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Roy Travis zum 100. Geburtstag

Die bei RCA erschienene Dimitri-Mitropoulos-Edition, die auf 69 CDs sämtliche Aufnahmen umfasst, die der große Dirigent für RCA und Columbia eingespielt hat, ist eine veritable Schatzkiste. Nicht zuletzt dokumentiert sie Mitropoulos‘ Einsatz für die zeitgenössische Musik der Vereinigten Staaten: Roger Sessions, Peter Mennin und Gunter Schuller sind mit Symphonien vertreten, Leon Kirchner mit seinem Klavierkonzert Nr. 1, Morton Gould und Elie Siegmeister mit kleineren Orchesterwerken und Samuel Barber mit der Oper Vanessa. Als mich kurz nach der Veröffentlichung (April 2022) ein guter Freund mit dieser Wunderschachtel bekannt machte, fanden wir beide Gefallen an einem weiteren US-amerikanischen Stück, dessen Komponist uns bislang völlig unbekannt geblieben war: dem Symphonic Allegro von Roy Travis. Eine kurze Suche im Netz ergab, dass die Edition genau rechtzeitig zum 100. Geburtstag des 2013 gestorbenen Komponisten erschienen ist, und dass es sich bei Travis offenbar um einen vielseitigen Künstler handelt, der stärkere Aufmerksamkeit verdiente als ihm in den letzten Jahren seines Lebens zuteil wurde. Widmen wir Roy Travis anlässlich seines Jubiläums das folgende Gedenkblatt!

Roy Elihu Travis, geboren am 24. Juni 1922 in New York City, gehört zu denjenigen Komponisten, die als Gewinner des Gershwin Memorial Contest, eines 1945 ins Leben gerufenen Wettbewerbs für Orchesterwerke junger Autoren, erstmals in der Öffentlichkeit von sich reden machten. Andere Beispiele sind etwa der gleichaltrige Peter Mennin, an den der Preis 1945 zum ersten Mal vergeben wurde, und der etwas jüngere Gordon Sherwood, der ihn 1957 erhielt. Anhand dieser drei Komponisten, die alle von jener Stilrichtung ausgehen, die Walter Simmons in seinem Buch Music of Stone and Steel als „Modern Traditionalism“ charakterisiert hat, zeigt sich, welch unterschiedliche Karrieren den Gershwin-Preisträgern bevorstehen konnten: Mennin wurde erst zum führenden US-Symphoniker seiner Generation und schließlich Präsident der Juilliard High School. Sherwood stürzte sich in dem Moment, als ihm im Musikbetrieb Amerikas alle Türen offen gestanden hätten, geradezu fluchtartig in eine abenteuerliche Vagabundenexistenz, konnte aber, nach jahrzehntelanger Vergessenheit, als über 70-Jähriger seine spektakuläre Wiederentdeckung erleben. Roy Travis‘ Leben verlief dagegen allem Anschein nach weniger aufsehenerregend. Nachdem sein Symphonic Allegro 1951 mit dem Gershwin Memorial Award ausgezeichnet und von den New Yorker Philharmonikern unter Mitropoulos eingespielt worden war, studierte er, unterstützt durch ein Fulbright-Stipendium, ein Jahr lang bei Darius Milhaud in Paris und wurde nach seiner Rückkehr selbst Musikpädagoge. Er unterrichtete in New York an der Columbia University (1952/53) und an der Mannes School of Music (1952–1957), bevor er 1957 an die Musikfakultät der University of California in Los Angeles wechselte. Dort wirkte er, seit 1968 Professor, bis zu seiner Pensionierung 1991.

War Travis also nur einer von vielen handwerklich beschlagenen Komponisten, die ihr Dasein als Lehrer fristeten, ohne außerhalb ihres engeren Wirkungskreises sonderlich bekannt zu werden? Offensichtlich nicht! Ein genauerer Blick auf sein Schaffen verrät, dass es sich bei ihm keineswegs um einen Akademiker handelte, der sich mit einmal verinnerlichten Konventionen begnügte. Tatsächlich gehört Travis in eine Reihe mit John Foulds und Walter Kaufmann, Komponisten, die sich mit wahrer Leidenschaft in Musiktraditionen außerhalb des abendländischen Kulturkreises vertieften, daraus mannigfaltige Anregungen für das eigene Schaffen gewannen und zu Pionieren des musikalischen Austauschs zwischen Ost und West wurden. Wie Foulds und Kaufmann beschäftigte sich auch Travis mit den Modi und rhythmischen Modellen der indischen Musik. Eine wenigstens ebenso große Bedeutung erlangte für ihn die traditionelle Musik des westlichen Afrika, mit der er sich auseinanderzusetzen begann, nachdem er in den 60er Jahren die Bekanntschaft des ghanaischen Meistertrommlers Robert Ayitee gemacht und an den von diesem an der University of California veranstalteten Kursen teilgenommen hatte. Travis transkribierte Tonaufzeichnungen ghanaischer und anderer westafrikanischer Lieder und Tänze und erlangte dadurch ein profundes Wissen über die Strukturen, die dem Musizieren der betreffenden Völker zugrunde liegen. Die erste künstlerische Frucht dieser Beschäftigung war seine Zweite Klaviersonate, die African Sonata, in deren vier Sätzen er auf Tanztypen der in Ghana bzw. Mali ansässigen Ashanti, Ewe und Bambara zurückgriff. Später begann der Komponist afrikanische und indische Instrumente mit abendländischen zu kombinieren. So existiert aus seiner Feder ein Konzert für Violine, Tabla (indische Trommel) und Orchester. Sein Werk Switched-On Ashanti basiert auf Tonbandaufzeichnungen des Meistertrommlers Kwasi Badu, die Travis mit einem Synthesizer bearbeitete. Diese werden im Konzert den Klängen einer Quer- bzw. Piccoloflöte gegenübergestellt. Travis umfangreichstes Werk, in welchem abendländische und afrikanische Traditionen verschmolzen werden, ist die abendfüllende Oper The Black Bacchants, nach den Bakchen des Euripides, deren Instrumentalensemble ein großes Symphonieorchester samt einer Vielzahl westafrikanischer Instrumente umfasst. Daneben entstanden weiterhin Kompositionen für konventionelle abendländische Besetzungen. Roy Travis starb am 19. Oktober 2013 im Alter von 91 Jahren über der Arbeit an seiner dritten Oper Hamlet.

Diskographie

(Von den nachfolgend aufgezählten LP-Aufnahmen ist bislang nur Mitropoulos‘ Einspielung des Symphonic Allegro auf CD wiederveröffentlicht worden.)

  • Symphonic Allegro (Columbia, 1952): New York Philharmonic, Dimitri Mitrpoulos (Dirigent).
  • Collage for Orchestra (Cri, 1970): Royal Philharmonic Orchestra, Arthur Bennett Lipkin (Dirigent).
  • Zwei Szenen aus der Oper The Passion of Oedipus (Orion, 1973): William Du Pré (Oedipus), Maureen Lehane (Jocasta), Joy Mammen (Oracle), John Robert Dunlap (Laios), Robert Lloyd (Corinthian Envoy), Richard Hale (Old Shepherd), The Royal Philharmonic Orchestra and Chorus, Jan Popper (Dirigent).
  • Duo Concertante, African Sonata, Switched-On Ashanti (Orion, 1973): Isidor Lateiner (Violine), Edith Grosz (Klavier), Richard Grayson (Klavier), Kwasi Badu (ghanaische Trommeln), Gretel Shanley (Flöte).
  • Symphonic Allegro, Songs and Epilogues, Piano Concerto (Orion, 1975): Harold Enns (Bass), Royal Philharmonic Orchestra; Irma Vallecillo (Klavier), Utah Symphony Orchestra; Jan Popper (Dirigent).

[Norbert Florian Schuck, Juni 2022]

Freie Tonalität in stringenter Fortschreitung

Ein Portrait des Komponisten Josef Schelb (* 14. März 1894 in Krozingen; † 8. Februar 1977 in Freiburg im Breisgau)

Überblickt man den Lebensweg von Josef Schelb (1894–1977), reflektiert dieser an mancher Stelle beinahe exemplarisch das Schicksal vieler Tonkünstler des 20. Jahrhunderts, zeugt von großen Visionen und herben Rückschlägen. Schelb stand über Jahrzehnte im Licht der Öffentlichkeit, wohl aber ohne jemals als einer der „Stars“ der Szene zu gelten. Dabei steht außer Frage, dass er eine wahre Künstlernatur gewesen ist, die sich mit Talent und unermüdlichem Fleiß bis zuletzt aufopfernd in den Dienst der Musik stellte. Mehr denn je ist es an der Zeit, sein Schaffen aufblühen zu lassen, um es vor der Vergessenheit zu retten.

Geboren wurde er als Christian Albert Joseph Schelb am 14. März 1894 in Krozingen, heute Kurort, nahe Freiburg in einem interessiert laienmusikalischen Haushalt. Sein erster wichtiger Lehrer wurde der Pianist und als Symphoniker bedeutende Hans Huber (1852–1921), zu dem Schelb nach Basel pendelte. Nach seinem Abitur zog er zum Studieren nach Genf, wo der damals populäre Liszt-Schüler Bernhard Stavenhagen (1862–1914) ihm Unterricht gab; daneben besuchte er die Kontrapunktklasse von Otto Barblan (1860–1943). Zwanzigjährig erhielt er das „Diplôme de Virtuosité avec Distinction“, etablierte sich schon während des Ersten Weltkrieges als Pianist und lehrte über seinen Wehrdienst hinaus zwischenzeitlich am Freiburger Konservatorium.

Im Jahr 1924 erhielt Josef Schelb eine Anstellung am Konservatorium in Karlsruhe, die er (mit Unterbrechung in den 40er-Jahren) bis 1958 innehatte. Die vielfältigen Berichte aus dieser langen Epoche seines Lebens lassen schlussfolgern, dass Schelb ein gewissenhafter wie bemühter Lehrer war, der jedoch immer das Künstlerische dem Pädagogischen vorzog. Er beteiligte sich rege an Lehrerkonzerten und brachte eine Vielzahl seiner Kompositionen in den Veranstaltungen der Ausbildungsstätte unter, doch durch seine intensiven Konzertvorbereitungen und seinen kompositorischen Fleiß kam es oftmals zu Zeitkonflikten: Über die Jahre verteilt finden sich mehrere Beschwerden, da er oft zu spät erschien oder bei wichtigen Institutsveranstaltungen fehlte. Schelb versuchte mehrfach, seine Mindestunterrichtszeit zu senken, um mehr Zeit fürs Komponieren und Üben zu haben. Ein früher Höhepunkt seiner Karriere war eine dreimonatige Amerikareise mit dem Violinisten Juan Manén (1883–1971).

Am 21. Juli 1936 heiratete Josef Schelb die 1915 geborene Sängerin Lotte Schuler, die vor ihrer Gesangsausbildung Schelbs Klavierklasse besuchte. Lotte Schelb hob die meisten der Vokalwerke ihres Mannes aus der Taufe. 1938 erlangte das Konservatorium in Karlsruhe staatliche Anerkennung, wodurch auch Schelb eine angemessenere Vergütung zuteil wurde; im Folgejahr wurde er verbeamtet und zum „Dozentenführer“ ernannt, was aber hauptsächlich lästige Pflichten ohne künstlerische Mitsprachen mit sich brachte.

Während eines Fliegerangriffs 1942 wurden große Teile des Konservatoriums zerstört und auch Schelbs Wohnung fiel den Bomben zum Opfer, wobei große Teile seiner bisherigen Kompositionen unwiederbringlich verbrannten. Schelb nutzte den Einschnitt, um sich vorläufig für ein Jahr beurlauben zu lassen, damit er sich aufs Konzertieren konzentrieren konnte: Aufgrund der „Wichtigkeit der Wehrmachtsbetreuung während des Krieges durch gute Konzerte“ wurde ihm die Abwesenheit gewährt. Josef Schelb verlängerte seine Beurlaubung jährlich bis Kriegsende. Für den letzten Volkssturm wurde er eingezogen, er setzte sich jedoch vor dem Einsatz ab.

Wegen seiner hohen kulturellen Stellung besonders als Dozentenführer sowie seines allgemeinen Ansehens während der NS-Zeit (er war 1933 – eigenen Aussagen zufolge aus Zwang – Mitglied der NSDAP geworden) hatte es Josef Schelb in der Zeit nach dem Krieg schwer. Er wurde trotz vielfacher Stellungnahmen und Empfehlungsschreiben durch Kollegen, welche ihm unpolitische bis systemkritische Haltung attestierten, nach mehreren Verhandlungen erst 1947 als Mitläufer gegen Geldstrafe entnazifiziert. Im Februar 1948 erlangte er seine alte Stellung zurück. Schelb hielt sie bis Ende 1958, als er sich aus gesundheitlichen Gründen vorzeitig pensionieren ließ.

In den letzten knapp zwanzig Jahren wirkte Josef Schelb als freischaffender Komponist, der bis zuletzt mit ungebrochenem Eifer neue Werke schrieb. Seine Musik genoss durchaus Ansehen, wurde im Rahmen großer, öffentlichkeitswirksamer Konzerte und Festivals uraufgeführt; besonders die Musica Viva profilierte sich durch eine Vielzahl an Premieren. Dabei muss angemerkt werden, dass Schelbs kompositorische Präsenz im Konzertleben in erster Linie auf die unermüdlich neuen Uraufführungen zurückzuführen ist, denn nur die wenigsten der Werke wurden Zeit seines Lebens wiederholt.

1976 erlitt Schelb einen Schlaganfall, von dem er sich nie mehr ganz erholte. Am 7. Februar 1977 starb er in Freiburg, wo er im Familiengrab beigesetzt wurde.

Die Musik Josef Schelbs beweist sich durch Eigenständigkeit. Am einfachsten fasslich zeigt sie sich durch ihren formalen Sinn, denn die Werke wie deren einzelne Sätze sind in klassischen Formschemata errichtet, die recht streng eingehalten werden. Halt gibt ebenfalls die motivische Arbeit, die stringent durch die Werke navigiert und ein Gefühl vermittelt, wo im Werk man sich befindet. Modern hingegen ist der Inhalt, der sich kaum an harmonische Gesetzmäßigkeiten hält, sondern frei durch den Tonraum mäandert. Interessanterweise nutzt Schelb dabei vergleichbar wenige chromatische Verläufe, sondern erlaubt sich, neue Zwischenzentren auch sprunghaft zu erreichen, wodurch er die Dichte der Kontraste zur ständigen Verfügung hat, im Umkehrschluss Abwechslung durch rasche Änderungen bezüglich Dynamik, Artikulation und Tempo schaffen muss, was nicht zuletzt die Musik auszeichnet.

Exemplarisch sollen an dieser Stelle drei Werke aus dem Bereich der Kammermusik kurz vorgestellt werden, deren Noten bereits veröffentlicht vorliegen und von denen entweder bereits eine Aufnahme existiert oder sich zumindest auf dem Wege der Publikation befindet.

Das früheste der hier zu nennenden Werke ist das Zweite Klaviertrio von 1954, ein lebendiges, keck sprunghaftes Werk, das seine packende Energie aus dem regen Zusammenspiel der Instrumente zieht. Motorische Begleitfiguren treiben nach vorne, während die melodischen Stimmen kontrapunktisch kommunizieren, sich in den Verschiedenheiten ergänzen. Die ersten zwei Sätze erscheinen wie aus einem Guss, wobei das Vivace leggiero die Wucht des Kopfsatzes noch potenziert, dabei Motive aus diesem neu entwickelt. Das Adagio basiert auf einer Zwölftonreihe, die aber einerseits verschiedene Dreiklangbrechungen beinhaltet und somit Ausgangspunkt für die harmonische Entwicklung bildet, andererseits nicht durch dodekaphone oder gar serielle Fortspinnung weitergeführt wird, sondern als klar erkenntliches Thema behandelt wird. Dies nimmt Schelb als ein in vielen Werken vergleichbar erscheinendes Prinzip. Auch das Finale beginnt mit einer Zwölftonreihe, doch hier auseinandergerissen in zwei getrennte Motive plus den Auftakt zur Fortführung des Materials.

Während das Trio durch seine heitere Kurzatmigkeit und den musikalischen Scherz lebt, kommt im Quartett für Violine, Horn, Cello und Klavier aus dem Jahr 1962 mehr Dramatik auf. Das Werk ist ungemein dichter konzipiert und weist größere Flächen auf, die dabei für ein freitonales Werk bewundernswert orientierungsbewusst durchschritten werden. Schelb verwendet das Horn gerne für Haltenoten und das Klavier für motorisch gleichförmige Figuren, während sich die Streicher rhythmisch geladen ergänzen. Allgemein nutzt er prägnante Rhythmik für innermusikalischen Zusammenhalt wie auch Wiedererkennbarkeit seiner Motive, meißelt gerade durch dieses Element die Gesamtstruktur heraus.

Im späten Klavierquintett von 1970 sucht Josef Schelb vermehrt die Einheit und Ausgewogenheit. Die vier Sätze weisen annähert gleiche Länge auf, tarieren die ruhigeren und drängenderen Momente untereinander aus; auch die Instrumente wirken weniger kontrapunktisch gegeneinander, sondern entfalten Einklang. Die Tonsprache, vor allem aber die Rhythmik wirkt gesetzter, weniger sprunghaft und mehr auf große Bögen konzentriert. Im Quintett kehrt sich Schelb vermehrt zu polytonalen Strukturen, die dafür untereinander klarere Verläufe besitzen. So heben die drei hier angeführten Werke gänzlich unterschiedliche Aspekte der Musik Josef Schelbs hervor, legen eine klare Entwicklungslinie frei und entfalten parallel eine durchgehend wiedererkennbare Handschrift.

[Oliver Fraenzke, April 2022]

Nördlich anmutende Stimmungsbilder und rauer Charme

Toccata Classics, TOCC 0600; EAN: 5 060113 446008

Die dritte Folge der Einspielungen von Orchestermusik des britischen Sinfonikers William Wordsworth (1908–1988) des Labels Toccata präsentiert sein Cellokonzert op. 73 und seine Sinfonie Nr. 5 a-moll op. 68 aus den frühen 1960er Jahren. Es spielt das Sinfonieorchester der lettischen Stadt Liepāja unter der Leitung von John Gibbons; Solist ist Florian Arnicans.

So beachtlich die Diskographie britischer Sinfonik auch ist, die Labels wie Chandos, Hyperion, Lyrita, Naxos und Dutton (um nur einige zu nennen) im Laufe von mittlerweile mehreren Dekaden zusammengetragen haben: es gibt auch auf diesem Gebiet nach wie vor eine ganze Reihe ausgezeichneter Komponisten zu entdecken. Aus den Veröffentlichungen der letzten Jahre wären hier z. B. der Waliser Daniel Jones hervorzuheben, dessen 13 Gattungsbeiträge nun endlich komplett auf Tonträger verfügbar sind (Lyrita), oder der Schotte Thomas Wilson, dessen Sinfonien Nr. 2–5 bei Linn Records erschienen sind. Auch Toccata Classics hat eine Reihe von beachtlichen CDs mit britischer Sinfonik herausgebracht, und insbesondere ist hier die laufende Serie mit Orchesterwerken von William Wordsworth (1908–1988) zu nennen.

Wordsworth, Schüler von Donald Francis Tovey und Nachfahre eines Bruders des gleichnamigen Dichters, hat eine breite Palette von Orchesterwerken hinterlassen, die seine gesamte kompositorische Laufbahn umfassen, darunter acht Sinfonien und eine Sinfonia für Streicher. Im umfangreichen, insbesondere Leben und Persönlichkeit Wordsworths schildernden (und dabei mit einigen recht amüsanten Anekdoten aufwartenden) Essay von Paul Conway im Beiheft werden Sibelius, Bartók, Nielsen sowie („to a lesser extent“) Bax und Vaughan Williams als Einflüsse verortet. In der Tat sind dies die stilistischen Koordinaten, die für eine grobe Einordnung von Wordsworths Musik relevant sein dürften, wobei natürlich klar ist, dass bei einem solch großen Spektrum etwas Differenzierung gefragt ist. Hört man auf der vorliegenden CD etwa die Ecksätze der Fünften Sinfonie, so wird man rein vom Klangbild her sicherlich nicht an Bartók denken: in diesem Punkt unterscheidet sich Wordsworths in breiten Linien dahinströmende, oft von lang gehaltenen Dreiklängen in tieferen Lagen bestimmte und wenigstens mittelbar durchaus in der Romantik verwurzelte Musik deutlich von der Musik des großen Ungarn. Hier liegt der Vergleich zu Sibelius oder eben doch auch Vaughan Williams näher.

Was Wordsworth an Bartóks Musik bewunderte, war insbesondere seine Arbeit mit Motiven und thematischen Fragmenten. In der Sinfonie Nr. 5 etwa wird gleich zu Beginn eine Art „Motto“ vorgestellt, das die gesamte Sinfonie durchzieht und als Skala, harmonische Grundlage und thematisches Gerüst fungiert, nämlich a-b-c-cis-dis-e-f-des-b-as-g-f-e. Hier mag man sich in der Ferne vielleicht etwas an den Beginn von Bartóks Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta erinnert fühlen, andererseits sind natürlich auch die Unterschiede zu Bartók unverkennbar. Typisch für Wordsworth sind dabei u. a. die in seiner Musik häufig anzutreffenden modalen Elemente und Sekundrückungen, wie man überhaupt feststellen muss, dass seine Musik bei allen genannten Prägungen sehr wohl ihren eigenen Stempel besitzt. Einflüsse modernerer Musik rezipiert Wordsworth vereinzelt, ohne deshalb seine stilistische Grundpositionierung aufzugeben, und wie so oft ist dies eher ein Phänomen, das in seinen späteren Werken auftritt.

Die beiden auf dieser CD vorgestellten Werke entstanden in relativ enger zeitlicher Nachbarschaft (die Sinfonie 1957–60, das Konzert 1962/63), zeigen aber unterschiedliche Facetten von Wordsworths Stil. Insgesamt ist die Sinfonie (speziell in ihren Ecksätzen) in einem traditionelleren Idiom gehalten als das Konzert, und insofern zeigen die beiden Werke ihren Schöpfer wohl auch ein wenig am Scheideweg (wobei von einem echten Bruch nicht die Rede sein kann). Die Sinfonie ist dreisätzig, und an erster Stelle steht ein umfangreiches, von dunklen Farben geprägtes Andante maestoso. Dabei speist sich der Satz zu wesentlichen Teilen aus dem oben bereits diskutierten Mottothema, auch in der Harmonik: zum Beispiel erscheinen cis-moll und b-moll in diesem Kontext als mit der Grundtonart a-moll eng verwandt. So entfaltet sich eine Art Fantasie, ein nördlich anmutendes Stimmungsbild, wobei allerdings nicht zuletzt Wordsworths Vorliebe für Fugatopassagen dem Satz sinfonisches Gewicht verleiht. Immer wieder treten einzelne Instrumente und Instrumentengruppen hervor bis hin zum langen Abgesang der Solovioline am Ende. An zweiter Stelle steht ein deutlich knapperes Scherzo, das mit allerlei Schlagzeugeffekten und dissonant geschärfter Harmonik aufwartet, auch hier teilweise unter Einbeziehung des Mottothemas. Noch stärker vom Motto geprägt ist der Finalsatz, der es mannigfaltig abwandelt, die ihm innewohnende Dur-Moll-Ambiguität nun eher in Richtung A-Dur interpretiert und die Sinfonie schließlich zu einem triumphalen Schluss führt.

Auch das Cellokonzert ist dreisätzig, und wiederum legt Wordsworth viel Wert auf thematisch-motivische Verknüpfungen. Am Beginn steht erneut eine Art Motto, zwei gleichzeitig erklingende gegenläufige Skalenbewegungen (eine steigt auf, die andere ab), aus denen sich ein eher rhapsodisch geprägter, wohl tonaler, aber im Vergleich zur Sinfonie harmonisch verschärfter (dissonanterer, oft auf Quarten und Quinten aufgebauter) Satz entwickelt. Auffällig ist dabei u.a. ein markanter Rhythmus, der sich in etwa ab 3:10 herauskristallisiert und oftmals dynamische Kulminationspunkte markiert. Wiederum ist der zweite Satz deutlich kürzer, in diesem Falle ein herb-verträumtes Nocturne mit kurzem bewegtem Mittelteil, der einen Sturm eher andeutet als wirklich realisiert. Das Finale wirkt ein wenig wie ein stilisierter Tanz, vielleicht eine Art Jig; vieles ist aus dem vorherigen Geschehen abgeleitet (der oben erwähnten rhythmischen Figur aus dem ersten Satz begegnet man sofort wieder, auch die Skalenbewegungen oder das lyrische Seitenthema aus dem ersten Satz werden schnell in Erinnerung gerufen). Prinzipiell ein gut gelaunter Abschluss des Konzerts, aber nicht ganz ohne Vorbehalte. Ohnehin ist dem Konzert eine gewisse Janusköpfigkeit zu eigen, wie z. B. das lyrische Seitenthema des Kopfsatzes illustriert, das in etwa ab 4:08 seine endgültige Gestalt annimmt (und dann sofort erneut variiert bzw. gespiegelt wird): im Grunde genommen eine aufsteigende und eine absteigende Bewegung (insofern den Beginn reflektierend), die aufsteigende in großen Intervallschritten (Quinten), die wohl die Blechbläsergesten der Einleitung aufgreifen, während die absteigende auf Tonleiterbasis erfolgt und die Tonalität H-Dur entschieden festigt, fast ein wenig im Stile eines lyrischen Idylls. Der Eindruck einer gewissen Disparität lässt sich hier nicht ganz von der Hand weisen, wie das Thema auch eher konstruiert als inspiriert anmutet. Sein stärkstes Werk ist Wordsworths Cellokonzert sicher nicht, aber es hat seine Momente, eine Art rauen Charme.

Die Interpretationen durch das Sinfonieorchester Liepāja unter der Leitung von John Gibbons, im Cellokonzert zusammen mit dem Solisten Florian Arnicans, bewegen sich auf einem guten, sehr soliden Niveau. Das Orchester ist bereits in einer ganzen Reihe weiterer Toccata-Produktionen zum Einsatz gekommen und erweist sich einmal mehr als gepflegt aufspielender Klangkörper. Grundsätzlich tendieren die Darbietungen ins Lyrische, breit Ausgespielte mit ruhigen Tempi. Hier fügt sich auch das runde, warme Spiel von Florian Arnicans nahtlos ein. Was dabei allerdings ein wenig auf der Strecke bleibt, sind die Kontraste und die großen Linien, die Entwicklungen der Musik. Dies zeigt sich insbesondere im Vergleich mit den Alternativeinspielungen: ein Rundfunkmitschnitt der Fünften Sinfonie mit Stewart Robertson am Pult des BBC Scottish Symphony Orchestra ist bei Lyrita erschienen (anders als auf jener CD angegeben allerdings in Mono), und vom Cellokonzert existiert eine Rundfunkaufnahme mit Moray Welsh (wohl ein Mitschnitt der im Rundfunk erfolgten Uraufführung), die allerdings niemals kommerziell erschienen ist.

Die Sinfonie nimmt Robertson insgesamt deutlich flüssiger und mit größerem Augenmerk auf ihrer Dramaturgie, was der (ja z. T. durchaus gewollt einheitlich wirkenden) Musik gut bekommt. Hinzu kommt, dass Wordsworth eher kein großer Melodiker ist; im ersten Satz der Sinfonie ist es zum Beispiel vorwiegend das Mottothema, das dem Hörer im Gedächtnis bleibt (die Englischhornmelodie, die im Begleittext als zweites Thema bezeichnet wird, bleibt demgegenüber recht blass). Umso nötiger ist es, die Entwicklungen der Musik stärker in den Fokus zu rücken. Aber auch im Scherzo versteht es Robertson besser, das irrlichternde Moment, den rhythmischen Puls hinter all den bei Gibbons eher isoliert wirkenden Signalen herauszuarbeiten. Ähnlich verhält es sich auch im Cellokonzert: man kann das Werk natürlich eher lyrisch verstehen, aber ein plötzlicher Ausbruch wie gegen 4:00 im Finale (mit auf einmal bemerkenswert harscher Harmonik) kann eigentlich nur dann sinnvoll ins Gesamtbild integriert werden, wenn bereits vorher eine gewisse Spannung herrscht, wenn es unter der Oberfläche stets doch ein wenig brodelt. Hier macht sich auch der variablere, tendenziell nervösere Ton von Moray Welsh bezahlt. Abstriche muss man bei diesen Aufnahmen freilich bei der Klangqualität machen, etwa dann, wenn sich am Schluss der Fünften Sinfonie die Musik wie ein großes Panorama vor dem Hörer entfaltet, was natürlich in moderner Klangqualität eindrucksvoller wirken muss als bei einer (privat auf Tonband mitgeschnittenen) Rundfunkaufnahme.

Insgesamt besitzt Toccatas Wordsworth-Serie große Meriten, weil hier die Orchestermusik eines bis dato kaum mehr denn als Randerscheinung hervorgetretenen sehr respektablen Komponisten systematisch erschlossen wird. Vielleicht besteht ja sogar Hoffnung, eines Tages in diesem Rahmen der (vokalsinfonischen) Sechsten Sinfonie zu begegnen, die meines Wissens bis zum heutigen Tag ungehört geblieben ist.

[Holger Sambale, März 2022]

Ein Quartett für den Frieden: Robert Simpsons Streichquartett Nr. 10

CD: Hyperion CDA66225; EAN: 0 34571 16225

Noten: Roberton Publications 95448

Robert Simpson war Symphoniker durch und durch. Wie nur wenige andere Komponisten seiner Zeit beherrschte der 1921 geborene Brite die Kunst des Spannungsaufbaus über lange Strecken hinweg. Motivisch dicht gearbeitet, meist nur wenige motivische Zellen fortwährend variierend, dabei von einer nirgends nachlassenden Bewegungsenergie getragen, sind seine rund 60 Kompositionen durchweg Meisterleistungen in der Gestaltung großer Zusammenhänge. In einigen seiner Werke finden sich Abschnitte, die zum Eruptivsten gehören, was im 20. Jahrhundert geschrieben worden ist. So entfalten beispielsweise die Ecksätze der Fünften Symphonie eine geradezu manische Aktivität; zwei Blechbläserstücke werden durch ihre Titel Volcano und Vortex hinreichend charakterisiert; und der Schlussteil der Siebten Symphonie dürfte wohl der mächtigste Eissturm sein, den je ein Komponist durch den Konzertsaal hat tosen lassen.

Simpson komponierte nicht aus der abgesicherten Position akademisch kodifizierter Regeln heraus. Seine Motivtransformationen, seine Stimmführung, seine Harmonik wirken im besten Sinne abenteuerlich. Die Form eines Stückes war für ihn nichts, das sich im Vorhinein festlegen ließe, sondern ergab sich immer aus dem jeweiligen Kompositionsprozess, der durchaus auch für den Komponisten selbst Überraschungen bereit halten konnte. Das Verhältnis zwischen Schöpfer und Schöpfung während des Schaffens umschrieb er einmal dergestalt, dass er sich daran erfreue, ein wildes Tier („beast“) loszulassen und es dann zu reiten.

Die Ausbrüche und großen Steigerungen der Simpsonschen Musik stehen freilich stets in einem Kontext, der auch Momente der Ruhe und Einkehr umfasst. Die beiden erwähnten Symphonien enden leise und enthalten ausgedehnte langsame Abschnitte, die sich kaum übers piano erheben. Auch große Teile der raschen Sätze Simpsons spielen sich im piano-Bereich ab. Der häufige Gebrauch von Vortragsbezeichnungen wie tranquillo, dolce und cantabile sollte zudem eine Warnung davor sein, den Komponisten auf die schroffen und kantigen Charakteristika seines Schaffens zu reduzieren.

Die Weltanschauung dieses Mannes, der fähig war Musik von äußerster Heftigkeit zu schreiben, war zutiefst pazifistisch. Er wuchs in einer Familie auf, deren sämtliche Mitglieder in der Heilsarmee aktiv waren. Seinen eigenen Angaben zufolge wurde er als Neunjähriger zum entschiedenen Gegner aller kriegerischer Handlungen, nachdem er auf einer Heilsarmee-Veranstaltung die Rede eines ehemaligen Soldaten über dessen Erlebnisse im Ersten Weltkrieg gehört hatte. Beeindruckt vom Wirken Albert Schweitzers schwankte Simpson als junger Mann eine Zeit lang, ob er Musiker oder Mediziner werden sollte. Als er nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zum Kriegsdienst eingezogen wurde, verweigerte er den Dienst an der Waffe und verbrachte den Rest des Krieges als Mitglied einer mobilen Sanitätseinheit. In der Nachkriegszeit verfolgte er das atomare Wettrüsten der beiden Machtblöcke mit großer Sorge. Zunehmend abgestoßen von dem aufrüstungsfreudigen Kurs der Regierung Thatcher verließ er Großbritannien 1986 und zog nach Irland.

Ein schwerer Schlaganfall riss Simpson 1991 aus der produktivsten Phase seines Lebens. Hatte er in den vorangegangenen zehn Jahren rund die Hälfte seines Lebenswerks geschaffen, so gelang es ihm bis zu seinem Tode 1997 nur noch, ein bereits begonnenes Streichquintett fertigzustellen. Zu den Projekten, die Simpson nicht mehr realisieren konnte, gehört seine Zwölfte Symphonie, die als Chorsymphonie gedacht war. Es hat sich allerdings ein Programm erhalten, demzufolge das Werk die Evolution des Lebens zum Thema haben und auf eine pazifistische Botschaft hinauslaufen sollte:

„I. The formation of the sun and solar systems in a gas cloud.

II. The appearance of the most primitive form of live.

III. Division into plant and animal kingdoms.

IV. The active, aggressive animal – the growth of intelligence.

V. Violence. The aggressive stimulus to inventiveness.

VI. Wisdom. At all times it has existed, but has never been able to prevent the pervasive violence.

VII. The species has hitherto been able to survive its own violence, but no longer. Now it can destroy itself.

VIII. Non-violence or non-existence (Martin Luther King). The laws of chance provide for no other solution.“

Ein ausdrücklich dem Thema „Frieden“ gewidmetes Werk existiert jedoch aus Simpsons Feder: das Streichquartett Nr. 10, dem er den Titel For peace gab. Es entstand 1983 im Auftrag des dem Schaffen des Komponisten besonders verbundenen Coull Quartet, das am 23. Juni 1984 in der University of Warwick die Uraufführung spielte. Im Vorwort zur Partitur schrieb Simpson, diese Musik sei „kein Ausdruck quälender Angst“, sondern „versuche den Zustand des Friedens zu definieren“. Wie das Programm zur Zwölften Symphonie verrät, sieht Simpson den Frieden als Entschluss der Menschen gegen die Entfesselung der zerstörerischen (und selbstzerstörerischen) Kräfte, die ihnen durch die Evolution zuteil geworden sind. Es geht um den bewussten Umgang mit etwas, das in der Welt ist und weder ungeschehen gemacht, noch geleugnet werden kann. Frieden zu halten ist mithin ein Akt der Entscheidung und des Handelns.

Wie schlägt sich das in der Musik nieder? Simpson hat nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass er nichts davon hielt, die auf Quintverwandtschaften aufgebaute Tonalität durch präfixierte Systeme wie die Zwölftontechnik zu ersetzen. Er arbeitet immer mit tonalen Bezügen. Allerdings vermeidet er weitgehend den Einsatz klassischer Dominantharmonien und hält stattdessen die Musik nahezu durchgehend in einem harmonischen Schwebezustand. Bereits die Themen selbst durchschreiten in der Regel mehrere tonale Zentren. Simpson denkt polyphon und bildet durch Stimmführung eine Vielzahl Vorhaltsdissonanzen unterschiedlicher Spannungsgrade, die er oft nicht auflöst. Daraus ergibt sich, dass in seiner Musik über lange Strecken Dissonanzen auf Dissonanzen folgen. Verwundert es angesichts dieser Stilmittel, dass er sein Komponieren als einen Ritt auf einem wilden Tier beschrieb? Eine latente Spannung ist also bei Simpson immer vorhanden, auch im Streichquartett „für den Frieden“. In diesem Werk enthält er sich nach eigenen Worten der „Agressionen, nicht aber der starken Gefühle“. Die Herausforderung bestand für den Komponisten offenbar darin, mit Stilmitteln, die zur Schärfung des Tons und zur Zuspitzung konflikthafter Situationen bestens geeignet sind, ein Werk friedlichen Grundcharakters zu schaffen.

Simpsons Zehntes Streichquartett ist dreisätzig und dauert ungefähr 27 Minuten. Einem Allegretto-Kopfsatz (3/4-Takt) folgt ein ganz kurzes, scherzoartiges Prestissimo (2/4-Takt). Das Finale ist ein langsamer Satz (Molto Adagio, 3/4-Takt, am Ende 9/8-Takt bei gleichem Tempo), der allein etwa zwei Drittel der Gesamtspielzeit einnimmt. Satzfolge und Proportionen des Werkes erinnern an Beethovens Klaviersonate op. 109, allerdings ist nicht bekannt, ob Simpson – immerhin einer der besten Beethoven-Kenner – eine Anspielung an dieses Stück beabsichtigt hat. Alle drei Sätze sind überwiegend leise gehalten, aber jeder von ihnen steigert sich gegen Ende zu einem Höhepunkt im fortissimo, bevor sich die Musik wieder beruhigt. Dass der Frieden durchaus gefährdet ist, macht vor allem der letzte Satz deutlich. Sein Hauptgedanke ist ein Doppelthema, dessen zwei Stimmen vorwiegend in konsonanten Zusammenklängen geführt werden, wobei sich keine eindeutige Tonika durchsetzt. Es gewinnt im Laufe des Satzes durch rhythmische Variation ein wenig an Lebhaftigkeit, ohne dadurch seine ruhige Grundstimmung einzubüßen. Auch verbleibt die Musik über weite Strecken in der Zweistimmigkeit. Umso mehr überrascht das Fugato im letzten Satzdrittel. Mit der Ruhe ist es hier schlagartig vorbei: Alle vier Instrumente spielen durchweg fortissimo, immer kleinere Notenwerte dominieren das Geschehen und scheinen das Adagio in ein entfesseltes Allegro verwandeln zu wollen. Da besinnt sich die Musik plötzlich eines anderen und sinkt ins pianissimo zurück. Die erste Violine spielt eine graziöse Melodie, ein letztes Mal erscheint das Hauptthema in seiner Anfangsgestalt, und das Werk verklingt in einem ganz leisen Quartsextakkord.

Im Rahmen dieser kurzen Vorstellung ist es unmöglich, auf die ganzen Feinheiten ausführlich einzugehen, die dieses Quartett (wie auch die übrigen Streichquartette Simpsons) bietet. Wer hören will, wie Robert Simpson sich die musikalische Umsetzung des Friedens dachte, greife zu der Einspielung, die das Coull Quartett 1986 für Hyperion gemacht hat. Die Partitur ist 1990 bei Roberton Publications erschienen.

[Norbert Florian Schuck, März 2022]

Tribut an das „unergründliche Leben“ – Halvor Haug zum 70. Geburtstag

Photo © Kristina Fryklöf

Wenn im Schlussteil der Dritten Symphonie Halvor Haugs plötzlich mittels Tonband ein Sprosser (die nordische Nachtigall) zu singen beginnt und sich die Hauptmotive des Werkes um diesen Gesang herum völlig zwanglos gruppieren, dabei zugleich die musikalische Entwicklung so schlüssig zum Ende führen, dass einzig dieser Ausklang für das Stück passend erscheint, dann merkt man als Hörer, dass man Zeuge eines Triumphs künstlerischer Originalität geworden ist, wie er nur einem Komponisten gelingt, dessen für die Welt und für seine innere Stimme gleichermaßen offenes Ohr ihn zu einer Persönlichkeit von ausgeprägter Eigenart hat werden lassen. Dass Haug für den Vogelruf nicht auf ein beliebiges Tondokument zurückgriff, sondern auf eine von ihm selbst gemeinsam mit dem Dirigenten Ole Kristian Ruud während einer Wanderung gemachte Aufzeichnung, verdeutlicht, welch große Bedeutung dem intensiven Erleben der Natur und ihrer elementaren Klangphänomene für seine kompositorische Arbeit zukommt. Eine seiner Tondichtungen setzt im Gewand des Streichorchesters dem Gesang der Tannen ein Denkmal, die vor seinem Arbeitszimmer standen, bis sie einem Bauprojekt zum Opfer fielen. In einer andern übersetzte er eine Winterlandschaft in Musik. Zu seinen Frühwerken, die ihn ab den 1970er Jahren bekannt machten, gehört eine der spannendsten Unternehmungen Die Stille hörbar werden zu lassen – ein veritables kleines Instrumentaldrama für Streichorchester. Von den Tagesmoden des Musikbetriebs unbeirrt, ist der 1952 geborene Norweger stets den Weg gegangen, der ihm als der richtige erschien. Er gehört zu jenen Komponisten, deren Schaffen eine Kategorie für sich bildet, an welchen alle Versuche, sie einer bestimmten „Schule“ oder „Stilrichtung“ zuzuordnen, scheitern müssen. Am 20. Februar wird Halvor Haug, einer der großen skandinavischen Tondichter unserer Zeit, 70 Jahre alt.

Halvor Haug wurde in Trondheim geboren und wuchs in Bærum nahe Oslo auf. In seiner Kindheit spielte Musik eine wichtige Rolle: Er erlernte frühzeitig das Klavier- und Trompetenspiel und gehörte insgesamt neun Jahre lang einem Bläserensemble an. Jedoch war das Musizieren damals nur eines von vielen Interessengebieten eines Jungen, der sich bevorzugt in der freien Natur aufhielt und viel Sport trieb. Mit 17 Jahren begann er, sich intensiver mit klassischer Musik auseinanderzusetzen, und nahm bald darauf ein Studium am Østlandets Musikkonservatorium in Oslo auf, wo sein Theorielehrer Kolbjørn Ofstad (1917–1996) sein Kompositionstalent erkannte und ihn ermutigte, seine ersten Klavierstücke für Orchester zu bearbeiten. 1973 ging Haug nach Helsinki und studierte ein Jahr lang an der Sibelius-Akademie bei Erik Bergman (1911–2006), einem der Pioniere des Modernismus in Finnland, und dem vor allem als Symphoniker bekannten Einar Englund (1916–1999), dem er gründliche Unterweisungen in russisch geprägter Orchestrierungstechnik verdankte. Nachdem er sein Studium in Oslo bei seinem früheren Lehrer Ofstad abgeschlossen hatte, schrieb er mit dem Symphonischen Bild 1975/76 sein erstes von ihm als vollgültig anerkanntes Werk. Das Stück erregte die Aufmerksamkeit der Dirigenten Okko Kamu und Per Dreier, die es in ihre Programme aufnahmen und dadurch dem jungen Komponisten zu ersten Erfolgen verhalfen. 1978 brach Haug zu einem einjährigen Aufenthalt nach London auf, den er vorrangig dazu nutzte, das reiche Konzertleben der Weltstadt auf sich wirken zu lassen. Während seiner Zeit in England war ihm der große Symphoniker und Streichquartettmeister Robert Simpson (1921–1997) ein anregender und verständnisvoller Mentor: „Er half mir, auf das zu vertrauen, was meine innere Stimme mir sagt: Was du fühlst, ist richtig für dich selbst.“

Nach Norwegen zurückgekehrt, arbeitete Haug zwei Jahre lang als Musikkritiker, lebte dann aber nur noch seinem kompositorischen Schaffen. Mit den orchestralen und kammermusikalischen Werken, die er während der 1980er Jahre komponierte, vor allem den ersten beiden Symphonien, etablierte er sich endgültig im norwegischen Konzertleben. Zum wichtigsten Förderer wurde ihm Ole Kristian Ruud, der von 1987 bis 1995 als Chefdirigent des Trondheimer Symphonie-Orchesters wirkte und mehrere Werke Haugs uraufführte. Als einer der meistbeachteten norwegischen Komponisten seiner Generation erhielt Haug zahlreiche Kompositionsaufträge, die teils mit wichtigen öffentlichen Anlässen verbunden waren. Seine letzten drei Symphonien schrieb er 1993 und 2002 für das Symphonie-Orchester Trondheim bzw. 2001 für die Osloer Philharmonie. Die „Symphonische Vision“ Insignia für Kammerorchester wurde 1994 zur Feier der Olympischen Winterspiele in Lillehammer komponiert. 1996 war er offizieller Komponist des Kammermusikfestivals Stavanger, auf welchem sein Zweites Streichquartett zur Uraufführung gelangte. Sein 1997 entstandener symphonischer Liederzyklus Glem aldri henne (Vergiss sie nie) war ein Auftragswerk seiner Geburtsstadt Trondheim im Vorfeld ihrer 1000-Jahr-Feier.

Leider sind seit 20 Jahren keine neuen Werke Halvor Haugs mehr in der Öffentlichkeit bekannt geworden. Die Vierte und Fünfte Symphonie, die kurz hintereinander 2002 zur Uraufführung gelangten, belegen, dass sich der 50-jährige Komponist auf dem Höhepunkt seiner Schaffenskraft befand. Angesichts dessen kann man es nur bedauern, dass ihn der Ausbruch einer chronischen Erkrankung anscheinend dauerhaft an der Fortführung seiner schöpferischen Arbeit hindert. Haugs Werke sind in den letzten Jahren gerade in Deutschland auf besonderes Interesse gestoßen, und die noch nicht lange zurückliegende Veröffentlichung dreier bislang ungedruckter Kompositionen im Münchner Verlag Musikproduktion Höflich zeigt, dass der Komponist – dessen Musik hauptsächlich vom schwedischen Verlag Gehrmans herausgegeben wird – weiterhin die Verbreitung seiner Musik aufmerksam verfolgt.

Haugs Werkverzeichnis umfasst etwa 40 Kompositionen. Der Schwerpunkt liegt eindeutig auf symphonischer Musik, doch liegen aus seiner Feder auch eine Anzahl kammermusikalischer Werke vor. Für Singstimmen schrieb Haug nur wenig, und es erscheint charakteristisch, dass die menschliche Stimme bei ihm immer in einem symphonischen Kontext auftaucht: als Mezzosopransolo in dem Orchesterliederzyklus Glem aldri hemme, als Kinderchor in dem „Symphonischen Epos“ Menneskeverd og fred (Menschenwürde und Frieden), und als wortloser Doppelchor für Frauenstimmen in der Zweiten Symphonie.

Photo © Kristina Fryklöf

Stilistisch ist Haug von Anfang an ein ganz eigener Kopf, was sich namentlich zeigt, wenn man seine Musik mit der seiner Lehrer vergleicht. Serielle Techniken, wie überhaupt die Idee eines vorgefertigten musikalischen Materials, wie sie für Erik Bergman zunehmend Bedeutung erlangten, haben für Haug nie eine Rolle gespielt. Auch blieb Einar Englunds klassizistisches Formideal ohne Einfluss auf ihn. Mit Robert Simpson teilt er dagegen die Aufbruchsstimmung ins Unbekannte, die der Anfang seiner Werke regelmäßig hervorruft – nicht ohne Grund trägt ein Orchesterwerk Haugs den Titel Il Preludio dell‘ ignoto – und die freie Formung mittels permanenter Verwandlung weniger motivischer Zellen, die keinerlei Vorhersehbarkeit der musikalischen Entwicklung, sehr wohl aber den Eindruck kräftiger Naturwüchsigkeit aufkommen lässt. Der deutlichste Unterschied zwischen beiden Komponisten liegt in ihrer Tempogestaltung. Während für Simpson gleichsam das Allegro der Normalzustand ist und die langsamen Abschnitte seiner Werke sehr oft einen vorbereitenden oder nachklingenden Charakter aufweisen, bewegt sich Haug bevorzugt in mäßigen und langsamen Tempi, die sich in besonderen Momenten zu rascherer Bewegung steigern. Sein untrügliches Gespür für tonale Bezüge sorgt dafür, dass die Spannung dabei nie verloren geht. Gern lässt er voneinander weit entfernte Harmonien unmittelbar aufeinandertreffen und führt dadurch dem musikalischen Geschehen neue Kraft zu.

Haug beschrieb seinen Schaffensprozess als „nicht bewusst auf intellektuelle Art, eher emotional. Schwierigkeiten, Gegensätze, Spannung trage ich in mir. Energie ist von zentraler Bedeutung.“ Zwar verliert er beim Komponieren nie den Anfang des Stückes aus den Augen, ebenso wenig den Höhepunkt, auf den dieser zustrebt, doch hat ihn der Schaffensprozess – Robert Simpsons Satz, dass Komponieren „kontrollierte Inprovisation“ sei, dürfte auch auf Haug vollkommen zutreffen – mitunter zu Lösungen geführt, die ihn selbst überraschten. So erkannte er erst nach weit fortgeschrittener Arbeit an der Dritten Symphonie die Integration des bereits erwähnten Nachtigallenrufs als bestmöglichen Schluss des Werkes. Dies war sein Tribut an das „Unergründliche Leben“, das der Symphonie den Titel gab.

Haugs Musik macht keine Umschweife und besticht durch ihre emotionale Direktheit. Zu seinem 70. Geburtstag kann man dem Komponisten nur wünschen, dass sie auch weiterhin innerhalb wie außerhalb seiner Heimat treue Freunde und weite Verbreitung finden möge.

Verzeichnis der Werke Halvor Haugs

Halvor Haugs Kompositionen sind bei Gehrmans Musikförlag (Stockholm), Norsk Musikforlag (Oslo) und Musikproduktion Höflich (München) erhältlich. Die nicht verlegten Werke können über den Notendienst der Norwegischen Nationalbibliothek Oslo (NB noter) bezogen werden.

Orchesterwerke:

Symfonisk bilde (Symphonisches Bild), 1975/76 (Gehrmans)

Symfoniske konturer (Symphonische Konturen), 1977 (NB noter)

Konzert für Horn und Orchester, 1978 (NB noter)

Poema Patetica, 1980 (Gehrmans)

Poema Sonora, 1980 (NB noter)

Symphonie Nr. 1, 1981/82 (Norsk Musikforlag)

Sinfonietta, 1983 (Norsk Musikforlag)

Symphonie Nr. 2 für Orchester, wortlosen Frauenchor und Orgel, 1984 (Gehrmans)

Menneskeverd og fred – Symfonisk epos (Menschenwürde und Frieden) für Kinderchor und Orchester, 1985 (NB noter)

Vinterlandskap (Winterlandschaft), 1986 (NB noter)

Symphonie Nr. 3 Det uuntgrunnelige livet (Das unergründliche Leben) für Orchester und Tonband, 1991–1993 (Gehrmans)

Ouvertüre Norske aspekter (Norwegische Ansichten), 1993 (NB noter)

Insignia – Symfonisk vision für Kammerorchester, 1993 (Gehrmans)

Glem aldri henne (Vergiss sie nie), Liederzyklus für Mezzosopran und Orchester nach Gedichten von Gunnar Reiss-Andersen, 1997 (Gehrmans)

Il Preludio dell‘ ignoto (Das Vorspiel zum Unbekannten), 2000 (Gehrmans)

Symphonie Nr. 4, 2001 (Gehrmans)

Symphonie Nr. 5, 2002 (Gehrmans)

Werke für Streichorchester:

Stillhet (Die Stille), 1977 (Norsk Musikforlag)

Furuenes sang (Gesang der Tannen), 1987 (Gehrmans)

Intermezzo aus dem Liederzyklus Glem aldri henne, 1997 (Gehrmans)

Werke für Blasorchester:

Cordiale für Blasorchester, 1982 (NB noter)

Exit für Blasorchester und Orgel ad libitum, 1985 (NB noter)

Concertino für Blechbläser (4 Trompeten, 4 Hörner, 4 Posaunen, 2 Tuben) und Schlagzeug, 1988 (Musikproduktion Höflich)

Kammermusik (2–5 Instrumente):

Sonatine für Violine und Klavier, 1973 (Musikproduktion Höflich)

Duetto Bramoso (Eifersüchtiges Duett) für Violine und Gitarre, 1976 (Musikproduktion Höflich)

Symphony for five für Flöte (Altflöte), Klarinette (Bassklarinette), Horn, Gitarre und Klavier, 1979 (NB noter)

Quintett für zwei Trompeten, Horn, Tenorposaune und Bassposaune (Tuba), 1981 (Norsk Musikforlag)

Streichquartett Nr. 1, 1985 (Gehrmans)

Dialog für zwei Harfen, 1987 (Gehrmans)

Essay für Altposaune und Streichquartett, 1987 (NB noter)

Klaviertrio, 1995 (Gehrmans)

Streichquartett Nr. 2, 1996 (Gehrmans)

Duo für Violine und Violoncello, 2002 (Gehrmans)

Opus for tre naboer – Andante con amore (Werk für drei Nachbarn) für Violine, Violoncello und Klavier, [ohne Datum] (NB noter)

Werke für Soloinstrumente:

Tre „utfall“ (Drei „Ergebnisse“) für Gitarre, 1974 (Norsk Musikforlag)

Drei Inventionen für Gitarre, 1976 (Gehrmans)

Fantasia für Oboe, 1977 (NB noter)

Impression für Klavier, 1980 (Gehrmans)

Sonata Elegica für Violoncello, 1981 (Norsk Musikforlag)

[Norbert Florian Schuck, Februar 2022]

(Der Autor dankt Christoph Schlüren herzlich für die Bereitstellung von Informationen und die Vermittlung der Photographien)

Totgesagte leben länger: Robert Simpsons Symphonien Nr. 5 & 6

Lyrita, SRCD 389 (Vertrieb: Naxos); EAN: 5 020926 038920

Dass die Symphonie tot sei, war sozusagen angesagte Losung einer ganzen Generation von Komponisten, Intendanten, Dirigenten und Musikkritikern. Eine der dümmsten Losungen aller Zeiten, und – so könnte man sagen – „Totgesagte leben länger“. Dieser Versuch der Geschichtsbeeinträchtigung seit Anfang der 1950er Jahre stammt zudem ausgerechnet aus einer Zeit, in welcher einige der größten Symphoniker unbeeindruckt von derartigem ideologischen Quatsch munter weitergewirkt haben – es sei aus der älteren Generation hier nur an Egon Wellesz, Lászlo Lajtha, Sergej Prokofieff, Darius Milhaud, Arthur Honegger, Havergal Brian, Max Butting, Hilding Rosenberg, Willem Pijper, Walter Piston, Roberto Gerhard, Paul Hindemith, Harald Sæverud, Alexander Tansman, Marcel Mihalovici, Alexander Tscherepnin, Carlos Chávez, Ernst Krenek oder Edmund Rubbra erinnert. Und dann natürlich der heute alles überragende Dmitri Schostakowitsch, umgeben von Meistern wie William Walton, Aram Chatschaturian, Eduard Tubin, Karl Amadeus Hartmann, Vittorio Giannini, Michael Tippett, Henk Badings, Sándor Veress, Vagn Holmboe, Daniel Jones, William Schuman oder Witold Lutoslawski. Die meisten werden das wenigste davon kennen, was sich freilich kontinuierlich verändert, denn die ideologischen Barrieren sind längst aufgeweicht. In den folgenden Generationen geht es unverändert so weiter, bis heute wird die Symphonie reich und substanziell gepflegt, wobei gewiss auch zu konstatieren ist, dass sich der Gattungsbegriff generell sehr erweitert hat. Hans Werner Henze, von den deutschen Fachidioten in ihrem geistigen Schrebergärtnertum immer wieder als „letzter Symphoniker“ tituliert (welche Peinlichkeit für die hiesige Musikwissenschaft!), war unter all den Symphonikern seiner Generation beispielsweise eher ein prätentiöser Zwerg, auch wenn er seine Symphonien teils sehr elefantenhäutig instrumentierte (Nr. 7 und 9). Und an dieser Stelle sei nur noch ein Blick auf die Spitze des Eisberges geworfen, also auf die Meister neben und nach Schostakowitsch, die mit einem vergleichbar umfangreichen symphonischen Œuvre hervorgetreten sind: der schwedische Einzelgänger Allan Pettersson mit 16, der sowjetisierte Pole Mieczyslaw Weinberg mit 22, der irophile Brite Robert Simpson mit 11, der St. Petersburger Russe Sergej Slonimsky mit 33 und heute der Finne Kalevi Aho mit bislang 17 Beiträgen.

Äußerster Pol des Unsentimentalen

Unter diesen Serientätern nimmt Robert Simpson (1921–1997) eine einzigartige Position ein. Ohne Umschweife kann man seine Musik als äußersten Pol des Unsentimentalen in der Musik des 20. Jahrhunderts definieren. Er hält sich mit keiner Stimmung, mit keinem Sentiment auf, und sei es noch so verzaubernd und verlockend, wie so oft in seinem Schaffen. Seit geraumer Zeit ist die Gesamteinspielung seiner Symphonien unter Vernon Handley (Hyperion) nicht mehr verfügbar, und daher ist es emphatisch zu begrüßen, dass nun doch noch in seinem Jubiläumsjahr 2021 – mit Unterstützung der Robert Simpson Society – bei Lyrita Records eine CD mit den BBC-Uraufführungsmitschnitten seiner Symphonien Nr. 5 (1972) und Nr. 6 (1977) erschienen ist – diese Werke stehen so ungefähr im zeitlichen Zentrum seines Lebenswerks und bestechen unmittelbar mit der enormen Spannweite des Ausdrucks zwischen harscher, strukturell strikter Offensivkraft und herrlichster lyrischer Introspektion, durchaus in maximalem Kontrastverhältnis zueinander ausgeführt. Dass Simpson sich stark von Haydn und Beethoven, von Bruckner und Carl Nielsen beeinflusst wusste, wird – ganz besonders im Falle Nielsen – hier schnell sinnfällig.

Universelle Gesetzmäßigkeiten

Exzellent ist hier vor allem die Aufführung der Fünften Symphonie durch das London Symphony Orchestra unter dem damals jungen, bis heute für hohe Qualität bürgenden Andrew Davis (1973). Die in einem 39 Minuten langen, durchgehenden Satz sich artikulierende Gesamtform wird von zwei mächtigen Allegrosätzen gerahmt, die das Zeug haben, das Erbe der Beethoven-Bruckner-Tradition in erneuerter Form weiterzutragen. In der Mitte finden wir ein knappes, unerbittlich treibendes Scherzo, und als langsame Zwischenspiele sind zwei intim verwobene Canoni eingefügt, die in scharfem Gegensatz zu den schnellen Sätzen stehen.

Die Aufführung der Sechsten Symphonie 1980 durch das London Philharmonic Orchestra unter Charles Groves ist, wie auch der Bookletautor bezugnehmend auf die Aussagen des Komponisten bestätigt, viel roher, al fresco. Das 33minütige Werk gliedert sich in zwei große Abteilungen und fesselt mit ungeheuerlichem Momentum. Und obwohl die Aufführung fern einer idealen Erfüllung bleibt, ist diese Aufnahme zumindest für all jene unverzichtbar, die bereits wissen, dass Simpson zu den größten Meistern des 20. Jahrhunderts zählt und es sich lohnt, alles von ihm zu haben: Denn es wird hier die Urfassung der Sechsten gespielt, und Simpson hat zum Beispiel den Anfang in der revidierten Fassung komplett geändert. Natürlich wird diese Musik nicht jedem gefallen – also weder den bequemlichen Traditionalisten, die auf Gefälligkeit Wert legen, noch den besserwisserisch belehrenden ideologischen Fanatikern des dystopischen Post-Holocaust-Bruchs mit jeglicher Tradition –, doch wer sich darauf einlässt, kann sich dem Sog kaum entziehen. Und wenn man das Gefühl hat, sich hier auf ein unerbittliches Rauhbein eingelassen zu haben, dann erlebt man umso überraschter, zu welch subtiler Zärtlichkeit Simpson in der Lage, sobald er die Musik in die ganz und gar ungegenständlichen Gefilde jenseits des forschen Drangs, des unaufhaltsamen Momentum wandern lässt – nicht weniger streng, aber dies ist dann ausschließlich die innere Disziplin, die er niemals vermissen lässt. Simpson liebte die Astronomie, und auch in der Musik vertraute er auf universelle Gesetzmäßigkeiten. Nachdrückliche Empfehlung!

[Christoph Schlüren, Dezember 2021]