrecht erhalten zu können. Fakt ist dagegen, dass auch Komponisten, die nicht versuchen, sich vom Dur-Moll-System zu lösen, um 1950 anders komponieren als ihre Kollegen um 1880. Will denn jemand wirklich im Ernst behaupten, ein Stück wie der Finalsatz der Dritten Symphonie Furtwänglers hätte im 19. Jahrhundert, etwa von einem Generationsgenossen Brahms‘ und Bruckners, geschrieben werden können? Sehen wir uns unter den Komponisten des deutschsprachigen Raumes in Furtwänglers Generation um, so finden wir etwa Ernst von Dohnanyi, Fritz Brun, Karl Weigl, Joseph Marx, Walter Braunfels, Egon Wellesz, Ernst Toch, Heinz Tiessen, Max Trapp, Gustav Geierhaas, Wilhelm Petersen, Philipp Jarnach, Erich Wolfgang Korngold. Auch sie schrieben Symphonien in klarem Dur und Moll, und auch diese Werke klingen anders als Symphonien der Zeit vor 1900. Hier eine historische Entwicklung zu leugnen, ist sinnlos.

Vorurteil Nr. 2: Der komponierende Dirigent

Das zweite große Vorurteil besagt, dass Furtwänglers Dirigententätigkeit seiner Entfaltung als Komponist hinderlich gewesen sei. Seine Kompositionen seien lediglich Aufgüsse der großen Meisterwerke, die er regelmäßig dirigierte. Es ist dies der Vorwurf der stilistischen Uneigenständigkeit und Unpersönlichkeit. Zur Beantwortung der Frage, ob ein großer Dirigent auch gut komponieren könne, genügt es, ein paar Namen zu nennen: Mahler, Strauss, Pfitzner und Reger, auch Mendelssohn, Schumann, Liszt, Wagner und Weber, Haydn und Bach, nicht zu vergessen Schütz und Praetorius, Lasso und Palestrina, sind dauerhaft oder zumindest zeitweise hauptberufliche Kapellmeister gewesen. Furtwängler war völlig im Recht, als er einmal bemerkte, dass es der natürliche Zustand sei, wenn ein Komponist sich auch als ausführender Musiker betätigt. Er selbst war ja nicht nur Komponist und Dirigent, sondern auch ein ausdrucksstarker Pianist, wie seine Aufnahmen Wolfscher Lieder und des Fünften Brandenburgischen Konzerts belegen – ein wahrhaft universaler Musiker! Seine Dirigentenlaufbahn begann er mit 20 Jahren, nachdem er bereits ungefähr 100 kleinere Stücke und eine Symphonie komponiert hatte. In seinem ersten öffentlichen Konzert 1906 erklang, wie in seinem letzten 1954, eine eigene Komposition. Als der jugendliche Furtwängler bei Josef Rheinberger und Max Schillings studierte – auch sie zugleich Komponisten und Dirigenten –, deutete noch gar nichts darauf hin, dass er einmal der berühmteste deutsche Kapellmeister werden würde, wohl aber alles auf eine Laufbahn als Komponist. Er war also kein Dirigent, der irgendwann begann sich einzureden, dass er auch komponieren müsse. Der Dirigent Furtwängler ist jünger als der Komponist.

Der Versuch, den Dirigenten Furtwängler gegen den Komponisten in Stellung zu bringen, konnte nur deshalb mit solcher Hartnäckigkeit durchgeführt werden, weil Furtwängler zu den ersten Dirigenten gehört, die ihr Repertoire umfassend auf Tonträgern festhalten konnten. Die Leistung des Dirigenten wurde so der Nachwelt überliefert und verschwand nicht in der Legende. Um sich die Bedeutung dieses Umstands zu verdeutlichen, denke man an Arthur Nikisch, Furtwänglers Vorgänger in Leipzig und Berlin. Wie wenig ist von ihm dokumentiert! Beethovens Fünfte, kürzere Stücke von Berlioz, Liszt und Mozart. Gewiss handelt es sich um Teile seines Kernrepertoires, aber was fehlt nicht alles: Die übrigen Beethoven-Symphonien, die Bruckner-Symphonien, von denen er die Siebte uraufgeführt hat, Brahms, Tschaikowskij, Felix Draeseke, für den er sich ähnlich stark gemacht hat wie später Furtwängler für Max Trapp und Heinz Schubert. Dem steht bei Furtwängler eine große Anzahl Aufnahmen gegenüber, deren Repertoire sich von Bach und Händel bis Ernst Pepping, Wolfgang Fortner und Karl Höller erstreckt. Freilich handelt es sich bei diesem Fundus letztlich um ein monumentales Fragment, gibt es doch nur vergleichsweise wenige Operngesamtaufnahmen (etwa von Wagner nur den Ring und Tristan) und Aufnahmen zeitgenössischer Musik (schmerzlich bedauert man etwa den Verlust der Konzertmitschnitte von Symphonien Frommels, Hessenbergs und Waltons), aber es genügt, ein umfassendes Bild vom Wirken des Dirigenten zu erhalten. Der Dirigent Furtwängler ist kein toter Musiker, den man nur aus der verbalen Überlieferung kennt. Anders als Dirigentenlegenden wie Felix Mendelssohn Bartholdy, Carl Maria von Weber, Hans von Bülow, Fritz Steinbach, Ernst von Schuch blieb Furtwängler lebendig. Er dirigiert mittels Tonträgern mittlerweile für ein Publikum, das ihn nie gesehen hat.

Dagegen sieht es bei den etwas älteren Kapellmeister-Komponisten wie Strauss, Pfitzner, Schillings, Zemlinsky, Hausegger, Weingartner nicht wesentlich anders aus als bei Nikisch. Als einziger von ihnen hat Weingartner mit den Beethoven- und Brahms-Symphonien komplette Werkzyklen festgehalten. Von Schillings, Strauss und Pfitzner gibt es einige Aufnahmen eigener Werke, aber wenig Historisches und abgesehen von ihnen selbst nichts Zeitgenössisches, obwohl auch sie Uraufführungen anderer Komponisten geleitet haben. Gar keine Aufnahmen hinterlassen haben beispielsweise Jean-Louis Nicodé, Wilhelm Berger, Richard Wetz, Felix Woyrsch, Paul Büttner, Hermann Suter, Fritz Volbach. Diese Musiker haben nicht anders als Furtwängler einen Großteil ihres Lebens als Dirigenten zugebracht. Sie sind uns heute aber nur noch als Komponisten greifbar. Ihre Werke können wir spielen, ihre Aufführungen sind für immer verloren. So verhält es sich (abgesehen von wenigen Klavierrollen eigener Stücke) auch mit Gustav Mahler, dem seinerzeit berühmtesten Operndirigenten der Welt, dessen Symphonien und Lieder heute berechtigten Weltruhm genießen, wohingegen sie zu seinen Lebzeiten regelmäßig den Vorwurf über sich ergehen lassen mussten, nachempfundene „Kapellmeistermusik“ zu sein. War es für den Komponisten Mahler vielleicht letzten Endes ein Vorteil, dass die Kunst des Dirigenten Mahler mit seiner sterblichen Hülle verfrüht ins Grab sank? Wäre ein über seine Lebenszeit hinausreichender Dirigentenruhm vielleicht ebenso gegen seine Musik in Stellung gebracht worden, wie in Furtwänglers Fall?

Über Mahler sagt man, er war „Komponist und Dirigent“. Niemandem würde es heute mehr einfallen, ihn als „komponierenden Dirigenten“ zu bezeichnen. Dies würde als eine Minderung seines künstlerischen Ranges, ja als eine Schmähung gedeutet werden. Derjenige, der sich so äußerte, würde Gelächter auf sich ziehen. Furtwängler dagegen findet sich in der Literatur verschiedentlich als „komponierender Dirigent“ abgehandelt (so im Artikel „Symphonie“ in der zweiten Auflage der MGG). Wie definiert man aber, wer „komponierender Dirigent“ und wer „Komponist und Dirigent“ ist? Wenn Mahler kein „komponierender Dirigent“ ist und wenn, wie ich meine, diese Bezeichnung auch auf Furtwängler zu Unrecht angewendet wird, so lässt sich darunter wohl nur ein hauptberuflicher Kapellmeister verstehen, der das Komponieren nicht als sein wesentliches Betätigungsfeld erachtet, aber eben „auch“, „nebenbei“ „ein bisschen“ komponiert und ein Schaffen vorlegt, in dem es keine „Hauptwerke“ gibt. „Komponierende Dirigenten“ wären dann etwa Hermann Abendroth, Clemens Krauss, Rolf Agop, Günter Wand, Herbert Kegel. Sie alle beschränkten sich auf kleine Formen (Lieder) oder komponierten nur zu bestimmten Gelegenheiten (Bühnenmusiken). Dann gibt es Fälle, in denen ein Musiker zu Anfang seiner Laufbahn komponiert und dirigiert, jedoch zu einem frühen Zeitpunkt das Komponieren ganz aufgibt, um nur noch als Nachschaffender zu wirken. Dazu zählen beispielsweise Hans von Bülow, Bruno Walter, Carl Schuricht, Hans Rosbaud, George Szell, Igor Markevitch, auch Walter Rabl, der letzte Protegé von Johannes Brahms. Von ihnen gibt es zum Teil sehr ambitionierte Kammermusik- und/oder Orchesterwerke, zu welchen die Komponisten nach Ende ihrer schöpferischen Laufbahn sehr verschiedene Standpunkte einnahmen: Während etwa Szell im späteren Leben Aufführungen seiner Kompositionen zu verhindern suchte, war sich Markevitch gewiss, dass die Nachwelt die seinen zu schätzen wissen würde. Furtwängler fällt auch nicht in diese Kategorie schaffender Nachschaffender. Er gab das Komponieren eben nicht auf, fing viel mehr als beinahe Fünfzigjähriger erst richtig damit an.

Hier sind wir bei einem Sachverhalt angelangt, der viele Kommentatoren irritiert hat, nämlich der Tatsache, dass Furtwängler zwischen dem Te Deum (1909) und dem Klavierquintett (1935) – also während mehr als zweieinhalb Jahrzehnten – keine Komposition vollendete. Es mag in der Tat bizarr erscheinen, dass von diesem Komponisten nur Jugendwerke und relativ späte Arbeiten existieren – ungefähr, als hätte Beethoven sich nach den Joseph- und Leopold-Kantaten vorerst als Komponist zurückgezogen, um dann mit op. 106 wieder aufzutreten. Dies bietet böswilligen Betrachtern natürlich einen Angriffspunkt: Furtwängler habe es nicht verschmerzen können, in seiner Jugend als Komponist gescheitert zu sein und habe wieder zu komponieren begonnen, nachdem er als Dirigent eine herausgehobene Stellung erreicht hatte, die es ihm erlaubt habe, seine Musik gleichsam mit Gewalt dem Publikum aufzuoktroyieren. Dass die scheinbare Ruhephase tatsächlich eine Zeit der Reifung gewesen ist, die der Komponist brauchte, um seiner Ideen Herr zu werden und zu einem souveränen Künstler heranzuwachsen, geht diesen Betrachtern nicht auf. Hört man sich die Jugendarbeiten Furtwänglers an, so stößt man auf viel Halbgares, Unausgegorenes. In den beiden Jugendsymphonien in D-Dur (von der nur der erste Satz eingespielt wurde) und h-Moll (die über den ersten Satz nicht hinaus gekommen ist) begegnen großartige Themen, aber auch nicht zu leugnende Ungeschicklichkeiten in der Verlaufsgestaltung. Der junge Komponist kann die Spannung nicht aufrecht erhalten und verliert sich in einer Aneinanderreihung von einzelnen Momenten. Als gelungen kann man dagegen die Drei Klavierstücke von 1903 bezeichnen, bei denen es sich jedoch im Wesentlichen um Stilstudien nach Beethovens späten Bagatellen handelt. Mit Furtwänglers reifem Stil haben sie nichts zu tun. Furtwängler war tatsächlich um 1910 daran, „als Komponist zugrunde zu gehen“, wie er gegen Ende seines Lebens schrieb, denn er fühlte deutlich den Zwiespalt zwischen seinen Einfällen und seinen damals noch zu beschränkten Möglichkeiten, sie adäquat realisieren zu können. Er widmete sich verstärkt dem Dirigieren, weil ihm diese Art der musikalischen Betätigung leicht fiel, weil sie ihm das Überleben sicherte, natürlich auch, weil sie ihm rasch zu großen Erfolgen verhalf, aber er gab zwischen 1909 und 1935 das Komponieren nicht auf. Immer wenn ihm sein Dirigentenberuf Zeit ließ, arbeitete er an eigenen Werken, und damit an sich selbst. „Wer hohe Türme bauen will, muss lange am Fundament verweilen“, soll Anton Bruckner – wahrlich auch ein Spätentwickler – gesagt haben; Furtwängler wollte hohe Türme bauen, und er verweilte sehr lange am Fundament – mit Erfolg.

Als besonders schön habe ich an Furtwänglers reifen Werken stets empfunden, dass sie in einem so scharf profilierten Personalstil geschrieben sind, dass man ihren Autor bereits nach wenigen Takten erkennt. Furtwängler schreibt nicht kompliziert. Seine Harmonien sind immer funktional gedacht, und jede steht in einem Zusammenhang zur Vorangehenden und zur Folgenden. Selbst sehr scharfe Dissonanzen (etwa gegen Ende der Durchführung im Finale der Dritten Symphonie) stechen nicht als aufgesetzte „Modernismen“ heraus, sondern dienen dazu eine dramatische Wirkung zu erzeugen, die ihren notwendigen Platz innerhalb der Gesamthandlung hat. Dem Streben nach Einfachheit im Harmonischen entspricht seine Bevorzugung diatonischer Melodik. Seine Themen klingen vokal erfunden und sind stets sangbar (ein Potpourri der „schönsten Melodien“ Furtwänglers könnte ich jederzeit zum Besten geben). Allerdings sind es nicht eigentlich liedhafte Melodien. Zumindest wüsste ich keine, die ich mir als Volkslied denken könnte. Märsche gibt es bei ihm nicht, und Tanzcharaktere bestenfalls in äußerst sublimierter Gestalt. Es ist insgesamt eine nicht sehr „weltliche“ Musik. In seiner ausschließlichen Ausrichtung auf das Erhabene gleicht Furtwängler Bruckner – gewaltige Steigerungen und bedeutungsvolle Generalpausen („die Fenster in der Kathedrale“ nannte das Robert Simpson) gehören denn auch zu den liebsten Stilmitteln beider. Gerade Bruckner aber ist hinsichtlich der Melodik seiner Themen und ihrer metrischen Gestaltung nahezu Furtwänglers vollkommener Gegensatz: Bruckner liebt signalhafte Motive, häufig dreiklangsbasiert; die Hauptakzente liegen immer auf dem Anfang, er denkt entschieden abtaktig; Synkopen und Synkopenfolgen müssen immer auf metrisch schweren Zählzeiten beginnen; Abweichungen vom „quadratischen“ Bau der Perioden mit seinem regelmäßigen Wechsel „schwerer“ und „leichter“ Takte kommen sehr selten vor. Furtwängler entwickelt seine Themen weniger aus dem Dreiklang als aus der Tonleiter heraus und bevorzugt den Beginn auf leichter Taktzeit, sodass leise Anfänge wirken, als würden sich die Themen beim ersten Erscheinen unauffällig einschleichen. Mit dieser Neigung korrespondiert eine Vorliebe für Melodien, die nicht auf dem Grundton beginnen und nicht zu ihm hinführen, sondern ihn nur vorübergehend streifen. Dies erinnert ein wenig an das Streben mittelalterlicher Kirchengesänge von der Finalis weg, hin zur Repercussa. Überhaupt ähneln Furtwänglers Melodien am ehesten gotischen Chorälen, einer Art Musik also, mit der er sich kaum näher beschäftigt haben dürfte. Hier wie dort finden sich einfache Rhythmen und eine freie Metrik, die der Regelmäßigkeit Bruckners ganz entgegengesetzt ist. Eine Melodie in wechselnden Taktarten wie das Hauptthema des langsamen Satzes der Zweiten Symphonie, oder ein unregelmäßiger Takt wie zu Beginn des Finales desselben Werkes, wären bei Bruckner nicht zu denken. Das Erhabene stellt sich Furtwängler offenbar leichtfüßiger, schwebender, eleganter vor als Bruckner.

Ebenso wie Bruckner könnte man jeden von Furtwängler besonders geschätzten Komponisten zur Gegenüberstellung heranziehen (etwa Beethoven, Wagner, Brahms, Pfitzner) und müsste letztlich immer die Eigenständigkeit Furtwänglers gegenüber dem früheren Meister feststellen. Furtwängler hatte es wahrlich nicht nötig zu versuchen, den Stil irgend eines Anderen zu imitieren. Von seiner künstlerischen Unabhängigkeit zeugen nicht zuletzt die kritischen Betrachtungen in seinen Schriften und Aufzeichnungen. Der letzte Komponist, den er uneingeschränkt bewundert, ist Brahms. Wagner und Bruckner steht er bei aller Verehrung nicht unkritisch gegenüber. Über diejenigen Komponisten, die zu seiner Jugendzeit im Zenit ihres Ruhmes standen, äußert er sich, bei allem Respekt, kritisch (Strauss, Mahler) bis äußerst skeptisch (Reger). Am nächsten steht ihm unter ihnen Pfitzner, aber auch zu ihm bekennt er sich nicht ohne Einwände. In diesem Kontext betrachtet, wirkt das Furtwänglersche Komponieren – und die bereits deutliche stilistische Nähe des Te Deums und der Jugendsymphonien zu den Werken der Reifezeit bestätigt diesen Eindruck – wie eine schöpferische Kritik an seinen älteren Zeitgenossen. Er gefiel sich nicht in harmonischen Kompliziertheiten wie Reger, hatte keine Ambitionen auf dem Gebiet effektvoller Programmmusik wie Strauss, wollte nicht in Form gezielter stilistischer Buntscheckigkeit mit seinen Symphonien die Welt umfassen wie Mahler, und von Pfitzner trennte ihn der Umstand, dass dieser im Kern seines Wesens Lyriker war, Furtwängler dagegen Architekt.

Vorurteil Nr. 3: Die zu langen Werke

Das dritte große Vorurteil betrifft diesen Architekten. Es besagt, Furtwängler habe als Komponist zu viel gewollt und es nicht vermocht, mit seinen Gedanken Maß zu halten, was letztlich dazu geführt habe, dass ihm seine Werke in der Länge ausgeufert seien. Diese Behauptungen gehen von der Annahme aus, es müssten sich doch in den sieben Hauptwerken Furtwänglers, deren Spieldauern zwischen einer Dreiviertelstunde (Violinsonate Nr. 2) und anderthalb Stunden (Symphonie Nr. 1 in Fawzi Haimors Aufnahme) betragen, irgendwelche überflüssigen oder übermäßig weit ausgesponnenen Passagen finden. Dass Furtwängler dem Vorwurf übergroßer Länge von Anfang an besonders stark ausgesetzt war, hat auch historische Gründe, trat er doch mit seinen Werken gerade zu einer Zeit in Erscheinung als Kürze Trumpf war. In den 1930er Jahren herrschte die Mode der „Sachlichkeit“, worunter man u. a. ein Komponieren in knappen, angeblich klassischen Formen verstand. Später, nach dem Krieg, konnte auch der allem Neoklassizismus abholde, sich aber ausschließlich miniaturistisch ausdrückende Webern als Sachlichkeitsideal gedeutet werden. Furtwängler stand, ich wiederhole es, nicht „außerhalb seiner Zeit“, wohl aber stand er quer zum damals herrschenden Drang zur Kürze, der ja letztlich eine Umkehrung der um 1900 im Gefolge Wagners aufgekommenen Mode war, sich möglichst lang und breit auszudrücken.

Weder saß Furtwängler den Moden seiner Jugendzeit auf, noch denen, die später aufkamen. Kürze um der Kürze willen war ihm, der Chopin genauso sehr, wenn nicht noch mehr verehrte als Bruckner, und der, wie die frühen Klavierstücke zeigen, durchaus Talent zum Miniaturisten hatte, genauso wenig erstrebenswert wie Länge um der Länge willen. Was er anstrebte, war nichts anderes als seinen Gedanken die ihnen angemessene Entfaltung zukommen zu lassen. Hört man den Kompositionen aufmerksam zu, so wird man feststellen, dass sie gar nicht so immens lang wirken, wie ihre objektive Spieldauer vermuten lässt. Bei Furtwängler haben wir im Grunde das gleiche Phänomen vor uns wie bei Bruckner: Die Sätze dauern zum Teil über 20 Minuten und sind doch knapp geformt. Hören wir beispielsweise den ersten Satz der Neunten Symphonie Bruckners, so können wir bemerken, dass er im Grunde nur aus zwei großen Teilen besteht, denen sich eine kurze Coda anschließt. Robert Simpson nannte dies in seinem Standardwerk The Essence of Bruckner „Statement, Counterstatement, and Coda“ (Darstellung, Gegendarstellung und Coda). Sowohl „Statement“ als auch „Counterstatement“ gliedern sich in wenige Unterabschnitte, von denen jeder nach dem Prinzip der Entwicklung durch Kontrast eine bestimmte Funktion innerhalb des Gesamtverlaufs des Satzes einnimmt. Das „Counterstatement“ beginnt als Durchführung und nimmt später Reprisencharakter an, wobei der Übergang zwischen „Durchführung“ und „Reprise“ erst rückwirkend als solcher wahrgenommen wird. Obwohl mit rund 25 Minuten Spieldauer objektiv der längste Kopfsatz einer Bruckner-Symphonie, ist er doch durch die Verschmelzung von Durchführung und Reprise formal der kürzeste. „Lang“ wird er durch sein verhältnismäßig breites Tempo und die Weite der einzelnen Phrasen und Perioden, also durch die Größe der Bauteile, aus denen er errichtet ist. Nicht anders verhält es sich bei Furtwängler: Seine Sätze bestehen aus Abfolgen weniger, aber ausgedehnter Verläufe.

Haben dann vielleicht die einzelnen Glieder seiner Sätze Längen? Ein wiederholt gegen Furtwängler ins Spiel geführter Einwand betrifft seine häufige Verwendung von Sequenzen. So lautet auch der Hauptkritikpunkt in Gerhard Frommels Beurteilung der Zweiten Symphonie. Frommel (1906–1984) ist einer der wenigen Kritiker Furtwänglers, deren Einwänden sich nachzugehen lohnt, denn er war nicht irgendjemand, sondern einer der besten deutschen Komponisten seiner Generation und Furtwängler keineswegs übel gesonnen. Furtwängler schätzte ihn und brachte seine Erste Symphonie mit den Berliner Philharmonikern 1942 zur Uraufführung. Frommel nimmt in seinen 1975 verfassten Lebenserinnerungen seinen Bericht über den persönlichen Umgang mit Furtwängler zum Anlass, sich auch zu dessen Zweiter Symphonie zu äußern:

Für die Aufführungschancen und darüber hinaus für eine gerechte Würdigung von Furtwänglers Leistung als Komponist sind die überdimensionalen Ausmaße dieser Symphonie äußerst nachteilig. Das lautere Gold vieler schöner Einfälle, z. B. der Anfang des langsamen Satzes, wird überschwemmt von manchmal fast unerträglich langen, sequenzierenden Entwicklungen, die bestechende Plastik und Einfachheit steht in mangelndem Gleichgewicht zu der überladenen Instrumentation dominierender anderer Formen.“

(Gerhard Frommel: Entwurf einer Autobiographie, Tutzing 2013, S. 81. Frommels konsequente Kleinschreibung wurde der konventionellen Rechtschreibung angeglichen.)

Dass Frommel an Furtwänglers wenig koloristischer Instrumentation Anstoß nahm, wird niemanden überraschen, der weiß, dass Frommel, im Gegensatz zu Furtwängler, ein Verehrer Strawinskys war und eine starke Affinität zu südländischer Musik besaß. Von diesem Standpunkt aus mag man tatsächlich manches als überladen empfinden. Schwerer wiegt die Kritik an der Sequenzentechnik. Aber sind diese sequenzierenden Entwicklungen tatsächlich „unerträglich lang“? Mir scheint, in Frommels Kritik schwingt die um 1900 als eine Art Abwehrreaktion gegen die Musik der Wagner-Nachfolge aufgekommene Scheu vor der Sequenz nach, die mit der Scheu vor der wörtlichen Wiederholung (die Mahler einmal als „Lüge“ bezeichnet hat) und der Hinwendung zum Aphoristischen (Debussy, Schönberg, Webern) in ein gemeinschaftliches musikgeschichtliches Kapitel gehört. Nun ist die Sequenz an sich weder gut noch schlecht, sondern ein gewöhnliches Mittel musikalischer Formung. Durch exzessiven und schematischen Gebrauch kann es sich freilich abnutzen und so der Wirkung einer Musik abträglich sein. Ob dieser Fall eintritt, liegt im Geschick bzw. Ungeschick des Komponisten begründet. Gerade aufgrund der Gefahren, die mit ihrer Verwendung verbunden sind, zwingt die Sequenz zum verantwortungsbewussten Umgang. Eine alte Faustregel besagt, dass man eine Sequenz nie auf mehr als drei Glieder ausdehnen sollte.

Betrachten wir nun kurz eine Furtwänglersche Sequenz. Sie findet sich gegen Ende des „Statements“ im Finalsatz der Zweiten Symphonie (in Furtwänglers Aufnahme mit den Wiener Philharmonikern etwa ab 8’30“; in der Partitur, die sich auf IMSLP findet, ab S. 227). Ausgangspunkt der Entwicklung ist eine fünftaktige Periode (man beachte auch die metrische Freiheit mittels Taktwechsel), die von der Dominante von G zur Dominante von E führt. Sie enthält bereits in sich eine (variierte) Sequenz, in welcher ihr Kopfmotiv dreimal erklingt, bevor es in einen motivisch verschiedenen Anhang ausläuft. Diese fünf Takte werden nun auf anderer Stufe wiederholt, von der Dominante von C zur Dominante von A führend. Es folgt eine (fürs lesende Auge) scheinbar viergliedrige (und damit der „Faustregel“ scheinbar zuwiderlaufende) Sequenz des zweitaktigen Kopfmotivs: Beim ersten Mal hebt es auf der Dominante von F an, dann auf der Dominante von As, dann auf der Dominante von C, dann auf der Dominante von Es. Die Harmonien lassen indessen keinen Zweifel daran, dass es sich tatsächlich um zwei im Quintabstand aufeinander folgende zweigliedrige Sequenzen von jeweils vier Takten über dasselbe Material handelt. Die zweite dieser Sequenzen läuft dann in einen zweitaktigen Anhang aus, der selbst eine Sequenz aus zwei Gliedern ist. Der ganze hier besprochene Komplex ist als Steigerung zu dem „sehr gehaltenen“, hymnischen Thema gedacht, das an ihn anschließt. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Furtwängler in diesem Abschnitt des Satzverlaufs die Sequenztechnik zwar sehr ausgereizt hat, aber nirgends der besagten „Faustregel“, die Bach, Mozart, Beethoven oder Brahms stets wach anwandten, zuwidergehandelt hat. Zudem muss man feststellen, dass hier eine lange Steigerung mit äußerst wenig motivischem Material bestritten wurde, also ein Fall bemerkenswerter kompositorischer Ökonomie vorliegt. Das ist kein Sequenzieren aus Unvermögen, auch kein Missbrauch der Sequenz. Es ist eine hohe Schule der Sequenz, die uns Furtwängler hier bietet! Deshalb erlaube ich mir, bei allem Respekt, Gerhard Frommels Ansicht, es gebe bei Furtwängler „unerträgliche“ Sequenzen, nicht zuzustimmen.

Aber verweilen wir ein wenig bei Frommel und hören, was er sonst noch über die Zweite Symphonie schreibt. Eine Seite weiter liest man in seinem autobiographischen Entwurf folgendes:

Im Gegensatz zu der gängigen Meinung möchte ich der Symphonie […] genialische Züge keineswegs absprechen, und, was die extrem traditionelle Musiksprache betrifft, so sind die mich beeindruckenden Partien in meiner Sicht geradezu ein Beweis, dass auch in unserem Jahrhundert persönliche, eigenständige Aussage im traditionellen Idiom möglich ist. Nebenbei bemerkt finden sich in der Symphonie auch strukturell höchst interessante Einzelheiten, so der fünfstimmige Kanon in der langsamen Introduktion des Finales. […] Zusammengefasst: Über den Fall ‚Furtwängler als Komponist‘ sind die Akten wohl noch nicht geschlossen, vielleicht noch nicht einmal eröffnet.“

Ob man mittlerweile sagen kann, die Akten seien geöffnet worden? Immerhin liegen Furtwänglers sämtliche Hauptwerke in mehreren Einspielungen vor. Gerade in den Jahren seit der Jahrtausendwende hat sich diskographisch einiges für ihn getan. Historische Aufnahmen wurden veröffentlicht, und Neueinspielungen durchgeführt. Die wissenschaftliche Literatur hält sich allerdings in Grenzen. Eine knappe, aber gute Einführung zu Furtwänglers kompositorischem Werk bietet der Aufsatz „Wilhelm Furtwängler als Komponist – das Ethos eines Künstlers“ von Bruno d’Heudières in den 1998 bei Ries & Erler erschienenen Furtwängler-Studien I (Hrsg. Sebastian Krahnert), denen leider kein zweiter Band gefolgt ist. Das einzige mir bekannte Buch, das sich dem Komponisten Furtwängler widmet, ist Oliver Blümels analytisch leider ziemlich missglückte Studie Die zweite und die dritte Symphonie Wilhelm Furtwänglers (Berlin: Tenea 2004). Die Akten sind also geöffnet, aber zu schreiben gibt es noch viel.

Furtwängler meinte gegen Ende seines Lebens in einem Anfall von Resignation, dass seine Kompositionen mit ihm verschwinden würden. Dieser Fall ist nicht eingetreten. Seine Werke wurden nach seinem Tode zwar nicht häufig gespielt, gelangten aber doch mit einer gewissen Regelmäßigkeit zur Aufführung. Dabei widmete man sich schließlich auch den zu seinen Lebzeiten nicht erklungenen Werken: der Ersten und der Dritten Symphonie sowie dem Klavierquintett. Da oft ein Jubiläum den Anlass gab, eines der Stücke aufs Programm zu setzen, kann man natürlich einwenden, es habe sich in diesen Fällen um bloße Akte der Pietät zum Gedächtnis des großen Dirigenten gehandelt. Sicherlich waren sie auch das, aber man hätte Furtwängler auch mit seinen Lieblingsstücken der klassischen Meister, mit Beethoven und Brahms etwa, feiern, oder aus Pietät nur einen einzigen Satz, etwa das Andante der Zweiten Symphonie aufs Programm setzen können. Man führte aber in der Regel die Werke vollständig auf. Hätten sich namhafte Dirigenten und Solisten dazu bereit gefunden, diese Werke zu Gehör zu bringen, wenn diese das gewesen wären, was die Schmäher Furtwänglers in ihnen sehen wollten: überlange, epigonale Zeugnisse der Selbstüberschätzung eines komponierenden Dirigenten?

Ja, warum haben Musiker wie Edwin Fischer (Klavierkonzert, Uraufführung), Hugo Kolberg (Violinsonate Nr.1, Uraufführung), Georg Kulenkampff (Violinsonate Nr. 2, Uraufführung), Eugen Jochum (Symphonie Nr. 2), Joseph Keilberth (Symphonie Nr. 3, Uraufführung der ersten drei Sätze), Yehudi Menuhin (Uraufführung der vollständigen Symphonie Nr. 3, Te Deum), Wolfgang Sawallisch (Symphonie Nr. 3, Uraufführung des Klavierquintetts), Lorin Maazel (Symphonie Nr. 3), Daniel Barenboim (Symphonie Nr. 2, Klavierkonzert), Zubin Mehta (Klavierkonzert), Rafael Kubelík (Klavierkonzert), Erik Then-Bergh (Klavierkonzert), Paul Badura-Skoda (Klavierkonzert), Lothar Zagrosek (Klavierkonzert), Hans Chemin-Petit (Te Deum), die doch allesamt keine Niemande gewesen sind, sich bereit gefunden, diese Werke aufzuführen?

(Hier geht es zu Teil 2.)

[Nobert Florian Schuck, November 2021]