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Kleines Beethoven-Vademecum (4): Beth Levin und Beethovens Tempo

Aldilà Records, ARCD 011; EAN: 9 003643 980112

Was ist ein richtiges Tempo? Eine erschöpfende Antwort auf diese Frage zu geben, über die im Laufe der Zeit eine gewiss nicht geringe Zahl Musiker und Hörer nachgedacht hat, soll im Folgenden nicht versucht werden. An dieser Stelle wollen wir uns darauf beschränken, die Sinne zu schärfen. Als Gegenstand der Betrachtung wähle ich eine einzelne Aufnahme, die mir besonders gut geeignet erscheint, ein Gespür für die Problematik des richtigen Tempos zu entwickeln: 2019 spielte Beth Levin in Baltimore Ludwig van Beethovens Große Sonate für das Hammerklavier B-Dur op. 106. Der Mitschnitt des Konzerts, in welchem die Pianistin neben Beethovens Werk auch Georg Friedrich Händels Suite d-Moll HWV 428 und Anders Eliassons Carosello (Nr. 3 der Stücke, die der schwedische Meister unter dem Gattungstitel „Disegno“ zusammenfasste) zu Gehör brachte, erschien rechtzeitig zum 250. Geburtstag Beethovens 2020 unter dem Titel Hammerklavier Live bei Aldilà Records.

Bekanntlich versah Beethoven den ersten Satz der Großen B-Dur-Sonate mit der Metronomisierung Halbe = 138, und ebenso bekanntlich haben nur wenige Pianisten den Versuch unternommen, den Satz in dieser Geschwindigkeit zu spielen. Arthur Schnabel, Walter Gieseking und Michael Korstick kamen dabei am nächsten an das von Beethoven notierte Tempo heran. Aber sie blieben Ausnahmen. Die meisten anderen wählten ein mäßigeres Zeitmaß. Der Aussage Hermann Kellers, dass „nach [Beethovens Metronomisierung] der erste Satz in einem so unsinnig schnellen Tempo zu spielen wäre, daß dieses Tempo nicht nur kaum ein Spieler erreichen kann, sondern daß dadurch auch der musikalische Inhalt des Satzes völlig zerstört werden würde“ (Hermann Keller: „Die Hammerklavier-Sonate“, Neue Zeitschrift für Musik 1958), hat die Mehrheit der Pianisten vielleicht nicht verbal, wohl aber in der musikalischen Praxis zugestimmt. Da sich das Problem der Realisierbarkeit der Metronomangaben Beethovens auch in anderen Fällen einstellt, wurde oft vermutet, er habe ein defektes Metronom besessen. Auch erscheint es möglich, er habe das Metronom schlicht falsch abgelesen (wie Almudena Martín Castro und Iñaki Úcar Marqués in einer Studie plausibel gemacht haben). Es verhalte sich mit dem Metronom wie es wolle; interessanter dürfte sein, dass Schnabel, Gieseking und Korstick das Ritardando, das Beethoven im achten Takt des Satzes vorschreibt, bereits im vorangehenden Takt vorbereiten, sie mithin also alle empfinden, die Verlangsamung solle nicht plötzlich erst da stattfinden, wo sie tatsächlich laut Notation verlangt wird. Darin bloß eine körperliche Entspannungsreaktion auf die im „korrekten“ Tempo vorgetragenen, vollgriffigen Anfangstakte zu sehen, wäre zu kurz gedacht, schließlich zeigt sich das gleiche Phänomen auch bei Pianisten, die deutlich langsamer spielen (etwa bei Daniel Barenboim, der den Satz in rund 12 ½ Minuten, einschließlich Expositionswiederholung, darbietet). Die Notwendigkeit einer allmählichen Verlangsamung stellt sich bei den Musikern gleichsam von selbst ein. Warum ist das so? Betrachten wir die Takte 7 und 8, so bemerken wir, dass die Musik hier auf eine Dominantharmonie zusteuert und auf dieser kurz inne hält (Fermate). Die Bewegung hin zu dieser Dominante zeichnet sich in Takt 7 bereits deutlich ab. Harmonisch bringt der Takt 8 zu Ende, was sich im Takt 7 (und den vorangehenden Takten) angedeutet hat. Die Pianisten empfinden diesen Zusammenhang und setzen ihn um in Form eines Ritardandos, das an Länge das vom Komponisten vorgeschriebene übertrifft.

Damit ist die Frage aufgeworfen, was sich eigentlich in Notenschrift festhalten lässt. Will Beethoven, dass im Takt 8 des Allegros von op. 106 ein Ritardando gemacht wird, oder will er, dass nur an dieser Stelle ein Ritardando gemacht wird? Spielen die Pianisten richtig, wenn sie bereits in Takt 7 leicht und dann in Takt 8 deutlich verlangsamen, oder spielen sie richtig, wenn Takt 7 im raschen Tempo des Anfangs gespielt und erst in Takt 8 verlangsamt wird? Und wie stark soll das Ritardando in Takt 8 sein? Dazu steht in den Noten nichts. Außer den Ritardandi und den ihnen folgenden A-Tempo-Vorschriften enthält der Satz keine weiteren Angaben zur Gestaltung der Zeitmaße. Damit scheint die Frage geklärt, welches Tempo als das Maßgebliche für den ganzen Satz anzusehen ist, nämlich offiziell Halbe = 138. Aber ist dieser Schluss zwingend?

Sehen wir uns ein Stück aus späterer Zeit an: Die Vierte Symphonie von Jean Sibelius, ein Werk, das einer Epoche entstammt, die zu Tempi und Vortrag stärker differenzierte Angaben anzubringen pflegte als dies zu Beethovens Zeit üblich war. Berühmt ist die Coda des Finalsatzes dieser Symphonie, in der ein Zerfallsprozess auskomponiert wird. Metronomangaben enthält die Partitur nicht, für den ganzen Finalsatz gilt (wie für Beethovens Sonatenkopfsatz) eine einzige Tempovorschrift: „Allegro“. Soll die Coda also gleich schnell gespielt werden wie der Satzanfang? „Nein“, sagt – Jean Sibelius! Nachträglich wiederholt um Metronomangaben gebeten, schrieb der Komponist zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Zahlen auf. Die Coda des Finales bezeichnete er mit einer vom Rest des Satzes abweichenden Metronomisierung. Wer nur die Partitur kennt, kann das nicht wissen. Es entzieht sich meiner Kenntnis, wie viele Dirigenten um Sibelius‘ Metronomisierungen wussten. Es findet sich aber kaum einer, der am Ende der Vierten Symphonie das Tempo nicht wenigstens minimal verlangsamt.

Interessant erscheinen in diesem Zusammenhang auch die unterschiedlichen Auffassungen der Dirigenten vom Schluss des Kopfsatzes der Achten Symphonie Anton Bruckners (zweite Fassung). Bruckner selbst beschrieb ihn als Sterbeszene: Es sei, als wenn einer einer im Sterben liege, und gegenüber hänge die Uhr, die, während sein Leben zu Ende gehe, immer gleichmäßig fortschlage. Es ist wiederholt darauf aufmerksam gemacht worden, dass eine Uhr kein Ritardando mache. In dieser unerbittlichen Gleichmäßigkeit bringen beispielsweise Hans Rosbaud und Jascha Horenstein den Satz zum Abschluss. Hat dann Wilhelm Furtwängler Unrecht, wenn er diese Takte als lang gezogene allmähliche Verlangsamung spielen lässt, oder Sergiu Celibidache, wenn er das Gleichmaß bis kurz vor Schluss durchhält und beim letzten Erklingen des Motivs ein Ritardando anbringt? Muss ein Dirigent, weil der Komponist selbst die Musik so beschrieb, sich verpflichtet fühlen, das Bild von der tickenden Uhr umzusetzen? Man sollte auch bedenken, dass Bruckners Worte aus einem Brief an den jungen Felix Weingartner stammen, den er um eine Aufführung des Werkes bat, und der damals noch ein leidenschaftlicher Anhänger der Programmmusik war. Ein echtes Programm hat Bruckner seiner Symphonie nie beigelegt.

Aber kehren wir zu Beethovens Sonate op. 106 zurück und widmen uns der Einspielung Beth Levins! Ihre Aufführung des Werkes kann man ohne zu untertreiben eine besondere nennen – ich möchte sagen: eine besonders mutige. Die Pianistin vermeidet nämlich metronomisch normierte Tempi und absolut festgelegte Geschwindigkeiten, was vor allem im Kopfsatz zu mitunter sehr starken Temposchwankungen führt. Beethovens Vorgabe „Allegro“ scheint sie aufzufassen als: „ein Stück im Allegro-Charakter“, offensichtlich bedeutet sie ihr nicht, dass ein einzelnes Tempo über den ganzen Satz hinweg durchgehalten werden muss. Würde Levins Aufnahme sich durch nichts anderes als ständige Tempowechsel aus der Masse der Einspielungen herausheben, so wäre sie nicht weiter interessant, ja man würde sie vielleicht als Dokument selbstherrlicher Interpretenwillkür wahrnehmen. Aber das ist sie gerade nicht! Levins Tempi sind keineswegs willkürlich gewählt, sondern lassen sich durchweg aus dem Verlauf der Musik heraus legitimieren. Wir haben oben anhand der Aufnahmen Schnabels, Giesekings und Korsticks feststellen können, dass auch Pianisten, die nach metronomischer Genauigkeit streben, ihr Tempo vorübergehend abwandeln, weil die harmonische Beschaffenheit der Musik ihnen dies als angemessen erscheinen lässt. Beth Levins Tempowahl speist sich aus keiner anderen Quelle. Sie orientiert sich an den tonalen Schwerpunkten der Musik. Die einzelnen Phrasen lässt sie sich auf ein temporäres harmonisches Ziel hin entfalten bzw. von einem Ausgangspunkt weg. Die Geschwindigkeit ergibt sich dabei aus der jeweiligen Situation heraus. So, wie sie unter Levins Händen zu hören sind, haben bestimmte Geschehnisse von der Pianistin eine Beschleunigung oder Verlangsamung des Tempos geradezu gefordert, um besonders deutlich in ihrer Eigenart wie in ihrer Funktion im Zusammenhang des Ganzen erfassbar zu werden. Sei es das Ansteuern eines harmonischen Zentrums oder das Wegstreben von ihm, eine Veränderung in der Beschaffenheit des Tonsatzes, die Darstellung der Wechselwirkung polyphoner Linien: Immer besteht für Beth Levin ein triftiger Grund, das Zeitmaß so zu gestalten, wie sie es tut.

Anhand der ersten Takte des Kopfsatzes soll nun verdeutlicht werden, wie Levin im einzelnen vorgeht. Die akkordisch gesetzten ersten vier Takte nimmt sie nicht sehr schnell, aber vergleichsweise rasch. Dem erstmaligen Durchschreiten harmonischer Zwischenstufen in den nächsten vier Takten widmet sie mehr Zeit, betont die Sequenz, achtet auf die gleichmäßige Viertelbewegung im Bass, und wird, wie ausdrücklich in der Partitur gefordert, noch einmal langsamer, wenn sich die Musik kurz auf der Dominante niederlässt. Wenn die Musik von Takt 5 in Takt 9 eine Oktave höher noch einmal ansetzt, geschieht dies wieder Tempo von Takt 5. Ab Takt 12, wo die eintaktigen Phrasen sich zu zweitaktigen weiten, spielt Levin etwas rascher. Das damit verbundene Crescendo lässt sie vorrangig in der absteigenden Basslinie stattfinden, dadurch deren Sonderstellung gegenüber den anderen Stimmen betonend. Das Periodenende wird mit einem kleinen Ritardando markiert. Die in Takt 17 mit dem Wiedereintritt der Tonika beginnende neue Periode bewegt sich anders als die vorigen. In der rechten Hand wechselt je ein Takt in Halben mit einem in Vierteln (mit verschiedener Begleitung in der linken Hand). Levin hebt dies hervor, indem sie die Takte in Halben geringfügig langsamer nimmt als die Takte in Vierteln; somit ergibt sich von selbst eine Beschleunigung, wenn sich in Takt 25 die Viertel-Bewegung durchsetzt. Ist diese Steigerung in Takt 27 auf ihrem melodischen Höhepunkt angelangt, so beschleunigt Levin noch etwas, wenn die Musik nun in die Tiefe stürzt um ab Takt 31, wenn sie, auf der Domiante angelangt, ohne Harmoniewechsel wieder in die Höhe steigt und dabei leiser wird, deutlich langsamer zu werden. Man könnte, so weitermachend, jede Seite der Partitur mit der Aufnahme abgleichen und fände die Tempowahl der Pianistin stets in der musikalischen Struktur begründet. Das feine Herausarbeiten der Einzelheiten, oft in Verbindung mit verbreitertem Tempo, und der dabei durchweg gewahrte Überblick Beth Levins über den Fortgang der Handlung lassen die ungeheuren Spannkräfte der Musik erst recht hervortreten. Zu jedem Augenblick möchte man sagen: „Verweile doch, Du bist so schön!“, und doch herrscht faustischer Vorwärtsdrang. Selten hört man das Ringen zwischen Rubato und Momentum in einer solchen Deutlichkeit wie hier!

Über die Proportionen des Werkes in Levins Aufnahme mögen hier noch die Spieldauern der einzelnen Sätze Auskunft geben:

Allegro: 12:04 (ohne Expositionswiederholung)

Scherzo: 03:11

Adagio: 17:10

Finale: 14:11

Beth Levins Album Hammerklavier Live ist übrigens nicht nur wegen Beethovens op. 106 empfehlenswert. Auch die Werke der anderen beiden Großmeister laden, abgesehen davon, dass sie größtes Hörvergnügen bereiten, dazu ein, über die Wiedergabe von Musik nachzudenken. Wie geht man damit um, dass Händel seine Klavierwerke nur äußerst spärlich mit Vortragsbezeichnungen versehen hat? – Eliassons Carosello aus dem Jahr 2005 wird weitgehend von einer Drei-Achtel-Bewegung getragen. Die Harmonik prägt klare tonale Zentrierungen aus, ohne dass je sich eine Tonika eindeutig durchsetzt. Beth Levin gibt der Darstellung dieser harmonischen Schwebezustände den Vorzug vor einer konsequenten Umsetzung mechanischer Karussellrotation. Man hört sozusagen ein imaginäres, unwirkliches, erträumtes Karussell, dessen Reiz gerade darin besteht, dass es sich gar nicht gleichmäßig drehen will. Übersteigt hier nicht die Kunst den Trott der profanen Welt? Und gilt nicht letztlich für Levins Beethoven-Darbietung das Gleiche?

[Norbert Florian Schuck, Dezember 2021]

Kleines Beethoven-Vademecum (3): Hans Rosbauds Vermächtnis

SWR Classic, SWR19089CD; EAN: 7 47313 90898

In dieser Folge unseres Kleinen Beethoven-Vademecums werden die bei SWR Classic gesammelt herausgebrachten Beethoven-Aufnahmen eines besonderen Dirigenten vorgestellt: Hans Rosbaud.

Den Symphonien Ludwig van Beethovens dürften sich so viele Dirigenten gewidmet haben wie keiner anderen Gruppe von Orchesterwerken irgendeines Komponisten. Man hat also die Wahl zwischen Unmengen an Gesamteinspielungen und Einzelaufnahmen. Nicht selten liegen von einem Kapellmeister alle oder zumindest einige der Stücke mehrmals auf Tonträgern vor. Wie es bei so ungeheuer populären und entsprechend oft aufgeführten Werken kaum anders der Fall sein kann, geht mit der Vielzahl der Interpreten auch eine Vielfalt der Darbietungsweisen einher, die immense Qualitätsunterschiede einschließt. Wer hat nicht alles versucht, mit Beethoven seine musikalische Visitenkarte abzugeben? Als was ist Beethoven im Laufe der Zeit nicht alles präsentiert worden? Man hat ihn auf Hochglanz poliert, gegen den Strich gebürstet, in metronomisch exakten Gleichschritt gebracht und denselben durch Dauerrubato gezielt vermieden. Beethoven ist des Einen Romantiker und des Anderen Klassizist, für Manchen gar ein alles zertrümmernder Revolutionär. Die Symphonien gibt es „sachlich-nüchtern“ ebenso wie hyperemotional. Der eine Dirigent verspricht uns den „Beethoven fürs 21. Jahrhundert“, der andere will den Komponisten gar nicht aus dem 18. – oder was er dafür hält – herauslassen. Für Non-Vibrato-, Non-Legato- und Staccato-Freunde hat man die Symphonien schon aufgenommen, und auch der Heavy-Metal-Beethoven scheint auf dem Wege zu sein. Abseits der großen Konzerthallen und Plattenproduktionen, abseits der Quellen der Tagesmode, finden sich schließlich die regionalen Klangkörper, die auf ihr Wirken hinweisen möchten. Dass sie dazu gern Beethoven wählen, wer möchte es ihnen verargen? Mit den Werken des meistgespielten Symphonikers lässt sich nun einmal gut zeigen, was ein Kapellmeister in der Provinz mit seinem Orchester leisten kann. Angesichts der großen Zahl an Aufnahmen, die im Laufe der Zeit von Beethovens Symphonien gemacht worden sind, kann man sich durchaus fragen, welche Dirigenten den Kompositionen am ehesten gerecht geworden sind.

„Beethoven was a complete artist“, sagt Donald Francis Tovey zu Beginn seiner leider unvollendet gebliebenen Beethoven-Monographie. Ein vollständiger Künstler – damit ist viel mehr gemeint als nur die vollkommene Beherrschung des Handwerks und die Fähigkeit, es souverän im Dienste der Formung musikalischer Gedanken zu gebrauchen. Letztlich war Beethoven auch einer der vielseitigsten Schöpfer musikalischer Charaktere. Wie jedes seiner Sonatenwerke, von den kurzen, zweisätzigen Klaviersonaten bis hin zum cis-Moll-Streichquartett und zur Neunten Symphonie seine individuelle, nur ihm eigene Form besitzt, so haben sie alle auch ihr persönliches Profil, einen bestimmten Grundcharakter, dem sich aber auch weitere Charakterzüge beimischen können – in Form zum Kopfsatz kontrastierender Sätze, wie auch als Kontraste innerhalb der Sätze selbst. Kurzum: Beethovens liebt es, seine Werke als das zu gestalten, was man in der Wortdichtung „runde Charaktere“ nennen würde. Und wie unterschiedlich ist die Grundstimmung der Stücke! Nicht nur stehen beispielsweise das Violinkonzert, das Vierte Klavierkonzert und die Pastorale in mehr oder weniger direkter Nachbarschaft zur Fünften Symphonie und zur Appassionata. Auch Werke, die gewöhnlich aufgrund ihrer Tonart als zusammengehörige Gruppe betrachtet werden, erweisen sich bei näherer Betrachtung als recht verschieden. So redet man gern von Beethovens c-Moll-Stücken als seien die betreffenden Werke einander charakterlich besonders ähnlich. Aber ist es nicht eher erstaunlich, welch unterschiedliche Akzente Beethoven im ersten Satz der Fünften Symphonie und in der Coriolan-Ouvertüre setzt? Und im Streichquartett op. 18/4, und in der Klaviersonate op. 10/1? Oder nehmen wir uns die zahlreichen Werke in F-Dur vor, in welcher Tonart Beethoven ein Viertel seiner Streichquartette komponiert hat. Kinder vom selben Vater gewiss, aber wie hat doch jedes seinen eigenen Kopf!

Dieser Vielgestaltigkeit der Beethovenschen Erfindungsgabe haben große Musiker in ihren Wiedergaben seiner Werke stets Rechnung zu tragen gesucht. Die Unterschiede zwischen den einzelnen Aufführungen spiegeln die individuelle Herangehensweise der Interpreten wieder, doch lässt sich als gemeinsamer Nenner anführen, dass sie alle darauf aus gewesen sind, den Gedankenreichtum, von dem Beethovens Kompositionen zeugen, klingende Wirklichkeit werden zu lassen, den Komponisten als „vollständigen Künstler“ zu präsentieren. Ein Dirigent, der in diesem Sinne mit besonderem Geschick für die Orchesterwerke gewirkt hat, ist Hans Rosbaud (1895–1962), dessen zwischen 1953 und 1962 mit dem Südwestfunk-Orchester Baden-Baden aufgezeichnete Beethoven-Aufführungen von SWR Classic im Jahr 2020 auf sieben CDs veröffentlicht worden sind.

Man hat bereits zu seinen Lebzeiten versucht, Rosbaud Etiketten aufzukleben, ihn in Schubladen einzusortieren – in recht unterschiedliche Schubladen! Rosbaud selbst stellte fest, dass er in Donaueschingen als Modernist galt, in Aix-en-Provence als Mozartianer, in München als Bruckner-Dirigent. Nun, die Leute hatten Recht – wie auch diejenigen Recht hatten, die Rosbaud besonders mit Mahler assoziierten, und auch die, für die er aufgrund seiner von der Deutschen Grammophon produzierten LP mit Orchesterstücken Sibelius‘ ein bedeutender Sachwalter dieses Komponisten war. Ja, Rosbaud war dies alles. Nur eines war er nicht, und wollte es auch nie sein: ein einseitiger Spezialist. Am dauerhaftesten hielt sich nach seinem Tode sein Ruf als Förderer der Avantgarde, was insofern berechtigt war, als dass kein anderer Dirigent sich nach dem Zweiten Weltkrieg so energisch dafür einsetzte, die Werke Schönbergs und seiner Schüler dem Musikleben Deutschlands zurückzugewinnen und kein anderer auf den Donaueschinger Musiktagen so viele Uraufführungen junger Avantgardisten dirigierte, darunter Ligetis Atmosphères und Pendereckis Fluorescences. Auch die Uraufführung von Schönbergs Moses und Aron (konzertant Hamburg 1954, szenisch Zürich 1957) gehört zu Rosbauds Verdiensten. Allerdings beschränkte sich sein Einsatz für neue Musik keineswegs auf zwölftönige, serielle und postserielle Stücke. So zählen zu den von Rosbaud uraufgeführten Werken ebenso Johann Nepomuk Davids Erste und Karl Amadeus Hartmanns Zweite Symphonie, die jeweils einzigen Symphonien des bayrischen Spätromantikers Heinrich Kaspar Schmid und des im Krieg getöteten Jarnach-Schülers Leo Justinus Kauffmann, sowie die Ouvertüre zu einem frohen Spiel von Joseph Haas. Beinahe wäre er auch Uraufführungsdirigent der Zweiten Symphonie Wilhelm Furtwänglers geworden, doch entschied sich der Komponist letztlich, das Werk selbst als erster herauszubringen.

In einer autobiographischen Skizze (kurz nach seinem Tode 1963 veröffentlicht in: Das musikalische Selbstportrait, hrsg. von Josef Müller Marein und Hannes Reinhardt) schrieb Rosbaud, er sei „im Laufe der Zeit dahinter gekommen, daß all diese verschiedenen Dinge, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben, sich in Wirklichkeit zu einem Großen und Ganzen ergänzen“. Damit meinte er nicht nur die alte und die neue Musik und ihre verschiedenen Stilrichtungen, sondern auch außermusikalische Wissensgebiete, wie Sprachen (er las Altgriechisch und Latein und sprach fünf lebende Sprachen fließend) und „naturwissenschaftliche Dinge“, wie Kernphysik, die den „leidenschaftlichen Mathematiker“ (wie ihn Müller-Merein nennt) „unendlich fessel[te]n“. Es machte ihn glücklich, sich „immer wieder neue und möglichst schwere Aufgaben“ zu stellen, „die ich lösen will“. Zu diesem Bild eines vielseitig interessierten Menschen passt, dass Rosbaud sich als ausübender Musiker nicht nur auf das Dirigieren beschränkte. So trat er immer wieder auch als Pianist in Erscheinung und hat diesen Teil seines Wirkens durch mehrere Aufnahmen dokumentiert, beispielsweise als Liedbegleiter von Boris Christoff oder Elisabeth Schwarzkopf. Mit Maria Bergmann und den Schlagzeugern Werner Grabinger und Erich Seiler nahm er Béla Bartóks Sonate für zwei Klaviere und Schlagzeug auf. Zu Beginn seiner Laufbahn komponierte er auch häufiger. Vielleicht würde es sich lohnen, einmal eines der Werke Rosbauds zur Aufführung zu bringen? Es ist jedenfalls denkbar, dass der Schüler Bernhard Sekles‘ auch auf diesem Gebiet Tüchtiges geleistet hat. Ein Klaviertrio von ihm wurde übrigens unter Mitwirkung seiner Mitschüler Paul und Rudolf Hindemith zur Uraufführung gebracht.

Rosbaud wuchs sozusagen nach guter alter Sitte in das Kapellmeisterhandwerk hinein, nämlich als ein Musiker, der beinahe alle Orchesterinstrumente spielen gelernt hatte. Sein Lehrer Sekles stellte ihm deshalb folgendes Zeugnis aus: „Er ist auf diese Weise in der Lage, den einzelnen Orchestermusikern Ratschläge zu geben, wie es heutzutage kaum einem Dirigenten möglich ist. Da sich zu all diesen Eigenschaften eine durchaus ideal gerichtete Gesinnung, eine seltene Begeisterungsfähigkeit und ein stählerner Wille gesellt, nicht zuletzt auch die Fähigkeit, diesen Willen in der bezwingendsten Form durchzusetzen, so ist Hans Rosbaud für jedes Musikinstitut ein unschätzbarer Gewinn.“

Bei jeder Aufgabe, die er sich stellte, ging Rosbaud mit untrüglicher Professionalität ans Werk. Um eine möglichst gelungene Aufführung zu garantieren, scheute er auch vor überdurchschnittlich vielen Proben nicht zurück. Zugleich war er in der Lage, eine ihm neue Partitur in kürzester Zeit zu erfassen. Beide Eigenschaften bewährten sich bei den Uraufführungen von Schönbergs Moses und Aron: Zur Vorbereitung der konzertanten Premiere standen ihm nur wenige Tage zur Verfügung, da er kurzfristig für den eigentlich vorgesehenen Dirigenten Hans Schmidt-Isserstedt eingesprungen war; für die szenische Premiere nahm er sich dann außerordentlich viel Zeit: Laut Kurt Honolka (Knaurs Weltgeschichte der Musik, 1979) modellierte Rosbaud das schwierige Werk in nicht weniger als 324 Einzelproben. „Ehe wir die Partitur nicht vollkommen servieren, werden wir sie nicht beurteilen können!“, hat er bei anderer Gelegenheit einmal geäußert. Dies kann als Maxime seines Arbeitens als ausführender Musiker gelten.

Rosbaud hatte in den 20er Jahren zu den Pionieren orchestralen Musizierens im Rundfunk gehört. In der Nachkriegszeit wurde das Südwestfunk-Orchester Baden-Baden zum Zentrum seines Wirkens, dessen Chefdirigent er von 1948 bis zu seinem Tode war. Ihm zu Ehren wurde das Baden-Badener Aufnahmestudio des Senders in „Hans-Rosbaud-Studio“ umbenannt. (Es ist geplant, diese wichtige Spielstätte deutscher Musikgeschichte 2024 abzureißen.) Einige seiner Aufnahmen mit dem Südwestfunk-Orchester sind seit längerer Zeit auf dem Markt verfügbar, doch erst vor wenigen Jahren wurde damit begonnen, Rosbauds Vermächtnis beim SWR systematisch zu veröffentlichen. Die von SWR-Classic herausgebrachte Reihe hat mittlerweile den stattlichen Umfang von zwölf Folgen erreicht, von denen die Hälfte sechs bis neun CDs stark sind. Man kann Rosbaud erleben mit: Haydn, Mozart, Beethoven, Weber und Mendelssohn, Chopin, Schumann, Wagner, Bruckner, Brahms, Tschaikowskij, Mahler sowie Sibelius. Weitere werden hoffentlich bald folgen. Die Beethoven- und Mahler-Editionen enthalten auch Aufnahmen mit dem Kölner Rundfunk-Sinfonie-Orchester, das von Rosbaud ebenfalls häufig dirigiert wurde.

Als Beethoven-Dirigent ist Rosbaud bei SWR Classic auf insgesamt sieben CDs dokumentiert. Die Edition umfasst die Symphonien Nr. 1–3 und Nr. 5–8 (die Achte findet sich in zwei Aufnahmen von 1956 und 1961), fünf Ouvertüren (Coriolan, Egmont, Fidelio, König Stephan, Leonore III), sowie an konzertanten Werken das Violinkonzert, das Fünfte Klavierkonzert und das Tripelkonzert (mit durchweg hervorragenden Solisten: Ginette Neveu, Robert Casadesus, und dem wie ein Instrument spielenden Trio di Trieste). Eine umfangreiche Werkliste – und doch ein Fragment. Die Vierte und die Neunte Symphonie vermisst man umso schmerzlicher, da Rosbaud (man möchte sagen: natürlich) alle Beethoven-Symphonien im Repertoire gehabt und diese mitunter auch zyklisch in Konzertreihen präsentiert hat. Auch anhand der weiteren Folgen der Edition wird deutlich, dass leider nur von einem Teil der Werke, die Rosbaud dirigiert hat, Aufnahmen auf uns gekommen sind. Von den oben genannten Symphonikern liegen nur im Falle von Brahms alle Symphonien vor (dafür Nr. 1 und Nr. 3 in zwei Aufnahmen). Bei Bruckner und Mahler bietet sich ein ähnliches Bild wie bei Beethoven: Von Mahler fehlen alle Symphonien mit Chor, von Bruckner die Nr. 1. Letzteres Werk möge kurz zum Anlass dienen darauf hinzuweisen, dass einst mehr Aufnahmen Rosbauds existiert haben müssen. So erwähnt Robert Simpson 1950 in der Zeitschrift Music Survey, dass Einspielungen der Ersten, Zweiten, Vierten, Sechsten und Achten Symphonie Bruckners durch die Münchner Philharmoniker unter Rosbauds Leitung vom Third Programme der BBC ausgestrahlt worden sind. Aller Wahrscheinlichkeit nach handelte es sich um Aufnahmen des Bayerischen Rundfunks. Was ist aus ihnen geworden? Wurden sie gelöscht, oder darf man hoffen, dass sie sich erhalten haben? Mindestens von einem Werk Beethovens, das in der SWR-Edition nicht enthalten ist, ist eine Aufführung Rosbauds aus früherer Zeit überliefert: 1940 hatte er mit dem Orchester des Deutschlandsenders die Ouvertüre Die Weihe des Hauses aufgenommen.

Aber schauen wir nicht zu lang auf die Lücken, sondern freuen wir uns an dem, was wir haben, denn dies ist letzten Endes eine beträchtliche Anzahl Aufnahmen, sämtlich dargeboten in überragender Qualität. Die ersten beiden Symphonien hat Rosbaud mit dem Kölner Rundfunk-Sinfonie-Orchester eingespielt, die übrigen in der SWR-Box präsentierten Werke mit seinem Stammorchester vom Baden-Badener Südwestfunk. Hört man hinein, fällt zunächst die Gediegenheit des Orchesterspiels auf. Mit der ihm eigenen Sorgfalt hat Rosbaud in intensiver Probenarbeit die verschiedenen Klanggruppen aufeinander abgestimmt und an keiner Stelle des musikalischen Verlaufs das klingende Ergebnis dem Zufall überlassen. Überall spürt man die genau modellierende Hand eines Musikers, der das Orchester als ein großes, vielstimmiges Instrument begreift und die Möglichkeiten der Artikulation, die es ihm bietet, ausgiebig nutzt. Beethovens Kontrapunkt findet in ihm einen idealen Darsteller, denn Rosbaud ist im polyphonen Satz hörbar in seinem Element. Nicht nur die fugierten Abschnitte kommen wunderbar zur Geltung, auch im schlichter gestalteten Tonsatz behält der Dirigent Nebenstimmen stets im Blick, weiß, dass eine Begleitung eine wichtige zweite Ebene ist, die im Hintergrund deutlich präsent sein muss. Dadurch werden auch die Feinheiten der Instrumentation Beethovens erlebbar. Rosbaud erzeugt einen tiefen, vielschichtigen Orchesterklang, macht deutlich, wie abwechslungsreich Beethoven seine musikalischen Gedanken instrumental eingekleidet hat.

Man kann Rosbaud wohl einen analytischen Musiker nennen, doch trifft man damit nur eine Seite seines Wesens. Dass seine Durchleuchtung von Beethovenschen Instrumentation und Tonsatz so intensiv wirkt, verdankt sich dem Umstand, dass Rosbaud ein untrügliches Empfinden für melodische Entwicklung und damit für Tonalität und Formung besaß. Die erklingende Musik ist stets im Fluss, nimmt eine bestimmte Entwicklung. Nie verliert der Dirigent den Überblick über den Zusammenhang, in welchem die gerade gespielten Töne stehen, ob sie Spannung aufbauen, oder zu einer Entspannungsepisode gehören. Besondere Aufmerksamkeit wendet er Phrasenenden zu, jenen Stellen, die den Übergang von einer musikalischen Sinneinheit zur nächsten markieren. Weniger achtsamen Dirigenten geht gerade hier oft der rote Faden verloren. Rosbaud, der die Musik in großen Zusammenhängen erfasst, führt das Orchester sicher von einer Phrase zur nächsten, lässt die musikalische Handlung als Folge weitgeschwungener Perioden entstehen. Wie Rosbaud mit den Kräften Haus hält, lässt sich gut anhand des Kopfsatzes der Sinfonia eroica nachvollziehen. So entwickelt er zu Beginn nach den zwei Orchesterschlägen, in denen er die Bläser deutlich hervortreten lässt, die Musik in langem Crescendo auf das Sforzato des zehnten Taktes hin. Dieses lässt er nicht als grobe Betonung des ersten Taktschlags eintreten, sondern als nochmaliges kurzes Aufblühen, wodurch der Hauptakzent der Periode auf eine leichte Taktzeit hinübergezogen und die Metrik zusätzlich belebt wird. Danach herrscht spannungsvolles Piano in den deutlich pochenden Streichern. Die „Echoeffekte“ stehen nicht isoliert, sondern sind als Glieder einer langen Melodie wahrzunehmen. Nach Erreichen des Beinahe-Tutti in Takt 23 (fp) achtet Rosbaud darauf, dass die Akkordbrechungen der zweiten Violinen und Celli nicht zugedeckt werden. Die anschließenden, von Synkopen und Sforzati geprägten Takte erscheinen bei aller Schärfe der Artikulation als eine ausgedehnte, gleichmäßige Klangfläche, in welcher die Spannung festgehalten wird, damit sie beim eigentlichen Höhepunkt in Takt 37 umso wirkungsvoller entladen werden kann. Im letzten Takt dieses Tuttis lässt Rosbaud die Lautstärke ganz leicht abschwellen, um den folgenden leisen Abschnitt nicht zu stark abgehoben erscheinen zu lassen. Der Dirigent hat immer im Blick, was als nächstes folgt. Beeindruckend gelingt ihm die Vermittlung zwischen schroffsten Gegensätzen in der Mitte der Durchführung: Auf dem Höhepunkt des ersten Durchführungsteiles werden die schreienden Dissonanzen unerbittlich durch markiertes Spiel betont, und auch im anschließenden Diminuendo der Streicher wird das Marcato bis zum Phrasenende durchgehalten, wenn die Musik ins Piano übergeht, in welchem dann das e-Moll-Thema einsetzt. Der Neuheit dieses zuvor nicht erklungenen Gedankens Rechnung tragend, entlockt Rosbaud seinen Musikern hier ein so inniges Cantabile, wie man es im ganzen Satz noch nicht gehört hat.

Rosbaud lässt sich im allgemeinen Zeit. Er hat offensichtlich die von Beethoven nachträglich den Werken hinzugefügten Metronomzahlen nicht als verpflichtend empfunden, konnte denjenigen Dirigenten nachfolgender Generationen also kein Vorbild sein, die sich anschickten, diese Vorgaben „historisch informiert“ in die Praxis umzusetzen. Dass die einst herrschenden Zweifel an der Richtigkeit der Beethovenschen Metronomangaben in jüngerer Zeit erneut aufgekommen sind – die These Almudena Martín Castros und Iñaki Úcar Marqués‘, dass Beethoven Mälzels Metronom schlicht falsch abgelesen und deswegen durchweg zu rasche Tempi notiert hat, hat einiges für sich –, sollte zum Anlass genommen werden, von der Idee, es gäbe absolut richtige Tempi, die in jeder Aufführungssituation unbedingt zu beachten wären, Abstand zu nehmen, und die Tempowahl eines Dirigenten danach zu beurteilen, in wie fern damit der Dramaturgie des aufgeführten Werkes Rechnung getragen wird. Dass Rosbaud gemessene Tempi kein Selbstzweck sind, zeigt sich anhand der Einleitung zur Siebten Symphonie, die er, verglichen mit den Eröffnungen der Ersten und Zweiten, ziemlich zügig dirigiert, und im zweiten Satz dieses Werkes, der ein echtes Allegretto ist. Seine Zeitmaße erscheinen im Hinblick darauf gewählt, wichtige Details zur Geltung zu bringen und den Zusammenhalt aller Abschnitte des jeweiligen Satzes zu gewährleisten. Darum sind sie „richtig“. Das relativ breite Grundtempo des Finales der Fünften Symphonie beispielsweise (10 Minuten ohne Wiederholung) bewährt sich in zweierlei Hinsicht: Zum einen wird es dem hymnischen Charakter der Hauptthemen gerecht, zum andern ermöglicht es, die Geschwindigkeit in der Coda zum Presto zu beschleunigen, ohne dass es dabei übereilt zugeht. Die letzten Takte der Symphonie, in denen vielen Dirigenten im wahrsten Sinne des Wortes der Atem ausgeht, erfüllt Rosbaud bis zum Schluss mit Spannung. Überhaupt fasst er rasche, laute Werkschlüsse nie als Anhängsel auf, in denen sich die Musiker tumultuarisch gehen lassen dürfen. Immer weiß er seinen Orchestern gegen Ende noch ungeahnte Kräfte zu entlocken, die deutlich machen, dass er seine Aufführung gezielt auf diese Momente hin angelegt hat: Man höre etwa, wie prachtvoll sich die Schlüsse der Zweiten Symphonie, der Leonoren- und der Egmont-Ouvertüre entfalten, wie erhaben Beethoven hier klingt!

Rosbaud wird oft als ein „sachlicher“ Dirigent bezeichnet. Wenn man darunter einen bloßen Notenwiedergeber versteht, der sich nicht um das schert, was im Notentext nicht steht, so wäre das eine Fehleinschätzung. Berechtigt erscheint das Wort, wollen wir darunter einen Musiker verstehen, der der Sache, also dem Werk, auf den Grund geht, um dessen Eigenarten zur Geltung zu bringen, der – um Rosbauds eigene Worte zu benutzen – die Partitur „vollkommen serviert“. Was aber lässt sich unter einer solchen Vollkommenheit anderes denken, denn eine meisterhafte Komposition als einen „runden Charakter“ erfahrbar zu machen? An Rosbauds Beethoven-Einspielungen fasziniert letztlich vor allem, dass der Dirigent tatsächlich die Vielseitigkeit dieser Musik zu erfassen sucht und sie nicht durch einseitige Interpretation einebnet. Das zeigt sich namentlich an der immer wieder begegnenden Mischung „harter“ und „weicher“ Artikulation, die komplexe Szenarien schafft, etwa wenn im Allegretto der Siebten Symphonie der gleichförmige Grundrhythmus des Satzes hart und markant, die darüber erklingende Melodie aber ausgesprochen gesanglich gespielt wird, oder im Fugato des Trauermarsches der Eroica das Gegeneinander von Staccato und Legato deutlich hörbar ist. Im Trio der Achten Symphonie – nach einem in seiner Mischung aus Derbheit und Grazie wunderbar getroffenen Menuett – entlockt der oft als nüchtern verschrieene Dirigent den Hörnern und Klarinetten Töne wärmster Waldesromantik, zu kernigen Triolen der Celli. Wie hoch steht diese Kunst über dem handwerklich präzisen, aber geistlosen Töneaufsagen der Gielen und Boulez (die Rosbaud auch als Schönberg-Dirigent weit überragt) einerseits und dem oberstimmen-, meist violinbetonten, mit verschwommener Begleitung unterfütterten Weichspülstil eines Karajan anderseits!

Man kann SWR Classic gar nicht genug danken für die Veröffentlichung dieser Beethoven-Aufnahmen. Sie dokumentieren das von ebenso großer Sorgfalt wie Einfühlsamkeit geprägte Musizieren eines außerordentlichen Dirigenten, der im besten Sinne ein Sachwalter der von ihm aufgeführten Werke gewesen ist. „Beethoven was a complete artist“ – wer ihn als solchen kennen lernen möchte, dem seien die Rosbaud-Aufnahmen wärmstens ans Herz gelegt.

[Norbert Florian Schuck, Dezember 2021]

Der Komponist Wilhelm Furtwängler und seine Gegner (1)

Am 30. November 2021 jährt sich Wilhelm Furtwänglers Todestag zum 67. Mal – kein runder Jahrestag zwar, nichtsdestoweniger ein guter Anlass, mit seinen Kritikern ins Gericht zu gehen, nämlich: kritisch zu betrachten, was sich an Vor- und Fehlurteilen über Furtwänglers Kompositionen in jahrzehntelanger Wiederholung verkrustet hat. Der erste Teil widmet sich einer ausführlichen Darstellung und Widerlegung der drei großen Vorurteile über den Komponisten Wilhelm Furtwängler.

Über wenige große Komponisten ist so viel Unsinn geschrieben worden wie über Wilhelm Furtwängler. Vorurteile gegen seine Musik lassen sich noch in Literatur finden, die Jahrzehnte nach seinem Tod erschienen ist. Ja, man kann sagen, es hat sich seit seinen Lebzeiten eine Tradition der Schmähung des Komponisten Furtwängler gebildet. Ihr Vokabular ist arm und darum repetitiv. Immer wieder liest man die gleichen wenig bis nichts sagenden Floskeln, die sich letztlich gegen ihre Urheber richten. Sie sind teils ideologischer Art, teils schlicht auf die Unfähigkeit der Autoren zurückzuführen, den Verlauf der Werke nachzuvollziehen, und natürlich verquickt sich beides häufig.

Es lassen sich innerhalb der entsprechenden Literatur drei Haupttendenzen feststellen. Handeln wir sie ab!

Vorurteil Nr. 1: Der nicht in seine Zeit Gehörige

Der vielleicht beliebteste Vorwurf, der gegen Furtwänglers Musik erhoben wird, ist der, sie sei (um es in abgegriffenen Floskeln auszudrücken) nicht „auf der Höhe der Zeit“ oder würde „den Forderungen der Zeit“ nicht gerecht. Das liest sich dann etwa so:

So vermag er nicht zu spüren, dass die Epoche der romantischen Aussage heute der Vergangenheit angehört, nachdem ihr Kreis völlig abgeschritten war. Dies aber will der Komponist Furtwängler nicht wahrhaben. […] Was einst die Unschuld in der Musik zu manifestieren vermochte, was von der Natürlichkeit der Aussage gezeichnet war, was einst aus dem tonalen Kadenzprinzip einen lebendigen Organismus schuf, das ist heute steril und erschöpft. Furtwänglers Zweite Symphonie in e-Moll ist dafür ein Beweis.“ (Süddeutsche Zeitung, 10. Januar 1950)

Da forscht ein unermüdlicher Sinnsucher und hofft wie Parsifal auf Erlösung im Reich der Klänge, verweigert sie sich aber immer wieder selbst, indem er, diesmal eher ein Don Quijote, anrennt gegen die Windmühlen seiner Zeit.“ (Rondo, 5. September 2002)

Bei ihrer Uraufführung [gemeint ist die Symphonie Nr. 2] rührte sie die Frage des Spätgeborenen an, dessen Tragik es ist, die Sprache einer Zeit zu sprechen, die er existenziell längst verlassen hat.“ (Kurier, 21. September 1954)

In seiner zweiten Symphonie unternimmt Furtwängler den Versuch – wir wiederholen uns, Verzeihung – [Ja, ihr wiederholt euch, Verzeihung!] – fünfzig Jahre Musikentwicklung zu negieren und wieder in der Tonsprache der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts zu sprechen.“ (Münchner Merkur, 15. Dezember 1954)

Äußerungen dieser Art gehen von dem Gedanken aus, dass sozusagen von „der Geschichte“ selbst (also von wem?) regelmäßig Parolen ausgegeben werden, was gerade als zeitgemäß und darum als bedeutend zu gelten habe, und jeder, der sich nicht an diese Vorgaben hält, mit Nichtbeachtung oder gar Verachtung abzustrafen sei. Hierbei wird mit der Schere im Kopf gedacht, denn es läuft darauf hinaus, die Existenz aller Phänomene zu leugnen, die nicht ins geistige Prokrustesbett der jeweiligen Autoren passen. Das Geleugnete ist aber nichtsdestoweniger da! Ein solches Denken verhindert von vornherein ein ganzheitliches Erfassen historischer Epochen, in welchen ja stets Traditionen und Neuerungen nebeneinander existiert haben und existieren. Zu welchen Ergebnissen dieses Scherendenken führt, zeigt folgender Passus aus Diether de la Mottes Harmonielehre (Kassel 1976, S. 261):

10 bis 30 Jahre nach entschiedener Abkehr der meisten Komponisten von der Dur-Moll-Tonalität und dem Prinzip des Klangaufbaus durch Terzenschichtung entwickelten Schönberg und Hauer unabhängig voneinander unterschiedliche Zwölftontechniken, formulierte Hindemith in seiner ‚Unterweisung‘ die Gesetze seiner neuen Harmonik, stellte Messiaen eine neue modale Ordnung auf.“

Es lohnt sich, intensiv über diesen Satz nachzudenken, namentlich über die „Terzenschichtung“! Im jetzigen Zusammenhang soll lediglich die „Abkehr der meisten Komponisten von der Dur-Moll-Tonalität“ interessieren, die der Autor, rechnet man nach, auf um 1910 ansetzt. Noch einmal: Die Abkehr der meisten Komponisten von der Dur-Moll-Tonalität um 1910! Ich will de la Motte gar nicht vorwerfen, dass er mit Absicht unwahre Behauptungen in die Welt gesetzt hätte. Nein, er sprach einfach direkt aus, was für ihn und viele seiner Zeitgenossen Wahrheit war. So weit konnte es nur kommen, weil die Scheren in den Köpfen so sauber schnitten, dass die Menschen gar nicht mehr bemerkten, dass geschnitten wurde. Wer also nach 1910 in Dur und Moll komponierte, den gab es im Bewusstsein gewisser Autoren und ihrer Leser gar nicht mehr, und wenn doch noch jemandem der Name eines solchen Komponisten geläufig war, so konnte dieser für seine Werke jedenfalls nicht die hohe Ehre in Anspruch nehmen, zur Musik des 20. Jahrhunderts dazuzugehören! (Es fragt sich natürlich auch, ob nicht in Hindemith mehr Dur und Moll steckt, als de la Motte wahrhaben will. Und was ist mit Prokofjew, Schostakowitsch, Chatschaturjan, Walton, Britten, Barber, Poulenc, Milhaud, Honegger, um nur einige der populärsten zu nennen, die #- und b-Vorzeichnungen, ja gar C-Dur nicht gescheut haben?) Dass gegen Ende des 20. Jahrhunderts plötzlich ganze Serien von CDs mit in unzweideutigem Dur und Moll komponierter Musik ebendieses 20. Jahrhunderts auf dem Markt erschienen, ist die logische Folge dieser Verdrängung. Man merkte schließlich allgemein, dass mehrere Generationen von Musikgeschichtsschreibern und Journalisten bei sich und anderen die Schere angesetzt hatten, und fragte völlig zurecht, was da weggeschnitten wurde. Der Schluss, der aus dieser Geschichte folgt, lautet: Musik des 20. Jahrhunderts ist Musik, die zwischen 1901 und 2000 entstanden ist. Jede andere Definition ist ideologisch motiviert.

Erst wenn man erkannt hat, dass Wilhelm Furtwängler eine genauso charakteristische Erscheinung seiner Epoche ist wie beispielsweise Arnold Schönberg, Igor Strawinsky, Paul Hindemith (drei Komponisten, deren Werke er dirigierte, obwohl er sie nicht sonderlich mochte), wird man ein lebendiges Bild dieser Epoche gewinnen können, wird man eine Vorstellung davon bekommen, welche Spannungen in ihr wirksam waren. Dann erweist sich die Behauptung, Furtwänglers Werke hätten fünfzig, ja siebzig Jahre zuvor komponiert werden können als das, was sie ist: ein Trick, den gewisse Autoren anwenden, um ihr auf Verdrängung gegründetes Musikgeschichtsbild aufrecht erhalten zu können. Fakt ist dagegen, dass auch Komponisten, die nicht versuchen, sich vom Dur-Moll-System zu lösen, um 1950 anders komponieren als ihre Kollegen um 1880. Will denn jemand wirklich im Ernst behaupten, ein Stück wie der Finalsatz der Dritten Symphonie Furtwänglers hätte im 19. Jahrhundert, etwa von einem Generationsgenossen Brahms‘ und Bruckners, geschrieben werden können? Sehen wir uns unter den Komponisten des deutschsprachigen Raumes in Furtwänglers Generation um, so finden wir etwa Ernst von Dohnanyi, Fritz Brun, Karl Weigl, Joseph Marx, Walter Braunfels, Egon Wellesz, Ernst Toch, Heinz Tiessen, Max Trapp, Gustav Geierhaas, Wilhelm Petersen, Philipp Jarnach, Erich Wolfgang Korngold. Auch sie schrieben Symphonien in klarem Dur und Moll, und auch diese Werke klingen anders als Symphonien der Zeit vor 1900. Hier eine historische Entwicklung zu leugnen, ist sinnlos.

Vorurteil Nr. 2: Der komponierende Dirigent

Das zweite große Vorurteil besagt, dass Furtwänglers Dirigententätigkeit seiner Entfaltung als Komponist hinderlich gewesen sei. Seine Kompositionen seien lediglich Aufgüsse der großen Meisterwerke, die er regelmäßig dirigierte. Es ist dies der Vorwurf der stilistischen Uneigenständigkeit und Unpersönlichkeit. Zur Beantwortung der Frage, ob ein großer Dirigent auch gut komponieren könne, genügt es, ein paar Namen zu nennen: Mahler, Strauss, Pfitzner und Reger, auch Mendelssohn, Schumann, Liszt, Wagner und Weber, Haydn und Bach, nicht zu vergessen Schütz und Praetorius, Lasso und Palestrina, sind dauerhaft oder zumindest zeitweise hauptberufliche Kapellmeister gewesen. Furtwängler war völlig im Recht, als er einmal bemerkte, dass es der natürliche Zustand sei, wenn ein Komponist sich auch als ausführender Musiker betätigt. Er selbst war ja nicht nur Komponist und Dirigent, sondern auch ein ausdrucksstarker Pianist, wie seine Aufnahmen Wolfscher Lieder und des Fünften Brandenburgischen Konzerts belegen – ein wahrhaft universaler Musiker! Seine Dirigentenlaufbahn begann er mit 20 Jahren, nachdem er bereits ungefähr 100 kleinere Stücke und eine Symphonie komponiert hatte. In seinem ersten öffentlichen Konzert 1906 erklang, wie in seinem letzten 1954, eine eigene Komposition. Als der jugendliche Furtwängler bei Josef Rheinberger und Max Schillings studierte – auch sie zugleich Komponisten und Dirigenten –, deutete noch gar nichts darauf hin, dass er einmal der berühmteste deutsche Kapellmeister werden würde, wohl aber alles auf eine Laufbahn als Komponist. Er war also kein Dirigent, der irgendwann begann sich einzureden, dass er auch komponieren müsse. Der Dirigent Furtwängler ist jünger als der Komponist.

Der Versuch, den Dirigenten Furtwängler gegen den Komponisten in Stellung zu bringen, konnte nur deshalb mit solcher Hartnäckigkeit durchgeführt werden, weil Furtwängler zu den ersten Dirigenten gehört, die ihr Repertoire umfassend auf Tonträgern festhalten konnten. Die Leistung des Dirigenten wurde so der Nachwelt überliefert und verschwand nicht in der Legende. Um sich die Bedeutung dieses Umstands zu verdeutlichen, denke man an Arthur Nikisch, Furtwänglers Vorgänger in Leipzig und Berlin. Wie wenig ist von ihm dokumentiert! Beethovens Fünfte, kürzere Stücke von Berlioz, Liszt und Mozart. Gewiss handelt es sich um Teile seines Kernrepertoires, aber was fehlt nicht alles: Die übrigen Beethoven-Symphonien, die Bruckner-Symphonien, von denen er die Siebte uraufgeführt hat, Brahms, Tschaikowskij, Felix Draeseke, für den er sich ähnlich stark gemacht hat wie später Furtwängler für Max Trapp und Heinz Schubert. Dem steht bei Furtwängler eine große Anzahl Aufnahmen gegenüber, deren Repertoire sich von Bach und Händel bis Ernst Pepping, Wolfgang Fortner und Karl Höller erstreckt. Freilich handelt es sich bei diesem Fundus letztlich um ein monumentales Fragment, gibt es doch nur vergleichsweise wenige Operngesamtaufnahmen (etwa von Wagner nur den Ring und Tristan) und Aufnahmen zeitgenössischer Musik (schmerzlich bedauert man etwa den Verlust der Konzertmitschnitte von Symphonien Frommels, Hessenbergs und Waltons), aber es genügt, ein umfassendes Bild vom Wirken des Dirigenten zu erhalten. Der Dirigent Furtwängler ist kein toter Musiker, den man nur aus der verbalen Überlieferung kennt. Anders als Dirigentenlegenden wie Felix Mendelssohn Bartholdy, Carl Maria von Weber, Hans von Bülow, Fritz Steinbach, Ernst von Schuch blieb Furtwängler lebendig. Er dirigiert mittels Tonträgern mittlerweile für ein Publikum, das ihn nie gesehen hat.

Dagegen sieht es bei den etwas älteren Kapellmeister-Komponisten wie Strauss, Pfitzner, Schillings, Zemlinsky, Hausegger, Weingartner nicht wesentlich anders aus als bei Nikisch. Als einziger von ihnen hat Weingartner mit den Beethoven- und Brahms-Symphonien komplette Werkzyklen festgehalten. Von Schillings, Strauss und Pfitzner gibt es einige Aufnahmen eigener Werke, aber wenig Historisches und abgesehen von ihnen selbst nichts Zeitgenössisches, obwohl auch sie Uraufführungen anderer Komponisten geleitet haben. Gar keine Aufnahmen hinterlassen haben beispielsweise Jean-Louis Nicodé, Wilhelm Berger, Richard Wetz, Felix Woyrsch, Paul Büttner, Hermann Suter, Fritz Volbach. Diese Musiker haben nicht anders als Furtwängler einen Großteil ihres Lebens als Dirigenten zugebracht. Sie sind uns heute aber nur noch als Komponisten greifbar. Ihre Werke können wir spielen, ihre Aufführungen sind für immer verloren. So verhält es sich (abgesehen von wenigen Klavierrollen eigener Stücke) auch mit Gustav Mahler, dem seinerzeit berühmtesten Operndirigenten der Welt, dessen Symphonien und Lieder heute berechtigten Weltruhm genießen, wohingegen sie zu seinen Lebzeiten regelmäßig den Vorwurf über sich ergehen lassen mussten, nachempfundene „Kapellmeistermusik“ zu sein. War es für den Komponisten Mahler vielleicht letzten Endes ein Vorteil, dass die Kunst des Dirigenten Mahler mit seiner sterblichen Hülle verfrüht ins Grab sank? Wäre ein über seine Lebenszeit hinausreichender Dirigentenruhm vielleicht ebenso gegen seine Musik in Stellung gebracht worden, wie in Furtwänglers Fall?

Über Mahler sagt man, er war „Komponist und Dirigent“. Niemandem würde es heute mehr einfallen, ihn als „komponierenden Dirigenten“ zu bezeichnen. Dies würde als eine Minderung seines künstlerischen Ranges, ja als eine Schmähung gedeutet werden. Derjenige, der sich so äußerte, würde Gelächter auf sich ziehen. Furtwängler dagegen findet sich in der Literatur verschiedentlich als „komponierender Dirigent“ abgehandelt (so im Artikel „Symphonie“ in der zweiten Auflage der MGG). Wie definiert man aber, wer „komponierender Dirigent“ und wer „Komponist und Dirigent“ ist? Wenn Mahler kein „komponierender Dirigent“ ist und wenn, wie ich meine, diese Bezeichnung auch auf Furtwängler zu Unrecht angewendet wird, so lässt sich darunter wohl nur ein hauptberuflicher Kapellmeister verstehen, der das Komponieren nicht als sein wesentliches Betätigungsfeld erachtet, aber eben „auch“, „nebenbei“ „ein bisschen“ komponiert und ein Schaffen vorlegt, in dem es keine „Hauptwerke“ gibt. „Komponierende Dirigenten“ wären dann etwa Hermann Abendroth, Clemens Krauss, Rolf Agop, Günter Wand, Herbert Kegel. Sie alle beschränkten sich auf kleine Formen (Lieder) oder komponierten nur zu bestimmten Gelegenheiten (Bühnenmusiken). Dann gibt es Fälle, in denen ein Musiker zu Anfang seiner Laufbahn komponiert und dirigiert, jedoch zu einem frühen Zeitpunkt das Komponieren ganz aufgibt, um nur noch als Nachschaffender zu wirken. Dazu zählen beispielsweise Hans von Bülow, Bruno Walter, Carl Schuricht, Hans Rosbaud, George Szell, Igor Markevitch, auch Walter Rabl, der letzte Protegé von Johannes Brahms. Von ihnen gibt es zum Teil sehr ambitionierte Kammermusik- und/oder Orchesterwerke, zu welchen die Komponisten nach Ende ihrer schöpferischen Laufbahn sehr verschiedene Standpunkte einnahmen: Während etwa Szell im späteren Leben Aufführungen seiner Kompositionen zu verhindern suchte, war sich Markevitch gewiss, dass die Nachwelt die seinen zu schätzen wissen würde. Furtwängler fällt auch nicht in diese Kategorie schaffender Nachschaffender. Er gab das Komponieren eben nicht auf, fing viel mehr als beinahe Fünfzigjähriger erst richtig damit an.

Hier sind wir bei einem Sachverhalt angelangt, der viele Kommentatoren irritiert hat, nämlich der Tatsache, dass Furtwängler zwischen dem Te Deum (1909) und dem Klavierquintett (1935) – also während mehr als zweieinhalb Jahrzehnten – keine Komposition vollendete. Es mag in der Tat bizarr erscheinen, dass von diesem Komponisten nur Jugendwerke und relativ späte Arbeiten existieren – ungefähr, als hätte Beethoven sich nach den Joseph- und Leopold-Kantaten vorerst als Komponist zurückgezogen, um dann mit op. 106 wieder aufzutreten. Dies bietet böswilligen Betrachtern natürlich einen Angriffspunkt: Furtwängler habe es nicht verschmerzen können, in seiner Jugend als Komponist gescheitert zu sein und habe wieder zu komponieren begonnen, nachdem er als Dirigent eine herausgehobene Stellung erreicht hatte, die es ihm erlaubt habe, seine Musik gleichsam mit Gewalt dem Publikum aufzuoktroyieren. Dass die scheinbare Ruhephase tatsächlich eine Zeit der Reifung gewesen ist, die der Komponist brauchte, um seiner Ideen Herr zu werden und zu einem souveränen Künstler heranzuwachsen, geht diesen Betrachtern nicht auf. Hört man sich die Jugendarbeiten Furtwänglers an, so stößt man auf viel Halbgares, Unausgegorenes. In den beiden Jugendsymphonien in D-Dur (von der nur der erste Satz eingespielt wurde) und h-Moll (die über den ersten Satz nicht hinaus gekommen ist) begegnen großartige Themen, aber auch nicht zu leugnende Ungeschicklichkeiten in der Verlaufsgestaltung. Der junge Komponist kann die Spannung nicht aufrecht erhalten und verliert sich in einer Aneinanderreihung von einzelnen Momenten. Als gelungen kann man dagegen die Drei Klavierstücke von 1903 bezeichnen, bei denen es sich jedoch im Wesentlichen um Stilstudien nach Beethovens späten Bagatellen handelt. Mit Furtwänglers reifem Stil haben sie nichts zu tun. Furtwängler war tatsächlich um 1910 daran, „als Komponist zugrunde zu gehen“, wie er gegen Ende seines Lebens schrieb, denn er fühlte deutlich den Zwiespalt zwischen seinen Einfällen und seinen damals noch zu beschränkten Möglichkeiten, sie adäquat realisieren zu können. Er widmete sich verstärkt dem Dirigieren, weil ihm diese Art der musikalischen Betätigung leicht fiel, weil sie ihm das Überleben sicherte, natürlich auch, weil sie ihm rasch zu großen Erfolgen verhalf, aber er gab zwischen 1909 und 1935 das Komponieren nicht auf. Immer wenn ihm sein Dirigentenberuf Zeit ließ, arbeitete er an eigenen Werken, und damit an sich selbst. „Wer hohe Türme bauen will, muss lange am Fundament verweilen“, soll Anton Bruckner – wahrlich auch ein Spätentwickler – gesagt haben; Furtwängler wollte hohe Türme bauen, und er verweilte sehr lange am Fundament – mit Erfolg.

Als besonders schön habe ich an Furtwänglers reifen Werken stets empfunden, dass sie in einem so scharf profilierten Personalstil geschrieben sind, dass man ihren Autor bereits nach wenigen Takten erkennt. Furtwängler schreibt nicht kompliziert. Seine Harmonien sind immer funktional gedacht, und jede steht in einem Zusammenhang zur Vorangehenden und zur Folgenden. Selbst sehr scharfe Dissonanzen (etwa gegen Ende der Durchführung im Finale der Dritten Symphonie) stechen nicht als aufgesetzte „Modernismen“ heraus, sondern dienen dazu eine dramatische Wirkung zu erzeugen, die ihren notwendigen Platz innerhalb der Gesamthandlung hat. Dem Streben nach Einfachheit im Harmonischen entspricht seine Bevorzugung diatonischer Melodik. Seine Themen klingen vokal erfunden und sind stets sangbar (ein Potpourri der „schönsten Melodien“ Furtwänglers könnte ich jederzeit zum Besten geben). Allerdings sind es nicht eigentlich liedhafte Melodien. Zumindest wüsste ich keine, die ich mir als Volkslied denken könnte. Märsche gibt es bei ihm nicht, und Tanzcharaktere bestenfalls in äußerst sublimierter Gestalt. Es ist insgesamt eine nicht sehr „weltliche“ Musik. In seiner ausschließlichen Ausrichtung auf das Erhabene gleicht Furtwängler Bruckner – gewaltige Steigerungen und bedeutungsvolle Generalpausen („die Fenster in der Kathedrale“ nannte das Robert Simpson) gehören denn auch zu den liebsten Stilmitteln beider. Gerade Bruckner aber ist hinsichtlich der Melodik seiner Themen und ihrer metrischen Gestaltung nahezu Furtwänglers vollkommener Gegensatz: Bruckner liebt signalhafte Motive, häufig dreiklangsbasiert; die Hauptakzente liegen immer auf dem Anfang, er denkt entschieden abtaktig; Synkopen und Synkopenfolgen müssen immer auf metrisch schweren Zählzeiten beginnen; Abweichungen vom „quadratischen“ Bau der Perioden mit seinem regelmäßigen Wechsel „schwerer“ und „leichter“ Takte kommen sehr selten vor. Furtwängler entwickelt seine Themen weniger aus dem Dreiklang als aus der Tonleiter heraus und bevorzugt den Beginn auf leichter Taktzeit, sodass leise Anfänge wirken, als würden sich die Themen beim ersten Erscheinen unauffällig einschleichen. Mit dieser Neigung korrespondiert eine Vorliebe für Melodien, die nicht auf dem Grundton beginnen und nicht zu ihm hinführen, sondern ihn nur vorübergehend streifen. Dies erinnert ein wenig an das Streben mittelalterlicher Kirchengesänge von der Finalis weg, hin zur Repercussa. Überhaupt ähneln Furtwänglers Melodien am ehesten gotischen Chorälen, einer Art Musik also, mit der er sich kaum näher beschäftigt haben dürfte. Hier wie dort finden sich einfache Rhythmen und eine freie Metrik, die der Regelmäßigkeit Bruckners ganz entgegengesetzt ist. Eine Melodie in wechselnden Taktarten wie das Hauptthema des langsamen Satzes der Zweiten Symphonie, oder ein unregelmäßiger Takt wie zu Beginn des Finales desselben Werkes, wären bei Bruckner nicht zu denken. Das Erhabene stellt sich Furtwängler offenbar leichtfüßiger, schwebender, eleganter vor als Bruckner.

Ebenso wie Bruckner könnte man jeden von Furtwängler besonders geschätzten Komponisten zur Gegenüberstellung heranziehen (etwa Beethoven, Wagner, Brahms, Pfitzner) und müsste letztlich immer die Eigenständigkeit Furtwänglers gegenüber dem früheren Meister feststellen. Furtwängler hatte es wahrlich nicht nötig zu versuchen, den Stil irgend eines Anderen zu imitieren. Von seiner künstlerischen Unabhängigkeit zeugen nicht zuletzt die kritischen Betrachtungen in seinen Schriften und Aufzeichnungen. Der letzte Komponist, den er uneingeschränkt bewundert, ist Brahms. Wagner und Bruckner steht er bei aller Verehrung nicht unkritisch gegenüber. Über diejenigen Komponisten, die zu seiner Jugendzeit im Zenit ihres Ruhmes standen, äußert er sich, bei allem Respekt, kritisch (Strauss, Mahler) bis äußerst skeptisch (Reger). Am nächsten steht ihm unter ihnen Pfitzner, aber auch zu ihm bekennt er sich nicht ohne Einwände. In diesem Kontext betrachtet, wirkt das Furtwänglersche Komponieren – und die bereits deutliche stilistische Nähe des Te Deums und der Jugendsymphonien zu den Werken der Reifezeit bestätigt diesen Eindruck – wie eine schöpferische Kritik an seinen älteren Zeitgenossen. Er gefiel sich nicht in harmonischen Kompliziertheiten wie Reger, hatte keine Ambitionen auf dem Gebiet effektvoller Programmmusik wie Strauss, wollte nicht in Form gezielter stilistischer Buntscheckigkeit mit seinen Symphonien die Welt umfassen wie Mahler, und von Pfitzner trennte ihn der Umstand, dass dieser im Kern seines Wesens Lyriker war, Furtwängler dagegen Architekt.

Vorurteil Nr. 3: Die zu langen Werke

Das dritte große Vorurteil betrifft diesen Architekten. Es besagt, Furtwängler habe als Komponist zu viel gewollt und es nicht vermocht, mit seinen Gedanken Maß zu halten, was letztlich dazu geführt habe, dass ihm seine Werke in der Länge ausgeufert seien. Diese Behauptungen gehen von der Annahme aus, es müssten sich doch in den sieben Hauptwerken Furtwänglers, deren Spieldauern zwischen einer Dreiviertelstunde (Violinsonate Nr. 2) und anderthalb Stunden (Symphonie Nr. 1 in Fawzi Haimors Aufnahme) betragen, irgendwelche überflüssigen oder übermäßig weit ausgesponnenen Passagen finden. Dass Furtwängler dem Vorwurf übergroßer Länge von Anfang an besonders stark ausgesetzt war, hat auch historische Gründe, trat er doch mit seinen Werken gerade zu einer Zeit in Erscheinung als Kürze Trumpf war. In den 1930er Jahren herrschte die Mode der „Sachlichkeit“, worunter man u. a. ein Komponieren in knappen, angeblich klassischen Formen verstand. Später, nach dem Krieg, konnte auch der allem Neoklassizismus abholde, sich aber ausschließlich miniaturistisch ausdrückende Webern als Sachlichkeitsideal gedeutet werden. Furtwängler stand, ich wiederhole es, nicht „außerhalb seiner Zeit“, wohl aber stand er quer zum damals herrschenden Drang zur Kürze, der ja letztlich eine Umkehrung der um 1900 im Gefolge Wagners aufgekommenen Mode war, sich möglichst lang und breit auszudrücken.

Weder saß Furtwängler den Moden seiner Jugendzeit auf, noch denen, die später aufkamen. Kürze um der Kürze willen war ihm, der Chopin genauso sehr, wenn nicht noch mehr verehrte als Bruckner, und der, wie die frühen Klavierstücke zeigen, durchaus Talent zum Miniaturisten hatte, genauso wenig erstrebenswert wie Länge um der Länge willen. Was er anstrebte, war nichts anderes als seinen Gedanken die ihnen angemessene Entfaltung zukommen zu lassen. Hört man den Kompositionen aufmerksam zu, so wird man feststellen, dass sie gar nicht so immens lang wirken, wie ihre objektive Spieldauer vermuten lässt. Bei Furtwängler haben wir im Grunde das gleiche Phänomen vor uns wie bei Bruckner: Die Sätze dauern zum Teil über 20 Minuten und sind doch knapp geformt. Hören wir beispielsweise den ersten Satz der Neunten Symphonie Bruckners, so können wir bemerken, dass er im Grunde nur aus zwei großen Teilen besteht, denen sich eine kurze Coda anschließt. Robert Simpson nannte dies in seinem Standardwerk The Essence of Bruckner „Statement, Counterstatement, and Coda“ (Darstellung, Gegendarstellung und Coda). Sowohl „Statement“ als auch „Counterstatement“ gliedern sich in wenige Unterabschnitte, von denen jeder nach dem Prinzip der Entwicklung durch Kontrast eine bestimmte Funktion innerhalb des Gesamtverlaufs des Satzes einnimmt. Das „Counterstatement“ beginnt als Durchführung und nimmt später Reprisencharakter an, wobei der Übergang zwischen „Durchführung“ und „Reprise“ erst rückwirkend als solcher wahrgenommen wird. Obwohl mit rund 25 Minuten Spieldauer objektiv der längste Kopfsatz einer Bruckner-Symphonie, ist er doch durch die Verschmelzung von Durchführung und Reprise formal der kürzeste. „Lang“ wird er durch sein verhältnismäßig breites Tempo und die Weite der einzelnen Phrasen und Perioden, also durch die Größe der Bauteile, aus denen er errichtet ist. Nicht anders verhält es sich bei Furtwängler: Seine Sätze bestehen aus Abfolgen weniger, aber ausgedehnter Verläufe.

Haben dann vielleicht die einzelnen Glieder seiner Sätze Längen? Ein wiederholt gegen Furtwängler ins Spiel geführter Einwand betrifft seine häufige Verwendung von Sequenzen. So lautet auch der Hauptkritikpunkt in Gerhard Frommels Beurteilung der Zweiten Symphonie. Frommel (1906–1984) ist einer der wenigen Kritiker Furtwänglers, deren Einwänden sich nachzugehen lohnt, denn er war nicht irgendjemand, sondern einer der besten deutschen Komponisten seiner Generation und Furtwängler keineswegs übel gesonnen. Furtwängler schätzte ihn und brachte seine Erste Symphonie mit den Berliner Philharmonikern 1942 zur Uraufführung. Frommel nimmt in seinen 1975 verfassten Lebenserinnerungen seinen Bericht über den persönlichen Umgang mit Furtwängler zum Anlass, sich auch zu dessen Zweiter Symphonie zu äußern:

Für die Aufführungschancen und darüber hinaus für eine gerechte Würdigung von Furtwänglers Leistung als Komponist sind die überdimensionalen Ausmaße dieser Symphonie äußerst nachteilig. Das lautere Gold vieler schöner Einfälle, z. B. der Anfang des langsamen Satzes, wird überschwemmt von manchmal fast unerträglich langen, sequenzierenden Entwicklungen, die bestechende Plastik und Einfachheit steht in mangelndem Gleichgewicht zu der überladenen Instrumentation dominierender anderer Formen.“

(Gerhard Frommel: Entwurf einer Autobiographie, Tutzing 2013, S. 81. Frommels konsequente Kleinschreibung wurde der konventionellen Rechtschreibung angeglichen.)

Dass Frommel an Furtwänglers wenig koloristischer Instrumentation Anstoß nahm, wird niemanden überraschen, der weiß, dass Frommel, im Gegensatz zu Furtwängler, ein Verehrer Strawinskys war und eine starke Affinität zu südländischer Musik besaß. Von diesem Standpunkt aus mag man tatsächlich manches als überladen empfinden. Schwerer wiegt die Kritik an der Sequenzentechnik. Aber sind diese sequenzierenden Entwicklungen tatsächlich „unerträglich lang“? Mir scheint, in Frommels Kritik schwingt die um 1900 als eine Art Abwehrreaktion gegen die Musik der Wagner-Nachfolge aufgekommene Scheu vor der Sequenz nach, die mit der Scheu vor der wörtlichen Wiederholung (die Mahler einmal als „Lüge“ bezeichnet hat) und der Hinwendung zum Aphoristischen (Debussy, Schönberg, Webern) in ein gemeinschaftliches musikgeschichtliches Kapitel gehört. Nun ist die Sequenz an sich weder gut noch schlecht, sondern ein gewöhnliches Mittel musikalischer Formung. Durch exzessiven und schematischen Gebrauch kann es sich freilich abnutzen und so der Wirkung einer Musik abträglich sein. Ob dieser Fall eintritt, liegt im Geschick bzw. Ungeschick des Komponisten begründet. Gerade aufgrund der Gefahren, die mit ihrer Verwendung verbunden sind, zwingt die Sequenz zum verantwortungsbewussten Umgang. Eine alte Faustregel besagt, dass man eine Sequenz nie auf mehr als drei Glieder ausdehnen sollte.

Betrachten wir nun kurz eine Furtwänglersche Sequenz. Sie findet sich gegen Ende des „Statements“ im Finalsatz der Zweiten Symphonie (in Furtwänglers Aufnahme mit den Wiener Philharmonikern etwa ab 8’30“; in der Partitur, die sich auf IMSLP findet, ab S. 227). Ausgangspunkt der Entwicklung ist eine fünftaktige Periode (man beachte auch die metrische Freiheit mittels Taktwechsel), die von der Dominante von G zur Dominante von E führt. Sie enthält bereits in sich eine (variierte) Sequenz, in welcher ihr Kopfmotiv dreimal erklingt, bevor es in einen motivisch verschiedenen Anhang ausläuft. Diese fünf Takte werden nun auf anderer Stufe wiederholt, von der Dominante von C zur Dominante von A führend. Es folgt eine (fürs lesende Auge) scheinbar viergliedrige (und damit der „Faustregel“ scheinbar zuwiderlaufende) Sequenz des zweitaktigen Kopfmotivs: Beim ersten Mal hebt es auf der Dominante von F an, dann auf der Dominante von As, dann auf der Dominante von C, dann auf der Dominante von Es. Die Harmonien lassen indessen keinen Zweifel daran, dass es sich tatsächlich um zwei im Quintabstand aufeinander folgende zweigliedrige Sequenzen von jeweils vier Takten über dasselbe Material handelt. Die zweite dieser Sequenzen läuft dann in einen zweitaktigen Anhang aus, der selbst eine Sequenz aus zwei Gliedern ist. Der ganze hier besprochene Komplex ist als Steigerung zu dem „sehr gehaltenen“, hymnischen Thema gedacht, das an ihn anschließt. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Furtwängler in diesem Abschnitt des Satzverlaufs die Sequenztechnik zwar sehr ausgereizt hat, aber nirgends der besagten „Faustregel“, die Bach, Mozart, Beethoven oder Brahms stets wach anwandten, zuwidergehandelt hat. Zudem muss man feststellen, dass hier eine lange Steigerung mit äußerst wenig motivischem Material bestritten wurde, also ein Fall bemerkenswerter kompositorischer Ökonomie vorliegt. Das ist kein Sequenzieren aus Unvermögen, auch kein Missbrauch der Sequenz. Es ist eine hohe Schule der Sequenz, die uns Furtwängler hier bietet! Deshalb erlaube ich mir, bei allem Respekt, Gerhard Frommels Ansicht, es gebe bei Furtwängler „unerträgliche“ Sequenzen, nicht zuzustimmen.

Aber verweilen wir ein wenig bei Frommel und hören, was er sonst noch über die Zweite Symphonie schreibt. Eine Seite weiter liest man in seinem autobiographischen Entwurf folgendes:

Im Gegensatz zu der gängigen Meinung möchte ich der Symphonie […] genialische Züge keineswegs absprechen, und, was die extrem traditionelle Musiksprache betrifft, so sind die mich beeindruckenden Partien in meiner Sicht geradezu ein Beweis, dass auch in unserem Jahrhundert persönliche, eigenständige Aussage im traditionellen Idiom möglich ist. Nebenbei bemerkt finden sich in der Symphonie auch strukturell höchst interessante Einzelheiten, so der fünfstimmige Kanon in der langsamen Introduktion des Finales. […] Zusammengefasst: Über den Fall ‚Furtwängler als Komponist‘ sind die Akten wohl noch nicht geschlossen, vielleicht noch nicht einmal eröffnet.“

Ob man mittlerweile sagen kann, die Akten seien geöffnet worden? Immerhin liegen Furtwänglers sämtliche Hauptwerke in mehreren Einspielungen vor. Gerade in den Jahren seit der Jahrtausendwende hat sich diskographisch einiges für ihn getan. Historische Aufnahmen wurden veröffentlicht, und Neueinspielungen durchgeführt. Die wissenschaftliche Literatur hält sich allerdings in Grenzen. Eine knappe, aber gute Einführung zu Furtwänglers kompositorischem Werk bietet der Aufsatz „Wilhelm Furtwängler als Komponist – das Ethos eines Künstlers“ von Bruno d’Heudières in den 1998 bei Ries & Erler erschienenen Furtwängler-Studien I (Hrsg. Sebastian Krahnert), denen leider kein zweiter Band gefolgt ist. Das einzige mir bekannte Buch, das sich dem Komponisten Furtwängler widmet, ist Oliver Blümels analytisch leider ziemlich missglückte Studie Die zweite und die dritte Symphonie Wilhelm Furtwänglers (Berlin: Tenea 2004). Die Akten sind also geöffnet, aber zu schreiben gibt es noch viel.

Furtwängler meinte gegen Ende seines Lebens in einem Anfall von Resignation, dass seine Kompositionen mit ihm verschwinden würden. Dieser Fall ist nicht eingetreten. Seine Werke wurden nach seinem Tode zwar nicht häufig gespielt, gelangten aber doch mit einer gewissen Regelmäßigkeit zur Aufführung. Dabei widmete man sich schließlich auch den zu seinen Lebzeiten nicht erklungenen Werken: der Ersten und der Dritten Symphonie sowie dem Klavierquintett. Da oft ein Jubiläum den Anlass gab, eines der Stücke aufs Programm zu setzen, kann man natürlich einwenden, es habe sich in diesen Fällen um bloße Akte der Pietät zum Gedächtnis des großen Dirigenten gehandelt. Sicherlich waren sie auch das, aber man hätte Furtwängler auch mit seinen Lieblingsstücken der klassischen Meister, mit Beethoven und Brahms etwa, feiern, oder aus Pietät nur einen einzigen Satz, etwa das Andante der Zweiten Symphonie aufs Programm setzen können. Man führte aber in der Regel die Werke vollständig auf. Hätten sich namhafte Dirigenten und Solisten dazu bereit gefunden, diese Werke zu Gehör zu bringen, wenn diese das gewesen wären, was die Schmäher Furtwänglers in ihnen sehen wollten: überlange, epigonale Zeugnisse der Selbstüberschätzung eines komponierenden Dirigenten?

Ja, warum haben Musiker wie Edwin Fischer (Klavierkonzert, Uraufführung), Hugo Kolberg (Violinsonate Nr.1, Uraufführung), Georg Kulenkampff (Violinsonate Nr. 2, Uraufführung), Eugen Jochum (Symphonie Nr. 2), Joseph Keilberth (Symphonie Nr. 3, Uraufführung der ersten drei Sätze), Yehudi Menuhin (Uraufführung der vollständigen Symphonie Nr. 3, Te Deum), Wolfgang Sawallisch (Symphonie Nr. 3, Uraufführung des Klavierquintetts), Lorin Maazel (Symphonie Nr. 3), Daniel Barenboim (Symphonie Nr. 2, Klavierkonzert), Zubin Mehta (Klavierkonzert), Rafael Kubelík (Klavierkonzert), Erik Then-Bergh (Klavierkonzert), Paul Badura-Skoda (Klavierkonzert), Lothar Zagrosek (Klavierkonzert), Hans Chemin-Petit (Te Deum), die doch allesamt keine Niemande gewesen sind, sich bereit gefunden, diese Werke aufzuführen?

(Hier geht es zu Teil 2.)

[Nobert Florian Schuck, November 2021]

Kulturelle Brücken im Ostseeraum: Ein Besuch beim Usedomer Musikfestival 2021

Das Usedomer Musikfestival schlägt seit seiner Gründung immer wieder neue kulturelle Brücken zwischen den Ländern des Ostseeraums. Wer irgendwann zwischen September und Oktober für eine Weile an die Ostseeküste reist, erlebt jene Vielschichtigkeit, für die das Usedomer Musikfestival im ganzen Ostseeraum zu einer Marke geworden ist. Auch im letzten Jahr traf dies unter eingeschränkten Bedingungen zu. Jetzt sind fast alle Grenzen wieder offen – umso mehr durchströmte die jüngste, 28. Festivalausgabe die Aura eines umfassenden Neustarts.

„Es fühlt sich alles wieder so wie damals an, als gerade die Grenzen offen waren und wir endlich hierhin kommen konnten“, beschreibt der litauische Komponist und Dirigent Gediminas Gelgotas die neue Aufbruchstimmung. Gelgotas, aber auch der weltberühmte Cellist David Geringas präsentierten in hervorragender Weise den diesjährigen Länderschwerpunkt Litauen. Aber auch die Nachbarschaft zum nahen Polen wirkt auf Usedom in engagierten Kooperationen gepflegt. Zu Beginn des diesjährigen Besuches ging es über die Grenze ins schmucke Kulturzentrum von Swinoujscie (Swinemünde) – einer hellwachen Fast-Großstadt, in der sich gerade alles rasant nach vorne entwickelt. David Geringas, Artist in Residence und einer der Weltstars auf dem Violoncello, der u.a. Sol Gabetta ausbildete und prominenter Schüler des „Jahrhundert-Cellisten“ Mstislaw Rostropowitsch war, zeigte sich bei einem Kammermusikabend in einer Traumbesetzung zusammen mit Dylan Blackmore (Violine), Hartmut Rohde (Viola) und Vytautas Sondeckis (Violoncello) als musikalischer Partner unter Freunden, der seine Kunst mit jüngeren Generationen teilt. Ein selten gehörtes Beethoven-Trio für Viola und zwei Violoncelli überrascht mit einer interessanten „Emanzipation der Mittellage“. Ein Steichquartettsatz von Peter Tschaikowski und eine von Geringas neu arrangierte Tschaikowski-Humoresque widerspiegelt in der Tonsprache des russischen Komponisten die Programmatik dieses Festivals, bei dem sich Weltoffenheit und Bekenntnis zu den eigenen kulturellen Wurzeln vereinen. Vytautas Barkauskas Drei Fragmente für Viola und Violoncello wurden bereits vor etwa zehn Jahren auf Usedom aufgeführt, aber dieses Stück markiert immer noch ein kraftvolles Statement für die forschende Gegenwart dieses Festivals. David Geringas vergleicht die menschlichen Verbindungen solcher Kammerbesetzungen mit jenen berühmten Schubertiaden – Schuberts Hauskonzerte im verständigen Kreise. Ein solcher Communitygeist setzt sich alljährlich beim Cellisten-Meisterkurs auf Schloss Stolpe im weiten Hinterland der Insel fort.

Am Anfang stand der Wunsch, in einer attraktiven, aber strukturschwachen Region die Kultur zu beleben, damit es hier noch mehr gebe als den traditionellen Bädertourismus mit seiner heute aufwändig herausgeputzten Infrastruktur. Ein Verein wurde gegründet. Immer mehr Akteure in der Region ließen sich von der Idee eines weltoffenen Musikfestivals mitreißen. Heute machen sich unter anderem viele traditionelle Bäderhotels, eine breite Unternehmerschaft, aber auch Bund, Länder und Gemeinden sowie der öffentlich-rechtliche Rundfunk für das Festival stark. Das hält auch den Publikumszulauf auf überregionalem, ja internationalem Level. Dieses Engagement hat aktuell auch die Aufmerksamkeit des „Europäischen Kulturmarken Award“ erregt.

Nordic String Quartet

Weit geht es hinaus in die Landschaft dieser Insel. An besonderen Orten das Herausragende erfahrbar oder erst möglich machen, das kann dieses Festival. Was sich vor allem beim Auftritt des Nordic String Quartett zeigte, dessen Mitglieder aus Dänemark und von den Färöer-Inseln stammen. Heidrun Petersen (Violine), Mads Haugsted Hansen (Violine), Daniel Eklund (Viola) und Lea Emilie Brøndal (Violoncello) musizieren in der kleinen Kirche im Seebad Zinnowitz – und es war so, als wenn es kein Morgen gebe: Zunächst baute eine zeitgenössische Komposition trickreich auf einem frühbarocken Kanon von Johannes Pachelbel auf, der zunehmend eine improvisatorische Unterwanderungen erfährt. Carls Nielsens sehr geschmeidig daher kommendes nordisch-romantisches Quartett baut die Brücke zu einem wahrhaft kolossalen Erlebnis mit Musik: Franz Schubert komponierte sein freigeistig-überschwängliches Streichquartett Der Tod und das Mädchen eben in einer Ausdrucksweise, als würde es kein Morgen geben. Eine Einsicht, die selten so unmittelbar jede Nervenzelle durchdringt, wie in dem Moment, wo sich das Nordic String Quartet dieser einzigartigen, mächtigen Musik annimmt.

Jan Garbarek (Saxofon) und Trilok Gurtu (Schlagzeug)

Im letzten Jahr war Norwegen Länderschwerpunkt – aber durch die Reiseverbote fielen viele Programmpunkte aus. Welcher Verlust ein Ausfall der Jan Garbarek Group gewesen wäre, offenbarte sich in einem modernen, funktionalen Ort kurz vor der polnischen Grenze, nämlich in der Lokhalle der regionalen Bäderbahn, welche die Küstenorte verbindet: Der norwegische Saxofonist Jan Garbarek, ebenso der indisch-stämmige, in Hamburg lebende Schlagzeuger Trilok Gurtu sowie Reiner Brüninghaus am Piano und der Brasilianer Yuri Daniel am E-Bass ziehen hinein in einen charismatischen, tief lyrischen Sog, der aber durch eine bestens geölte Bandchemie auch mit mächtigem Abgehfaktor gesegnet ist. Hier lebt es wieder, das Anliegen dieses Festivals: Nämlich kulturelle Einflüsse zusammen zu bringen, die scheinbar sonst weit weg voneinander scheinen: Ein starkes Gegengewicht zur verklärten Melancholie im Spiel Jan Garbareks ist jene indisch beeinflusste polymetrisch ausdifferenzierte Rhetorik des Schlagwerkers Trilok Gurtu, der regelmäßig mit neuen eigenen Projekten überrascht. Der enthusiastischste Applaus kam auf jeden Fall von den polnischen Fans – da zeigte sich, dass in Polen Jazz (und alles, was darüber hinausgeht) viel mehr als nur Nische ist.

„Ich habe in meinem Heimatland einen fabelhaften Klarinettisten entdeckt. Deswegen rief ich die Professorin Sabine Meyer ein, um diesen besonders begabten Absolventen der Rostropowitsch-Stiftung für ein Studium zu empfehlen“, beschrieb David Geringas die Vorgeschichte, welche den litauischen Klarinettisten Žilvinas Brazauskas zum Studium nach Lübeck führte. Und eben auch zum Usedom-Festival, wo ein alljährlicher Musikpreis seitens der Oscar- und Vera Ritter-Stiftung die „Education“-Bestrebungen zugunsten hoffnungsvoller Karrieren und produktiver Synergieeffekte abrundet. Was hierbei wohl Kriterien sein mögen, braucht man gar nicht weiter hinterfragen – denn das stellen Brazauskas und sein italienischer Klavierpartner Matteo Gobbini in der Kirche von Heringsdorf mitreißend unter Beweis: Beiden jungen Interpreten geht es um weit mehr als um perfekte Instrumentenbeherrschung – sondern auch um Erkundung neuer Möglichkeiten gepaart mit kreativer Bühnenpräsenz. Herausfordernd waren die Werke des Mammutprogramms in der Heringsdorfer Kirche allemal – unter anderem zeitgenössische Klangstudien von Vytautas Germanavicius, wo der Solist sich einer raffinierten Zirkularatmungstechnik bediente, und David Lang, eine spektakuläre Demonstration von simulierter Mehrstimmigkeit auf der Bassklarinette.

Ein Festival hat seine Mission erreicht, wenn sich bei aller Vielfalt der künstlerischen Ansätze und musikalischen Farben verbindende Aspekte herauskristallisieren. Im aktuellen Fall ist es die elementarste musikalische Praxis des Gesangs: Gesungen hatten die Cellisten des Geringas-Meisterkurses am Ende ihres Workshop auf Schloss Stolpe. Trilok Gurtu, Schlagzeuger bei der Jan Garbarek Group demonstrierte in ausgiebigen Soloparts die klassische vokale Rhythmisierungskunst. Und Žilvinas Brazauskas legte schließlich die Klarinette beiseite, um als Zugabe ein getragenes litauisches Volkslied anzustimmen. Und Litauen im Ganzen hat sich Anfang der 1990er Jahre von der sowjetischen Fremdherrschaft nicht zuletzt durch eine friedliche „Singende Revolution“ befreit.

Gediminas Gelgotas dirigiert das New Ideas Chamber Orchestra

Darauf wies Gediminas Gelgotas vor seinem spektakulären Konzert mit dem New Ideas Chamber Orchestra hin. Auch dessen Mitglieder erheben immer wieder – ergänzend zu ihrer „magisch“ wirkenden Streicherkunst – ihre Stimmen. Im New Ideas Chamber Orchestra, welches Gelgotas nicht nur dirigiert, sondern dafür auch exklusiv die Musik scheibt, performen, ja choreografieren die Mitglieder ihre Musik, während man Notenständer vergeblich sucht. Eine melancholische Philip Glass Nummer versetzt zu Beginn in ergreifende Trancezustände. Danach offenbaren viele von Gelgotas Eigenkompositionen tänzerische, aufrührerische, manchmal auch durchaus pop-affine Facetten in einem wirkungsmächtigen Koordinatensystem aus Minimal Music und dem von litauischen Einflüssen genährten Personalstil von Gelgotas. Als Höhepunkt musiziert David Geringas eine flammenden Solopart. So klingt es, wenn ein Ausnahmemusiker, der auch im Alter von 75 Jahren noch beständig neu dazu lernt, sich wieder in seiner Beschäftigung als Musiker (und auch mit Musikerinnen und Musikern) neu geboren fühlt – wie er selbst diesen Prozess im Gespräch beschrieb.

Stefan Pieper [Oktober 2021]

Der Symphoniker Jan Hanuš (1915–2004)

Smetana, Dvořák, Janáček und Martinů haben der tschechischen Musik zu Weltgeltung verholfen und sind aus dem Repertoire des abendländischen Musiklebens nicht mehr wegzudenken. Dennoch ist der reiche Schatz an Meisterwerken, die tschechische Komponisten hinterlassen haben, mit diesen großen Namen noch lange nicht erschöpft. Der nachfolgende Beitrag widmet sich einem der herausragenden Tonsetzer der jüngeren tschechischen Musikgeschichte: Jan Hanuš. 1915 gegen Ende der Habsburgermonarchie geboren und 2004 im modernen Tschechien gestorben, schuf er Opern, Ballette, geistliche Werken, Kammermusik und Orchesterkompositionen, darunter sieben Symphonien.

Jan Hanuš wurde am 2. Mai 1915 in eine hochmusikalische Prager Familie hineingeboren: Die Mutter war Klavierschülerin Zdeněk Fibichs gewesen, der Großvater mütterlicherseits, František Urbánek, prägte als bedeutendster tschechischer Musikverleger seiner Zeit das Musikleben Prags entscheidend mit. Durch ihn kam Jan Hanuš bereits als Kind mit dem Verlagswesen in Kontakt, eine Verbundenheit, die auch sein weiteres Leben bestimmen sollte. Das Familienunternehmen rettete er über die Zeit der deutschen Besatzung und den Zweiten Weltkrieg hinweg, bevor es 1949 von der kommunistischen Regierung verstaatlicht wurde. Seine dort erworbenen editorischen Fähigkeiten halfen Hanuš jedoch, sich auch unter den neuen politischen Verhältnissen über Wasser zu halten. Er wirkte an der Reihe Musica Antiqua Bohemica mit und war Gründungsmitglied der kritischen Gesamtausgaben der Werke Dvořaks, Fibichs und Janáčeks, außerdem Mitbegründer des Panton-Musikverlags (heute zu Schott gehörig), dem er von 1963 bis 1975 als Direktor vorstand.

Seine kompositorische Ausbildung erhielt Hanuš in den frühen 30er Jahren von Otakar Jeremiáš, dem Dirigenten des Prager Rundfunkorchesters. Frühzeitig entwickelte er ein ausgeprägtes Interesse an der Musik seiner Zeitgenossen und trat 1939 dem Vorstand der Gegenwart bei, der führenden Gesellschaft zur Pflege neuer tschechischer Musik. Damit begann sein lebenslanges Engagement als Musikvereinsmann. 1955 berief ihn der neugegründete Tschechische Komponistenverein zu seinem Sekretär, was er vier Jahre lang blieb. Daneben setzte sich Hanuš als Mitglied der Foerster-, Fibich- und Ostrčil-Gesellschaften auch für das Andenken dieser früheren Meister ein.

Jan Hanuš Leben beginnt mitten im Ersten Weltkrieg. Seine Jugend fällt in die Zeit der von Tomaš G. Masaryk geprägten Tschechoslowakischen Republik. Der Zweite Weltkrieg begann, als er 24 war. Zu Beginn der kommunistischen Herrschaft war er 33, an ihrem Ende 74 Jahre alt. Der Großteil seines Schaffens entstand also unter politischen Bedingungen, die Hanuš, der sich zur katholischen Religion und zum Humanismus bekannte, wenig günstig geneigt waren. Sein beruflicher Erfolg war vor allem in den frühen Jahren des Kommunismus offenbar das Ergebnis geschickter Ballanceakte und persönlicher Beziehungen. So vollendete er eine nachgelassene Oper seines jung gestorbenen Kollegen Vít Nejedlý und sicherte sich dadurch das Wohlwollen von dessen Vater, des Kultusministers Zdeněk Nejedlý. Er verstand es, den Herrschern zu geben, was sie wollten, und gleichzeitig sein Gesicht zu wahren. Die biographische Musikgeschichtsschreibung hat Jan Hanuš noch nicht für sich entdeckt. Sie dürfte hier auf einen Lebenslauf stoßen, der Parallelen zu demjenigen Schostakowitschs aufweist. Auch bei Hanuš lassen sich anscheinend versteckte Botschaften finden. So tragen seine Symphonien laut dem Werkverzeichnis in der MGG Überschriften, nach denen man in den zeitgenössischen Druckausgaben vergeblich sucht. Dass etwa der Komponist seine 1957 vollendete Dritte Symphonie „Die Wahrheit der Welt“ nannte, wurde in der Partitur nicht vermerkt, ebenso wenig erwähnt das nicht von Hanuš stammende Vorwort, das dem Werk eine Inhaltsangabe im Sinne der sozialistisch-realisitschen Kulturdoktrin beilegt, ihren Entstehungshintergrund und den Widmungsträger: Rudolf Margolius. Der Jurist und Jugendfreund des Tonsetzers, der nach dem Krieg in die Kommunistische Partei eingetreten und zum stellvertretenden Außenhandelsminister aufgestiegen war, wurde im Rahmen einer der letzten stalinistischen Säuberungen 1952 verhaftet und nach einem Schauprozess gehängt. Hanuš war der erste, der Margolius‘ sozial geächtete Witwe unterstützte. Auch bewies er Mut, indem er als einziger Kollege mit dem 1954 in die USA geflüchteten und in der Heimat als Unperson erklärten Komponisten Karel Husa weiterhin Briefkontakt hielt. Nichtsdestoweniger erhielt Hanuš hohe staatliche Auszeichnungen, so wurde er 1954 Verdienter Künstler und 1988 Nationalkünstler der Tschechoslowakei. Beide Titel gab er dem Staat 1989 aus Protest gegen die repressive Behandlung demonstrierender Studenten zurück und beteiligte sich daraufhin an der Samtenen Revolution. Václav Havel ehrte ihn 1999 mit der höchsten tschechischen Verdienstmedaille „Za zásluhy udeleni“. Jan Hanuš starb 89-jährig am 30. Juli 2004 in seiner Heimatstadt Prag.

Die künstlerisch aktive Zeit Hanušs dauerte etwa sechs Jahrzehnte, von seinen ersten kleineren Chorwerken aus den mittleren 30er Jahren bis zu seinem 1995 vollendeten Requiem. Angesichts dieser Zeitspanne verwundert der quantitative Umfang seines Schaffens, der sich auf über 120 Opuszahlen beläuft, nicht. Hanuš war nahezu auf allen Gebieten der Komposition tätig, von der Klavierminiatur bis zur abendfüllenden Oper. Auch der Filmmusik hat er sich zugewandt und etwa den französisch-westdeutschen Abenteuervierteiler Die Schatzinsel untermalt. Die weiteste Verbreitung dürften seine geistlichen Werke a cappella gefunden haben, insbesondere das Magnificat.

Der Komponist Hanuš ist grundsätzlich Traditionalist. Versucht man, ihn stilistisch einzuordnen, so lohnt ein Blick auf die tschechischen Meister der vorangegangenen Generationen. Als markanteste Künstlerpersönlichkeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts darf Leoš Janácek gelten, der mit seinen kurzen, der Sprache abgelauschten Phrasen eine völlig neue Schreibweise in die tschechische Musik einführte. Seine zur aphoristischen Formulierung und Repetition tendierende Musik bot einen Gegenentwurf zu Smetanas und Dvořaks breit ausgeführten Melodiebögen und der klassizistischen Verlaufsgestaltung vor allem des letzteren. Allerdings blieb Janáček, obwohl er rasch zu Ansehen gelangte, zunächst künstlerisch weitgehend isoliert, da seine jüngeren Zeitgenossen Josef Bohuslav Foerster (1859–1951), Vitěslav Novák (1870–1949), Josef Suk (1874–1935) und Otakar Ostrčil (1879–1935) auf den Errungenschaften Smetanas und Dvořáks aufbauten. Auch Hanušs Lehrer Otakar Jeremiáš (1892–1962) fühlte sich dieser Traditionslinie verpflichtet, während der Weg Janáčeks vor allem bei Pavel Haas (1899–1944) und Miloslav Kabeláč (1908–1979) eine Fortsetzung fand. Hanuš scheint am stärksten von Ostrčil geprägt worden zu sein, dessen Musik zeigt, dass Gustav Mahler seine eigentlichen Nachfolger weniger in Wien als in Prag gefunden hat: Ostrčils symphonische Werke knüpfen in ihrer polyphonen Anlage und Orchesterbehandlung direkt an die letzten Werke Mahlers an, sind dabei aber deutlich knapper gefasst als diese; melodisch dominieren lange, chromatische Linien, die die Tonarten eher umschreiben als bestätigen; die Harmonik ist entsprechend dissonant. All diese Eigenschaften zeichnen auch Hanušs Schaffen aus. Ausgehend von Ostrčils Methoden erkundet er die Möglichkeiten der Dissonanzen weiter, jedoch bleibt der Bezug zum Dur-Moll-System stets wirksam. Ebenso arbeitet er meist mit traditionellen Verlaufsmodellen wie Sonate, Variationen, Fuge etc.

Gleich einem roten Faden zieht sich die Reihe seiner sieben Symphonien durch Hanušs Schaffen. Die Erste, op. 12, Dolorosa genannt, datiert von 1942 und steht den Angaben des Werkverzeichnisses zufolge in E-Dur, wovon man allerdings wenig hört. Die chromatisch durchsetzte Melodik tendiert bis kurz vor Schluss nahezu durchgängig zu Moll. Kopfsatz, Scherzo und Finale des viersätzigen Werkes werden von Marschrhythmen und Fanfarenmelodik beherrscht. Man kann dies der Entstehungszeit zuschreiben, allerdings bleibt die Vorliebe für den Marsch im symphonischen Schaffen des Komponisten bis zum Schluss erhalten. Es ist der Marsch Mahlerschen Typus‘, der es Hanuš angetan hat, der unerbittliche Marschtritt der Revelge und der Sechsten Symphonie, der zahlreiche Symphoniesätze des tschechischen Meisters in Gang bringt. Die Besonderheit der Hanušschen Ersten liegt im dritten Satz, einer Vertonung des Stabat Mater, zu der das Orchester um eine Mezzosopranstimme erweitert wird. Die deutschen Zensoren bemerkten die Botschaft des jungen Symphonikers und untersagten die Aufführung. Das Werk konnte erst nach Kriegsende erklingen.

Im Gegensatz zu Nr. 1 erfüllt Nr. 2 op. 26 völlig die Erwartungen, die ihre Tonartangabe weckt: G-Dur dominiert das Werk, das nahtlos an die Musik Dvořaks und Suks anzuknüpfen scheint, nahezu unangefochten. Die Symphonie, zu der der Komponist vom Sonnengesang des Franz von Assisi inspiriert wurde, steht als verhältnismäßig dissonanzarm und diatonisch unter ihren Geschwistern einzig dar. Sie ist ein Dokument aus dem für tschechische Künstler sehr ungünstigen Jahr 1951. Hanuš begab sich hier in die Schranken der sozialistisch-realistischen Ästhetik, mit Erfolg, denn das Werk wurde preisgekrönt. Freilich hielten die Kulturfunktionäre den leisen Schluss des finalen Variationssatzes sehr zu Unrecht aus dogmatischen Gründen für schwach. Unabhängig von den Entstehungsumständen handelt es sich hierbei um eine ebenso meisterliche Komposition wie die Erste Symphonie. Der marschartige Kopfsatz ist nicht weniger geglückt, nur der Tonfall ist ein anderer. Gleiches gilt von dem Andante und dem von Furiantrhythmen geprägten Scherzo. Motivisch wird das Werk vom zweiten Thema des Kopfsatzes zusammengehalten, das dort nur eine untergeordnete Rolle spielt, aber in den Folgesätzen mehrfach auftaucht und schließlich das Finale völlig dominiert.

Die bereits erwähnte Dritte Symphonie d-Moll op. 38, zu Beginn der Entstalinisierung 1957 geschrieben, stellt in mancherlei Hinsicht einen Gegenentwurf zur Zweiten dar, der sie formal auffällig ähnelt. Auch hier steht eine Variationenreihe am Schluss, die auf ein Nebenthema des Kopfsatzes zurückgreift. Während Nr. 2 jedoch still und beruhigt ausklingt, mündet die Musik hier in einen grellen Blechbläserchoral. Hinsichtlich der Behandlung von Melodik und Harmonik geht Hanuš in der Dritten auf dem Weg weiter, den er in Nr. 1 eingeschlagen hatte. Charakteristisch ist gleich der Beginn des Werkes, wo über einem grundierenden D ein b-Moll- und ein verminderter C-Septakkord als Vorhalte zur Haupttonart genutzt werden.

Ab seiner Vierten Symphonie, seinem 1960 fertiggestellten op. 49, verzichtet Hanuš auf Tonartangaben. Scherzo und Finale des wie seine Vorgänger viersätzigen Werkes stehen stilistisch der Ersten und Dritten Symphonie noch sehr nahe, während der Komponist im Kopfsatz und besonders im langsamen dritten Satz über diese hinausgeht. Besonders letzterer zeigt eine Intensivierung seiner Schreibweise. Der Satz beginnt mit einem Fugato, dessen chromatische Linien die Harmonik in einem permanenten dissonanten Schwebezustand halten, was durch einen Mittelteil in klarem Dur, der an den Stil der Zweiten Symphonie erinnert, noch unterstrichen wird. Die Vierte trägt laut MGG den Titel Das Lied von Bernadette, dürfte also von Franz Werfels religiösem Roman gleichen Titels inspiriert sein. Wie die Überschriften der übrigen Symphonien Hanušs lässt er sich kaum im Sinne eines Programms verstehen und verweist wahrscheinlich nur auf den außermusikalischen Schaffensanstoß.

Waren die bisherigen Symphonien viersätzig, schreibt Hanuš 1965 seine Fünfte Symphonie op. 58 in fünf Sätzen, von denen die ersten vier den traditionellen Satztypen entsprechen. Den Abschluss bildet allerdings ein knappes Adagio, das als Fugato beginnt, dann in eine Passacaglia übergeht und nach einem Tutti-Höhepunkt leise ausklingt. Die Harmonik der Fünften ist auf Grundlage der in der Vierten angestellten Erkundungen gestaltet. Trotz aller Chromatik sticht Es als tonales Zentrum in den Ecksätzen hervor. Das metrisch sehr unregelmäßige Werk kann als Hanušs schroffste Symphonie gelten. Inspirationsquelle war diesmal die Bergpredigt.

Die 1978 vollendete Sechste Symphonie op. 92, betitelt Nacht ohne Mond, hat nur zwei Sätze, und das ist nicht das einzige ungewöhnliche Merkmal dieses Werkes. Hanuš zeigt sich hier von einer zuvor nicht gekannten experimentierfreudigen Seite, sowohl was den Verlauf, als auch was die Klanglichkeit betrifft. So wird der langsame Kopfsatz über weite Strecken von einer elektrischen Gitarre grundiert. Auch das Flexaton kommt zum Einsatz. Der bewegte zweite Satz entwickelt nicht die gleiche Antriebskraft anderer Allegrosätze Hanušs und wird mehrmals von langsamen Episoden unterbrochen, die auf den Kopfsatz zurückgreifen. Eine solche Reminiszenz beschließt auch das Werk. Zweifellos trägt diese Symphonie originelle Züge, der Komponist scheint mit ihr allerdings weniger zufrieden gewesen zu sein als mit seinen übrigen, was vor allem angesichts des Finales verständlich ist.

In seiner siebten und letzten Symphonie Die Schlüssel des Königreichs op. 116 bringt Hanuš 1990 zum ersten Mal seit seinem Erstling wieder die menschliche Stimme ins Geschehen, diesmal allerdings in Gestalt eines Chores nebst Solisten. Das dreisätzige Werk ist mit einer Spieldauer von etwa 45 Minuten die längste Symphonie des Komponisten – die übrigen dauern ungefähr 30 bis 35 Minuten – und nicht nur hinsichtlich Besetzung und Ausdehnung offenbar als krönender Abschluss seines symphonischen Schaffens konzipiert. Es beginnt mit einem rein instrumentalen Sonatenallegro, einem Marschsatz, der in Umfang und Intensität alles übertrifft, was Hanuš vorher an Ähnlichem geschrieben hat. Er verklingt überraschend im Pianissimo. Nun ergreift der Chor das Wort und stimmt das Te Deum an. Als Finale folgt diesem eine Vertonung der Seligpreisungen. In beiden Sätzen zeigt der Komponist auf vielfältige Weise seinen Einfallsreichtum in der Verwendung des Chorklangs. Anders als man es angesichts der geistlichen lateinischen Texte meinen könnte, fehlt es auch nicht an humoristischen Zügen, etwa wenn Hanuš auf dem Höhepunkt der Passage „Dominus Deus Sabaoth“ den Chor mit einem Glissando in die Tiefe stürzen lässt. Das Werk endet mit dem Preis der Friedfertigen, doch scheint der Frieden angesichts der den Schlussteil bestimmenden Chromatik und Dissonanzen eher erwünscht als bereits vorhanden zu sein.

Diskographisch steht es um Jan Hanušs Werk zur Zeit sehr schlecht, womit er unter den tschechischen Komponisten seiner Generation keineswegs allein dasteht. So ist von den Symphonien nur die Zweite auf CD greifbar, allerdings in einer mustergültigen Einspielung Karel Ancerls. Der als Folge 42 in der Karel-Ancerl-Edition von Supraphon erschienene Tonträger enthält außerdem noch die Orchestersuite aus dem Ballett „Salz besser als Gold“. Auf Folge 11 dieser Reihe findet sich (zusammen mit zwei grandiosen Orchesterwerken Miloslav Kabeláčs) die Konzertante Symphonie für Orgel, Harfe, Streichorchester und Pauken, die ebenfalls aus den frühen 50er Jahren stammt. Supraphon hat weiterhin zwei Kammermusikwerke, die Oboensonate und das Trio für Oboe, Harfe, und Klavier herausgebracht. Von anderen Firmen sind der Liederzyklus Hölzerner Christus (Český Rozhlas) und die gemeinsam mit Luboš Sluka geschaffene Filmmusik zur Schatzinsel (BSC Music) noch erhältlich. Angesichts der zahlreichen Rundfunkmitschnitte, die dem Verfasser dieser Zeilen vorliegen, ist dies eine bemerkenswert magere Ausbeute. Auch sind die offenbar nicht wenigen Supraphon- und Panton-LPs aus der Zeit des Ostblocks nicht ins CD-Format übertragen worden.

Aus dem tschechischen Musikleben ist Hanuš vor allem dank seiner Chorwerke nicht verschwunden. Auch wurden in den letzten Jahren einige seiner Symphonien erfolgreich wieder zu Gehör gebracht. Es bleibt zu hoffen, dass das zunehmende Interesse an traditionalistisch ausgerichteter Musik des 20. Jahrhunderts auch Hanušs Schaffen zu größerer Aufmerksamkeit verhelfen wird. Außerhalb der tschechischen Grenzen kann dabei von einer Wiederentdeckung nicht gesprochen werden. Es gilt, diesen Meister erst richtig zu entdecken! Ihn gerade als Symphoniker dem Repertoire der großen Orchester zuzuführen, wäre durch die Qualität seines Schaffens zweifellos gerechtfertigt.

[Norbert Florian Schuck, August 2021]

Wilhelm Altmann – Ein Leben für die Kammermusik

70 Jahre sind seit dem Tode des Historikers und Bibliothekars Wilhelm Altmann (1862–1951) vergangen. Als leidenschaftlicher Kammermusiker unternahm er es, die Literatur für Kammerensembles zu sichten und in mehreren Handbüchern den Streichquartett-, Klaviertrio-, Klavierquartett- und Klavierquintettspielern vorzustellen. Es ist an der Zeit, an diesen verdienten Mann zu erinnern, dessen Bücher einen Springquell musikalischer Anregungen darstellen.

Wilhelm Altmann 1905 als Oberbibliothekar in Berlin

Wilhelm Altmann wurde als Sohn eines Pfarrers am 4. April 1862 in der Kleinstadt Adelnau geboren, die damals zur preußischen Provinz Posen gehörte und heute unter dem Namen Odolanów Teil der Woiwodschaft Großpolen ist. Seine Eltern waren musikliebende Menschen, denen es selbstverständlich war, ihren Sohn von klein auf mit der Tonkunst in Berührung zu bringen. Der Junge erlernte Bratsche und Violine, spielte frühzeitig Kammermusik und wirkte während seiner Primanerzeit in Breslau als Orchestergeiger an Opernaufführungen mit. Nach dem Schulabschluss entschied er sich für eine Laufbahn als Historiker und studierte in Marburg und Berlin Geschichte, Philologie und Staatswissenschaften. An der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität, der heutigen Humboldt-Universität, wurde er 1885 Assistent des greisen Leopold von Ranke und promovierte im selben Jahr über Die Wahl Albrechts II. zum römischen Könige. Anschließend war er an den Universitätsbibliotheken in Breslau und Greifswald tätig. In Greifswald habilitierte er sich 1893 und arbeitete als Privatdozent. Er genoss bald den Ruf eines Spezialisten für die Geschichte des späten Mittelalters und wurde mit der Herausgabe der Urkunden Kaiser Sigmunds betraut, die 1896–1900 in der renommierten Reihe Regesta Imperii erschienen.

Während all dieser Jahre hatte Altmann die Musik keinesfalls zurückgestellt. Im Gegenteil: Jede sich in seiner Freizeit bietende Gelegenheit zu musikalischer Betätigung wusste er am Schopfe zu packen. Dies beschränkte sich nicht nur auf das Kammermusikspiel. So gründete er 1890 in Greifswald ein Liebhaber-Orchester und dirigierte es bis 1895. Um die Jahrhundertwende schließlich begann der musizierende Bibliothekar sich zu dem Musikbibliothekar und Musikschriftsteller zu entwickeln, als der er in bleibender Erinnerung geblieben ist. Regelmäßig veröffentlichte er nun Rezensionen neu erschienener Kammermusikwerke, die er zuvor gemeinsam mit befreundeten Amateur-, aber auch Berufsmusikern, aus eigener Praxis kennen gelernt hatte. Im Jahr 1900 wurde Altmann zum Oberbibliothekar der Königlichen Bibliothek in Berlin ernannt, seit 1905 durfte er sich Professor nennen. In dieser Position begann er, ein Projekt ins Werk zu setzen, für das er mit seinem 1903 in der Zeitschrift der internationalen Musikgesellschaft veröffentlichten Vortrag „Öffentliche Musikbibliotheken – Ein frommer Wunsch“ warb. Altmanns Ziel war die Einrichtung einer „Reichs-Musikbibliothek“, die „zum mindesten alle in Deutschland erschienenen musikalischen Werke in ihrer Urgestalt enthält, damit es endlich einen Ort gibt, wo man die Werke wenigstens jedes deutschen Komponisten, hoffentlich auch der meisten außerdeutschen, einsehen kann“. Die Musikverleger kamen seinem Aufruf, freiwillig Exemplare der bei ihnen erschienenen Musikwerke nach Berlin zu schicken, in solchem Maße nach, dass Altmann neue bibliothekarische Ordnungssysteme entwickeln musste, um das eingesandte Material effektiver einarbeiten zu können. 1906 konnte er die Gründung der „Deutschen Musiksammlung bei der Königlichen Bibliothek“ am Schinkelplatz verkünden. Als die Sammlung 1915 offiziell zur Musikabteilung der Bibliothek wurde, ernannte man Altmann zu ihrem Direktor. Dies blieb er bis zu seinem Eintritt in den Ruhestand 1927.

Seiner Dienstpflichten ledig, konnte er sich nun ganz auf die Musik konzentrieren und gab noch 1927 in Max Hesses Verlag, Berlin, sein Handbuch für Streichquartettspieler heraus. Den beiden Bänden, die die Quartettliteratur von Johann Sebastian Bach bis zu Günter Raphael und Kurt Thomas abdecken, folgte im Februar 1929 ein dritter Band über Streichtrios, -quintette, -sextette, und -oktette, Ende 1930 ein vierter zur Literatur für Streicher und Bläser. Zum Teil trug Altmann für diese Bücher Kritiken aus früherer Zeit zusammen, zum Teil sind sie die Frucht des intensivierten Musizierens, das dem Pensionär nun möglich war. „Daß ich schon jetzt diesen [dritten] Band vorlegen kann“, schreibt er 1929, „kommt nicht bloß daher, daß ich seit dem 1. Januar 1928 von allen Amtsgeschäften frei bin, sondern daß ich schon früher manche Vorarbeiten erledigt und in der glücklichen Lage mich befunden habe, selbst für die Oktette ohne weiteres geeignete Kräfte heranziehen zu können.“ Dem vierten Band schließlich gingen eineinhalb Jahre praktische Beschäftigung ausschließlich mit Musik für Streicher und Bläser voran.

Im Vorwort des Handbuchs legt Altmann ausführlich dar, was ihn zu dieser Arbeit bewog, und blickt zugleich auf sein Leben als nicht-berufsmäßiger Musiker zurück. Diese Ausführungen geben einen solch lebendigen Eindruck von der Persönlichkeit ihres Autors, daß im Folgenden ein längerer Auszug daraus wiedergegeben werden soll:

„Schon als ich in der Untertertia des Elisabeth-Gymnasiums in Breslau saß, hatte ich im väterlichen Hause als Bratschist u. a. sämtliche Haydnsche Quartette mitgespielt und mit besonderer Aufmerksamkeit damals und auch die nächsten Jahre den Quartettaufführungen gelauscht, die der leider später eingegangene Verein für klassische Musik vom 1. Oktober bis Ostern regelmäßig alle Wochen einmal durch tüchtige Künstler veranstaltete. Wenn ich in der Studentenzeit auch nicht ganz regelmäßig zum Quartettspielen gekommen bin, so habe ich es doch nie unterlassen; mitunter, da ich auch allmählich für die erste Geige herangereift war, habe ich das regelmäßige Wochenquartett möglichst durchgeführt, auch als ich 1900 nach Berlin übergesiedelt war und mich mehr und mehr als Musikkritiker und Musikschriftsteller betätigte; wenn ich Zeit hatte, habe ich auch gern in anderen Quartetten ausgeholfen. So mancher liebe Quartettgenosse und auch eine Künstlerin, die mit größter Hingebung bei mir zweite Geige jahrelang gespielt hat, ruht schon im Grabe. Allen aber, die mit mir durch „dick und dünn“, durch die Klassiker selbst bis zu den Atonalikern gegangen sind, kann ich gar nicht genug dankbar sein. Wir haben auch sehr viele in Vergessenheit geratene Werke gespielt und sind wohl an keinem, das irgendwelche Bedeutung hatte, vorbeigegangen.

Der Wunsch, den zahllosen Dilettanten-Quartettvereinigungen meine Erfahrungen mitzuteilen, ebenso auch Künstlerquartette, die oft von der einschlägigen Literatur viel weniger Kenntnis als Musikfreunde haben, auf beachtenswerte vergessene Werke hinzuweisen, trieb mich zur Abfassung des vorliegenden Werkes, das keinesfalls als eine wissenschaftliche Leistung angesehen und beurteilt werden darf. Es soll nur ein praktischer Führer sein, nicht etwa eine Geschichte des Streichquartetts, wenngleich ich es chronologisch nach dem Geburtsjahr der einzelnen Komponisten geordnet habe. […]

Meine zum Teil aus ganz verschiedener Zeit stammenden Urteile über die einzelnen Werke sollen durchaus als subjektive bewertet werden. Ich bin mir bewußt, daß manches Quartett, das ich als besonders wertvoll empfehle, von andern als belanglos beiseite geschoben wird. Trotzdem ich daran festhalte, daß die Klassiker, zu denen ich auch Brahms rechne, nach wie vor den größten Schatz des Quartettspielers bilden, habe ich doch stets den Quartetten wie überhaupt den Schöpfungen der lebenden Tonkünstler größtes Interesse gewidmet, den Auswüchsen der sogenannten Atonalitätsapostel gegenüber mich freilich ablehnend verhalten. Mag man mich deshalb als senil ansehen! Ich will und kann’s ertragen, umso mehr, als ich andererseits glaube, manchen lebenden Tonsetzer doch gefördert zu haben. […]

Vollständigkeit zu erstreben lag mir fern, ist auch kaum zu erreichen. Werke, die ich nicht gehört oder selbst gespielt habe, habe ich nur ausnahmsweise nach der Partitur besprochen, obwohl für mich ein bloßes Lesen, ohne den Klang zu hören, kein richtiges Bild abgibt.“

Dem Streichquartettspieler-Handbuch schlossen sich in den nächsten Jahren gleichartige Handbücher für Klaviertriospieler (1934), Klavierquartettspieler (1936) und Klavierquintettspieler (1937) an. 1935 gab Altmann zudem Albert Tottmanns in letzter Auflage 1902 erschienenen Führer durch den Violin-Unterricht, den er im Handbuch für Streichquartettspieler gelegentlich zitiert, in einer erweiterten Fassung, die auch die seit 1901 neu erschienenen Werke berücksichtigt, als Führer durch die Violin-Literatur neu heraus.

Altmann stand im 71. Lebensjahr, als 1933 die Nationalsozialisten an die Macht gelangten. Seine publizistische Tätigkeit blieb von den veränderten politischen Umständen zunächst unberührt. So würdigte er nach wie vor in seinen Büchern die Leistungen von Komponisten jüdischer Abstammung wie Felix und Arnold Mendelssohn, Friedrich Gernsheim, Robert Kahn, Erich Wolfgang Korngold, wobei er Anton Rubinstein vorsichtigerweise im Handbuch für Klaviertriospieler als „arischen Sibirier“ etikettierte. 1940 allerdings machten die nationalsozialistischen Autoren Herbert Gerigk und Theophil Stengel in ihrem Lexikon der Juden in der Musik publik, dass Altmann jüdische Vorfahren hatte und nach NS-Terminologie als „Halbjude“ zu gelten habe. Infolge dessen wurde ihm Publikationsverbot erteilt. Altmann gelang es jedoch zu erreichen, dass der Präsident der Reichskulturkammer, Propagandaminister Goebbels, ihm eine Sondererlaubnis zur weiteren schriftstellerischen Betätigung erteilte, die ihn bis zum Ende der nationalsozialistischen Herrschaft vor weiteren Repressalien schützte. 1945 siedelte Wilhelm Altmann aus dem zerstörten Berlin in das niedersächsische Dorf Wesseln über. Er starb am 25. März 1951, kurz vor seinem 89. Geburtstag, in Hildesheim.

Altmanns Handbuch für Streichquartettspieler, Ausgabe von Heinrichshofen’s Verlag 1972

Die Musik war die lebensspendende Ader in Wilhelm Altmanns Dasein. Über Jahre mag sie verdeckt im Untergrund geschlagen haben, doch trat sie nach und nach immer stärker hervor, bis sie zuletzt sein Leben voll und ganz bestimmte. So sind auch seine Bücher Zeugnisse innigster Liebe zur Musik und zum Musizieren. Bereits vom Umfang her beeindruckt dieses Textkorpus, und noch größer wird die Achtung vor seinem Verfasser, bedenkt man, dass er den allergrößten Teil der Werke, die er darin bespricht, aus eigener praktischer Erfahrung kannte. Die Kammermusik-Handbücher sind somit auch Zeugnis einer lebenslang nie versiegenden Wissbegier. Altmann wollte möglichst viel Musik kennen und möglichst viel guter Musik helfen, zum Erklingen zu kommen. Die Besprechungen zeigen ihn als grundehrlichen Charakter, der mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg hält und deutlich ausspricht, was ihm zusagt und was nicht. Oft legt er dabei auch ein gutes Wort für solche Werke ein, die ihm nicht der öffentlichen Aufführung wert erscheinen, die er jedoch zum häuslichen Musizieren durchaus für geeignet hält – und mehrfach kann man sein Bedauern spüren, wenn er feststellen muss, dass sich ein Meisterwerk neuerer Zeit aufgrund zu hoher spieltechnischer Herausforderungen Dilettantenkreisen nicht mehr empfehlen lässt.

Altmanns Interesse erstreckte sich immer auch auf die Musik seiner Zeitgenossen. Der jüngste im Handbuch für Streichquartettspieler besprochene Komponist, Erwin Dressel, war zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des entsprechenden Bandes 20 Jahre alt, 47 Jahre jünger als Altmann selbst. In der Beurteilung zeitgenössischer Werke zeigt sich freilich, dass Altmann keineswegs einem radikalen Avantgardismus das Wort redete. Modernes Empfinden war für ihn unlösbar mit der Tradition verbunden, und Musik, in der er diese Verbindung nicht finden konnte, fand vor seinen Ohren keine Gnade. War es ihm allerdings möglich, sich in den Stil eines zeitgenössischen Werkes hineinzuversetzen, bejahte er es ausdrücklich. So gestand er etwa Artur Schnabel zu, in seinem Ersten Streichquartett „harmonische Wege ein[zuschlagen], die möglicherweise die Musik und ihre Ausdrucksmöglichkeiten weiterbringen“. Angesichts des „polytonalen, von Intonationsschwierigkeiten strotzenden“ Dritten Quartetts von Frank Bridge fragte er sich zwar: „Was würde wohl Meister Joseph Joachim über dieses Quartett zu Bridge gesagt haben, der in seinem Londoner Quartett eine Zeit Bratsche gespielt hat?“, erblickte jedoch „seelische Werte“ in dem Stück und empfahl Künstlervereinigungen, nicht daran vorüberzugehen. Auch über Bartók, Wellesz, Toch, Milhaud, Jarnach und Hindemith äußerte er sich anerkennend, wenngleich nicht in jedem Fall völlig zustimmend. Arnold Schönberg, Anton von Webern und Ernst Krenek dagegen blieben ihm fremd.

Altmann hat nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass er über die Kompositionen, die er in seinen Büchern vorstellt, ganz subjektiv urteilt. Weder bei den „modernen“, noch bei den älteren Werken braucht man immer mit ihm einer Meinung zu sein. Aber man nehme seine Bücher als Anregungen, die Werkbesprechungen als Empfehlungen eines ungemein erfahrenen Musikers, der in seinem Leben viel gehört und viel gespielt hat! Darin besteht der immense Wert des Lebenswerkes, das uns Wilhelm Altmann hinterlassen hat.

Zur Zeit sind das Handbuch für Klaviertriospieler, das Handbuch für Klavierquartettspieler und das Handbuch für Klavierquintettspieler nur antiquarisch oder über Bibliotheken verfügbar. Keines dieser Bücher wurde bislang neu aufgelegt. Die vier Bände des Handbuchs für Streichquartettspieler wurden 1972, 45 Jahre nach der Erstausgabe der beiden ersten Bände, von Heinrichhofen’s Verlag, Wilhelmshaven, in zweiter Auflage herausgebracht, und sind heute über den Verlag Florian Noetzel GmbH zu beziehen.

[Nobert Florian Schuck, März 2021]

Kleines Beethoven-Vademecum (2): Gedanken zu Artur Schnabels Beethoven-Aufnahmen

Sonaten 1-3: Naxos 8.110693; EAN 0636943169322
Sonaten 4-6 & 19-20: Naxos 8.110694; EAN 0636943169421
Sonaten 7-10: Naxos 8.110695; EAN 0636943169520
Sonaten 11-13: Naxos 8.110756; EAN 0636943175620
Sonaten 14-16: Naxos 8.110759; EAN 0636943175927
Sonaten 17, 18, 21: Naxos 8.110760; EAN 0636943176023
Sonaten 22-26: Naxos 8.110761; EAN: 0636943176122
Sonaten 27-29: Naxos 8.110762; EAN: 0636943176121
Sonaten 30-32: Naxos 8.110763; EAN 00636943176320
Eroica-Variationen und Bagatellen: Naxos 8.110764; EAN 0636943176429
Diabelli-Variationen und Bagatellen: Naxos 8.110765; EAN 0636943176528
Klavierkonzerte 1-2: Naxos 8.110638; EAN 0636943163825
Klavierkonzerte 3-4: Naxos 8.110639; EAN 0636943163924
Klavierkonzert 5 und Cello-Sonate 2: Naxos 8.110640; EAN 0636943164020

Artur Schnabel war der erste Pianist, der Aufführungen sämtlicher Klaviersonaten Ludwig van Beethovens auf Schallplatte festgehalten hat. Oliver Fraenzke, Gründer unseres Magazins, Herausgeber der Kammermusik-Reihe Beyond the Waves im Verlag Musikproduktion Jürgen Höflich und selbst Pianist, stellt diese diskographische Großtat in der zweiten Folge unseres Kleinen Beethoven-Vademecums vor und legt dar, warum sie nach wie vor für die Darbietung Beethovenscher Klaviermusik Referenzstatus besitzt. (d.Red.)

Betrachtet man Beethovens Klavierwerk, so kommt man kaum um die Aufnahmen Artur Schnabels herum, die weit oben in der Liste der Referenzaufnahmen stehen, als Zyklus betrachtet wohl sogar mit an deren Spitze. Sicherlich gibt es zahlreiche andere großartige Aufnahmen von Beethovens Tastenwerk, so beispielsweise durch Eduard Erdmann oder Arturo Benedetti Michelangeli, doch kaum einer von den Pianisten diesen Ranges näherte sich dem Komponisten derart systematisch in der Gesamtheit seines Schaffens. Aus den 1920er-Jahren existieren Konzertprogramme Schnabels, die zyklische Aufführungen aller Beethoven-Sonaten belegen; in den 1930er-Jahren empfand Schnabel schließlich die Aufnahmetechnik als ausreichend gereift, um mit den Sonaten, Klavierkonzerten, den Diabelli- und den Eroicavariationen und einigen anderen Werken ins Studio zu gehen, wobei er die Abbey Road Studios in London für das Großprojekt auserkor.

In der Auswahl seines Repertoires galt Artur Schnabel als unerbittlich: Ausschließlich die Werke nahm er auf, die laut eigener Aussage besser sein, als ein Mensch sie spielen könne. Dies führte dazu, dass er beinahe ausschließlich Werke der Epoche um die Wiener Klassik spielte, inklusive Brahms und Schubert. Letzteren entdeckte Schnabel gemeinsam mit Eduard Erdmann wieder und konzertierte als einer der ersten mit dessen Sonaten, die zuvor wenig verstanden waren. Der Fokus auf die vergleichbar alte Musik mag vor allem deshalb verwundern, da Schnabel auch als Komponist in Erscheinung trat und dort zu den Neuerern zählte. Beeinflusst vom Durchbrechen der Tonalität und den Ideen Schönbergs schloss Schnabel sich den Fortschrittlern an, bewegte sich in den Kreisen von Ernst Křenek, Philipp Jarnach und Hans Jürgen von der Wense, der zweifelsohne zu den radikalsten Tonsetzern der Zeit zählte und in seiner ganzen Art sowie seinem vielseitigen Wirken revolutionierte. Schnabel betitelte seine Werke allgemein mit klassischen Bezeichnungen wie Sonate, Quartett oder Symphonie, doch inhaltlich hatten sie zumeist wenig mit diesen Gattungen gemein.

Geboren wurde Artur Schnabel am 17. April 1882 in Kunzendorf, Galizien, das heute zum südöstlichen Teil Polens gehört. Er wuchs in ärmlichen Verhältnissen als jüngstes von drei Kindern einer jüdischen Textilhändler-Familie auf. Er zog noch als Kind mit der Mutter und seinen Geschwistern nach Wien, wo er 1890 als Pianist debütierte und dort wohnhaft blieb, selbst als seine Familie vier Jahre später wieder in die Heimat zurückzog. Er wurde Schüler von Anna Jessipowa, die als „Madame Essipoff“ bekannt war, und nach deren Scheidung Schüler ihres Exgatten Theodor Leschetizky, einer der namhaftesten Lehrer der Zeit und Mitbegründer der heute sogenannten russischen Klavierschule. Eusebius Mandyczewski unterwies Artur Schnabel in Musiktheorie und gab ihm Kompositionsunterricht; durch ihn kam er auch in Kontakt mit einigen der großen Komponisten der älteren Generation wie unter anderem Johannes Brahms, wobei scheinbar wenig Austausch zwischen den etablierten Meistern und dem jugendlichen Aufsteiger stattgefunden hat. Um die Jahrhundertwende zog Schnabel nach Berlin und heiratete 1905 Therese Behr. Therese Behr-Schnabel wirkte als Altistin, trat oft auch mit ihrem Ehemann auf. 1909 kam Karl Ulrich auf die Welt, der sich selbst als Pianist einen Namen machte und gemeinsam mit seinem Vater einen Großteil des vierhändigen Repertoires einspielte, 1912 folgte Stefan Artur, welcher in Amerika Schauspieler wurde. (Bereits 1899 war Schnabel Vater einer vorehelichen Tochter geworden, Elisabeth Rostra.) Nach Hitlers Machtergreifung 1933 flüchtete die Familie in Vorahnung unmittelbar nach England, verbrachte die Sommer jedoch in Tremezzo. Als der Krieg unausweichlich schien, emigrierten die Schnabels 1939 in die USA, die Schwestern folgten – die Mutter blieb in Österreich, wurde 1942 nach Theresienstadt deportiert und kam dort im gleichen Jahr zu Tode. Nach dem Krieg kehrte die Familie nach Tremezzo zurück, Artur verlebte dort seine letzten Jahre und starb am 15. August 1951 in Morschach in der Schweiz.

Die für seine Entwicklung bedeutsamsten Jahre dürften nach der fundamentalen Ausbildung in Wien wohl diejenigen in Berlin gewesen sein, wo Schnabel in regem künstlerischen Austausch mit einigen der bedeutendsten Komponisten und Musikern gewesen ist sowie den Durchbruch als konzertierender Pianist errang. Einer der wahrscheinlich zentralsten Einflüsse dürfte der durch den vierzehn Jahre jüngeren Eduard Erdmann gewesen sein: die beiden lernten sich vermutlich 1920 kennen, als Erdmann sich gerade als einer der zentralsten Vertreter der Szene Neuer Musik etablierte, mit Aufführungen u.a. seines Lehrers Heinz Tiessens, Scherchens, Bergs, Schönbergs etc. von sich Reden machte. Erdmann sah Schnabel gewissermaßen als eine Art Lehrer, befolgte insbesondere seine Lebensratschläge und nahm wichtige Anschauungen Schnabels an. Und doch handelte es sich um ein Verhältnis auf Augenhöhe. Schnabel schätzte Erdmann besonders auch als Darbieter seiner eigenen Werke und übernahm als Komponist seinerseits musikalische Inspirationen von seinem Kollegen. Schubert entdeckten sie gemeinschaftlich wieder und zurückblickend schuf sogar Erdmann die tiefgründigeren Aufnahmen dessen Klavierwerks (insbesondere der letzten Sonaten und der Impromptus). Zu Beethoven bemerkte Erdmann allerdings, dass keiner dessen Sonaten so verstand, wie Schnabel es tat, und er selbst nichts hinzuzufügen hätte. Aus diesem Grund weigerte sich Erdmann, Beethovens Sonaten aufzunehmen, solange Schnabel lebte: erst 1953 spielte er, bereits als von der Kriegszeit gezeichneter Mann mit schwindender manueller Technik, nicht aber geistiger Durchdringung, die Pathétique ein.

Schnabels Beethoven-Aufnahmen entstammen seinen reifen Jahren: Die meisten fallen in die Zeit seiner frühen 50er, als sich die Erfahrungen seiner bereits über 40 Jahre währenden Karriere längst in einem gesetzten, bewussten und ausgeglichenen Spiel manifestiert haben. Schnabel blieb durch den regen Austausch in Berlin frisch und lebendig und stand den musikalischen wie technischen Neuerungen gegenüber stets offen. Jede der Aufnahmen zeugt von intensiver und vor allem präzise detailverliebter Beschäftigung mit ausnahmslos einem jeden dieser Werke. Schnabel vertrat genaue Werktreue und so setzte er die Partituren minutiös um. Dabei spielte er allerdings nüchterner, distanzierter, als es beispielsweise Erdmann tat. Nichtsdestoweniger fehlt auch die emotionelle Seite der Werke nicht und die Musik funkelt vor Lebendigkeit und Frische. Als Zyklus betrachtet zeugen die Einspielungen vor allem von einem: umfassender Menschlichkeit. Schnabel stellt Beethoven nicht als wilden, zerzausten Berserker da, der die Regeln brach und als Raptus das Aufsehen auf sich zog, so wie man es von neueren Einspielungen viel zu leidlich kennt, sondern zeigt ihn als vielschichtige, ausgeglichene Persönlichkeit, dessen kompositorische Ausbrüche stets integriert werden in ein komplexeres Ganzes. Beethoven wird uns sympathisch.

Technisch stechen besonders Schnabels Feinheiten des Anschlags hervor, seien es die schimmernden Läufe oder die geräuschhaft schnellen Triller, vor allem aber stockt einem der Atem, sobald Schnabel Pianissimo spielt. Über lange Strecken bannt der Pianist den Höher durch sein weltfremdes, gedämpftes Spiel in den ruhigsten Passagen, hält die Spannung bis zum Zerreißen in der Schwebe und bringt die Zeit zum Stillstand. Mit dieser Basis spannt er große Kontraste und eröffnet ein gewaltiges Spektrum an Farben und Möglichkeiten, die zu einem unerhört formbezogenen Spiel führen, was uns selbst die weiten Flächen der letzten Sonaten mühelos nachvollziehen lassen.

In keiner Sekunde buhlt Schnabel dabei um Aufmerksamkeit, sondern spielt lediglich für den Komponisten, für die Noten und für den verständigen Hörer, der nicht geblendet werden will, sondern der Musik zuliebe hört. Entsprechend könnten Hörer, die sich an den Effekt neuerer Aufnahmen gewöhnt sind, irritiert werden von der Leichtigkeit, Lebendigkeit und unprätentiösen Herangehensweise an diese Werke.

In den Beethovenaufnahmen seien besonders die getragenen Sätze hervorzuheben, die Schnabel enorm langsam nimmt, dabei aber zu keiner Zeit schleppt, so dass in der Wirkung die Zeit still zu stehen scheint und dennoch in gemächlichem Maße prozessiert. Seine beachtliche Fingertechnik stellt der Pianist nie zur Schau, kehrt sie im Gegenteil teils sogar unter den Tisch, um umso mehr Platz für musikalische Ausgestaltung zu gewinnen. Natürlich gibt es kleinere Fehler oder Ungenauigkeiten im Vergleich zum neueren (auch Live-)Aufnahmen, was ich jedoch nicht als Manko sehe, denn auch sie stehen für die menschliche Seite der Musik. Zudem nimmt man sie gerne in Kauf für solch ein durch und durch musikalisches, ausgewogenes und formbewusstes Spiel, das auch die längsten Sätze als Ganzes erfasst.

In den frühen, Beethovens Lehrer Haydn gewidmeten Sonaten vollzieht Schnabel den Stilentwicklungsprozess pianistisch nach, stellt sie in Haydn’scher Feinheit des Spiels dar. Schon in der beginnenden f-Moll-Sonate sticht sein brillantes Staccato-Spiel hervor, durch das die Noten zwar sehr kurz, aber dennoch mit Hall und Volumen kommen. Auch die Sforzati wägt Schnabel sauber ab, bezieht sie stets auf die aktuelle Grunddynamik. Im Adagio hören wir bemerkenswerte Pedalisierung, das Finale gestaltet er etwas freier. Die folgende A-Dur-Sonate beginnt ausgesprochen fröhlich und locker geradlinig, was den ganzen Satz durchgeht, der in dieser Heiterkeit verweilt – hier wirken neuere Darbietungen doppelbödiger und zwiegespaltener, doch Schnabel setzt seine Ansicht stimmig um. Das Largo gestaltet er herrlich zweischichtig, nimmt die Melodie als reinen Gesang mit einer Art Streicherbegleitung. Das Finale erscheint wenig virtuos, dafür umso sanglicher mir subtilen Freiheiten, das Grazioso hären wir so wörtlich wie selten sonst. Die umfangreichere C-Dur-Sonate nimmt Schnabel klassisch fein und ausdrucksstark, intensiviert die Kontraste. Sehr sympathisch erscheint mir, dass selbst Schnabel mit der Trillerbewegung im Thema zu kämpfen hat: hieran dürfen sich alle Pianisten erfreuen, die selbst um dieses Detail gerungen haben. Im Adagio erleben wir, wie laut Pausen sprechen können und schmerzlicher rufen als die Noten an sich; der Mollteil changiert zwischen Zweifel und Hoffnung, Aufbegehren und Resignation: Momente der Gänsehaut. Das Scherzo springt gelöst herum, dabei wirkt vor allem das Trio völlig unprätentiös, was angesichts des Notensatzes einem Wunder gleicht – dafür fokussiert Schnabel sich auf die Bassführung. Wieder leichtfüßig kehrt das Finale ein, wobei Schnabel jedes der Motive in klaren Bezug setzt und so einen roten Faden durch den vielgliedrigen Satz zieht.

Schreiten wir etwas zügiger durch die darauffolgenden Sonaten, konzentrieren uns nur auf ein paar besonders auffällige Stellen. Aus der siebten Sonate op. 10/3 sticht der Largo-Mittelsatz hervor, der so enorm langsam gespielt wird, dass Schnabel jede einzelne Note mit Bedeutung füllen muss. Er setzt sie um wie eine Cellostimme; die Qualität jeden Anschlags übersteigt hierbei, so meint man zumindest, die physikalischen Möglichkeiten eines Klaviers. Im Rondo glänzt die Unterstimme, flächig klangmalerisch unterstreicht sie die Melodie, bleibt dabei in jeder Note verständlich. Die Pathétique weitet erneut die Kontraste, das Fortissimo findet seine Grenze an Robustheit und Lärmen, ohne dabei hart oder geschlagen zu wirken. Im Hin und Her, Drängen und Zurückhalten des Beginns intensiviert Schnabel die Spannung, löst sie erst im Allegro, wo er unerbittlich nach vorne zieht und ein ewiges Precipitato-Gefühl evoziert. Der Mittelsatz trumpft wieder durch seine Kantabilität auf, präsentiert romantischen Flair in klassischem Gewand. Das Finale gewinnt schließlich die lang ersehnte Leichtigkeit und Gelöstheit, auf die die ganze Sonate abzielt, beruhigt das Gemüt nach der enormen Spannung der Vorausgegangenen. Eines der wenigen Details, die mir in Schnabels Darbietungen unverständlich erscheinen, finden wir im Finale der E-Dur-Sonate op. 14/1: warum beschleunigt Schnabel auf das Crescendo? Dies unterminiert die geradlinige Fröhlichkeit des Satzes. In der folgenden G-Dur-Sonate besticht einmal mehr der Mittelsatz, trotz der kurzen Staccati hebt Artur Schnabel die Melodie in den Vordergrund und gestaltet sie kompromisslos aus. Das Scherzo avanciert zu einer aufsehenerregenden Gradwanderung zwischen operettenhafter Stimmung und düster-gespenstischem Satz, in der Kürze der Motive beinahe fragmentarisch wirkend.

Die stilistische Auswägung der mittleren Sonaten ist allgemein erwähnenswert. So ist beispielsweise die sogenannte „Mondschein“-Sonate überhaupt nicht so romantisierend gespielt, wie man sie heute viel zu oft hören muss, sondern besticht durch gehaltenes, dabei durchgängiges Tempo, das die Wirkung auf die Spitze bringt und über lange Strecken die eiserne Spannung aufrechterhält. Umso vorwärtsdrängender das Finale, welches beinahe aggressiv aufstößt und die Sforzati wie Aufschreie hervorblitzen lässt. Die folgenden Sonaten integrieren zusehends mehr orchestrale Farben in das Klavier: während das Andante der „Pastorale“ wieder einen Beweis für brillante Zweistimmigkeit mit feinsinnigem Staccato liefert, erscheint das Adagio der G-Dur-Sonate op. 31/1 bereits völlig orchestral mit Holzbläserstimmen als Melodie und dichter Streicherbegleitung. Im Finale der Pastoral-Sonate denken wir dafür, eine Harfe zu hören. In der 31/1 ist noch der Beginn zu erwähnen, der fast wie ein Scherzo daherkommt, keck virtuos, und doch ohne jegliche Form der Zurschaustellung. Wie bereits bei der Sonata quasi una fantasia, so nimmt Schnabel auch die „Sturm“-Sonate op. 31/2 keineswegs klischeehaft romantisch, er treibt die Spannung nicht durch Rubato unnötig in die Höhe, sondern lässt die Noten durch Präzision und ausgewogenen Anschlag durch sich sprechen. Das Finale stellt den bisherigen Höhepunkt von Schnabels vielseitiger Staccatokultur dar. Die Es-Dur-Sonate op. 31/3 gehört zu den Sonaten, die unbedingt mehr zu entdecken sind. Schnabel setzt sie in unendlicher Schönheit um mit augenzwinkernden Details, in springender Heiterkeit mit wohl dosierten Proportionen. Die technischen Anforderungen des Scherzos stellt er vollends in den Dienst der musikalischen Ausgestaltung; das Presto nimmt er rasend schnell, bleibt fein und technisch unscheinbar. In der „Wandstein“-Sonate op. 53 gilt es, sich die Ressourcen einzuteilen, um die Form zu bewältigen, was Schnabel durch langes Beharren in den unteren Dynamikstufen und graduellen Aufbau realisiert und so den gesamten Bogen des Satzes musikalisch ausfüllt. Im Adagio zählt dagegen jeder Ton, jede subtile Wendung wird adäquat unterstrichen, ohne sie überzubetonen. Der Beginn des Rondos schwebt förmlich über allen Wolken, so surreal wirkt das Pianissimo in Schnabels Händen.

In den späten Sonaten spreizen sich die Kontraste bis zum Zerbersten auf, dabei wird die Aussage auf ihre Weise kompakter. Ich würde mich hüten, diese Werke einer „Epoche“ zuzuordnen, denn dieser Stil ist ausschließlich später Beethoven und nichts sonst. Jede Sonate steht monumental für sich alleine in der Musikgeschichte und verlangt nach unbefangenem Herangehen, enormem Bewusstsein und musikalischer Imaginationsgabe. Schnabel blüht hier voll auf und kreiert einen Höhepunkt der Klavierkunst. Besonders die langsamen Passagen wirken wie Wunder, vollendeter Tastengesang und unendlich fein abgestufte Dynamiknuancen bereiten den Weg, die „himmlischen Längen“ zu bewältigen, die durch seine facettenreiche Artikulation und die überirdischen Pianissimopassagen (besonders -triller) bis ins Letzte ausgestaltet werden. Die flirrenden Begleitungen raunen orchestral ausgestaltet, während die Oberstimme schwebt, stets im Bewusstsein über Form und Proportion.

Die Klavierkonzerte Beethovens nahm Artur Schnabel gemeinsam mit dem London Symphony Orchestra und dem London Philharmonic Orchestra unter Leitung Malcolm Sargents auf. Das Klavier erscheint dabei auf das Orchester klanglich abgestimmt, verliert dabei nicht seine Distanz und seinen individuellen Klang, wirkt entsprechend wie ein wohl dosierter Kontrapunkt. Schnabel übernimmt eine reiche Palette an Orchesterfarben aufs Klavier, nutzt ebenso aber die rein klavierspezifischen Klangfarben, um das Zusammenspiel durch unterschiedliche Facetten zu bereichern.

[Oliver Fraenzke, Februar 2021]

Neue Chefredaktion bei The New Listener

Wer The New Listener regelmäßig verfolgt hat, wird in den letzten Monaten einige Änderungen festgestellt haben. Mag es sein, dass die Artikel von meiner Seite rarer wurden, dass plötzlich ein neuer Autor dafür in gewisser Regelmäßigkeit schreibt, vielleicht auch ein paar andere graphische Feinheiten im Beitragslayout. Mit diesem Text sei der Grund erläutert und offiziell gemacht: Ich trete von meinem Posten als Chefredakteur von The New Listener zurück und übergebe dieses Amt Norbert Florian Schuck als meinen Nachfolger.

Der Übergang ist bereits seit Sommer am Laufen und erfolgte allmählich und fließend, doch schon seit einiger Zeit war es Florian Schuck, der die Artikel einstellte und die Organisation übernahm. Nun gebe ich auch die Chefredaktion endgültig weiter.

So darf ich an dieser Stelle zurückblicken auf fünfeinhalb Jahre, die ich The New Listener leiten durfte. Nie hätte ich geahnt, wo mich die Reise hinführt, die ich im Sommer 2015 begann, als ich die Seite gründete. Über 400 Artikel habe ich seit dem alleine für The New Listener geschrieben, reiste dafür mehrfach nach Norwegen, nach Luxemburg, Österreich und in die Schweiz, traf inspirierende Künstler*Innen und vor allem: erlebte prägende Musik.

Das Verlangen, Musik zu vermitteln, befeuert meine Arbeit und wird es immer tun. Kunst ist für alle da und alle sollen auf möglichst viele Kanäle an ihr teilhaben sollen. Als Musiker wie als Musikwissenschaftler wie als Journalist sehe ich meine Aufgabe darin, die Musik so durchdringend zu ergründen, wie es mir gelingen mag, sie in ihrer Gesamtheit aufzugreifen und, sofern dies ein erreichbares Ziel darstellt, sie zu verstehen. Die Resultate daraus, gleich welcher Form, sollen den Hörer*Innen und Leser*Innen helfen, dies ebenso zu tun; denn nicht jeder kann sein Leben eben dieser hinreißenden Kunst widmen, und hat dennoch ein natürliches Anrecht darauf, sie so umfassend wie möglich zu genießen.

Die Aufgabe eines Rezensenten besteht entsprechend auch nicht daraus, zu urteilen, sondern zu beschreiben. Natürlich macht auch das Präselektieren einen gewissen Teil der Tätigkeit aus, doch nicht um der Künstler*Innen Willen oder Unwillen, sondern um den der Hörer*Innen. So bestand bei The New Listener von der ersten Sekunde an die Selbstverständlichkeit der freien und unbeeinflussten Äußerung: dies bedeutet vor allem, dass die Rezension nicht durch geldwerte Vorteile, Anzeigenschaltung oder Bezahlung getrübt wird, sondern stets auf gleicher fairer, neutraler Basis beruht. Und ich weiß, dass dies auch bei Florian Schuck so der Standard bleibt, was mir die Übergabe leichtfallen lässt.

(Norbert) Florian Schuck schätze ich als einen der fundiertesten Musikwissenschaftler, die ich überhaupt kenne. Seine bedingungslose Liebe zum Detail und zur Ergründung noch der kleinsten Ungenauigkeit machen ihn aus, nie gibt es sich mit Unvollständigem zufrieden. Sowohl inhaltlich als auch stilistisch darf er als Perfektionist betrachtet werden, selbst informelle Nachrichten avancieren bei ihm zu Kleinoden der Schreibkunst. Und mehr als alles andere: Er ist ein grenzenloser Förderer der Musik, der sich selbstlos in den Dienst der Kunst stellt, ohne eigenen Vorteil für sie ins Feuer gehen würde.

In fünfeinhalb Jahren hat sich viel getan und The New Listener reifte zu einer viel beachteten Plattform heran, deren Freiheit und Hingabe, deren Ideologie von sich reden machte. Jetzt ist es an der Zeit, dass sie sich weiter entwickeln kann, angereichert mit neuen Ideen und Möglichkeiten. Ich selbst schreibe gerne weiterhin für The New Listener, wenngleich mich auch neue Ideen und Projekte in ihren Bann ziehen und meine Aufmerksamkeit fordern. So nenne ich die Übergabe eine Modulation, die das gleiche Stück auf eine neue Ebene katapultiert.

Ich danke für jeden gelesenen Text, jede wohlgemeinte Reaktion und jede beflügelnde Erkenntnis, die uns gegenseitig der Musik näher bringt.

Ihr Oliver Fraenzke

Boris Tschaikowskij zum 25. Todestag

Ich halte ihn für ein Genie. […] Und ich glaube, eines Tages werden die Leute bemerken, daß es zwei große Komponisten gibt, die den gleichen Namen tragen.“ Der Name, von dem Mstislaw Rostropowitsch hier spricht, lautet „Tschaikowskij“. Der eine der beiden Komponisten ist der berühmte Tonsetzer aus dem 19. Jahrhundert. Der andere ist Boris Alexandrowitsch Tschaikowskij, dessen Todestag sich heute zum 25. Male jährt.

In dem Vierteljahrhundert seit seinem Tode ist Boris Tschaikowskij, dessen erste größere Werke Mitte der 1940er Jahre entstanden, zu einem der international bekanntesten russischen Komponisten des 20. Jahrhunderts geworden, und gehört mittlerweile zu den diskographisch am besten erschlossenen. Bis auf wenige Nebenwerke liegt nahezu sein ganzes Instrumental- und Vokalschaffen auf CD vor. Zu Produktionen aus sowjetischer Zeit treten dabei zahlreiche Einspielungen jüngeren Datums. Die seit der Jahrtausendwende rasch ansteigende Veröffentlichung von Aufnahmen seiner Musik trug wesentlich dazu bei, dass auch für Musikfreunde außerhalb Russlands das Bild der Künstlerpersönlichkeit Boris Tschaikowskij immer stärker an Kontur gewann. Man konnte nun erkennen, dass dieser Komponist, der zunächst vor allem als Schostakowitsch-Schüler oder -Nachfolger wahrgenommen wurde und in seinen letzten Lebensjahren, was öffentliche Aufmerksamkeit betraf, im Schatten der etwas jüngeren Avantgardisten um Alfred Schnittke stand, einer der begabtesten und auch eigenständigsten Meister seiner Zeit gewesen ist.

Boris Tschaikowskij wurde am 10. September 1925 als Sohn eines Wirtschaftsgeographen und einer Medizinerin in Moskau geboren. Im Alter von neun Jahren begann er seine musikalische Ausbildung an der Gnessin-Musikschule und wurde 18-jährig Schüler des hervorragenden Symphonikers Wissarion Schebalin am Moskauer Konservatorium. Als Dmitrij Schostakowitsch 1946 begann, am Konservatorium zu unterrichten, empfahl ihm Schebalin, Tschaikowskij in seine Kompositionsklasse aufzunehmen. 1947 vollendete Tschaikowskij seine Erste Symphonie, die Schostakowitsch so begeisterte, dass er sie Jewgenij Mrawinskij zur Aufführung empfahl. Die bereits angesetzte Premiere kam 1948 jedoch nicht zustande. Als im Zuge der „antiformalistischen“ Kampagne von Stalins rechter Hand Andrej Shdanow auch Schebalin und Schostakowitsch öffentlich scharf kritisiert und ihrer Lehrämter am Moskauer Konservatorium enthoben worden waren, weigerte sich Tschaikowskij, der Aufforderung nachzukommen, sich von seinen Lehrern zu distanzieren. Sein bisheriges Schaffen wurde deshalb ebenfalls als „kontaminiert“ betrachtet, die Uraufführung der Symphonie Nr. 1 erst 1962 nachgeholt. Weitgehend unbeachtet schloss Tschaikowskij 1949 sein Studium bei Nikolai Mjaskowskij ab und wurde dadurch zu einem der letzten Schüler des Begründers der sowjetischen Symphonik. Folgendes Zeugnis Mjaskowskijs belegt, dass Tschaikowskij auch der Stolz dieses Lehrers war: „Boris Tschaikowskij ist ein sehr begabter junger Komponist mit guter Kompositionstechnik und einer unzweifelhaft bedeutenden schöpferischen Individualität.“

Nach dem dramatisch abgebrochenen Beginn seiner Laufbahn führte Tschaikowskij zunächst ein unauffälliges Leben als Mitarbeiter in der Musikabteilung des All-Unions-Rundfunks. 1952 gab er diese Stelle auf, um nur noch als freischaffender Komponist zu arbeiten. Seine besondere Fertigkeit auf dem Gebiet der angewandten Musik sprach sich herum und wurde offensichtlich hoch geschätzt, sodass er seinen Lebensunterhalt zum großen Teil aus den mehr als ein halbes Hundert Theater-, Hörspiel- und Filmmusiken bestreiten konnte, die er bis 1987 komponierte. Als nach Stalins Tod 1953 die staatliche Gängelung der Künstler nach und nach gelockert wurde, begann auch Boris Tschaikowskij, im sowjetischen Musikleben allmählich bekannt zu werden, wobei er sich der Unterstützung namhafter Dirigenten und Solisten wie Alexander Gauk, Kirill Kondraschin, Rudolf Barschai, Wladimir Fedossejew, Mstislaw Rostropowitsch und Viktor Pikaisen erfreuen konnte. 1968 wurde er, auf Empfehlung Schostakowitschs, von Georgij Swiridow ins Komitee des Russischen Komponistenverbandes berufen, eine Position, die er bis 1973 – auf eigenen Wunsch ehrenamtlich – einnahm. In ähnlicher Funktion war er während der 1980er Jahre auch im Sowjetischen Komponistenverband tätig. Durchaus von Seiten des Staates geehrt (Staatspreis der UdSSR 1969 für die Symphonie Nr. 2, Volkskünstler der UdSSR 1985), gehörte er jedoch nie zu den bevorzugt von der Partei geförderten Komponisten. Auch liegen keine politisch konnotierten Kompositionen von ihm vor. 1989 erhielt Tschaikowskij eine Kompositionsprofessur an der Russischen Gnessin-Musikakademie in Moskau, die er bis zu seinem Tode am 7. Februar 1996 inne hatte. Der Pflege seines Andenkens und der Verbreitung seiner Werke widmet sich die 2002 auf Initiative seiner Witwe, der Musikwissenschaftlerin Janina Tschaikowskaja-Moschinskaja, gegründete Boris-Tschaikowskij-Gesellschaft (Russisch: Общество Бориса Чайковского; Englisch: The Boris-Tchaikovsky-Society).

Tschaikowskij gehört – wie Qara Qarayev, Alexander Lokschin, Arno Babadschanjan, Eduard Mirsojan, German Galynin, Revol Bunin, Michail Nossyrew, Weniamin Basner, Andrej Eschpai, Boris Parsadanjan, Sulchan Zinzadse (auch der gebürtige Pole Mieczysław Weinberg ist hier zu nennen) – zu einer Generation von Komponisten, die im ersten Jahrzehnt nach der Oktoberrevolution zur Welt kamen. Die entscheidenden Jahre ihrer künstlerischen Entwicklung fallen somit in eine Zeit, die wesentlich vom Schaffen Dmitrij Schostakowitschs bestimmt wurde. Schostakowitsch hatte selbst Mitte der 30er Jahre eine stilistische Metamorphose vollzogen und sich von den avantgardistischen Experimenten seines Frühwerks abgewendet. Seine öffentliche Demütigung als „Formalist“ und „Volksfeind“ durch die stalinistische Kulturpolitik im Jahr 1936 mag diese Entwicklung besiegelt haben; Werke wie die bereits zuvor entstandene Cellosonate, aber auch die Lady Macbeth von Mzensk, zeigen indessen, dass die Ursachen der Wandlung künstlerischer Art gewesen sein müssen. In der Fünften und Sechsten Symphonie trat dann zum ersten Mal jener Stil zu Tage, der sich mit dem Namen Schostakowitsch fortan verbinden sollte: ein melodiebetonter Stil aus dem Geiste eines typisch russischen Modusempfindens (lad), linear gedacht, von den mannigfaltigen Anreicherungsmöglichkeiten der hergebrachten Tonleitern intensiv Gebrauch machend; dabei im Tonsatz sparsam, eher zur Kargheit als zur Üppigkeit neigend; alles gekleidet in eine Instrumentation, die die Orchestergruppen oft getrennt, in „reinen Farben“, sprechen lässt. All diese Eigenschaften lassen sich auch an Tschaikowskijs Musik feststellen, dennoch findet sich bei ihm kaum ein Stück, das man für ein Werk Schostakowitschs halten könnte. Für Tschaikowskij (wie auch für manchen anderen Schüler Schostakowitschs) gilt das Wort Charles Koechlins: „Manchmal reicht ein einziger Takt eines genialen Kollegen aus, um uns das Tor zu den verzauberten Gärten zu öffnen, in denen wir dann vielleicht ganz andere Blumen pflücken dürfen als er selbst.“

Von Anfang an hat Tschaikowskijs Musik einen ganz anderen „Grundcharakter“ als diejenige Schostakowitschs. Es ist eine Musik, die ihre Kraft aus einer unerschütterlichen inneren Ruhe schöpft. Tschaikowskij war (neben seinem Altersgenossen Revol Bunin) der vielleicht feierlichste russische Komponist seiner Zeit; nicht feierlich im Sinne lärmender offiziöser Festmusik, auch nicht im Sinne orthodoxer Kirchenmusik, sondern auf eine frappierend an Franz Schubert oder Anton Bruckner gemahnende Art. Wie bei diesen ließe sich von einer Musik transzendenter Naturfrömmigkeit sprechen. Entsprechend geht ihr auch die Weltschmerz- und Anklagerhetorik Schostakowitschs ab. An deren Stelle tritt bei Tschaikowskij das freie Spiel musikalischer Elementarereignisse.

Das motivische Material Tschaikowskijs ist in der Regel entwaffnend einfach. Wenige Töne – ein Tonleiterausschnitt, eine rhythmische Formel, ein Intervall – werden ihm Anlaß zu mannigfachen Veränderungen, die ganz allmählich geschehen, wobei er ausgiebige Wiederholungen nicht scheut, wenn sie ihm angebracht erscheinen. Die Lakonik und Prägnanz der Motive mag gelegentlich an Mussorgskij oder Janáček erinnern, doch strebt Tschaikowskij im Gegensatz zu diesen Komponisten offenbar keine Annäherung der Musik an gesprochene Sprache (und die damit verbundene Kürze der musikalischen Sinneinheiten) an. Er ist ein geborener Symphoniker, den es nach Gestaltung langer Strecken und weiter Räume verlangt.

Tschaikowskijs melodische Begabung sei hier kurz anhand eines extremen Beispiels erläutert, das selbst im Schaffen dieses Komponisten einzigartig dasteht: der Kopfsatz seines Klavierkonzerts aus dem Jahr 1971. Er beginnt im Klavier mit einem 32mal von der rechten Hand angeschlagenen g‘, durchweg Achtelnoten. Die linke Hand spielt daraufhin die 32 Achtel eine Oktave tiefer, sodass in den ersten acht Takten des Stückes keine Harmoniefortschreitung, ja nicht einmal ein Akkord zu hören ist. In Takt 9 gehen die Achtelrepetitionen wieder auf g‘ weiter, wobei zu Beginn des Taktes die Streicher mitspielen. Am Anfang von Takt 11 erscheint erstmals mit b‘ ein neuer Ton, mit dem zweiten Achtel folgt a‘, das bis zum Ende von Takt 12 wiederholt wird. Spätestens hier wird klar, dass man es nicht mit schwungloser Repetitionsmusik, sondern mit der Eröffnung einer gewaltigen melodischen Entwicklung zu tun hat, die erst am Ende des Satzes zum Stillstand kommt. Hauptsächlicher Handlungsträger der Musik sind (wie übrigens auch in Beethovens Fünfter Symphonie) nicht die unablässig repetierten Achtel, sondern die von ihnen ausgefüllten, mehrere Takte langen Perioden, die mit ihren Harmoniewechseln die Atembewegungen einer ganz großen Melodie markieren. Wie es den Komponisten reizte, diesen Satz mit einer Folge unablässiger Achtelnoten zu füllen, so hat er überhaupt eine Vorliebe für von obstinaten Rhythmen durchzogene Klangflächen. Gern lässt er diese durch Gegeneinandersetzen rhythmischer Schwerpunkte fluktuieren.

Auch wenn kontrapunktische Passagen in seinen Werken selten sind, so prägt lineares Denken Tschaikowskijs Harmonik stark. Die Polyphonie erscheint meist in aufs äußerste reduzierter Form, nämlich als Akkordfortschreitung, aber sie ist nichtsdetoweniger da. Im Allgemeinen liebt Tschaikowskij das Kunstmittel der Reduktion: So kommen in seinen Werken immer wieder Abschnitte vor, in denen die melodieführende Stimme nur von wenigen Basstönen gestützt wird, oder sich über Orgelpunkten ausbreitet; mitunter verzichtet der Komponist ganz auf Begleitungen und schafft Abwechslung, indem er die Melodie von einer Instrumentengruppe zur nächsten wanden lässt. Der sparsame Tonsatz bewirkt, daß in dieser Musik jeder Ton zu einem Ereignis wird. Unterstützt wird dies von einer die ganze Farbpalette der Orchesters ausnutzenden Instrumentation, wobei Tschaikowskijs Gespür für intensive klangliche Ausleuchtung auch seine Kammermusikwerke prägt.

Verglichen mit Schostakowitsch oder seinem direkten Zeitgenossen Mieczysław Weinberg (dessen Todestag sich am 26. 2. 2021 ebenfalls zum 25. Male jährt) mutet Tschaikowskijs Werkverzeichnis relativ schmal an. Sein Schaffen umfasst an Orchestermusik: vier Symphonien, zwei Symphonische Dichtungen, je eine Kammersymphonie und Sinfonietta, Konzerte für Klavier, Violine, Violoncello und Klarinette, sowie verschiedene kleinere Orchesterwerke; an Kammermusik: sechs Streichquartette, ein Klavierquintett, ein Klaviertrio, ein Sextett, Sonaten für Violine und Violoncello, Suiten unterschiedlicher Besetzungen; dazu kommen verschiedene Kantaten und Liederzyklen; die zahlenmäßig größte Werkgruppe stellt die Film-, Radio- und Theatermusik dar. Letztere mag Tschaikowskij vor allem zum Gelderwerb geschrieben haben, es finden sich allerdings auch hier zahlreiche Preziosen.

Einen guten Eindruck von Tschaikowskijs künstlerischer Entwicklung vermitteln seine vier Symphonien, von denen keine der anderen gleicht. Die Erste, seine 1947 vollendete Abschlussarbeit am Konservatorium, aber in keinem Takt unsicher oder schülerhaft, folgt als einzige dem konventionellen viersätzigen Typus, wobei das Finale als Mischung aus Variationssatz und Rondo angelegt ist. Charakteristisch für das ganze Stück ist ein fortwährender Wechsel von Dur und Moll auf engem Raum. Vielleicht schrieb Tschaikowskij aufgrund des Schocks von 1948 nach diesem Werk lange Zeit keine große Symphonie mehr. Die Erste fand jedoch 1953 in der Sinfonietta für Streicher einen in den Dimensionen zwar kleineren, in der künstlerischen Vollendung jedoch ebenbürtigen Nachfolger.

Mit 53 Minuten Spieldauer stellt die 1967 uraufgeführte Zweite Symphonie Tschaikowskijs umfangreichstes Werk dar, eine Monumentalkomposition, in der der Tonsetzer alle Register seines Könnens zieht. Das Stück besteht aus drei umfangreichen Sätzen. Der Kopfsatz, sehr lebhaft bewegt mit vereinzelten ruhigen Episoden, beginnt mit einem originellen Instrumentationseinfall: Die Exposition wird wörtlich wiederholt, doch ist Tschaikowskij der bloße Doppelstrich mit zwei Punkten zu wenig; so gibt er die Musik im ersten Durchgang an Streicher und Harfe und läßt sie beim zweiten Mal von Bläsern und Pauken spielen. Vor der Coda erscheint ein retardierender Abschnitt, in dem sich die Themen des Satzes in Anklänge an Stücke von Mozart, Bach, Beethoven und Schumann verwandeln. Einem sehr langsamen, verinnerlichten Mittelsatz schließt sich ein Finale an, das durchweg einen mäßig bewegten Schreitduktus aufrechterhält und nach einigen Steigerungsverläufen in einen Dur-Moll-Mischklang mündet.

Nach einem über zehnjährigen Arbeitsprozess vollendete Tschaikowskij 1980 seine Dritte, die Sewastopol-Symphonie, kein explizit programmmusikalisches Werk, jedoch inspiriert von der wechselvollen Geschichte der Hafenstadt am Schwarzen Meer (die der Komponist nie besucht hatte, bevor er das Werk schrieb). Die Symphonie besteht aus einem einzigen halbstündigen Satz, der zunächst drei Themenkomplexe exponiert, dann aber anstatt die Themen durchzuführen, ihre Bestandteile umbildet, sodaß im weiteren Verlauf aus dem alten Material immer neue Themen geformt werden, bis schließlich doch eine – deutlich veränderte – Reprise einsetzt. Hier kündigt sich eine Art der musikalischen Verlaufsgestaltung an, wie sie in Tschaikowskijs späteren Werken immer dominanter wird – in der Sewastopol-Symphonie allerdings noch im Kontext eines großen Satzes, während der Komponist in der Folge eine suitenartige Reihung kurzer Sätze aus gemeinsamem Material bevorzugt (etwa der siebensätzigen Musik für Orchester von 1987).

Dies kommt auch in der letzten, 1993 vollendeten Symphonie des Komponisten zum Tragen, die er wegen der charakterisitischen Harfen-Soli Symphonie mit Harfe nannte. Dieses Werk, das seine letzte größere Arbeit bleiben sollte, ist eine musikalische Reflexion über das Alter. Einen integralen Bestandteil der Symphonie, gleichsam die Wegmarken ihres Verlaufs, bilden fünf Präludien, Tschaikowskijs erste Kompositionen, die er als Elfjähriger für Klavier geschrieben hatte und nun, 68-jährig, vollständig in der Vierten Symphonie zitiert. Die übrigen drei Sätze des Werkes tragen die Titel „Poem“, „Herbst“ und „Epilog“ und können als typische Beispiele eines konzentrierten, ausgesparten Spätstils gelten.

Man könnte in dieser Weise den Streifzug durch Tschaikowskijs Schaffen fortsetzen. Man müsste noch einiger anderer Orchesterwerke gedenken, etwa des aus einem riesigen Satz von 40 Minuten bestehenden Violinkonzerts, oder der Tondichtung Sibirischer Wind – vielleicht das großartigste musikalische Portrait ungebändigter Natur seit Sibelius‘ Tapiola. Man müsste auch die Kammermusik berücksichtigen, beispielsweise die Cellosonate, die der Komponist zusammen mit Rostropowitsch einspielte; vor allem aber die sechs Streichquartette, von denen, wie im Falle der Symphonien, jedes anders ist als die übrigen (Nr. 3 von 1967 besteht aus sechs langsamen Sätzen und gilt als Vorbild für Schostakowitschs ähnlich gestaltetes Fünfzehntes Streichquartett). Dass auch die Vokalwerke Meisterleistungen des russischen Repertoires sind, sei ebenfalls noch erwähnt. – Kurzum: Boris Tschaikowskijs Gesamtwerk gleicht einer Schatzkiste, nahezu jede seiner Kompositionen einem bezaubernd funkelnden Edelstein.

[Norbert Florian Schuck, Februar 2021]

Kleines Beethoven-Vademecum (1): Über magische Anziehung – Rainer Aschemeiers Gedanken zum Streichtrio op. 3

2020 jährt sich Ludwig van Beethovens Geburtstag zum 250. Mal. Bekanntlich ist nur das Datum seiner Taufe, der 17. Dezember 1770, gesichert; geboren wurde er wahrscheinlich am Tag zuvor. Zur zeitlichen Festlegung eines Gedenkjahres bieten sich mehrere Möglichkeiten. Orientiert man sich an der bloßen Jahreszahl ohne Rücksicht auf Monat und Tag, so stellen wir fest, dass mit dem Jahrestag von Beethovens Geburt das Gedenkjahr bereits beinahe vorbei wäre, fast als hätte man es mit dem 249. Geburtstag des Meisters beginnen und mit dem 250. enden lassen. Gehen wir also – auch angesichts der beklagenswerten Zustände des Jahres 2020 und in Hoffnung auf ein besseres 2021 – den anderen Weg, und nehmen wir die runde Wiederkehr des Tages, an welchem die Existenz Ludwig van Beethovens erstmalig beurkundet wurde, zum Anlass, das Gedenkjahr beginnen zu lassen. Das heute beginnende Beethoven-Jahr 2020/21 begeht The New Listener mit der Veröffentlichung eines „Kleinen Beethoven-Vademecums“. In loser Folge werden unter dieser Rubrik Essays und Rezensionen erscheinen, die sich als persönliche Wegweiser der jeweiligen Autoren durch Beethovens Schaffen, die Aufnahmen seiner Werke oder die Literatur zu Leben und Werk verstehen.

Im ersten Beitrag hat unser Gastautor Rainer Aschemeier das Wort, um von dem Zauber zu berichten, mit dem ein bestimmtes Werk Beethovens ihn seit der ersten Begegnung in seinen Bann schlägt: das Streichtrio Es-Dur op. 3. Rainer Aschemeier begann seine berufliche Laufbahn beim Verlag Bibliographisches Institut und F.A. Brockhaus, wo er als promovierter Geograph das Weltatlasprogramm mitgestaltete. Er wechselte zur Wissenschaftlichen Buchgesellschaft (WBG), wo er bis 2011 die Lektorate Geo-, Natur- und Musikwissenschaft leitete. Nach einer Phase der Selbstständigkeit, in der er für viele namhafte Buchverlage (u.a. Springer Science/Spektrum, Brockhaus, DUDEN, Tessloff, Dorling Kindersley usw.) arbeitete und musikjournalistisch als Autor und Rezensent u.a. für die Magazine Crescendo, Applaus und concerti sowie für das Feuilleton des „Mannheimer Morgen“ tätig war, wechselte er zum Musikvertrieb NAXOS Deutschland GmbH, wo er von Januar 2015 an für mehr als fünf Jahre die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit verantwortete. Seit März 2020 ist Rainer Aschemeier Inhaber seiner eigenen PR-Agentur klassik21. (d. Red.)

Es gibt Kunstwerke, die werden umso rätselhafter, je mehr man versucht, sie zu ergründen. Beispiele hierfür gibt es in allen Kunstgattungen, und natürlich auch in der Musik. Es handelt sich dabei um Werke, die neben einer perfekten kompositorischen Umsetzung eine ganz bestimmte, magische Ausstrahlung entwickeln, wenn sie auf gewissenhafte und empathische Interpreten treffen. Eine Ausstrahlung, die ins Innerste vorzudringen vermag und die verständlich macht, warum so viele Menschen Musik als „Schlüssel zur Seele“ wahrnehmen.

Zugegeben, solche Ausführungen sind heute unmodern. In unserer Zeit, in der wir es gewohnt sind, nur an das zu glauben, was sich greifen (und somit begreifen), belegen und vermessen lässt, erliegen wir der Illusion, dass es uns weiterbringt, wenn wir komplexe Phänomene auf ihre Datenbasis reduzieren. Wir erliegen der Illusion, dass wir dadurch dem Verständnis dieser Phänomene irgendwie näherkommen, und es scheint eine Vorgabe geworden zu sein, dass allzu menschliche Regungen wie Gefühle, Begeisterung, aber auch Zweifel und Verunsicherung nicht in diesen Kosmos der Durchdringung des Unbegreiflichen gehören.

Für mich gibt einige, es sind vielleicht eigentlich nur zwei, drei Handvoll Werke der sogenannten klassischen Musik, die mich wie magisch immer wieder anziehen, die mich förmlich zu rufen scheinen. Bei jenen Werken, wo ich glücklich genug war, sie schon in der Kindheit zum ersten Mal hören zu dürfen, geschah dies nicht selten vom ersten Augenblick an. Doch dieser „Effekt“ ist nicht vergänglich. Auch heute noch passiert es mir – trotz der Repertoireflut, in der ich mich professionell bewege –, dass ich auf musikalische Werke stoße, die gleich beim ersten Hören etwas in mir zum resonieren bringen, gegen das ich mich nicht wehren kann. Das Werk „ruft“ mich, und dies, so bin ich mir sicher, wird bis zu meinem eigenen physischen Ende nicht nachlassen.

Wenn dies eintritt, bin ich nach anfänglicher, fast naiver Begeisterung erst einmal ganz verwirrt: Was genau „ruft“ mich da? Was spricht da aus diesem Werk zu mir? Was gibt es da zu entdecken?

Natürlich führt dann der erste Schritt meist zur musikwissenschaftlichen Fachliteratur. Man möchte Umstände, Zeit und Struktur der Komposition besser kennenlernen. Doch ebenso wenig, wie es eine Gedichtinterpretation vermag, den Zauber eines Hölderlin-Gedichts zu erklären, gelingt es mir, anhand musikwissenschaftlicher Texte dem Zauber von Musik näherzukommen.

Es ist dann, als bekäme ich den Bauplan des Taj Mahal in die Hand und würde nun anhand dieses Bauplans das Gebäude genau studieren dürfen. Natürlich wäre das ein Gewinn, und so ist es auch, wenn man den architektonischen Aufbau eines Musikstücks kennenlernt eigentlich immer. Doch letztendlich wäre ich trotzdem dem „Zauber“ nicht nähergekommen.

Solch ein Stück ist für mich das – in erschütternder Bescheidenheit – „Divertimento“ getaufte Streichtrio in Es-Dur KV563 von Wolfgang Amadeus Mozart. Es gehört zu seinen reifen Kompositionen im Umfeld der letzten drei Sinfonien und darf getrost als einer der höchsten Gipfel der Kammermusik betrachtet werden. Mozart erkannte vielleicht, dass seine Zeitgenossen das Werk kaum wertschätzen, geschweige denn verstehen würden, und er verschenkte es an seinen Freund und Hauptgläubiger Puchberg. So kam das bedeutende Werk einige Jahre nicht ans Licht und wurde erst ein Jahr nach Mozarts Tod 1792 gedruckt.

Noch in jenem Jahr muss nach aktueller Forschungslage der damals 22-jährige Ludwig van Beethoven auf das Werk gestoßen sein, und es muss wohl auch ihn „gerufen“ haben. Es ließ ihm offenbar keine Ruhe. In relativ kurzer zeitlicher Abfolge komponierte Beethoven, beginnend wohl noch in Bonn, nicht weniger als fünf Streichtrios, von denen er eines (Op. 8) vielleicht in direkter Anlehnung an Mozart „Serenade“ benannte.

Von den nachfolgenden Generationen wurden diese Streichtrios höchstens noch am Rande wahrgenommen. In der Rückschau sehen wir eben zuerst die höchsten Gipfel der „musikalischen Achttausender“, die berühmten Sinfonien, die Klavierkonzerte, das Violinkonzert, die späten Streichquartette die berühmten Klaviersonaten, den „Fidelio“ und all die anderen großen Werke, die Beethoven zum bedeutendsten Komponisten seiner Generation gemacht haben.

Doch im Abendlicht, wenn die Sonne schräg steht, dann glänzt da am Horizont von Beethovens Jugend ein Gipfel besonders hell zwischen all den Zinnen der späten Meisterwerke: Es ist das allererste Streichtrio, das der junge Beethoven schrieb. Es steht – ebenso wie Mozarts Meisterwerk – in Es-Dur und trägt die Opuszahl 3.

Es ist eines jener Werke, die mich sofort gepackt haben, als ich es das erste Mal hörte. Ich erinnere mich, dass ich das Stück auf CD kennenlernte. Als Student mit notorisch klammem Geldbeutel griff ich zu einer Aufnahme, die ich damals als „Gelegenheit“ wahrnahm: Sämtliche Beethoven-Streichtrios zum Minipreis beim Label „Brilliant Classics“ in der Einspielung des „The Zurich String Trio“, bestehend aus Boris Livschitz, Zvi Livschitz und Mikael Hakhnazarian. Es sollte sich als einer der besten Käufe in meiner Laufbahn als Sammler erweisen. Ich habe danach noch viele Aufnahmen dieses Stücks gehört, auch mit den vermeintlich „ganz großen“ Namen der Szene, doch bis heute vermag es nur die Aufnahme des „Zurich String Trio“ mich so in den Bann zu ziehen wie damals, als ich das Stück zum ersten Mal hörte.

Ich würde mir nie herausnehmen wollen, den größten Komponisten seiner Epoche psychologisieren zu können, doch mein Eindruck war stets: Wir erleben hier angesichts des übergroß erscheinenden Vorbilds Mozarts einen sozusagen verunsicherten, vortastenden Beethoven, der doch – vielleicht sogar nicht einmal besonders bewusst – gleich mit seinem ersten „Wurf“ in der Gattung alles richtig gemacht hat. Insbesondere die ersten beiden Sätze des Stücks sind unbedingt auf Augenhöhe mit Mozart und vermögen es, Mozarts unvergleichlichem Meisterwerk nicht nur etwas Ebenbürtiges zur Seite zu stellen, sondern in mancher Hinsicht noch einen „draufzusetzen“. Für die beiden Menuette in Beethovens Op. 3 haben die Musikwissenschaftler meist nur Floskeln übrig wie „konventionell“, „klassisch“, usw. Und natürlich: von der Architektur her sind beide – abgesehen vielleicht von dem seltsam „stotternden“ Duktus des dritten Satzes – nicht sonderlich außergewöhnlich. Sie sind aber wichtig für das gesamte Werk, stehen genau da, wo sie sollen und machen das Meisterwerk zum „Gesamtkunstwerk“. Zudem verbindet Beethoven hier Welten, die zu seiner Zeit unvereinbar schienen: Das erste Menuett folgt eindeutig einem höfischen Vorbild, während das zweite Menuett eher ein derber Ländler ist, und mit einem Mittelteil daherkommt, der durch seine Bordunbässe so klingt, als würde ein Dorf-Fiedler in Begleitung einer Drehleier aufspielen. Dies ist übrigens nicht die einzige Stelle in Beethovens Op. 3, an der das gewisse „Dudelsack-Feeling“ aufkommt. Schon im ersten Satz gibt es atemberaubend schöne Stellen mit Bordunbegleitung.

Zwischen diesen beiden Tanzsätzen wirkt das sehnsuchtsvolle Adagio wie eine romantische Szene am Rande festlichen Trubels. Es ist dies der Satz, der fast zu schön wirkt. Die Kantabilität seines beinahe aristokratisch anmutenden Hauptthemas verleitet viele Interpreten, auch das Zurich String Trio, zum Einsatz von reichlich emotionalisierendem Vibrato. Doch die romantische Innigkeit, die bei unbedachter Darbietung leicht ins biedermeierliche abrutschen könnte, beinhaltet auch eine schmerzvolle Seite. Und mehr als einmal fällt die vorbildlich „wienerklassische“ Musik aus dem Rahmen und dann ist es – in bester Mozart-Manier – wie ein völlig unvermittelter Stich ins Herz, der in nur einem kurzen Augenblick das ganze Leid der Welt zu transportieren scheint.

Im Finale greift Beethoven die tänzerische Stimmung des zweiten Menuetts auf und führt jeden Interpreten dieser Musik anhand eines zunächst vermeintlich harmlosen Hauptthemas durch etliche Virtuositäten und spieltechnische Hürden – ein „Kehraus“-Finale, wie es im Buche steht! Man kann sich selbst auf CD den Publikumsapplaus vorstellen, der dieser Tour de Force folgen müsste.

Und so bin ich zuletzt doch selbst der Versuchung unterlegen, Musik zu beschreiben, die ich selbst nicht im Ansatz verstehe, die ich wohl auch nie letztendlich verstehen werde. Es ist ein weiterer, zum Scheitern verurteilter Versuch der Annäherung an Musik, die mich einfach nicht loslässt und die mir immer wieder neu und interessant vorkommt, die das Kunststück fertigbringt, dass man sich in ihr selbst gespiegelt fühlt, auch wenn das natürlich anmaßend ist – doch wehren kann ich mich dagegen trotzdem nicht.

Im Jahr von Beethovens 250. Geburtstag hätte ich mir gewünscht, dass gerade die weniger bekannten Facetten dieses unzweifelhaft genialen Komponisten einmal etwas stärker in den Fokus gerückt würden. Nach meinem Eindruck hatte das in zurückliegenden „Jubiläumsjahren“ für manche Komponisten sehr gut funktioniert, am besten vielleicht zuletzt bei Mozart, Schumann und Mahler. Die Mehrzahl der bisherigen Beiträge zum „Beethoven-Jahr“ waren bis auf wenige Ausnahmen aber geprägt von recht offensichtlichen Ansätzen und vielen Redundanzen.

Es gab nur wenige Interpreten (wie z.B. Boris Giltburg, Hanna Shibayeva oder Sophie-Mayuko Vetter), die sich wirklich getraut haben, sich mit ihrer ganzen, eigenen Persönlichkeit in den Dienst des Beethoven-Jahrs zu stellen und vor allem auch mitzuteilen, welcher kreative, vor allem aber auch emotionale Prozess mit einer solchen konzentrierten Beschäftigung mit einem Komponisten im Jahr seines 250. Geburtstags einhergeht.

Es liegt deshalb an jedem selbst, Beethoven immer wieder neu zu entdecken und sich nicht darauf zu verlassen, was zu einem Jubiläumsjahr präsentiert wird. Musik ist frei. Es muss nicht gegessen werden, was auf den Tisch kommt! Die Diskografie ist im Falle Beethovens so reich wie bei kaum einem anderen Komponisten. Man kann sich sehr gut sein eigenes Süppchen daraus kochen.

[Rainer Aschemeier, Dezember 2020]

Intimität und hochkarätige Konzerte: Festspiele in Bergen 2019

Zum zweiten Mal hatte ich das Glück, den Festspielen in Bergen beiwohnen zu dürfen. Drei Tage verbrachte ich in Norwegens zweitgrößter Stadt, besuchte Proben und Konzerte. König Haakon VII eröffnete 1953 die ersten Festspiele, welche sich auf Edvard Griegs „Musikkfest i Bergen“ von 1898 beriefen.  Mittlerweile gelten sie als größtes Musikfest Nordeuropas, welches einmal jährlich im Lauf von 15 Tagen mehr als 200 Veranstaltungen bietet. Mehrere Bühnen und Festzelte zieren Bergen in der Zeit der Festspiele und auch die Häuser der Komponisten Edvard Grieg (Troldhaugen), Ole Bull (auf der Insel Lysøen) und Harald Sæverud (Siljustøl) öffnen ihre Pforten für mehr oder weniger kleine Wohnzimmerkonzerte. Besonders fällt dabei die Intimität auf, die sich das Festival trotz des enormen Besucheransturms gewahrt hat: Die Musiker interagieren mit dem Publikum und sitzen, wenn sie gerade nicht auf der Bühne stehen, oft selbst im Zuschauerraum. Schnell kommt man ins Gespräch mit anderen Hörern oder den Musikern, man fühlt sich sofort aufgenommen.

Die Anreise von München am 23. Mai dauerte mit Stopp in Oslo etwa vier Stunden und mit der Byban (Stadtbahn) braucht man etwa eine dreiviertelte Stunde direkt zum Bypark (Stadtpark). Schon hier begegnete mir Musik: Bei jeder der 26 Stationen erklingt eine andere Melodie, beim Ausstieg zu Siljustøl natürlich ein Klavierstück Sæveruds und bei Troldhaugen Griegs Klavierkonzert.

Direkt nach meiner Ankunft eilte ich bereits ins erste Konzert: Das Concerto Copenhagen spielte alle sechs Brandenburgischen Konzerte Bachs in der Håkonshallen, geleitet von Lars Ulrich Mortensen am Cembalo. Das imposante Gebäude mit seinen düsteren Steinwänden und den kunstvoll verzierten Fenstern wurde 1247-1261 vom König Håkon Håkonsson im Königshof als Festsaal errichtet und im späten 19. Jahrhundert grundlegend restauriert und wiederhergestellt. Der große Saal eignet sich ideal beispielsweise für Chorkonzerte, ist jedoch deutlich zu groß für Auftritte mit historischen Instrumenten aus der Barockzeit, wie ich bei den Brandenburgischen Konzerten bemerkte. Selbst bei mir in der achten Reihe kam kaum Dynamik an, die Musik verlor sich nach oben zur hohen Decke hin. So lässt es sich schwer sagen, ob es den Musikern oder rein der Akustik der Halle zu verschulden war, dass die erste Violine die anderen Streicher vollkommen überdeckt hat und noch weniger vor den Flötistinnen Katy Bircher und Kate Hearne Haltmachte, deren kunstvolle Soli im vierten Konzert sich fast zur Unhörbarkeit auflösten. Die im F-Dur-Konzert hinzukommende Oboe kam etwas besser zum Vorschein. Neben der ersten Geige trat meist auch das Cembalo überlaut auf, besonders das fünfte Konzert wurde mehr zum Solokonzert als zum Concerto Grosso, die Flöte verblasste vollkommen und selbst die Geige fiel teils hinter dem Clavier zurück. Am besten gelang das B-Dur-Konzert mit den phänomenalen Bratschensolisten John Crockatt und Simone Jandl, die enorme Fülle und Farbe aus ihren Instrumenten lockten. Man muss dem Concerto Copenhagen zugutehalten, dass sie mit größter Leidenschaft und Spielfreude musizieren, die wirklich ansteckend auf das Publikum wirkte – schade hingegen, dass sie darüber hinaus den Bezug zu stimmigen Tempi missachteten. Gerade bei einer so gewaltigen Halle mit für diese Besetzung schwieriger Akustik, hätten ruhigere Tempi sich wohltuend auf den Gesamteindruck ausgewirkt; statt dessen rasten die Musiker durch die Randsätze, überspielen so zahllose harmonische und kontrapunktische Finessen, und nahmen selbst die mit Adagio überschriebenen Sätze zügigen Schrittes.

Nachdem ich den folgenden Tag hauptsächlich Proben des bevorstehenden Hvoslef-Konzerts beiwohnte, hörte ich am Abend eine erfrischende Gegendarstellung, was man aus der Akustik der Håkonshallen herausholen kann. Der Edvard Grieg Kor (Hilde Hagen, Ingvill Holter, Turid Moberg, Daniela Iancu Johannessen, Tyler Ray, Paul Robinson, Ørjan Hartveit und David Hansford) sang die Fire salmer op. 74 von Edvard Grieg (Arr. Tyrone Landau), Sæterjentes søndag von Ole Bull und Aften er stille von Agathe Backer-Grøndahl (Arr. Paul Robinson), sowie drei Sätze aus Griegs Holbergsuite arrangiert von Jonathan Rathbone für Chor.
Der Bariton Aleksander Nohr sang das Solo in Griegs Salmer mit einfühlsamer und sonorer Stimme, ging klanglich auf den erweiterten Edvard Grieg Kor, hier geleitet von Håkon Matti Skrede, ein und verschmolz mit ihnen zu einer Einheit. Beim letzten Psalm, Im Himmel, stieg er zur gläsernen Rosette auf und ließ seine Stimme feinfühlig von oben aufs Publikum herunterregnen. Zwischen den vier Psalmen trat Silje Solberg an der Hardingfele (Hardangerfiedel) auf, zauberte echt norwegischen Flair in den Saal, in enormer stilistischer Fülle der markanten, dissonanzgeladenen Tonsprache nordischer Folklore. Die folgenden Werke sang das Oktett des Chors alleine, wobei sich die Stimmen vortrefflich mischten. Leicht und frisch klangen sie, durchdrangen die polyphonen Strukturen und stimmten die einzelnen Melodielinien genauestens aufeinander ab. Zuletzt gab es drei Sätze aus Griegs Holberg-Suite, wobei sich das Arrangement vor allem auf die Streichorchesterfassung stützt, sich jedoch den menschlichen Stimmen anpasst – eine wirklich funktionierende Bearbeitung!

Troldhaugen Villa (Foto: Oliver Fraenzke, 2019)

Direkt im Anschluss fuhr der Bus nach Troldhaugen, dem Wohnsitz von Edvard Grieg, wo sich auch dessen Grab sowie sein Komponierhäuschen befinden. Mittlerweile steht neben dem Haus ein Konzertsaal und ein Museum, doch das heutige Konzert findet in Griegs Wohnzimmer auf seinem Steinway von 1892 statt: Paul Lewis spielt die Diabellivariationen op. 120 Ludwig van Beethovens. Vorletztes Jahr durfte ich selbst feststellen, wie anders sich Griegs Steinway im Vergleich zu heutigen Klavieren spielt und welch enorme Flexibilität vom Pianisten verlangt wird, dem Anschlag, Pedal und Klang die volle Substanz zu entlocken. Paul Lewis fiel dies leicht, problemlos differenzierte er in Anschlag und Pedalisierung, holte aus jeder der 33. Veränderungen Beethovens eine eigene Klangwelt. Die einzelnen Variationen setzte er deutlich voneinander ab, was ihnen einerseits für sich betrachtet Kontur verlieh und ihre Besonderheiten unterstrich, andererseits jedoch die zwingende Finalkonvergenz unterminierte. Den Akkorden gab Lewis Kern und Griff, ohne sie donnern zu lassen, die Gedanken der jeweiligen Veränderung meißelte der Pianist deutlich heraus. Vor allem die Rhythmik bedachte Lewis, fokussierte sich auf die punktierten Noten und ließ sie deutlich hervorstechen. Nachher gab es sogar noch eine kleine und beschauliche Zugabe, eine Seltenheit nach solch einem Koloss – leider handelte es sich bei dieser nicht wie erhofft um Bachs Goldbergvariationen.

Griegs Steinway & Sons aus dem Jahr 1892 (Foto: Oliver Fraenzke, 2019)

Der folgende Tag drehte sich für mich in erster Linie um die Familie Sæverud; zunächst ging es zum Haus von Harald Sæverud, Siljustøl, und am Abend gab es ein Konzert ausschließlich mit Werken seines jüngsten Sohns, Ketil Hvoslef. Eine Alm, norwegisch Støl, sei das Zentrum der Welt, sprach der Komponist Harald Sæverud einmal, und so bezeichnete er auch sein Haus, wenngleich das gewaltige Gebäude auf dem 176.000 Quadratmeter großen Grundstück zunächst einmal wenig wie eine Sennhütte wirkt. Erst wenn man hineingeht in das Anwesen, erkennt man den lieblichen und naturverbundenen Charme: wir finden vorwiegend recht kleine und liebevoll detailliert eingerichtete Zimmer, die hauptsächlich aus Stein und Holz bestehen. Alles wurde so gelassen, wie Sæverud es im Jahr seines Todes 1992 hinterließ. Jeder Gegenstand hat eine Geschichte und wenn man einmal die Angehörigen des Komponisten nach ihnen befragt, so sprudeln sie förmlich über vor Anekdoten über alle noch so unscheinbaren Einzelheiten. Fertiggestellt wurde Siljustøl 1939 im Geburtsjahr Ketils, ermöglicht durch die wohlhabende Familie von Haralds Frau Marie Hvoslef, und umspannt eine gewaltige Parkanlage mit urtümlich wirkenden Wäldern und einen riesigen See, den Sæveruds Familie einen ganzen Sommer lang ausgehoben hat – mittlerweile befindet sich auch ein Golfplatz auf dem Grundstück, wenngleich ich mir nicht vorstellen kann, dass dies in Sæveruds Sinne gewesen ist, der ja doch die Natur und die Natürlichkeit jeder Künstlichkeit vorzog.

In SIljustøl (Foto: Oliver Fraenzke, 2019)

Heute stand das Wohnzimmer in Siljustøl voll: Der steinerne Anbau an das Zimmer, in dem Sæverud seine Gäste empfing, wurde nun wie das restliche Zimmer auch mit Stühlen vollgepfropft, um genügend Hörern das Konzert zu ermöglichen. Zwei Nachwuchskünstler gaben ihr Debut im Rahmen der Festspiele: der Tenor Eirik Johan Grøtvedt und der Pianist Eirik Haug Stømner. Auf dem Programm standen fünf Lieder von Edvard Grieg, die ersten zwei Lette Stykker op. 18 von Harald Sæverud, Schumanns Dichterliebe op. 48 und fünf frühe Lieder aus op. 10 und 27 von Richard Strauss. Mit den jungen Musikern haben die Festspiele zwei aufstrebende Talente entdeckt, die es zu fördern wert ist. Enormes Potential steckt in der Stimme des Tenors Eirik Johan Grøtvedt, der eine enorme Vielfalt an Emotionen glaubhaft und mitfühlbar vermittelt, dabei angenehm weich bleibt und ein wunderbares Timbre besitzt. Mich erstaunte, wie dialektfrei Grøtvedt deutsch sang, man erkannte fast keine nordische Färbung des Tonfalls. Einmal mehr spielte leider die Akustik gegen die Hörer, denn der Raum war diesmal zu klein für eine starke Stimme im Forte, wenn sie direkt vor der ersten Publikumsreihe abgefeuert wird und an den Steinwänden vielfach zurückklingt. Der Flügel des Komponisten ist natürlich genauestens auf den Raum abgestimmt und kann sich gut entfalten. Eirik Haug Stømner konnte vor allem in Schumanns Dichterliebe überzeugen, die er dynamisch, fließend und vielseitig begleitete, sich minutiös auf den Tenor einrichtete. Auch bei Strauss kamen diese Eigenschaften zum Tragen, und lediglich in den zwei fragilen Sæverud-Miniaturen fehlte es ihm noch an Kontrolle über den Anschlag, Abstimmung der Akkorde in sich und zwingender Stringenz der Linien. In Griegs Liedern schwelgten beide Musiker miteinander in den reichen Ausdruckswelten, ohne diese zu überziehen.

Das Komponierzimmer Harald Sæveruds (Foto: Oliver Fraenzke, 2019)

Das Highlight und einer der wichtigsten Beweggründe für diese Reise war das am Abend stattfindende Konzert anlässlich Ketil Hvoslefs 80. Geburtstags (auch wenn dieser erst im Juli liegt). Am Vortag hörte ich bereits bei den Proben zu und sprach die restliche Zeit mit Ricardo Odriozola und Glenn Erik Haugland um Leben und Musik des Komponisten. Programmiert waren die Streichquartette Nr. 1 (1969) und 4 (2007; rev. 2017) [gespielt von: Ricardo Odriozola, Mara Haugen, Ilze Klava und Ragnhild Sannes], welches heute erstmalig aufgeführt wurde, das Trio für Sopran, Alt und Klavier (1974; rev. 1975) [Mari Galambos Grue, Anne Daugstad Wik und Einar Røttingen], Octopus Rex für acht Celli (2010) [John Ehde, Finlay Hare, Markus Eriksen, Tobias Olai Eide, Ragnhild Sannes, Marius Laberg, Carmen Bóveda, Milica Toskov] und das Konzert für Violine und Pop Band (1979) [Ricardo Odriozola, Einar Røttingen, Håkon Sjøvik Olsen, Benjamin Kallestein, Peter Dybvig Søreide, Thomas Linke Lossius und Sigurd Steinkopf]. Ketil Hvoslef wurde 1939 in Bergen geboren und wuchs in Siljustøl in Frieden und Harmonie auf; anfangs wollte er Maler werden, gab diesen Traum allerdings auf, als sein Lehrer ihm vorwarf, zu wenig Aussage zu vermitteln. Seine Laufbahn als Komponist beschritt er eher durch Zufall, indem er, nur für sich selbst, ein kleines Klavier-Concertino schrieb. Als dies sein Vater Harald Sæverud bemerkte, übertrug er ihm sogleich einen Auftrag für ein Bläserquintett, zu welchem er keine Zeit hatte – oder keine Lust. Als Ketil sich dazu entschied, sich dem Komponieren zu verschreiben, nahm er den Namen seiner Mutter an, um nicht zwei Sæveruds als Komponisten zu haben und diese immer zu verwechseln. Vater und Sohn unterscheiden sich deutlich in ihrer Musik, nicht nur in den präferierten Genres (Sæverud verehrte die Symphonie und eher klassische Besetzungen, Hvoslef schreib nicht eine Symphonie und widmete sich ungewöhnlichen Instrumentalkombinationen), sondern auch musikalisch: Sæveruds Inspiration lag bei Mozart und den Klassikern sowie in der Natur, die er regelmäßig in Töne bannte; Hvoslefs Zugang ist abstrakter, er nennt beispielsweise Strawinsky als Idol und bringt immer ein technisch-mechanisches Element in seine Werke. Die Musik Hvoslefs lebt von Kontrasten und unerwarteten Überraschungen: Nur selten finden wir eine Melodielinie oktaviert in gleicher Dynamik und Ausdrucksweise, viel eher trennt sie eine kleine Non, eine Stimme ist laut und eine leise, eine gebunden und eine abgesetzt. Es gibt Platz für Lyrik und Sinnlichkeit, aber sie wird schnell unterminiert von anderen Elementen, plötzlich ad absurdum getrieben oder direkt von Anfang an immer wieder gestört. Das Material reduziert Hvoslef so weit wie möglich, er beschränkt sich in jeder Hinsicht auf das Wesentliche und sieht eben darin den Reiz. Dabei funktionieren seine neuartigen Formen jedes Mal aufs Neue. Als ich ihn danach fragte, wie er denn eine Form schaffe beim Komponieren, antwortete er: „Ich denke nicht an Form. Ich schreibe ein Thema, und das Thema gibt dann vor, wie es weitergehen muss.“ Hier findet sich eine Ähnlichkeit zu seinem Vater: Beide sehen das Thema als Knospe, aus der dann eine Pflanze erwächst. Ist die Knospe eine Sonnenblume, so muss auch eine Sonnenblume daraus sprießen, wobei jede Blume natürlich anders aussieht; aus einem Ahornkeim gedeiht ein Ahorn. Hier liegt der Instinkt des Komponisten. Tatsächlich kann man Hvoslefs Kompositionsprozess als Gegenteil jedes Akademismus‘ bezeichnen, dieser scheint ihm teils gar zuwider zu sein – was nicht bedeutet, dass er nicht hoch intelligent und zutiefst reflektiert arbeitet. Ein Gespür besitzt Hvoslef auch dafür, wie lange er einen Gedanken verfolgen kann, ohne dass er öde wird, ohne dass etwas Neues kommen muss. Er strapaziert die Idee so lange wie möglich, dann erst verwirft er sie; oder er unterbricht sie vorzeitig für einen vollkommen anderen Einfall, dem er sich gerade widmen will. Auch hier finden wir eine Gemeinsamkeit zu seinem Vater: Beide lassen sich gerne einnehmen von einem interessanten Detail und fokussieren dieses für eine gewisse Zeit, wobei sie alles andere vergessen. Beim Vater geschieht dies in seiner Musik durch plötzliche Einwürfe, die das Stück unterbrechen, ohne einen Grund dafür zu haben und ohne noch einmal wiederzukehren. Hvoslef bindet sie teils mehr in den formalen Verlauf ein, bleibt aber ebenso fasziniert von ihnen. In den Proben achtete er hauptsächlich darauf, dass die Partitur genauestens und vor allem deutlich eingehalten wird; er notiert äußerst präzise und besteht dann auch auf das, was dort geschrieben steht.

Die Werkeinführungen gestaltete der Komponist bei seinem Ehrenkonzert selbst. Zum 1. Streichquartett sagte er, sein damaliger Lehrer bat ihn, nie wieder so zu komponieren wie bisher, und als Trotzreaktion schuf er, während er fror (erneut solch ein Detail, dass nur durch die Absurdität so viel Beachtung findet), dieses konturlose und zutiefst komplexe Werk voller Effekt und beinahe komischer Abstraktheit. Das Trio für zwei Sängerinnen und Klavier bedient sich keiner existierenden Sprache – ich hörte es heute zum ersten Mal auf war hingerissen von den sanften Reibungen zwischen den Stimmen und der dynamischen Bandbreite, die Hvoslef hier entfaltet. Man kann diese Musik nicht entspannt hören, sondern horcht immer auf, gespannt, was als Nächstes kommt. Octopus Rex für acht Celli (der Titel wurde entliehen von Strawinskys Oper Oedipus Rex) verfolgt den Gedanken einer einzigen Kreatur mit acht Armen, die zwar an sich flexibel ein Eigenleben führen können, doch aber als Einheit zusammengehalten werden. Hvoslef lässt die Celli teils alle die gleichen Melodien von acht unterschiedlichen Starttönen aus spielen, teils spaltet er sie auf in zwei bis drei Gruppen, die vollkommen verschiedene und scheinbar unabhängige Ideen spielen, aber doch irgendwie in Kontext miteinander stehen. Erst im allerletzten Ton vereinen sich alle acht Tentakelarme auf die Schlussnote D. Nach der Pause folgt die Uraufführung des vierten Streichquartetts, dem der Komponist noch einen Tag zuvor zwei kleine Revisionen mitgab; herbe Kontraste durchziehen das Quartett und die Pausen erhalten großen Stellenwert, dynamisch teilen sich die Musiker oft in zwei Gruppen ein, von denen eine Pianissimo und eine Fortissimo spielt, während sie völlig anderes Material gegeneinander aufbringen. Die Keimzelle ist ein betonter Rhythmus auf die Noten f“ und g“: Sowohl die rhythmische Figur als auch der Doppelton gestalten die gesamte Form des einsätzigen Quartetts. Als letzten Programmpunkt hören wir das Konzert für Violine und Popband, welches als Auftragsstück auf einem Rockfestival uraufgeführt wurde und damals mehr als fehl am Platz wirkte. Auch heute lässt das Werk durch die skurrile Besetzung aufmerken, dabei gehört es musikalisch gesehen zu den klassischsten und gradlinigsten Werken Hvoslefs. Der Komponist beruft sich auf mehrere „Patterns“ die immer und immer wiederkehren, dabei allerdings die Taktstruktur immer wieder auf die Probe stellen, da sie meist aus 7 oder 13 Achtelnoten bestehen – und dies bei klarem Viervierteltakt. Eine Dreitonfigur mit chromatischer Fortführung bildet den Ausgangspunkt und beinahe jedes Motiv lässt sich auf diesen zurückführen – teils ganz deutlich, teils unmerklich (wie das Blatt schwer auf den Stamm schließen lässt, obwohl es klar dazugehört). Ursprünglich wurde das Konzert für Trond Sæverud geschrieben, den Sohn Ketil Hvoslefs, heute spielt Ricardo Odriozola den Solopart, doch wie Trond nahm auch er sich verschiedene Musiker aus der Klassik- und Jazz/Pop/Rock-Szene für seine „Band“. Das Violinkonzert wurde tontechnisch vollständig abgenommen und in den Raum projiziert, was ebenso gewissen Rockflair verlieh und jedes Instrument zur Geltung brachte. Im Grunde genommen spielt nämlich jeder ein Solo in diesem Konzert für nur sieben Musiker, weshalb ich es sogar eher als Concerto Grosso betiteln würde. Den ganzen Abend über spielten die beteiligten Musiker, 19 an der Zahl, durchgehend auf höchstem Niveau. Ricardo Odziozola und Einar Røttingen leiteten die einzelnen Stücke jeweils an und setzten Hvoslefs Partituren minutiös um, ohne dabei das lebendige Musizieren zu vernachlässigen. Alles wirkte frisch, spannend und neuartig, dabei trotz (für ein Konzert mit ausschließlich zeitgenössischer Musik erstaunlich) großem Publikum intim und familiär. In Hvoslefs Kammermusik geht es derartig stark um das Miteinander, dass den Einzelnen herauszupicken und zu betrachten keinen Gewinn bringen würde: Und die Gemeinschaft war phänomenal bei den anwesenden Musikern, die so präzise hörten und interagierten.

Am nächsten Tag ging mein Flieger bereits in der Früh: doch zuvor blieb die ganze Nacht hell, da sich die Sonne nach einigen verregneten Tagen endlich blicken ließ. Und so konnte ich noch einmal die Beschaulichkeit von Bergen genießen mit seinen vielen Holzhäusern, Grünanlagen, historischen Gebäuden und den zahlreichen Musikbühnen, die für die Festspiele aufgestellt wurden.

[Oliver Fraenzke, Mai-Juni 2019]

Ricardo Odriozola: Introducing a young master

The following guest contribution was written by the Spanish-Norwegian violinist, composer and conductor Ricardo Odriozola:

I would like to introduce you to a major young composition talent from Norway. Before that, however, allow me to introduce myself. I am a violinist and sometime violist, composer and conductor. The last 31 and half years I have worked as a violin and chamber music teacher at the Grieg Academy in Bergen, Norway. I have also recorded very many CDs, mostly of contemporary (or Twentieth Century) music but also more standard repertoire, such as J.S. Bach’s sonatas and partitas for solo violin or (not quite so standard, but accessible, nevertheless) violin music by Ole Bull. You can check these out here.

Although I have a deep respect and interest for the violinist’s craft (which, as a frequent performer on that instrument, is essential) my heart has always beaten the fastest for those who create or channel music: composers, songwriters, improvisers …

In the past three and a half decades I have been exceptionally fortunate to be able to work with many remarkable composers, mostly in Norway, but also in Denmark, England and the United States. In 2017 I released a book about five of them. It is called “Opus Perseverat” and can be purchased through Musik Produktion Hoeflich. The same edition has given me the opportunity (since May 2016) to publish the score and parts of a Norwegian work once a month. All of the above means that, although a great amount of work remains to be done on behalf of all the composers represented in the book and the monthly publications, there is at least a sense of momentum: some work is being done for them, and their music is gradually becoming available in beautiful editions.

Getting started in the music world is very hard and even more so if one happens to be a composer. With so much music available, why should one devote one’s precious time and attention to listening to new music by unknown young composers?

The question cannot be answered with a single sentence.

However, I can say the following: as a very self-centred young man with his head in the clouds I was given enormous encouragement and support by many older and wiser people. When I eventually grew up sufficiently to see the world around me with a degree of objectivity, I decided that, given the chance, I would do my best to provide the same level of support to those younger than me who came within my sphere. Fortunately, there have been many such people in the past thirty odd years.

In the academic year 2016-2017 fate landed me with the privilege of tutoring an exceptional talent. She was then a Master student of composition at the Grieg Academy, and her name is Trine Franksdatter.

Some biographical details

Trine Fransdatter was born in Lørenskog on September 26th 1990. On the very same day, some twenty kilometres to the East, the great Norwegian composer Harald Sæverud was having his last composition premiered in Oslo. Trine grew up in a farm near Drøbak (south of Oslo), the place she calls home.

She is number twelve in a flock of fourteen siblings (seven boys and seven girls) and grew up in an essentially Christian family; an uncommonly harmonious one, apparently: they have always, and do still get on really well among themselves. Trine started writing her own music very early on but it was only when she began attending the distinguished Toneheim music Folk High School in Hamar (some 130 km. north of Oslo) that she began to compose seriously. Gaining access to notation software made it easier to produce musical material that could be readily handed over to friends. In a family the size of hers, sharing had become second nature for Trine. Being able to give her music to other people was, in her view, her contribution to making the world a little bit better. For, Trine Franksdatter has never been attracted to the „enfant terrible“ role. [In our first supervising session at the Grieg Academy (a year before I became her composition tutor) I asked her (apologizing for the inherent silliness of the question): „what kind of music do you write?“. „Beautiful and melodious“, she replied. There was not a hint of conceit in her answer. She simply has a firm conviction that what she wants to deliver to the world she is in has to be edifying and beautiful.]

Eventually she felt that, in order to get a robust composer’s education in Norway (without going too far afield), she had to try to get into the Norwegian Music Academy in Oslo. She applied there for the bachelor program in 2010 but was turned down. Undeterred, she enrolled in the private Staffeldtsgate Music School for a year. It proved to be a pivotal year in her development. She was one of only four classical musicians there, and the only composer. At Staffeldtsgate she started a choir that eventually became the excellent female vocal quintet Franksdatter Vokalensemble (earlier called Staffeldtsgate Vokalensemble) that concentrates exclusively on singing Trine’s music. You can hear them here.

In 2011 she applied again to the Norwegian Music Academy. Wiser from her experience the previous year, she now delivered a bizarre electronic music composition as hear audition piece.

She was accepted.

Her experience there was mixed. There was great camaraderie and mutual respect among her composer classmates. The teaching staff was a different story. By and large, the favoured style among the latter was the so-called „avant-garde“ aesthetic, rooted in post World War 2 Darmstadt ideals and strongly coloured by the French spectral school. In other words, what in Norway is so eloquently referred to as „pling-plong“. A lot of the course work consisted of analyzing works in that style, which bored our young composer to distraction. Having never intended to rebel, she now began doing so (out of dejection, rather than from any wish to make a point) by spending a lot of time in her classes doodling or sleeping. This eventually infuriated one of the teachers, who told her she had no business being at that school and that she should quit. Shaken by this confrontation, she in fact contemplated quitting half way through her studies. However, after a summer of turmoil she returned to the academy, stronger in her purpose, and embarked on the composition of what would become her graduation piece, a substantial music theatre work called „Koydon“. It is one of her greatest achievements to date, and an excellent work on many levels.

In 2015 Trine decided to pursue her Master degree at the Grieg Academy in Bergen. Her timing was, ostensibly, not the most auspicious. The Academy’s long standing and much loved composition teacher Morten Eide Pedersen had died suddenly the previous fall, leaving the department in the hands of substitutes. Although these were highly qualified, the stability that Pedersen had built over 18 years was proving difficult to maintain.

I was Trine’s supervisor for the required written assignments of her study. In time she began showing me some of the music she was working on. We seemed to hit it off and she was happy with the feedback I was giving her. She took the unprecedented step of applying for permission to have me, the academy’s violin associate professor, as her composition instructor for her entire second year. [The previous year, after the untimely passing of M.E. Pedersen, I had helped another very gifted composer for a few months. but that is another, very pleasant story]. Her wish was granted and, for me, this resulted in one of the happiest years I have had at work.

Trine is a hard, conscientious worker. She sets herself very ambitious goals and delivers on every level.

For her Master study she decided to create another big piece of music theatre. It was going to be about God (I did mention she is ambitious!). Well … that is the quick way to describe it. She called it „The mirror: a music theatre about the First Cause“. I was privileged to witness the birth of this work, from its first sketches and extra musical ideas through to its completion. I got to conduct its premiere at two performances given in Bergen in early May 2017.

For the past year and a half Trine Franksdatter has been working at a number of part-time teaching jobs and has recently signed a contract with the Norwegian music publishing house Cantando.

At the venerable age of 28, this is the extent of her outer biography so far. For her inner biography I need to refer to her music.

Trine Franksdatter’s music: reinventing the wheel

Not (I hasten to claim) a negative notion at all! Quite the contrary: all great artists (as well as spiritual leaders) have, through the ages, made us aware of what we, deep inside, already knew, but always in delightfully new and original ways that stem from their innermost being. Trine Franksdatter’s music does not set out to teach us anything. It does not purport to have found the Holy Grail. It neither is narcissistic nor does it intend to proselytize. It is simply a superbly crafted representation of her view of the world. Even when she deals with serious matters, she can seldom avoid laughing at herself through the music she writes. And hers is a music that, more than merely occasionally, is touched by the divine spark.

A glance into Trine’s website reveals 85 titles to her credit (with two or three omissions). They are in varied formats, but vocal music (songs and a capella works) constitute a high percentage of her production. As you will see, there is also a small number of chamber works, some music for film, electronic pieces, music for solo piano and some occasional music, such as music for weddings that often embraces folk and pop styles with remarkable abandon. Not to forget two substantial pieces of music theatre, a mass, a work for wind ensemble and a three children’s operas (one of them written in cooperation with other composers).

The pieces I am going to comment on can be heard on Franksdatter’s soundcloud page (unless otherwise stated):

I will discuss a few of Franksdatter’s works in no particular order.

ORDET (“The Word” – 2013)

This thoroughly wonderful work was my introduction to Trine Frankdatter’s music. I got to know it through her webpage and I liked it so much that I decided to perform it. Thanks to Trine’s enterprising talent, a concert of her music was scheduled in the Bergen Sacred Music autumn festival in 2015, with Ordet as the centrepiece. We recorded it the next day.

„Kyrie“ presents the majority of the elements that will play out throughout the work: a juxtaposition of inward and outward expressions, a sense of quiet devotion and a frequent use of what the composer calls „sacral clusters“, i.e. pan-diatonic harmonies that include many of the tones of the diatonic scale simultaneously. These create a feeling of hovering tonality, where the tones circle around a centre but are unaffected by gravity.

There are many instrumental commentaries. Sometimes they are interspersed in between sections of the liturgical text, but the work also contains three interludes that act as links between the movements. The first one flows seamlessly from the Kyrie and sets the stage for the joyful and extrovert „Gloria“. The second intermezzo is the more introspective of the three and prepares for the wide-encompassing „Credo“. In this movement there are elements of medieval organum and a subtle use of dissonance during the ‚Crucifixus‘ section. The ‚Et in Spiritum Sanctum‘ section is one of the loveliest and more inwardly ecstatic moments in the piece. The movement ends on a single, unaccompanied note.  

The third intermezzo is good-natured and warm in character, spiced by teasing mordents played by the oboe. This acts as an earthier kind of relief after the spiritual calm of the Credo and does not at all prepare the listener for what is the one truly unsettling moment in the piece: the „Sanctus“ movement. The music seems keenly aware that it is addressing a higher power of unfathomable greatness. Subtle dissonance reappears and the music grows to almost unbearable intensity, before suddenly returning to its opening sombre mood, as if a giant bubble has been burst. After several very earnest minutes, the music attempts to break into dance before finally bursting into an intoxicatingly joyful song of praise.

The quietly contemplative a capella „Benedictus“ follows, giving way to the final and longest movement, „Agnus Dei“. This movement opens in a desolate mood before a short instrumental passage leads the music into a more serene realm where the Kyrie theme makes a reappearance. Seemingly out of nowhere the final theme of work emerges, an achingly beautiful and deeply mournful melody in G minor that sweeps everything before it. The music of this movement seems to probe deeply into its own raison d’ètre, ultimately providing a remarkably fulfilling conclusion to the entire work.

Ordet is, arguably, the first example of Franksdatter’s imaginative use of instrumental colour, which she would further develop in subsequent works.

You can purchase an excellent recording of Ordet (made in 2016) from iTunes.

An earlier live performance can be accessed from the aforementioned soundcloud.

While Ordet shows Franksdatter at her best in combining voices and instruments, a capella writing has always been the medium in which her natural feeling for melody, harmony and musical flow shines most brightly. Nowhere is this more evident than in the delicate setting for female voices of Camilla Collett’s beautiful poem I haven da Marie Kaltenborn var død (In the garden when Marie Kaltenborn died – 2014). The music captures perfectly the dignified wistfulness of this elegy that looks backwards with affection and forwards with courage.

Sancta Maria (2009, written for the composer’s vocal quintet) is another consummate miniature, perfectly balanced in form and texture, overtly sacral and devotional in character and wholly satisfying in its brevity.

KOYDON (the legend of the ocean people) (2014)

An ambitious piece of music theatre, lasting around 75 minutes. Although written in 2014, the idea had been around in its composer’s mind for some time. The ocean people (a community that, originating from the earth, moved underwater at a time remote from the piece’s time frame) love to sing and dance and are very aware of the beauty of their bodies. And, of course, they speak their own language. Trine enlisted the services of Linn Iren Sjånes Rødvand, a brilliant linguist (as well as a member of the Franksdatter Vocal Ensemble) in order to develop the language of the people of Koydon, which is called Omakoy. In the story, Elohim (a God-like figure) is the sole inhabitant of „The Land“, a piece of earth that was once the abode of the ocean people (before they decided to leave). Elohim, weary of his loneliness, decides to visit his old people. Naturally, conflict arises. He is barely remembered through ancient songs and, at best, as a legend. The people of Koydon consider their visitor as an impostor and a nuisance, finally throwing him out violently.

The music is, generally, melodious and harmonically elaborate in Elohim’s interventions, while the music of the ocean people tends to be invigoratingly rhythmical and harmonically static. Some of the work’s more memorable themes have a definitely filmic flair. Makadia (a young girl who has just made her rite of passage into womanhood – and the only Koydon denizen to give Elohim the benefit of the doubt) is portrayed and accompanied by very lively and rhythmically intricate music. A few short, tense passages in the work border on atonality.

Koydon works remarkably well as a whole. There is enough recurring material to hold the piece together for the listener and it contains moments of genuine beauty. You can watch Koydon (which, on this video, is billed as a musical) here.

The use of a full orchestra gave the composer the opportunity to further develop her imagination in the use of tone colours. This horn of plenty was starkly absent from her next music theatre project, on which she embarked directly after Koydon: a children’s opera in German, in which the „orchestra“ consisted of a single saxophone player. Judging from the short video available to watch on the Internet, Franksdatter managed to get maximum results out of such constraining premises, and it appears to be a very amusing show that leads the audience through several physical locations. It is called Das Schlossgespenst und der Bergtroll, and you can watch excerpts of it here.

In Dance of Abundance (2014) Franksdatter gives ample expression to a quality common to a lot of her music: a wide-eyed sense of wonder at the beauty of the world. Even in this short piano quintet composition, the music communicates, without any text, devotion and deference (to nature, to higher powers…?). The first half of the piece has the enchanted air of the outdoors. Its contemplative music gives way to the dance proper, luscious in texture (we are dealing with abundance, after all) and largely based on a ground. After a short flashback to the introduction, the dance turns into song before returning to its infectious triple metre. For the brief ending, the music returns again to the contemplative atmosphere of the beginning. We are left wanting more, or rather, wondering „what happens next“ (arguably a desirable quality for any piece of art).

We get a very similar impression (albeit in an even more meditative atmosphere) from Hellige Øyeblikk (Sacred Moments – 2011), a sonic collage consisting of a thoroughly improvised piano part (entirely on the white keys, except for a single F sharp in the highest register) accompanied by diverse sounds from nature (birds, water, a breeze, a child’s laughter…) and a discreet background vocalise. Literally, a piece-of-music (and a very beautiful one at that).

Childlike innocence spills over to the title of another atmospheric piece, Such a happy place, Geez! (2012), the result of playful experimentation in the recording studio. A folk-inflected voice intones a mellifluous melody in the Lydian mode on top of warm keyboard pads. It has a strong Scandinavia-meets-the-Middle-East vibe to it. This brief piece ends with a small, unassuming but effective and lively dance that elicits the smile towards which the title hints.

Some of the same balmy Oriental Night ambience can be felt at either end of the solo piano piece Flukt (Escape- 2009). This is an effective piece of mood-painting that gains momentum (as it simultaneously sheds its subtlety) towards the middle (the „escape“ part?), regaining its composure at the end.

Humour often lurks behind Franksdatter’s music and in some cases it comes to the fore and takes centre stage. This is most obvious in the uproariously funny and cheerful Gåsekrek i mannejakten (the goose rascal in the man hunt – 2016). On the score cover we see a drawing of what looks like a rather inebriated goose and, overleaf, a fully clothed female skeleton sits on a bench covered in spider webs. The caption reads „waiting for the perfect man“.

Written for wind band, Gåsekrek… is a feast of rhythm, colour and good fun. In the first two minutes and 15 seconds of the piece, the composer takes her language to the outer fringes of tonality and throws short comical motifs across the ensemble, all in the service of the silliness represented by the mischievous goose. We are not to know how the daft avian creature managed to get itself mixed in a woman’s hunt for a perfect man, but it certainly creates a lot of havoc. The central part of the piece is an infectiously merry dance, based on a song called „Man hunt“ (which, however, does not appear in the composer’s work list). It has a lyrical theme and goes through some genuinely tender moments, before the goose re-enters the stage and manages to sabotage all sense of order created by the previous music. I challenge anyone to listen to this piece without a happy smile upon his or her face.

[Note: since the writing of this article the live recording of this work has been taken down from the composer’s soundcloud for legal reasons. If you wish to hear the work, please contact the composer, provided that you will under no circumstance share the file publicly]

SPEILET (The mirror – 2015-16) is, as I mentioned above, a very ambitious piece of music theatre, for which Franskdatter prepared extensively with characteristic zeal and meticulousness before even writing a single note.

The story, in short: a young girl who is deeply dissatisfied with herself and her life finds herself in her bedroom having a conversation with her physical body. To make matters even more interesting, her spirit shows up and invites her to take a journey with her, leaving her physical body behind. The spirit introduces the girl’s soul to five different representations of God, in proper Biblical order: the Inventor (or creator: a hopelessly enthusiastic male character full of excitement at all the things he manages to create), the Judge (a stern and dogmatic lady who claims everything is preordained), the King (whom the girl is only allowed to hear, and who tells her that she is a miracle and that she was known and loved before she incarnated), the Prophet (played by the same singer as the Judge: a lovesick prima Donna type whose lover is unfaithful to her) and the Man (a Jesus type, played by the same singer as the Inventor, and the one who ultimately heals the girl and helps her to see herself the way he sees her). Every time the spirit leads the girl’s soul to meet a new manifestation of God they go through a mirror. At the end, it is in the mirror that the girl is able to see herself as “The Man” sees her. The work itself is constructed as a mirror of sorts, with the symmetry of the singing roles and the music of the spirit, which appears before the first deity and after the last. The work begins and ends in the girl’s bedroom.

I will not describe the music, which goes through many styles, moods and textures. Will only state that it is thoroughly delightful and, often, deeply moving. It portrays the personalities of each of the God representations, and that of the girl’s spirit with extraordinary insight. In one of the scenes the music even embraces something close to objective art, in the form of an angel choir.

Speilet is not only the latest work of substance that Franksdatter has produced to date; it is also the culmination of all the best traits her music has had on offer up to that point. And, I am confident in believeing, a stepping stone to further inspired works.

You can watch Speilet here:

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I am wary of flinging around often misused words such ad „genius“ and „masterpiece“. „Genius“ is a realm that exists in actuality and is as real as the Grand Canyon or your vacuum cleaner. I would argue that anyone who has embarked on an artistic path has visited that realm at least once, usually very early in life. The event that inevitably follows such an early visit is a rapid fall back down to earth, landing on an object sharp enough to always remind us what it was like up there. We then spend the rest of our lives searching for it. Some find it from time to time and are graced with relatively extended stays. Others are able to remain there for most of the time. The latter are those who effect a positive and lasting change on the face of History. They are also, generally, difficult people to be around.

A masterpiece is, in short, a consummate work of art. A piece so coherent, so robust of constitution within its premises, that it can withstand the passage of time and remain impervious to criticism (or what passes for it, which is often little more than a fanciful expression of likes and dislikes).

I have not undertaken the writing of this article because I consider Trine Franksdatter to be a genius or because I believe she has written numerous masterpieces. I will, however, suggest that she has, in fact, paid a fair number of visits to that realm, from which she has returned with some precious treasures that she has generously chosen to share with us. And I firmly believe that Ordet and Speilet (in particular, but not exclusively) – and, in the smaller format, Sancta Maria and I haven da Marie Kaltenborn var død – have the makings of a masterpiece.

The reason I have written this article is that Trine Franksdatter’s music has touched me deeply and it has enriched my life. Because I have great faith in her talent and a genuine respect and affection for her as a person, and I strongly feel that she has the mark of the master on her brow and that her best music is still to come. I, for one, look eagerly forward to hearing it.

And if you, dear reader, are looking to cooperate with a young composer who writes beautiful, highly imaginative and good-natured music; an artist with whom it is a joy to work; a disciplined and thoroughly ethical person who will deliver her work on time and with impeccable craft… then I suggest you contact Trine Franksdatter and give her further opportunities to reinvent the musical wheel and make the world a bit more beautiful. I assure you will be very glad you did!

[Ricardo Odriozola, 2019]

„Wir fühlten uns auf Anhieb sehr zuhause!“

Sofia de Salis und Iryna Krasnovska gingen für die Aufnahme ihrer Duo-CD in Wuppertals Immanuelskirche in Klausur

Foto @ Stefan Pieper

Kirchenräume bieten eine gute Zuflucht, wenn es draußen heiß ist. Auch die Wuppertaler Immanuelskirche ist ein idealer Ort für Konzentration und Versenkung – in diesem Fall für die russisch-schweizerische Flötistin Sofia de Salis und die ukrainische Pianistin Iryna Krasnovska, die im August 2018 in nur drei Tagen ihre neue CD „Shades of Love“ aufnahmen. Jetzt liegt das Resulat vor – jedes Werk von Franz Schubert, Robert Schumamm und César Frank erzählt dabei eine Liebesgeschichte für sich.

Die kühlen Temparaturen, die in dieser Kirche, die zum Aufnahmeort für das ARS-Label umfunktioniert wurde, herrschen, fördern in diesen „Hundstagen“ die entspannte Routine. Eine ganze Woche war für die Aufnahmen eingeplant, aber schon nach drei Tagen steht alles weitgehend. „Wir fühlten uns auf Anhieb hier sehr zuhause“ –  bekundet Sofia de Salis im Nachhinein. Sie benennt eine wichtige Grundlage für eine gute Aufnahme: „Ich muss mich frei fühlen. Iryna und ich schätzen am Tonmeister Manfred Schumacher, dass er nie bevormundet. Wir können hier machen, was wir wollen. Das ist sehr wichtig, um produktiv zu sein“. 

Was nicht ausschließt, dass Schumacher Vorschläge macht und im richtigen Moment den Blick auf etwas lenkt. Wichtig sei, dass die letztliche Entscheidung bei den Künstlerinnen selbst liegt: „Es gibt Tonmeister, die haben schon irgendeine Version im Ohr und wollen diese dann auf die neue Aufnahme kopieren. Damit degradieren sie die Musiker zum Werkzeug ihrer eigenen Vorstellungen.“

Von so etwas frei, durchdringt bei den Aufnahmesessions viel ansteckende Spielfreude den Kirchenraum, der durch das ARS-Label zum Studio umfunktioniert wurde. Die braucht es auch in diesem Moment, denn eine physisch fordernde Tour de Force bleiben die Werke für die neue CD allemal – nicht zuletzt wegen der riesigen emotionalen Bandbreite und den entsprechend auszugestaltenden Spannungsbögen: „Vor allem Schuberts Arpeggione-Sonate war eine fast sportliche Herausforderung für mich. Für Iryna war Cesar Francks Sonate mit ihrem gigantischen Klaviersatz besonders anspruchsvoll. Aber wir beide sind ein wunderbares Team und haben schon viele Jahre lang gemeinsam gespielt. Iryna weiß, wie sie mich motivieren kann, wenn bei mir die Kraft zur Neige gehen droht – und umgekehrt!“

„Shades of Love“ definiert das Thema für das gewählte Programm für diese CD-Aufnahme: „Alle Kompositionen dieser CD präsentieren sehr verschiedene Farben der Liebe und des Lebens an sich. Jedes Stück leistet seinen eigenen Beitrag dazu. Franz Schuberts Arpeggione-Sonate bringt ein altes Streichinstrument ins Spiel, auf dem Liebende einst gerne vor dem Fenster der Angebeteten musizierten. Robert Schumanns Romanzen sind eine Liebeserklärung an seine Frau Clara. Sie widerspiegeln darüber hinaus Schumanns beginnende psychische Erkrankung. César Francks Sonate hat auch etwas mit Liebe zu tun, denn sie war als Hochzeitsgeschenk für Eugene Isaye gedacht.“

Das gegenseitige Motivieren zwischen Sofia des Salis und Iryna Krasnovsksa sowie die menschliche und fachliche Unterstützung durch Annette und Manfred Schumacher haben das Endresultatet hörbar geprägt: Schuberts a-Moll-“Arpeggione“-Sonate in dieser Version für Flöte und Klavier, ebenso Cesar Francks berühmte A-Dur-Sonate werden auf dieser CD zu einem runderneuerten Hörerlebnis. Spieltechnisch bietet Sofia des Salis einiges auf, dass es den Hörer in die elementare Gefühls-Fieberkurve dieser Komposition hinein zieht. Schumanns Romanzen markieren gewisse elegische Ruhepole nach hitzigen Gefühlskurven der voran gehenden Sonaten. Sofia de Salis ist stolz, dass diese CD auch eine Weltersteinspielung präsentiert. So ist Franz Schuberts „Atzenbrugger Tanz“ zum ersten Mal für Flöte aufgenommen worden.

Wenn die Flötistin Sofia des Salis großes kammermusikalisches Repertoire zur Sache ihres eigenen Instrumentes macht, hat dies immer etwas mit Aneignung zu  tun. „Da ist auch der Wunsch, zu zeigen, wie es auf der Flöte klingt, was für andere Instrumente geschrieben war. Man muss es nicht vergleichen – es ist halt ein anderes Erlebnis.“

Es gibt auch Limitierungen durch das eigene Instrument, die sich Sofia de Salis bewusst sind: „Wenn beispielsweise Schubert oder Franck für ein Streichinstrument schreiben, kommen zwangsläufig Doppelgriffe ins Spiel. Natürlich kann hier eine Violine, eine Viola oder ein Cello mehr.“ Dafür hat die Flöte aber vieles in Sachen Unmittelbarkeit anderen Instrumenten voraus, und genau dieser Aspekt reizt die in Russland geborene, heute in der Schweiz lebende, vielbeschäftigte Musikerin, deren Mutter Gesangslehrerin ist. Auf dem Instrument spielen und Singen liegt für Sofia de Salis sehr eng beieinander. „Ich kann in verschiedenen Tonlagen sehr flexibel die Klanggfarbe verändern, so, als würde ich singen. Ich habe mir hierfür eine spezielle Technik angeeignet, bei der die Luftmenge im Mund konzentriert wird. Vor allem in der Cesar-Franck-Sonate mit seinen Tonlagenwechseln kommt mir das sehr zugute. Ich laufe niemals Gefahr, dass der Ton flach wird, wenn es mal richtig hoch hinaus geht“.

[Stefan Pieper; April 2019]

Zehn Länder – ein Meer. 25 Jahre – ein Festival

Der Wegfall des eisernen Vorhangs schaffte die Voraussetzungen: Seit 25 Jahren vereint das Usedomer Musikfestival die Kultur(en) aus dem ganzen Ostseeraum. Vor zehn Jahren gründete der gebürtige Estländer Kristjan Järvi im Rahmen dieses Festivals sein Baltic Sea Philharmonic, das ebenfalls seine künstlerische Energie aus der Tatsache eines gemeinsamen Meeres schöpft. Das alles sind aktuell Gründe genug zum Feiern und Weitermachen. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel ließ es sich nicht nehmen, diesjährigen Festivaleröffnung nach Peenemünde anzureisen – und sie appellierte in ihrer Laudatio an Toleranz und Völkerverständigung.

Nach Peenemünde reist man gerne mal mit einer falschen Erwartungshaltung: Jener Ort auf Deutschlands östlichster Insel Usedom ist alles andere als ein lauschiges Hafenstädtchen – eigentlich gibt es dort nur ein erstarrtes Fabrikareal mit einem kolossalen Kraftwerk im Zentrum. Die Geschichte dieses Ortes ist eine unschöne: Hier haben die Nazis an ihren sogenannten „Wunderwaffen“ gearbeitet, vor allem an der berüchtigten V2, einer Massenvernichtungswaffe. Was andererseits wieder der Weltraumtechnologie den Weg bereitet hat.

„Ich möchte einer solchen Vergangenheit die Energien von heute entgegensetzen“, formulierte  Kristjan Järvi im Gespräch seinen eigenen Anspruch an den Eröffnungsabend. Seit 10 Jahren ist Järvis Baltic Sea Philharmonic ständiger Bestandteil dieses Festivals, ist in bestem Sinne „erwachsen“ geworden.  Aber er solle auch nicht zu erwachsen werden, wie Järvi dezidiert klarstellt: „Meine eigenen Kinder vermitteln mir, dass Erwachsenwerden doch meist gar nicht so gut tut“. Die Konsequenz: Eine gewisse künstlerische Verrückheit ist beim Baltic Sea Philharmonic Programm. Die aktuelle Devise lautet: Weg mit den Notenständern!

Was bei einer Aufführung von Strawinskys Feuervogel Premiere hatte, wurde beim  Eröffnungskonzert in Peenemünde mit Jean Sibelius Konzertsuite „Der Sturm“ konsequent weiter entwickelt. Charismatisch angestachelt, freudig entfesselt, meist auch von einer festen Sitzposition auf dem Podium losgelöst, bringen die jungen Musikerinnen und Musiker dieses (durchaus sibelius-untypische!) Kaleidoskop aus nordischer Melancholie, aber eben auch viel tänzerischer Emphase kontrastreich und impulsiv zum Leuchten. Das Hörerlebnis wirkt verändert durch dieses auswendige – und damit auch optisch  nregende –  musikantische Spiel. Zwar tritt das  detailverliebt-analytische etwas zurück, dafür wächst die atmende, singende Dimension. Einmal so in Fahrt, setzt das Baltic Sea Philharmonic noch eins drauf, um das Publikum zum Ausrasten zu bringen – und zwar in Imants Kalnins „Rock Symphony“. Dieses Stück ist so, wie es heißt. Seine Aufführung riss in Peenemünde riss einmal mehr den sinfonischen Klangkörper aus der bildungsbürgerlichen Schublade raus.

Auch zuvor, diesmal allerdings mit Noten, wurde demonstriert, dass zeitgenössische Musik eben nicht im abstrakten Elfenbeinturm stattfinden braucht, sondern auch bewegen, mitreißen, emotionale Berge versetzen kann. Minimalistische Texturen mit tänzerischen, fast balkanesken Farben aufzuladen, ist Sache des polnischen Komponisten Wojciec Kilar und seines Stückes Orawa. Ein ebenenfall noch sehr junges, mittlerweile vielgefragtes Werk will gemäß dem Credo von Kristjan Järvi, in Musik die elementaren Kräfte der Natur wieder beleben: In diesem Fall ist es Geldiminas Gelgotas 2016 uraufgerührte Komposition „Mountains, Waters, Freedom“. Auch hier entsteht elektrisierende Spannung aus repetitiven Strukturen. Voll treibender Sogkraft gepaart mit großer, anspielungsreicher Klangsinnlichkeit. Nicht „zu erwachsen“ im Umgang mit Kompositionen zu werden heißt auch, einschlägige Meisterwerke für vorhandene Potenziale passend zu machen, um Wirkungen zu maximieren. Hier waren es vor allem die elektrisierenden Violinarpeggien der Norwegerin Mari Samielson, welche Pärts meditative Texturen ganz neu aufleuchten ließen. Cineastischer, sonniger, wärmer, leuchtender setzte das Orchester Järvis eigene Komposition „Aurora“ in Szene, machte damit den einstigen Schauplatz der Kriegsproduktion zu einem Ort der Wärme und Menschlichkeit.

Das Meer soll nichts trennendes sein beim Usedomer Musikfestival, welches – von der östlichsten deutschen Ostseeinsel ausgehend –  bewusst Interpreten, Komponisten und Ensembles aus allen zehn Anrainernationen vereint. Thomas Hummel und sein Partner Jan Brachmann sind ein eingespieltes Team, um mit diesem Festival die Region kulturell zu beleben und dabei überregionale, ja internationale Anziehungskraft zu generieren. Die Aufbruchstimmung nach Grenzöffnung und Wiedervereinigung war über aus fruchtbar, um hier etwas nachhaltiges entstehen zu lassen. Dass auch in Amerika und anderswo der Name Usedom einen Klang hat, dafür sorgt etwa  Kurt Masur, der schon in der Gründungsphase als Schirmherr und Förderer gewonnen werden konnte.

Wenn an solch geschichts- und schicksalsträchtigen Spielstätten wie der ehemaligen „Heeresversuchsanstalt“ musiziert wird, liegen politische Botschaften nah. In dieser Hinsicht hat in Peenemünde so manch symbolträchtige Aufführung Musikgeschichte geschrieben –  allen voran ein Konzert mit Benjamin Brittens „War Requiem“ durch den russischen „Jahrhundert-Musiker“ Mstilav Rostropovich unter Beteiligung eines Chores aus Coventry. Bekanntlich gab es in dieser britischen Stadt besonders viele Zivilopfer durch deutsche Bombenangriffe.

Kultur- und Naturerlebnis gehören während der zwei Festivalwochen auf Usedom, aber auch auf der polnischen Nachbarinsel Wollin, untrennbar zusammen. Die Spielorte sind weit über die Landschaft verstreut, die ohnehin eine wunderbare Abgeschiedenheit jenseits aller Großstadthektik atmet. Einen Tag nach dem Eröffnungskonzert gab es in einem kleinen Kirchlein im Dorf Liepe ein spektakuläres Gastspiel: Die 27jährige Chinesin Hanzhi Wang definiert auf einem Akkordeon dessen spielerische und dynamische Möglichkeiten ganz neu. Wie sie Bachs c-Moll-Partita auf diesem Instrument atmen lässt, das lässt so manchen Organisten alt aussehen. Und dann liefert sie eine mutig-zupackende Interpretation von Sofia Gubaidulinas „De Profudis“. Hier kommen sich das unmittelbare, geräuschhafte Klangereignis und eine spirituelle melodische Zartheit fast beängstigend nah!

Solche jungen Talente prägen nicht von ungefähr den hohen Standard beim Usedomer Musikfestival. Kurt Masur war es, der die New Yorker „Young Concert Artists Stiftung“ ins Boot holte. Hier kommen die Besten aus dem Musiknachwuchs aller Länder zusammen. Die Gründerin und Kuratorin der Stiftung ist Susan Wadsworth, die auch zum Publikum im Lieper Kirchlein gehörte. Sie definierte im Gespräch, worum es geht: „Es muss jenseits aller heutigen Perfektion das Besondere aufleben und der Funken überspringen. Solche Qualitäten hat jemand oder nicht.“

Die Entdeckungsreise führte weiter ins kleine Dorf Krummin – direkt am Achterwasser gelegen, einem großen, vor allem bei Seglern beliebten Binnengewässer. Auch hier hatte die Young Concert Artists Stiftung für Weltklasse gesorgt: Denn eine solche boten die Violinistin Soobeen Lee und ihre Klavierpartnerin Dina Vainshtein. Dieses vor Selbstbewusstsein strahlende Spiel, welches sich in Beethovens Sonate G-Dur erhebt und in Eugene Ysayes „Poème Elegique“ berückende Tiefen durchmisst, welches in Bartoks Rhapsodie Nr. 1 lodernden tänzerischen Schwung entfesselt und schließlich in Camille Saint-Saens Sonate für Violine und Klavier so viele schwärmerische Erregungsszustände auftürmt – das zeugt einmal mehr von begnadeter, beglückender Reife. Wie alt die junge Dame ist? Gerade 17 geworden.

Das Usedomer Musikfestival vereint viele Schauplätze und Kontexte, rangiert auch gerne mal zwischen den Stühlen, wenn Jazz und anderes geboten wird. Die Spielstätten sind gleichberechtigt verteilt zwischen Usedom und der polnischen Nachbarinsel Wollin. Wer im Strandkorb im alten deutschen Kaiserbad Bansin die letzte wärmende Herbstsonne genießt, sieht in der Ferne die Hafenkräne im polnischen Swinousce. Dort ragt auch das schicke, neue „Radisson Blue Resort“ in den weiten Himmel empor, ebenfalls eine Aufführungsstätte beim Usedomer Musikfestival.

Im Seebad Heringsdorf bildet zurzeit eine Fotoausstellung die gesamte Historie des Festivals ab.

Die gesamte Geschichte des Festivals bilanziert ein ausführlicher Sammelband – siehe Literaturtipp unten. Am 13. Oktober endet das 25. Usedomer Musikfestival wieder dort, wo es begonnen hat –  nämlich im Kraftwerk des Museums Peenemünde: Mit dem großen Abschlusskonzert mit der NDR Radiophilharmonie unter Robert Trevino und dem Violinisten Sergey Dogadin.

Wer jetzt Reisepläne fürs nächste Jahr schmiedet, sollte sich den Zeitraum vom 21. September bis 12. Oktober 2019 vormerken für das 26. Usedomer Musikfestival. Hochkarätige Gastspiele des Baltic Sea Philharmonic gibt es aber das ganze Jahr hindurch – wichtige Termine sind der 26. Juni 2019 in der Berliner Philharmonie und der 2. Juli 2019 in der Hamburger Elbphilharmonie.

[Text und Fotos: Stefan Pieper]

 

 

Infos und komplettes Programm unter
www.usedomer-musikfestival.de

 

 

Buchtipp:

25 Jahre Usedomer Musikfestival,
10 Länder- ein Meer, 25 Jahre – ein Festival
hrsg.v. Förderverein Usedomer Musikfestival

 

 

Die isolierteste Oper der Welt

Ein mehrtägiges Festival um eine Opernproduktion, das auf einer kleinen Insel stattfindet, etwa vier Stunden Bootsfahrt von der nächsten Stadt entfernt? Das klingt nach einem Abenteuer für mich: Und so mache ich mich erneut auf nach Norwegen, diesmal nach Røst.

Die Reise geht über Oslo nach Bodø, von wo aus die Fähre nach Røst ablegt. Nach etwa drei Stunden auf dem Schiff erhebt sich langsam eine Wand aus den Wogen, befremdlich und unwirklich. Je näher das Boot kommt, desto bedrohlicher wirken die Landmassen, die sich über den Horizont erstrecken. Durch das Teleobjektiv erkenne ich Häuser und allmählich teilt sich die Wand; sie erweist sich als eine Ansammlung unzähliger kleiner Inseln, die gedrängt aneinander aufragen. Røstlandet kommt in Sicht – in großzügiger Entfernung zueinander stehende Holzhäuser und manch eine Betonhalle zur Stockfischlagerung prägen den ersten Eindruck, dahinter erkenne ich die nun im Sommer leeren Holzgestelle, auf denen der Fisch getrocknet wird.

So befinde ich mich also auf Røstlandet, der südwestlichsten Insel der Lofoten. Die geringe Größe und Bevölkerungsdichte wirken für mich als Großstadtmenschen exotisch, doch eben hier liegt auch der Reiz. Weniger als 600 Menschen leben in der Røst-Kommune auf etwa 11 Quadratkilometern, die sich auf weit über 300 Inseln und Schären verteilen. Kleine Binnenseen und Wasserkanäle machen die Landschaft ebenso aus wie Steine und Wiesenflächen: Bäume findet man keine auf Røst, zumindest keine natürlich gewachsenen. Der Blick reicht weit über die Hauptinsel, denn der höchste Punkt befindet sich gerade einmal 12 Meter über dem Meeresspiegel. Auf der Ostseite befinden sich die meisten Häuser, und im Süden bei der Bootsanlegestelle; im Norden liegt eine Kirchenruine und im Nordosten ein Flughafen: wobei ich während meiner Zeit auf Røst nur ein einziges Mal eine Maschine habe starten sehen.

Mich beeindruckt die Mentalität hier in der Abgeschiedenheit. Kriminalität gibt es keine auf Røst, weshalb auch kaum jemand auf die Idee kommt, Wohnung oder Auto abzusperren. Warum auch? Selbst wenn jemand einbrechen würde, käme er – wenn überhaupt – bis auf die Fähre, und nicht weiter. Trotz eines beinahe familiären Zusammenhalts in der Gemeinschaft sind die Einwohner ausgesprochen offen gegenüber ihren Gästen und man findet schnell Anschluss an Gespräche. Natürlich hilft es hierbei wie auch überall sonst, die Landessprache zu können, jedoch beherrschen alle Einwohner auch Englisch und viele sogar etwas Deutsch. Es finden allerdings weniger Touristen nach Røst als auf die anderen Lofoten: Vielleicht aufgrund der Entfernung zu den anderen Inseln, vielleicht aufgrund der verschwindend geringen Größe. Doch es lohnt sich!

Das Querinifestival begann bereits am 1. August, ich stoße erst zwei Tage später dazu. Fünf Tage lang werden verschiedenartige Veranstaltungen angeboten, allen voran vier Aufführungen der Oper „Querini“ aus der Feder Henning Sommerros; doch auch andere Konzerte stehen auf dem Programm, ebenso wie Ausflüge. Ich werde später dazu kommen, was es mit Querini auf sich hat und warum ausgerechnet hier dieses riesenhafte Ereignis stattfindet.

Direkt nach meiner Ankunft steht bereits ein erster Konzertbesuch an: Die ebenfalls von den Lofoten stammende Sängerin Kari Bremnes tritt erstmalig auf Røst auf, wobei sie von Bengt Hanssen begleitet wird. Bremnes gehört zu den bekanntesten Stimmen Norwegens und entsprechend voll wird es in der Querinihalle, die 500 Plätze umfasst. Rein und schlicht trägt sie ihre Lieder vor, singt, wie für sich ganz alleine. Bengt E. Hanssen ersetzt eine ganze Band, indem er seiner Klavierstimme auch zahlreiche Effekte und Klänge anderer Instrumente beifügt. Herrliche Momente beschert uns der Musiker durch sein Joiken: Ein Joik ist ein samischer Gesang, in dem die Töne mehr Bedeutung tragen als die Worte.

Unterhaltsam geht es am nächsten Tag weiter mit Rasmus Rohde, der gemeinsam mit seiner „verdens beste band“ („weltbesten Band“) einige der erfolgreichsten norwegischen Lieder-CDs für Kinder eingespielt hat und zeigt, dass Musik alles andere als öde oder uncool ist. In seinen Liedern erzählt er von interessanten Mahlzeiten, reisenden Ballons, naiven Kuscheltieren und Sommererlebnissen. Er kann auf hohem musikalischem Niveau nicht nur den Kleinen ein Lachen entlocken. Denkwürdig bleibt der Moment, in dem Rohde die Stimmung kurz umschwingen lässt und von einem Flüchtlingskind singt, das seine Reise nicht überlebt hat. Gewagt, aber wichtig, den Kindern im Rahmen solch eines Konzerts diese Thematik näherzubringen.

Wenige Stunden später beginnt die Hauptveranstaltung: die vierte und somit letzte Aufführung der Querini-Oper von Henning Sommerro. Es ist die Geschichte des italienischen Handelsmannes Pietro Querini, dessen Schiff in einem Sturm vom Kurs abkam und sank. Nach langer orientierungsloser Reise strandete eines der Rettungsboote auf Sandøy, einer Nachbarinsel von Røst. Die überlebenden Männer wurden von einheimischen Fischern gefunden und gepflegt, wobei nur der örtliche Priester durch seine Lateinkenntnisse zwischen Italienern und Norwegern vermitteln konnte. Nach drei oder vier Monaten reisten Querini und die übrigen zehn Überlebenden der ursprünglichen 68 Männer zurück nach Italien; mit an Bord nahmen sie große Mengen an Stockfisch, der sich als Proviant für lange Reisen ideal eignet, und brachten ihn mit in die Heimat. Damit war Querini vermutlich der erste, der den Stockfisch importierte und somit eine bis heute bestehende Verbindung zwischen Nordnorwegen und Italien schuf. In den letzten Jahren kam auf Røst die Geschichte um Querini vermehrt in Erinnerung: Zunächst benannte man eine Straße nach dem Seefahrer, dann das Wirtshaus der Insel. Schließlich wurde die Idee geboren, die Aufzeichnungen Querinis über seine Abenteuer als Oper zu vertonen, was durch den Komponisten Henning Sommerro und den Librettisten Ragnar Olsen dann auch geschah und 2012 das Licht der Welt erblickte. 2018 wird die Geschichte nach 2012 und 2014 zum dritten Mal auf die Bühne gebracht, diesmal in neuer Inszenierung.

Die Oper zeigt das Geschehen vom Aufbruch in Venedig bis zu Querinis Rückkehr, wobei ein Kormoran (Soetkin Baptist) als omnipräsente Erzählerrolle fungiert. Die Wahl dieses Vogels wirkt nicht abwegig, er ist Wappentier von Røst und auch in Venedig heimisch. Insgesamt drei Liebesgeschichten durchziehen die Oper: Eine fromme Liebe verbindet Pietro Querini (Magne Fremmelid) und seine Frau (Anna Einarsson) und überdauert alle räumliche und zeitliche Distanz. Auch Bernardo (Eivind Kandal), Mitglied in Querinis Crew, sehnt sich nach seiner Maria (Jeanette Goldstein), die wie alle Frauen in Venedig geblieben ist. Diese wird allerdings von einem neuen Freier umgarnt (Jacob Abel Tjeldberg): Anfangs widersteht sie ihm, doch als die Crew noch immer nicht wiederkehrt und für tot gehalten wird, gibt sie nach. Am Ende kommt Bernardo zurück, und vergibt ihr. Eine dritte Liebesbeziehung entsteht zwischen Nicolo (Ivar Magnus Sandve), dem Diener Querinis, und Igna (Henriette Lerstad), einem Mädchen aus Røst. Obgleich die beiden nicht die Sprache des jeweiligen Gegenübers verstehen, spüren sie eine innere Verbindung. Als Querini aufbricht, um nach Venedig zurückzukehren, muss sich auch das Paar trennen, denn Igna wird auf Røst und Nicolo an Bord gebraucht. Das Ende der Oper zeigt, wie die Crew den Stockfisch in Venedig präsentiert und dort davon überzeugt. Ein Gabelstapler mit einer Palette Stockfisch fährt herein und eröffnet den Blick in unsere Gegenwart, in der noch immer Stockfisch von Norwegen nach Italien gebracht wird, wenngleich in anderen Mengen und mit anderen Mitteln.

Nicht nur die Rollenverteilung erweist sich als aufwendig mit genannten Solisten plus Rollen für Christofero aus Querinis Mannschaft (Magnus Berg), einer Hausfrau auf Røst (Hildegunn Pettersen), einem Fischer (Thomas Johansen) und dessen Tochter (Sofie Alexandra Arntsen), sondern auch das Bühnenbild. Die Szenerie wechselt immer wieder zwischen Italien und Norwegen; teils muss das Geschehen überblendet werden, um eine Gleichzeitigkeit der Handlung auszudrücken. Dies gelingt durch fahrbare Elemente wie ein Kirchenfenster, eine Treppe, eine Gondel oder die Löwensäule, die alle schnell auf die Bühne gebracht und ebenso schnell wieder herausgeschoben werden können. Dem Lebensstandard entsprechend gestaltet sich die Szenerie auf Røst schlichter: Ein großer Felsen prägt das Bild, später ergänzt durch ein Holzgerüst, auf dem der Fisch zum trocknen aufgehangen wird. Eine Videokulisse im Hintergrund erweckt die Bühne zum Leben, sie lässt rasche Übergänge zu und verleiht dem Sturm eine glaubwürdige Wucht.

Musikalisch steht die Querini-Oper zwischen den Stühlen, Henning Sommerro verpflichtet sich nicht einem Stil, sondern integriert unterschiedlichste Einflüsse in seine Musik. Dem Orchester vertraut Sommerro manche modernen Effekte an, die Sängerpartien setzt er konventioneller. Die aus Italien stammenden Rollen entleihen sich ihren Stil dem Belcanto, die norwegischen Partien ziehen ihre Kraft aus folkloristischen Elementen wie Borduntönen, spannungstragenden Intervallen und dem Joik. Liebesszenen stellt Sommerro gerne musicalartig-idealisiert dar, das Duett zwischen Nicolo und Igna könnte beinahe einem Disneyfilm entspringen. Allgemein ließe sich die Querini-Oper als „Hit-Oper“ bezeichnen, so wie es beispielsweise Carmen von Bizet ist: Eine Fülle an eingängigen Melodien schmeichelt dem Ohr, wiederkehrende Refrains gehen ins Ohr und prägen sich ein.

Das klingende Resultat ist herzergreifend. Das Engagement für dieses eine Event, die Aufführung eines wichtigen Moments der Inselgeschichte, und der Zusammenhalt als eingespieltes Team übertragen sich auf den Hörer. Die Mitwirkenden wollen ihr Bestes geben und so tun sie es auch. Bei Voraussetzungen, die unterschiedlicher kaum sein könnten, unterstützen sich alle gegenseitig in einem familiären Umfeld. Besetzt wurden die Rollen durch Profis wie Laien gleichermaßen: Manche der Sänger standen erstmals auf einer Bühne, andere regelmäßig seit Jahrzehnten; und die Erfahrenen spornen die Neulinge an, über ihre Grenzen hinauszuwachsen. Es erstaunt, dass auf einer so kleinen Insel so hohes musikalisches Niveau erklingt. Hervorgehoben sei dabei der Chor, der sowohl das Volk aus Venedig als auch die norwegischen Inselbewohner darstellen muss, jeweils mit der entsprechenden regionalen Färbung des Gesangs. Er steht ausgesprochen häufig auf der Bühne und wechselt in den kurzen Verschnaufpausen auch noch die Kostüme. Auch das Orchester leistet viel, die „Querini Sinfonietta“ unter Torodd Wigum wurde extra für das Festival zusammengestellt; sie erweist sich als gutes Team, das sowohl aufeinander wie auch auf die Sänger aktiv eingeht. Bestechend ist die Rolle des Querini durch Magne Fremmelid, einem sonoren Bass mit durchdringender Stimme und Blick für glänzende Details. Jeanette Goldstein überzeugt als Maria, spürbar fiebert das Publikum mit, als sich ihre Liebesaffäre zuspitzt. Heimliche Hauptrolle der Oper bleibt allerdings Soetkin Baptist als Kormoran: In Erinnerung bleibt sie durch ihre erstaunlich naturnahen Vogelrufe, aber auch durch ihren sinnlich-feinen Gesang von unbeschreiblicher Reinheit. Die aus Belgien stammende Sängerin lebt sich in ihre ungewöhnliche Rolle ein und geht in ihr auf, schauspielerisch wie sängerisch: Dieses Talent ist einer großen Entdeckung würdig!

Nach der Oper schließt sich eine Gala an, in welcher die Musiker von Querini noch Highlights aus anderen Opern darbieten. Die erste Hälfte steht im Zeichen von Bizets Carmen, danach tragen die Sänger noch einige ihrer persönlichen Lieblingsarien vor. Bei Carmen (in norwegischer Übersetzung!) steht vor allem der Spaß im Vordergrund, kecke Scherze und lustige Momente werden in die Musik eigebunden; die zweite Hälfte birgt manch einen Opernschatz, der gewissenhaft und reflektiert dargeboten wird.

Am kommenden Tag schließt das Querini-Festival traditionell mit einem Ausflug nach Skomvær, ein kleines Künstlerparadies südwestlich der Hauptinsel. Mit dem Boot kommen wir an Inseln mit Wikingergräbern vorbei, am „Tor zur Hölle“ und an Sandøy, wo Querini und seine Mannschaft 1432 gestrandet sind. Nur fünf Häuser stehen auf Skomvær, eines davon ist der vielbesungene und -abgelichtete Leuchtturm Skomvær fyr. Künstler aus aller Welt bewerben sich für einen dreiwöchigen Aufenthalt auf diesem Fleckchen Land, wo sie in Abgeschiedenheit arbeiten und sich von der Landschaft sowie dem einmaligen Licht inspirieren lassen können. Während unseres Aufenthalts sehen und hören wir einige der hier entstandenen Kunstwerke inklusive des von den Querini-Solisten vorgetragene Lied „Har du fyr?“ von Ola Bremnes. Bei dieser unbeschwerten Idylle kann ich mir kaum vorstellen, dass diese kleine Meereserhebung im Zweiten Weltkrieg strategisch umkämpft war und schließlich vermint wurde. Heute ist nichts mehr übrig von dieser dunklen Vergangenheit und der Blick auf die benachbarten Inseln und das Meer lässt zurückdenken an die vergangenen Tage. Die Zeit auf Røst wird mir lange in Erinnerung bleiben, alleine schon die Anreise auf der Fähre und die Herzlichkeit der Leute, die gemütliche Lebensführung und gleichzeitig der Ehrgeiz, gemeinsam Großes zu schaffen, und das alles in unverwechselbarer Landschaft und mit dem Gefühl von Freiheit.

[Oliver Fraenzke, August 2018]

 

(Alle Fotos von: Oliver Fraenzke, August 2018)