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Gordon Sherwood zum 10. Todestag

Der Lebenslauf Gordon Sherwoods darf mit Fug und Recht als einer der ungewöhnlichsten gelten, die sich in der Musikgeschichte finden lassen. Frühzeitig preisgekrönt und mit einer Aufführung an exponiertester Stelle ins Licht der Öffentlichkeit gerückt, anschließend in jahrelangen Aufbaustudien bei besten Lehrern ausgebildet, entschied sich der 1929 geborene US-Amerikaner schließlich gegen eine Laufbahn im etablierten Musikbetrieb und zog jahrzehntelang rastlos kreuz und quer über den Globus. Er sah über 30 Länder auf fünf Kontinenten und durchstreifte als Künstler die Musikkulturen der Welt ebenso wie das klassische Erbe der abendländischen Musik. Den Entbehrungen eines strapaziösen Wanderlebens zum Trotz schuf er, unablässig weiter komponierend, ein sich auf nahezu alle Gattungen der Instrumental- und Vokalmusik erstreckendes Gesamtwerk von bemerkenswerter stilistischer Vielfalt. Vor zehn Jahren, am 2. Mai 2013, endete dieses abenteuerliche Leben im oberbayerischen Peiting. Anlässlich seines Todestages sei hiermit ausführlich an Gordon Sherwood erinnert!

Gordon Holt Sherwood kam am 25. August 1929 in Evanston nahe Chicago zur Welt. Seine musikalische Begabung zeichnete sich früh ab, doch legten seine Eltern keinen Wert darauf. Stattdessen ließen sie ihn zwischen seinem zwölften und fünfzehnten Lebensjahr in Kadettenanstalten unterbringen. Der Drang des empfindsamen Jungen zur Musik wurde durch den militärischen Drill, den er über sich ergehen lassen musste, aber nur gesteigert. Nachdem er 1944 zum ersten Mal Beethovens Siebte Symphonie gehört hatte, stand für ihn fest, dass er Komponist werden würde. 1950 nahm er ein Musikstudium an der Western Michigan University in Kalamazoo auf, das er 1953 mit dem Bachelor of Music abschloss. Ab 1954 studierte er an der University of Michigan in Ann Arbor und erwarb dort 1956 den Master of Music. Bereits während seiner Studienzeit gewann er 1955 den 1. Preis beim nationalen Wettbewerb für junge Komponisten der National Federation of Music Clubs. Während seines Studiums erschloss sich Sherwood die Vielfalt der zeitgenössischen und historischen Kompositionsstile abendländischer Musik. Die stärkste Wirkung übte das Schaffen Johann Sebastian Bachs auf ihn aus, doch beschäftigte er sich intensiv auch mit allem anderen, was ihm an Musik begegnete, bis hin zu Bartók, Stravinsky, Schönberg und den Nachkriegsavantgardisten. Aus einer Prüfungsaufgabe heraus entstand seine Erste Symphonie op. 3, deren letzte beide Sätze er als „Introduction and Allegro“ 1957 zum 12th Gershwin Memorial Award einreichte. Sherwood erhielt den Preis, wobei die Stimme von Dimitri Mitropoulos den Ausschlag gab, der das Werk anschließend mit dem New York Philharmonic Orchestra in der Carnegie Hall uraufführte. Dies schien der Beginn einer vielversprechenden Karriere zu sein. Sherwood konnte sich in Tanglewood kurzzeitig bei Aaron Copland weiterbilden, und, mit Stipendien ausgestattet, den Sprung über den Atlantik wagen. Seine Studienaufenthalte an der Hamburger Musikhochschule bei Philipp Jarnach und in Rom an der Accademia Santa Cecila bei Goffredo Petrassi krönte er 1967 mit einem weiteren Kompositionspreis.

Den scheinbar folgerichtigen Schritt, sich mit diesen optimalen Voraussetzungen um eine feste Position im öffentlichen Musikleben zu bemühen, tat Sherwood jedoch nie. Anstatt in Europa oder Amerika eine abgesicherte Existenz, etwa als Kompositionsprofessor, zu führen, ging er gemeinsam mit seiner Ehefrau Ruth, einer Sängerin aus Hamburg, in den Nahen Osten. Zunächst zogen sie nach Kairo, wo Sherwood die Musik zu Fatin Abdel Wahabs Spielfilm Ard el Nifaq (Land der Heuchelei) komponierte. Von 1968 bis 1970 hielten sie sich in Beirut auf – damals, vor den Verheerungen des Libanesischen Bürgerkriegs, weithin als „Paris des Nahen Ostens“ gerühmt – und verdienten ihren Lebensunterhalt u. a. durch gemeinsame Auftritte in Hotels. Als Bar- und Kinopianist entdeckte Sherwood während dieser Zeit die Welt des Blues, Ragtime und Boogie-Woogie für sich. Nach einem weiteren Aufenthalt in Ägypten und einer Reise durch Griechenland, wandten sich die Sherwoods 1972 nach Kenia und ließen sich in Nairobi nieder, wo sie, unterbrochen durch kürzere Aufenthalte in Mombasa und Nakuru, acht Jahre lang lebten. Hier begann Gordon Sherwood ein Studium in Kisuaheli, das er mit Diplom abschloss. Er bemühte sich um eine Förderung durch die Familie des Staatspräsidenten Jomo Kenyatta, doch letztlich ohne Erfolg. Zunehmende Ehekonflikte und das Auslaufen der Aufenthaltsgenehmigung ließen ihn 1980 einen Schlussstrich unter sein bisheriges Leben ziehen. Er trennte sich von Ruth und begab sich, vom Buddhismus begeistert, auf eine Reise durch Südostasien. Mit seinem letzten Geld flog er von Singapur nach Oslo, von wo man ihn nach London abschob. Nachdem er dort erstmals gebettelt hatte, wurde er in die USA ausgewiesen und fand sich schließlich in einem New Yorker Obdachlosenheim wieder. Nach kurzzeitiger finanzieller Unterstützung durch seinen früheren Studienkollegen George Crumb ging Sherwood 1982 nach Paris.

Zunächst versuchte er dort an ein Geschäftsmodell anzuknüpfen, das er bereits während seiner Zeit im Libanon praktiziert hatte: seine Kompositionen an Passanten zu verkaufen. Bald allerdings merkte er, dass er mehr Geld verdienen konnte, wenn er die Leute direkt um Almosen bat. So entschied er sich für ein Leben nach dem Vorbild buddhistischer Bettelmönche und wurde „Selbst-Sponsor“. Seine Zeit teilte er dabei streng ein: Einen Teil des Jahres widmete er dem Gelderwerb auf der Straße; war er finanziell gut genug abgesichert, zog er sich in Domizile zurück, die ihm Freunde zur Verfügung stellten, um ungestört zu komponieren, oder ging auf Reisen, um sich in fernen Ländern zu eigenem Schaffen inspirieren zu lassen, stets mit einem Diktiergerät und einer Stimmgabel im Gepäck. Vom offiziellen Musikleben mittlerweile völlig abgeschnitten, als Komponist nur einer Anzahl kreuz und quer über die Welt verstreuter Eingeweihter bekannt, wurde er 1995 durch Erdmann Wingerts Filmportrait Der Bettler von Paris einem deutschen Publikum vorgestellt. Die in Deutschland lebende russische Pianistin Masha Dimitrieva sah die Dokumentation zufällig im Fernsehen und nahm sofort Kontakt mit Gordon Sherwood auf, der sich zu dieser Zeit bevorzugt in Costa Rica aufhielt. Ihrem begeisterten Einsatz für sein Schaffen verdanken nicht nur mehrere Kompositionen Sherwoods ihre Entstehung, es gelang ihr auch 2004 dem fast 75-jährigen Komponisten zu seinem CD-Debüt zu verhelfen: Für cpo hatte das Bayerische Landsjugendorchester unter der Leitung Werner Andreas Alberts neben der Ersten Symphonie die Sinfonietta op. 101 und, mit Masha Dimitrieva als Solistin, das Klavierkonzert op. 107 aufgenommen. Nachdem bereits im Jahr 2000 sein in Zusammenarbeit mit der Weltmusikgruppe Die Dissidenten entstandenes, oratorienartiges Werk Memory of the Waters op. 113 (Das Gedächtnis des Wassers, die originale Gattungsbezeichnung lautet „Dokumentar-Oper“) in Berlin erfolgreich uraufgeführt worden war, konnte Sherwood schließlich noch erleben, wie seine Musik allmählich bekannt zu werden begann. Seit 2005 lebte er in der diakonischen Kolonie Herzogsägmühle in Peiting, wo man sein Gesamtwerk digitalisierte. Solange es seine Gesundheit zuließ, unternahm er auch von dort noch Reisen. Er starb 2013, kurz nachdem er die Zusage zur Uraufführung seiner Dritten Symphonie op. 118, der Blues Symphony, erhalten hatte.

Gordon Sherwood war ein unabhängiger Künstler, der ausschließlich Musik schuf, die seinen eigenen Vorstellungen von Schönheit und künstlerischer Vollendung entsprach. So wenig es ihn reizte, auf das Rücksicht zu nehmen, was er einmal als Tagesmode oder Konvention erkannt hatte, so breit gestreut waren seine musikalischen Interessen: Indische Ragas, japanische Tempel- und arabische Volksmusik konnten ihn genauso in ihren Bann schlagen wie Johann Sebastian Bach und die Wiener Klassiker; Thomas „Fats“ Waller und Thelonious Monk nicht weniger als Arnold Schönberg, Béla Bartók und Paul Hindemith. Abneigungen hegte er lediglich gegen primitive Militärmusik und die sentimentalen Lieder Stephen Fosters, die ihn an die traumatischen Erfahrungen seiner Jugendzeit erinnerten und ihm als klingende Entsprechungen materialistischer Weltsicht und entseeltem Funktionierenmüssens erschienen. Reizte ihn dagegen ein klingendes Phänomen zur künstlerischen Auseinandersetzung, so reagierte er darauf ohne Berührungsängste, sei es Musik von der Straße oder Beethovens op. 111.

Eine Entwicklung von einem „Früh-“ zu einem „Spätwerk“ lässt sich bei Sherwood nicht feststellen. Er ist bereits in seinen ersten gültigen Werken ein ebenso stilsicherer wie technisch virtuoser Komponist. Die Vorliebe für kontrapunktischen Tonsatz, dissonanzreiche Harmonik, chromatische Melodik, markante Rhythmen, unregelmäßige Metren und konzise Formung aus tonalen Spannungen heraus lässt ihn als Vertreter einer für die USA der 1950er Jahre typischen Stilrichtung erscheinen, die der Musikhistoriker Walter Simmons als „Modern Traditionalism“ bezeichnet hat. Sherwood pflegte dieses Idiom sein ganzes Leben lang gewissermaßen als seinen „Grundstil“. Die von Blues und Jazz inspirierten Werke bauen ebenso darauf auf wie die folkloristischen. Lediglich wenn er streng auf den Spuren der Wiener Klassiker oder Johann Sebastian Bachs wandelt, beschränkt sich der Komponist auf die Kunstmittel der traditionellen Funktionsharmonik, handhabt diese allerdings auf so charakteristische Weise, dass bei aller Anlehnung an die Vorbilder ein „echter Sherwood“ entsteht.

Sherwood war sich sicher, dass sich seine persönliche Ausdrucksweise in jeder seiner Kompositionen zeige, gleich welchen Aufgaben er sich in dem jeweiligen Stück gestellt hatte. Es störte ihn folglich auch nicht, dass sein Werk für manchen Beobachter eklektisch, ja auf den ersten Blick betont uneinheitlich wirken musste. Dabei lag ihm kaum etwas ferner als ein ungefüges Nebeneinander disparater Elemente. Überblickt man sein Gesamtschaffen, so fällt im Gegenteil auf, dass er ganz genau abwog, welche Stile er in seinen Kompositionen wie zusammenbrachte. Das scheinbar ungefilterte Einströmen verschiedenster akustischer Reize gibt es bei ihm sehr wohl. In der autobiographischen Beggar Cantata op. 99, in der er seine Zeit auf den Straßen von Paris thematisiert, dient es ihm als Mittel zur Darstellung des großstädtischen Chaos, mit dem sich der Held des Werkes herumzuschlagen hat. Auf ähnliche Weise lässt er im Gedächtnis des Wassers, ganz unterschiedliche Musikidiome aufeinander treffen, um das kulturelle und historische Erbe der Donauregion zu verdeutlichen. Doch sind dies programmatisch motivierte Einzelfälle. Im Übrigen liegt den Sherwoodschen Kompositionen die Grundidee der Synthese zugrunde: Der Komponist spürt im musikalischen Material Verbindungen auf, um Einheit zwischen verschiedenen Musiksphären zu stiften. Sein Gespür für tonale Zusammenhänge – in klassischem Dur-Moll wie im Blues, im modern-dissonanten Tonsatz wie in nichtabendländischen Volksmusikmodi – ist ihm dabei ein zuverlässiger Kompass. Stets formbewusst, sorgt Sherwood in allen seinen Werken für eine wohlproportionierte Entfaltung der jeweiligen musikalischen Gedanken und tendiert eher zur Kürze als zur Länge. Die meisten seiner sonatenförmigen Instrumentalwerke dauern deutlich weniger als eine halbe Stunde.

Sherwood hinterließ ein Gesamtwerk von 143 Opuszahlen, darunter drei Symphonien, ein Klavierkonzert, mehrere Dutzend Kammermusikwerke vom Solo bis zum Oktett, vier Klaviersonaten und zahlreiche kleinere Klavierstücke, Chormusik von der A-cappella-Motette bis zur symphonischen Kantate und über 80 Lieder. Zehn Jahre nach seinem Tode liegt nur ein kleiner Teil dieses Schaffens gedruckt vor. Fünf Werke (der Klavierzyklus Boogie Canonicus op. 50, die Sonata in Blue für Klavier zu vier Händen op. 66, 4 Duos für Flöte und Viola op. 102, die Blues Symphony op. 118 und 10 Stücke für Altsaxophon solo op. 125) sind bei Ries & Erler erschienen. Die Beggar Cantata und die 3 Stücke für Chor a cappella op. 35 können vom Verlag Sonus Eterna erworben werden. Letzterer hat auch den Großteil der bislang erschienenen Sherwood-CDs veröffentlicht. Unter Federführung Masha Dimitrievas, der Verwalterin des künstlerischen Nachlasses Sherwoods, entstanden bislang jeweils zwei CDs mit Klavierwerken und Liedern (gesungen von Felicitas Breest). In absehbarer Zeit wird sich ihnen eine Aufnahme der Orgelkompositionen, eingespielt von Kevin Bowyer, anschließen. Von Sherwoods Orchestermusik kann man sich durch das bereits erwähnte cpo-Album mit der Symphonie Nr. 1, dem Klavierkonzert und der Sinfonietta ein Bild machen. Für Telos Music haben Matthias Veit und Henning Lucius die Sonata in Blue aufgenommen. Die 4 Stücke für Harfe op. 135 gibt es auf einer Eigenproduktion der Harfenistin Xenia Narati zu hören, das Posaunenquartett op. 87 auf dem Album „Trombonismos“ von Trombones de Costa Rica. Die Dissidenten haben den Uraufführungsmitschnitt von Memory of the Waters herausgebracht. Bei Archipel erschien 2022 die Aufführung des Finales der Ersten Symphonie durch das New York Philharmonic unter Dimitri Mitropoulos aus dem Jahr 1957.

Für weiterführende Informationen stehen Masha Dimitrieva und der Verlag Sonus Eterna zur Verfügung.

[Norbert Florian Schuck, Mai 2023]

Roy Travis zum 100. Geburtstag

Die bei RCA erschienene Dimitri-Mitropoulos-Edition, die auf 69 CDs sämtliche Aufnahmen umfasst, die der große Dirigent für RCA und Columbia eingespielt hat, ist eine veritable Schatzkiste. Nicht zuletzt dokumentiert sie Mitropoulos‘ Einsatz für die zeitgenössische Musik der Vereinigten Staaten: Roger Sessions, Peter Mennin und Gunter Schuller sind mit Symphonien vertreten, Leon Kirchner mit seinem Klavierkonzert Nr. 1, Morton Gould und Elie Siegmeister mit kleineren Orchesterwerken und Samuel Barber mit der Oper Vanessa. Als mich kurz nach der Veröffentlichung (April 2022) ein guter Freund mit dieser Wunderschachtel bekannt machte, fanden wir beide Gefallen an einem weiteren US-amerikanischen Stück, dessen Komponist uns bislang völlig unbekannt geblieben war: dem Symphonic Allegro von Roy Travis. Eine kurze Suche im Netz ergab, dass die Edition genau rechtzeitig zum 100. Geburtstag des 2013 gestorbenen Komponisten erschienen ist, und dass es sich bei Travis offenbar um einen vielseitigen Künstler handelt, der stärkere Aufmerksamkeit verdiente als ihm in den letzten Jahren seines Lebens zuteil wurde. Widmen wir Roy Travis anlässlich seines Jubiläums das folgende Gedenkblatt!

Roy Elihu Travis, geboren am 24. Juni 1922 in New York City, gehört zu denjenigen Komponisten, die als Gewinner des Gershwin Memorial Contest, eines 1945 ins Leben gerufenen Wettbewerbs für Orchesterwerke junger Autoren, erstmals in der Öffentlichkeit von sich reden machten. Andere Beispiele sind etwa der gleichaltrige Peter Mennin, an den der Preis 1945 zum ersten Mal vergeben wurde, und der etwas jüngere Gordon Sherwood, der ihn 1957 erhielt. Anhand dieser drei Komponisten, die alle von jener Stilrichtung ausgehen, die Walter Simmons in seinem Buch Music of Stone and Steel als „Modern Traditionalism“ charakterisiert hat, zeigt sich, welch unterschiedliche Karrieren den Gershwin-Preisträgern bevorstehen konnten: Mennin wurde erst zum führenden US-Symphoniker seiner Generation und schließlich Präsident der Juilliard High School. Sherwood stürzte sich in dem Moment, als ihm im Musikbetrieb Amerikas alle Türen offen gestanden hätten, geradezu fluchtartig in eine abenteuerliche Vagabundenexistenz, konnte aber, nach jahrzehntelanger Vergessenheit, als über 70-Jähriger seine spektakuläre Wiederentdeckung erleben. Roy Travis‘ Leben verlief dagegen allem Anschein nach weniger aufsehenerregend. Nachdem sein Symphonic Allegro 1951 mit dem Gershwin Memorial Award ausgezeichnet und von den New Yorker Philharmonikern unter Mitropoulos eingespielt worden war, studierte er, unterstützt durch ein Fulbright-Stipendium, ein Jahr lang bei Darius Milhaud in Paris und wurde nach seiner Rückkehr selbst Musikpädagoge. Er unterrichtete in New York an der Columbia University (1952/53) und an der Mannes School of Music (1952–1957), bevor er 1957 an die Musikfakultät der University of California in Los Angeles wechselte. Dort wirkte er, seit 1968 Professor, bis zu seiner Pensionierung 1991.

War Travis also nur einer von vielen handwerklich beschlagenen Komponisten, die ihr Dasein als Lehrer fristeten, ohne außerhalb ihres engeren Wirkungskreises sonderlich bekannt zu werden? Offensichtlich nicht! Ein genauerer Blick auf sein Schaffen verrät, dass es sich bei ihm keineswegs um einen Akademiker handelte, der sich mit einmal verinnerlichten Konventionen begnügte. Tatsächlich gehört Travis in eine Reihe mit John Foulds und Walter Kaufmann, Komponisten, die sich mit wahrer Leidenschaft in Musiktraditionen außerhalb des abendländischen Kulturkreises vertieften, daraus mannigfaltige Anregungen für das eigene Schaffen gewannen und zu Pionieren des musikalischen Austauschs zwischen Ost und West wurden. Wie Foulds und Kaufmann beschäftigte sich auch Travis mit den Modi und rhythmischen Modellen der indischen Musik. Eine wenigstens ebenso große Bedeutung erlangte für ihn die traditionelle Musik des westlichen Afrika, mit der er sich auseinanderzusetzen begann, nachdem er in den 60er Jahren die Bekanntschaft des ghanaischen Meistertrommlers Robert Ayitee gemacht und an den von diesem an der University of California veranstalteten Kursen teilgenommen hatte. Travis transkribierte Tonaufzeichnungen ghanaischer und anderer westafrikanischer Lieder und Tänze und erlangte dadurch ein profundes Wissen über die Strukturen, die dem Musizieren der betreffenden Völker zugrunde liegen. Die erste künstlerische Frucht dieser Beschäftigung war seine Zweite Klaviersonate, die African Sonata, in deren vier Sätzen er auf Tanztypen der in Ghana bzw. Mali ansässigen Ashanti, Ewe und Bambara zurückgriff. Später begann der Komponist afrikanische und indische Instrumente mit abendländischen zu kombinieren. So existiert aus seiner Feder ein Konzert für Violine, Tabla (indische Trommel) und Orchester. Sein Werk Switched-On Ashanti basiert auf Tonbandaufzeichnungen des Meistertrommlers Kwasi Badu, die Travis mit einem Synthesizer bearbeitete. Diese werden im Konzert den Klängen einer Quer- bzw. Piccoloflöte gegenübergestellt. Travis umfangreichstes Werk, in welchem abendländische und afrikanische Traditionen verschmolzen werden, ist die abendfüllende Oper The Black Bacchants, nach den Bakchen des Euripides, deren Instrumentalensemble ein großes Symphonieorchester samt einer Vielzahl westafrikanischer Instrumente umfasst. Daneben entstanden weiterhin Kompositionen für konventionelle abendländische Besetzungen. Roy Travis starb am 19. Oktober 2013 im Alter von 91 Jahren über der Arbeit an seiner dritten Oper Hamlet.

Diskographie

(Von den nachfolgend aufgezählten LP-Aufnahmen ist bislang nur Mitropoulos‘ Einspielung des Symphonic Allegro auf CD wiederveröffentlicht worden.)

  • Symphonic Allegro (Columbia, 1952): New York Philharmonic, Dimitri Mitrpoulos (Dirigent).
  • Collage for Orchestra (Cri, 1970): Royal Philharmonic Orchestra, Arthur Bennett Lipkin (Dirigent).
  • Zwei Szenen aus der Oper The Passion of Oedipus (Orion, 1973): William Du Pré (Oedipus), Maureen Lehane (Jocasta), Joy Mammen (Oracle), John Robert Dunlap (Laios), Robert Lloyd (Corinthian Envoy), Richard Hale (Old Shepherd), The Royal Philharmonic Orchestra and Chorus, Jan Popper (Dirigent).
  • Duo Concertante, African Sonata, Switched-On Ashanti (Orion, 1973): Isidor Lateiner (Violine), Edith Grosz (Klavier), Richard Grayson (Klavier), Kwasi Badu (ghanaische Trommeln), Gretel Shanley (Flöte).
  • Symphonic Allegro, Songs and Epilogues, Piano Concerto (Orion, 1975): Harold Enns (Bass), Royal Philharmonic Orchestra; Irma Vallecillo (Klavier), Utah Symphony Orchestra; Jan Popper (Dirigent).

[Norbert Florian Schuck, Juni 2022]

Ausdruck durch Wort und Ton

Sonus Eterna 37423; EAN: 4 260398 610076

Im Zweiten Teil der Gesamteinspielung aller Liedkompositionen des amerikanischen Komponisten Gordon Sherwood stehen die Four Romantic Songs op. 32, Seven Songs Of Mother Nature op. 46 und Songs From My Childhood op. 43, jeweils nach eigenen Texten, auf dem Programm. Die Künstlerinnen der Aufnahme sind die Sopranistin Felicitas Breest und Masha Dimitrieva am Klavier.

Das Klavierlied stellt besonders für Komponisten des 20. Jahrhunderts eine Gattung von zentraler Bedeutung dar. In einer Zeit, da die Suche nach einem Individualstil sich schwieriger gestaltet denn je, wo sich Tonsetzer zuerst durch den Dschungel an unerschöpflichen Möglichkeiten zu einer für einen selbst stimmigen Ausdruckssphäre bahnen müssen, da liegt es auf der Hand, sich zunächst an definierten Worten zu orientieren, anstelle sich von Anbeginn an auf absolute, textlose Musik zu setzen. Eine Liste derer, deren Frühwerk vornehmlich aus Liedern besteht, ließe sich lange erweitern, man denke allein an Namen wie Alban Berg, Richard Strauss, Walter Braunfels oder Eduard Erdmann. Die meisten dieser Komponisten blieben der Stimme als Ausdrucksmedium ihr Leben lang treu, zumeist später allerdings in Form großformatiger Bühnenwerke – doch manche fokussierten sich nach der Lehrzeit durch das Lied hauptsächlich auf rein instrumentale Musik, so beispielsweise Erdmann, aber auch Gordon Sherwood.

Gordon Sherwoods Liedschaffen lässt sich mit Ausnahme eines Nachzüglers (op. 96 von 1994) vollständig auf die Jahre zwischen 1967 und 1978 datieren. Zu dieser Zeit war der 1929 geborene Komponist freilich nicht mehr auf der Suche nach einem Einstieg in die Komposition: Im Gegenteil, er war durchaus gefragt vor allem durch die Uraufführung von Introduction and Allegro 1957 durch Dimitri Mitropoulos, hatte durch Studien bei den drei stilprägenden Meistern Aaron Copland, Philipp Jarnach und Goffredo Petrassi handwerklichen Feinschliff erfahren. Und doch steht das Lied an bedeutsamer Position Sherwoods Biographie. Denn nach seinem Abschluss 1967 in Rom, wo der erste der Liederzyklen entstand, wandte sich Sherwood vom großen Musikbetrieb ab, nutzte keine der ihm offenstehenden Türen, sondern zog sich zurück, eigene Erfahrungen zu machen und die Welt zu erleben. Er ging mit seiner Frau Ruth nach Beirut, wo die beiden sich durch Auftritte in Bars und Hotels durchschlugen – und auf diese Weise beiläufig mit dem später nicht mehr aus Sherwoods Stil fortzudenkenden Boogie- und Blues-Element vertraut wurden –, später nach Kenia. 1980, also kurz nach seinen Liederjahren, trennte sich Sherwood von seiner Frau und ging nach Südostasien, den Buddhismus näher kennenzulernen. So begleitete ihn das Lied von seiner Stellung als anerkannter Komponist bis hin zur Entscheidung zu seinem späteren Leben, das geprägt war durch unermüdliches Reisen, Selbstsponsoring durch Betteln, dem Komponieren und Entdecken als Hauptinhalte seines Lebens.

Insgesamt zwanzig von Sherwoods hundertdreiundvierzig Opusnummern bezeichnen Liederzyklen, wobei sich die Gesamtzahl an Liedern auf etwas über 80 summiert. Die Texte schrieb er dabei bis auf wenige Ausnahmen – namentlich die beiden frühesten Sammlungen opp. 23 und 29 sowie Zitate aus op. 62 – selbst; hierbei maß er den Gedichten eigenständigen Stellenwert bei, skizzierte sie also nicht als bloßes Mittel zum Kompositionszweck. Die Themen reichen weit, decken viele Aspekte des Lebens ab, konzentrieren sich oftmals auf Natur- und Liebesthematiken, können aber bisweilen auch kecken bis derben Humor aufweisen. Seine auf dem ersten Teil der Gesamteinspielung aufgenommenen Six Songs for Women’s Fashion of the 1960’s beispielsweise geben recht drastische, teils auf den sexuellen Aspekt reduzierte Urteile über gewisse Kleidungsstücke ab.

Die Lieder des vorliegenden zweiten Teils segeln vornehmlich unter romantischer Flagge, wobei auch der Blues gelegentlich durchblitzt. Die Four Romantic Songs op. 32 bilden als durchkomponierter Zyklus ein Panorama vom Frühlingserwachen bis hin zu einem Liebesabend am See, gemahnen stilistisch teils gar noch an Schubert, wobei Sherwood einige harmonische Wendungen doch der Bluesidiomatik entlehnte. Hier zeigt sich, wie sehr Sherwood sich in der Wahl seiner stilistischen Mittel auf das Sujet bezog, dann die einzelnen Elemente zu einer Einheit verschmolz, die in sich stimmig erscheint, ohne eine eindeutige Stillinie zu verfolgen. Die Seven Songs of Mother Nature op. 46 geben textlich tiefe Eindrücke von Sherwoods Bewunderung den Naturphänomenen gegenüber, wobei ihn eine Biene nicht minder beeindrucken kann als eine Nacht unter dem Sternenhimmel. Die Musik wirkt bekenntnishaft, zieht sich erneut Ausdrucksmittel unterschiedlichster Kulturen und Epochen heran, die jeweils zum Moment passen, ohne den Bezug zur Gesamtform zu verlieren. Am Ende sein Statement: You Cannot Beat Nature. Autobiographisch erscheinen die acht wieder zyklisch anmutenden Lieder, die er Songs From My Childhood op. 43 betitelte. Unter dem harmlos anmutenden Titel verbergen sich teils aufrüttelnde Momente, aber auch gewisse Sehnsüchte, bei denen wieder Derbheit mitschwingt. So erinnert er sich beispielsweise, dass er seine Sandkastenliebe ohne Scham bewundern konnte. Das Haunted House erwächst mit einer Länge von knappen sieben Minuten zur Ballade, ist tiefschürfend ausgestaltet mit einem symphonischen Spannungsaufbau und einer atemberaubenden Klimax.

Diese eigenständige, persönliche und in jedem Lied doch andersgeartete Musik stellt an die Ausführenden höchste Ansprüche. Denn nicht nur verlangt Sherwood gewisse Kenntnisse in grundverschiedenen Stilen vom Volks- und Kunstlied zur Jazzidiomatik, sondern er will auch seine persönliche Note darin verstanden und hörbar gemacht wissen. Das Duo Felicitas Breest und Masha Dimitrieva kann mittlerweile auf eine beachtliche Anzahl an reinen Sherwood-Auftritten blicken, ebenso auf die erfolgreiche erste Platte ihrer Gesamteinspielung. So verwundert wenig, dass dieser zweite Teil nun noch eindringlicher wirkt als der erste. Vor allem bei Felicitas Breest bemerkt man eine geänderte Einstellung zum Oeuvre Sherwoods, was sich in der Form der Textausdeutung, auch im balladesken Tonfall bemerkbar macht, mehr sogar noch in der Findung eines genreübergreifenden Klanges, der eine Einheit in der Vielfalt findet. Gerade für die menschliche Stimme, die üblicherweise für jedes Genre und jeden Stil, teils gar für bestimmte Komponisten eigene Techniken kennt, ist dieser Schritt bemerkenswert, zeugt von langer Auseinandersetzung mit der Materie. Breest setzt auf expressive Melodiegestaltung, parallel unbekümmerte Leichtigkeit, wobei ihr die musikalische Empfindung wichtiger ist als Textbekleidung. Masha Dimitrieva geht vollständig auf ihre Partnerin ein, stellt das Klavier in den Dienst der Stimme, ohne dabei an Eigenständigkeit zu verlieren. Sie, die übrigens musikalische Erbin Sherwoods ist und das Label Sonus Eterna zu seinem Andenken gegründet hat, kennt die Werke Sherwoods wie niemand sonst, spielt entsprechend souverän mit profundem Verständnis des Notentextes und Wissen, wie man diesen im Sinne Sherwoods umsetzen kann. In jeder Note hört man die Freude am Musizieren dieser beiden Künstlerinnen heraus, den Wunsch, alles aus den Partituren herauszuholen und den Hörer durch die Musik allein und nicht durch Gebärden zu begeistern. Es ist wahres aufrichtiges Musizieren.

[Oliver Fraenzke, Dezember 2021]

Hommage und Selbstverwirklichung

Sonus Eterna, 37423; EAN: 4 260398 610069

Auf dem zweiten Teil der Gesamteinspielung aller Klavierwerke Gordon Sherwoods von Masha Dimitrieva hören wir Stücke, die eine gewisse Hommagefunktion erfüllen: Die „Air“ der „Sieben beschreibenden Klavierstücke“ op. 6 steht im Zeichen Bartóks, die zwei „Rondos im klassischen Stil“ op. 4 greifen die Musik Haydns und Schuberts auf, die „Drei Stücke op. 22“ bekennen sich zu Hindemith. Komplexer werden solche Zuordnungen bei den längeren Werken dieser CD: Die Sonate op. 111+11 bezieht sich auf Beethoven, ist aber in Motto und Klang in buddhistischen Sphären errichtet. Die abschließenden Blues-Variationen op. 33 konzipierte Sherwood auf ein Thema von Peter Heaton, widmete das Werk Fats Waller – in seinem Innersten ist es jedoch eine Hommage auf die gesamte Ragtime-, Blues und Barpiano-Szene.

Das Unglaubliche in der Musik Gordon Sherwoods ist seine Fähigkeit, in jedem Stil er selbst zu bleiben. Mühelos, gar schwerelos, mäandert er zwischen Bach, Wiener Klassik, Romanik und Moderne bis hin zum Jazz, nimmt sich dabei das Beste aus jedem Stil heraus und fusioniert es zu einer eigenen, vielseitigen wie facettenreichen Tonsprache. Nie gleichen sich zwei Werke Sherwoods bezüglich ihrer Tonsprache und doch erkennt man eines seiner Stücke sofort anhand mancher Harmonieabfolgen, Muster oder Figurationen, die er favorisiert. In meiner Rezension über den ersten Teil der Einspielung seiner Klavierwerke vermerkte ich noch: „Charakteristisch für ihn ist lediglich, dass sein Schaffen keinen verfestigten Stil aufweist.“ [Zitat: siehe den Beitrag „Weltbüger und Bettler“] Heute würde ich ergänzen, dass er trotz aller Divergenzen doch einen Funken aufweist, die ihn unverkennbar macht in seiner Kompositionsweise. Wie genau sich dieser niederschlägt, das wäre ein spannender Ausgangspunkt für die Musikforschung.

Was seine Biographie angeht, so könnte man alleine viele Seiten füllen, denn Sherwood führte ein filmreich anarchisches, von allen hiesigen Konventionen befreites Leben. Er opferte eine geordnete Lebensführung als Komponist (den Erfolgen seiner frühen Jahre nach zu urteilen sicherlich als gefeierter Star der zeitgenössischen Musik) seinem Drang nach Freiheit; so das Geld es zuließ, reiste er und ließ sich in Afrika oder Asien zu neuer Musik inspirieren. Wo es finanziell fehlte, ging er nach Paris, um dort „Self-Sponsoring“ zu betreiben, also Passanten auf der Straße um eine Bezahlung für seine Musik zu bitten. Wer von den Passanten hätte wissen können, dass einer der Meisterschüler Coplands, Jarnachs und Petrassis, dessen Symphonie op. 3 durch Mitropoulos durchschlagenden Erfolg feierte, gerade um Gaben bettelte. Nur wenige Freunde und Verehrer seiner Kunst wussten um das wahre Genie Sherwoods; erst der Film „Der Bettler von Paris“ verlieh ihm in Deutschland kurzzeitig Aufmerksamkeit – auch Masha Dimitrieva sah diesen Film und versuchte sogleich, diesen wundersamen Mann zu kontaktieren. Über mehrere Ecken klappte dies schließlich und führte zu beidseitig inspirierenden Begegnungen: Gordon Sherwood erhielt den Funken, sein lang geplantes Klavierkonzert gemeinsam mit Masha Dimitrieva in die Tat umzusetzen; auch widmete er ihr andere seiner Kompositionen. Unter anderem steht sie in der Widmung der hier zu hörenden Sonate op. 111+11. Masha Dimitrieva ist es auch, die nach dem Tod Sherwoods sein geistiges Erbe verwaltet und sich als Leitfigur für seine Musik einsetzt. Nicht nur sämtliche seiner Klavierwerke spielt sie aktuell ein, sondern auch alle Lieder.

Die große Herausforderung liegt in diesem Unterfangen auf der Hand: Die Musik Sherwoods verlangt eine souveräne Beherrschung sämtlicher Stile verschiedener Epochen oder gar von Personalstilen einzelner Komponisten, darüber hinaus das Verständnis, hinter diese oberflächlichen Eigentümlichkeiten zu sehen und den Sherwood eigenen Kern zu entdecken.

Direkt nach seiner neutönerischen Symphonie op. 3, durch welche er zu einem der spannendsten jungen Tonsetzer gekürt wurde, schrieb er die Zwei Wiener Rondos op. 4. Auf den ersten Blick mögen sie wie Studienwerke klingen, geschrieben um sich den Stilen der großen Meister anzunähern, doch es steckt mehr dahinter: Sherwood präsentiert nicht nur meisterliche Beherrschung der Handschriften von Haydn und Schubert, sondern kann sie auf unvergleichliche Weise eigenständig weiterführen. Bereits hier bricht er mit den Konventionen und schreibt wissentlich wider die Art der Musik, die ihn neulich noch bekannt machte. Leichter kann man auch als Sherwood-unerfahrener Hörer seine kompositorischen Eigentümlichkeiten in den Sieben beschreibenden Klavierstücken op. 6 und den später entstandenen Drei Stücken op. 22 durchhören. Beide nähern sich zwar ebenso anderen Komponisten an, mit Hindemith und Bartók zwei Meistern der Moderne, doch können in den hier freieren, dissonanteren Tonräumen mehr von Sherwoods favorisierten Wendungen auftreten. Besondere Beachtung verdienen die Zwölf Variationen auf ein Blues-Thema op. 33. Sherwood arbeitete lange Zeit als Barpianist und machte sich so mit den tanzbaren Rhythmen vertraut, mit den Eigenheiten des Blues, aber auch damit, wie man ihn durchbrechen kann. In den Variationen nimmt er den Blues in seine Mikroteilchen auseinander und durchdringt die Form bis ins kleinste Detail, um sie auf teils gar widerborstige Weise neu zusammenzusetzen. Manche der Variationen könnten ohne Weiteres in einer Bar erklingen, andere strotzen vor Dissonanzen und gespannten Momenten, wieder andere glühen vor rhythmischer (Tanz-)Energie. Halsbrecherisch virtuos spielt Sherwood genau mit der Bruchstelle zwischen sogenannter ernster und leichter Musik, zeigt verstohlen heimlich beiden die lange Nase. Hier hört man am deutlichsten, welche Harmoniewendungen Sherwood präferiert, welche Motivschnipsel ihn beschäftigen und was seine Handschrift ausmacht. Den Höhepunkt der CD macht die halbstündige Sonate op. 111+11 aus, die in zweisätziger Faktur einen gewaltig großen Aufbau zeichnet, wie man ihn in dieser Stringenz selten in der Musikgeschichte erlebt. Die Sätze beschreiben zwei buddhistische Entwicklungsstadien: Sotapanna (Vorbereitendes Stadium des buddhistischen Heilsweges. Brodelnd vor Wut, Bitterkeit und gerechtem Zorn. Gier und Selbstsucht sind überwunden, aber noch nicht Ärger und Angst) und Arahat (Endgültiges Stadium des buddhistischen Heilsweges. Besänftigt durch tiefen inneren Frieden, Gelassenheit und Behagen. Ärger, Bitterkeit und Angst sind überwunden). Diesen Weg der Reinigung zeichnet Sherwood – selbst praktizierender Buddhist – in der Musik nach und führt uns hin zu einem verheißenden Höhepunkt. Der Weg wirkt mühsam, voller Verlockungen und Hindernissen, doch die Erleuchtung lockt und zieht uns das Stück entlang. Erzählend, beschreibend, verheißend bannt uns die Musik und lässt uns nicht los, ehe wir einen kurzen Blick auf die Freuden werfen konnten, welche der Heilsweg verspricht.

Masha Dimitrieva führt uns durch diese Musik, angetrieben von der tiefen Zuneigung zu jedem der Stücke und von ihrer Mission, die Musik des „Bettlers von Paris“ erstmalig und vollständig zugänglich zu machen. Nicht nur technisch meistert sie jede Hürde mit Bravour, sondern auch musikalisch durch tiefes Verständnis zu jedem Stil und zum Kern, Sherwoods omnipräsente Handschrift. Perlend klar und heiter klingen die Wiener Rondos, swingend leichtfüßig die Blues-Variationen, verhaltener die Air und perkussiv fokussiert die Stücke op. 22. Aus der Sonate holt Dimitrieva alles heraus, was man sich als Hörer wünschen kann. Durch den allmählichen Aufbau und die Beibehaltung eines kontinuierlichen Stroms nach vorne, der über sämtliche Abbiegungen und Ausschweifungen der Musik hinweg spürbar bleibt, bannt sie uns in die Musik und zelebriert die buddhistische Philosophie durch ihr Spiel.

[Oliver Fraenzke, Dezember 2020]

Von Blues bis Mode

Sonus Eterna, 37423; EAN: 4 260398 610052

Sonus Eterna hat es sich zur Aufgabe gemacht, das Gesamtwerk des Komponisten Gordon Sherwood zu veröffentlichen. Nach einer CD mit Klaviermusik erschien nun die erste CD der Gesamteinspielung aller Klavierlieder mit der Sopranistin Felicitas Breest und der Pianistin Masha Dimitrieva. Wir hören die Five Love Songs op. 24, Four Songs for the Winter op. 30, Five Blues Songs op. 60 und Six Songs for Women’s Fashion oft he 1960s op. 53.

Vor anderthalb Jahren erschien auf The New Listener bereits eine Rezension der ersten Klavier-CD mit Werken Sherwoods, die beim Label Sonus Eterna erschien. Ein biographischer und stilistischer Überblick über den Komponisten ist dort zu finden.

Gordon Sherwood einem Stil zuzuordnen oder selbst, aus seiner Musik  einen Personalstil herauszuarbeiten, gestaltet sich als schier  aussichtslose Aufgabe. Charakteristisch für ihn ist lediglich, dass  seinen Schaffen keinen verfestigten Stil aufweist. Als Neuerer verstand sich Sherwood ebenso wenig wie als  Traditionalist, er beschritt schlicht und einfach den Weg, der sich für  ihn richtig anfühlte. Konventionen, Kompositionsschulen und normative  Einengungen ließen ihn dabei kalt. So kann man seine Musik vor allem  als eines beschreiben: als natürlich und ungezwungen. Auf diese Weise schafft es seine Musik, den Menschen an sich anzusprechen und in sein Innerstes vorzudringen. Vielen dürfte seine Musik zugänglich sein, viele wird sie ansprechen, sofern sie diese erst einmal kennenlernen. Zugleich, das Wissen von drei herausragenden Lehrern im Hinterkopf, auf handwerklich meisterhaftem Niveau gesetzt und stimmungstragend konzipiert, befinden sich diese Werke in ausgeglichener Position zwischen dem einfachen, dem musikalisch geschulten und dem vollkommen ahnungslosen Hörer. 

Die hier zu hörenden Lieder des morgen vor 90 Jahren geborenen Komponisten entstammen je anderen Lebensabschnitten Sherwoods, vereinen unterschiedliche Aspekte seines Schaffens, Einflüsse anderer Kulturen und andere Umstände. Was sie verbindet, ist die Eigenheit bis hin zur Eigenartigkeit seines Stils, die unbekümmerte Vermengung unvereinbarer Stilwelten, deren klangliches Resultat in keine Schublade eingeordnet werden kann. Sherwood darf als einer der konsequentesten musikalischen Einzelgänger gelten, jegliche Strömungen und Moden, allgemein jegliche Limitierung kümmerten ihn nicht – lediglich der Mensch, auf den seine Musik eine Wirkung erzielen soll.

Die Five Love Songs op. 24 rumoren in ewigem Kampf für und wider die Tonalität und wägen den schmalen Grad zwischen den beiden Polen ab. Sherwood versetzt den Hörer in unstete Empfindungen, behalt vier Lieder lang die Richtung im Unklaren, bevor das abschließende „In ev’ry song there is a dance“ mit strahlendem F-Dur das Ziel der verworrenen Reise markiert. In diesen Liedern lassen sich am ehesten noch Einflüsse Sherwoods Lehrer erkennen, namentlich besonders Philipp Jarnach und etwas weniger Goffredo Petrassi. Traditioneller erscheinen die Four Songs for the Winter op. 30, die klares Moll ausmachen und sich auf Schubert beziehen. Umso krasser wirkt der Bruch zu den Five Blues Songs op. 60, in denen Sherwood es wagte, dem swingenden Bluesklavier einen Koloratursopran an die Seite zu stellen, der mit Höhenflügen à la König der Nacht aus Mozarts Zauberflöte kontrastiert. Beschlossen wird das Programm von den skurrilen Songs for Women’s Fashion oft he 1960s op. 53, deren humoristische bis erotisierende Texte auch aus Sherwoods Feder stammen. Besungen werden verschiedene Stile, von denen Sherwood besonders die knappen und Haut präsentierenden zu schätzen scheint: Wenn die Frau ihren Minirock trägt, will er sie heiraten, bei Hot Pants gehen die Emotionen mehr in die profane Richtung und die Maxi-Hosen beschimpft er gar für ihre Unförmigkeit. Am Ende steht jedoch die erstaunlich weise Einsicht, dass doch jede Frau tragen könne, was sie wolle.

Klanglich wirken die beiden Musikerinnen recht differenziert, worin aber auch ein Reiz liegt. Felicitas Breest nimmt ihre Sopranpartie opernhaft voll und mit unermüdlichem Vibrato, bleibt durch ihr enormes Stimmvolumen immer eine Stufe über dem Klavier. In den Five Blues Songs blüht sie besonders auf, die Koloraturen meistert sie spielerisch und bringt eine kecke Note in die Musik – im Mini Skirt spielt sie humoristisch mit ihrer Stimme, was beinahe Disneyartige Effekte evoziert. Im Gegensatz zu dem aufbrausenden Gesang bleibt Masha Dimitrieva am Klavier schlicht, klar in der Linie und konzentriert in der Ausführung. Sie braucht keine große Geste, lauscht einfach in die Musik hinein und erfasst so den Kern der Aussage nicht nur für sich, sondern setzt ihn auch nachvollziehbar um. Kein anderer Musiker kennt das Schaffen Sherwoods derartig genau wie sie, der Sherwood auch sein Klavierkonzert widmete und sie zur Erbin seines Musikvermächtnisses machte; entsprechen souverän und bewusst erscheint so auch ihr Spiel.

[Oliver Fraenzke, August 2019]

[Rezensionen im Vergleich] Was für ein Mann!

Gordon Sherwood  (1929-2013): Piano Works Volume I
Masha Dimitrieva, Piano; Sonus Eterna

Sonus Eterna, 37423; EAN: 4 260398 610045

Wenn ein Komponist sogar ein Leben als Bettler in Paris auf sich nimmt, um der allgemeinen Betriebsamkeit des Musikbetriebes zu entfliehen und um dafür andererseits genügend Zeit (und das wenige Geld, was er zum Überleben benötigt) zu haben für sein Hauptziel, nämlich das Komponieren, dann kann man sich vorstellen, dass da etwas ganz Besonderes in Erscheinung tritt: Ein Mensch, der auch in seinen Kompositionen kompromisslos ist, nicht nach Aufführungen schielt, seine Beziehung zu seiner Frau in den Wind schießt und als Weltreisender komponiert, wo immer es geht, sei es sesshaft, wenigstens für eine Weile, sei es unterwegs im Zug auf den Knien.
Das die russische Pianistin Masha Dimitrieva nach dem Anschauen des legendären Fernsehfilms über Sherwood ‚Der Bettler von Paris’ (nachzusehen auf YouTube) nicht nur seine Adresse herausfand, sondern ihn und seine Musik zu einem ihrer Standbeine zu machen bereit war– sogar ein eigenes Label gründete sie in diesem Zusammenhang –, veranlasste Sherwoood zu einem ihr gewidmeten Klavierkonzert, das 2004 uraufgeführt wurde.
Auf dieser CD sind einige seiner vielen Klavierkompositionen zu hören, die sofort unmittelbar ansprechen. Sherwood sollte zwar nach dem Wunsch des Vaters eine Karriere beim US-Militär anstreben, doch er weigerte sich, wurde stattdessen Musiker, dessen erste Symphonie großen Beifall erhielt und seinen Lebensweg endgültig vorzeichnete: Unstet bis chaotisch, in vielen Ländern – und deren Musik – zu Hause, ein rastloser Wanderer, der ausgerechnet in Bayern in der Herzogsägmühle seine letzte Wohn- und Arbeitsmöglichkeit fand.
Seine Musik verwendete alles, was ihm wert schien, vom Blues seiner amerikanischen Heimat bis zu Anklängen indischer oder orientalischer Musik, natürlich polyphon geschult an Meistern wie Bach.
Heute ist Masha Dimitrieva die beste Sachwalterin für Sherwoods Musik, alle Möglichkeiten stehen ihr zur Verfügung, um auch die vertracktesten rhythmischen Boogie-Woogie-Kanons zum mühelosen Spiel zu machen, wie alle anderen Stücke auch. Der Steinway-Flügel ist das Instrument dafür, direkt, aber nicht nervend aufgenommen.
Das ausführliche Booklet gibt sowohl über Sherwood und seine Kompositionen als auch über Masha Dimitrieva erschöpfend Auskunft.
Wir dürfen gespannt sein, was an Entdeckungen der Musik dieses genialen „Bettelmusikanten“ noch auf uns wartet.

[Ulrich Hermann, Januar 2018]

[Rezension im Vergleich] Weltbürger und Bettler

Sonus Eterna, 37423; EAN: 4 260398 610045

Masha Dimitrieva spielt ausgewählte Klavierwerke von Gordon Sherwood für Sonus Eterna: Dance Suite op. 67, Sonata quasi una fantasia op. 78, Four Sonatinas op. 27, Sonata for Ariana op. 77 sowie eine Auswahl aus Boogie Canonicus op. 50.

Das Leben von Gordon Sherwood könnte abenteuerlicher, wechselhafter und filmreifer gar nicht gewesen sein. Als Kind erlebte der 1929 geborene Sherwood in einer US-Kadettenanstalt gewaltige Traumata durch Mobbing und Unterdrückung, blühte dann allerdings in dem gegen den Willen seines Vaters eingeschlagenen Musikerberuf voll auf und bewegte sich, unter den Fittichen von Aaron Copland, schnurstracks in Richtung einer internationalen Karriere. Für Studien in Hamburg bei Philipp Jarnach gab er diese allerdings auf, begab sich nach einem weiteren Aufenthalt in den USA nach Rom, wo er seine Studien bei Goffredo Petrassi fortsetzte. Über Kairo und Griechenland ging es mit seiner Frau Ruth, die er in der Hamburger Zeit kennengelernt hatte, nach Nairobi. 1968 brach er dort alles ab, wurde zum dauerhaft Weltreisenden, verdiente sein Geld über lange Phasen als Bettler. Seine letzten Jahre verbrachte Gordon Sherwood größtenteils in Deutschland, hauptsächlich dank Masha Dimitrieva, die inspiriert durch den Film „Der Bettler von Paris“ von Erdmann Wingert und Heiner Silvester Kontakt zum Komponisten suchte und ihn durch ihr Spiel wie durch ihre Persönlichkeit überzeugte, sogar ein Klavierkonzert für sie zu schreiben. Im Mai 2013 verstarb Gordon Sherwood in Oberbayern, hinterließ 143 vollendete und zahllose Skizzen gebliebene Werke.

Gordon Sherwood einem Stil zuzuordnen oder selbst, aus seiner Musik einen Personalstil herauszuarbeiten, gestaltet sich als schier aussichtslose Aufgabe. Charakteristisch für ihn ist lediglich, dass seinen Schaffen keinen verfestigten Stil aufweist. Sherwood war Weltbürger und entsprechend ließ er allen Einflüssen ihren Platz in seinem Schaffen: amerikanische, französische, italienische, deutsche, nah- und fernöstliche Musik, Jazz, Boogie und Blues, Pop und Rock, Volksmusik und beinahe alles andere, was sich wo auch immer musikalisch finden lässt. Als Neuerer verstand sich Sherwood ebenso wenig wie als Traditionalist, er beschritt schlicht und einfach den Weg, der sich für ihn richtig anfühlte. Konventionen, Kompositionsschulen und normative Einengungen ließen ihn dabei kalt. So ließe sich seine Musik vor allem als eines beschreiben: als natürlich und ungezwungen. Auf diese Weise schafft es seine Musik, den Menschen an sich anzusprechen und in sein Innerstes vorzudringen. Vielen dürfte seine Musik zugänglich sein, viele wird sie ansprechen, sofern sie diese erst einmal kennenlernen. Zugleich, das Wissen von drei herausragenden Lehrern im Hinterkopf, auf handwerklich meisterhaftem Niveau gesetzt und stimmungstragend konzipiert, befinden sich diese Werke in ausgeglichener Position zwischen dem einfachen, dem musikalisch gebildeten und dem vollkommen ahnungslosen Hörer.

Überragend ist die musikalische Leistung der aus Russland stammenden wahldeutschen Pianistin Masha Dimitrieva, einstiger Schülerin des legendären Conrad Hansen. Beseelt und lebendig durchschreitet sie all die so grundverschiedenen Stücke dieser CD, von den melancholischen Sonaten über die aufgeweckte Tanzsuite und die teils orientalisch und indisch durchtränkten Sonatinen bis hin zu den swingenden und rockenden, kanonisch vertrackten Boogies. Adäquat zu den Stücken besticht sie mit innerer Ausgewogenheit und Ruhe. Jedem Stück verleiht Masha Dimitrieva das, was dieses spezifisch für eine gelungene Ausführung verlangt, was einen weit geöffneten und vielseitig geprägten Geist voraussetzt. Masha Dimitrievas Spiel erblüht in Feinheit und Liebe zum Detail, was selbst über die unvorteilhafte Aufnahmetechnik locker hinweghilft. In großen Phrasen fließt sie in der Musik und die Musik in ihr, wobei sie stets den Kontext der geschlossenen Form im Visier behält und den Hörer sicher vom ersten bis zum letzten Ton zu geleiten weiß.

[Oliver Fraenzke, Januar 2018]

Aus dem Leben eines Bettlers – Masha Dimitrieva über Gordon Sherwood

 

Die russische Pianistin Masha Dimitrieva ist Pionierin der Erschließung der Werke von Gordon Sherwood, ihr ist auch sein Klavierkonzert gewidmet. Oliver Fraenzke traf sie zum Interview.

 

Gordon Sherwood ist nach wie vor ein vollkommen unbekannter Komponist, der nie nach Ruhm suchte und dessen Musik meist nur seinen Freunden bekannt war. Sie gelten als Entdeckerin seiner Musik, Frau Dimitrieva, und sind die Erste, die sie im großen Rahmen aufgeführt und auf CD eingespielt hat. Aber wie wurden Sie auf ihn aufmerksam und lernten ihn kennen? In einem kurzen Videoausschnitt auf der Homepage www.gordonsherwood.de heißt es während der Arbeit an seinem Klavierkonzert, dass auch Sie zu dem Zeitpunkt des Kennenlernens erst seit kurzem in Deutschland waren. Wo standen Sie zu dieser Zeit, wie gelangten Sie nach Deutschland und wie weit waren Sie damals auf Ihrem Weg zur Musik?

Nach dem Abschluss am Moskauer Tschaikowsky-Konservatorium im Jahr 1991 kam ich Anfang 1992 nach Hannover für ein weiteres Studium an der Hochschule für Musik und Theater, wo ich bei Prof. David Wild die Meisterklasse besuchte. Als großartiger englischer Pianist und Komponist war er derjenige, der mich mit modernen, zeitgenössischen westlichen  Werken wie etwa von György Ligeti, Hans Werner Henze oder Helmut Lachenmann vertraut machte und dadurch auch meinen musikalischen Horizont erweiterte.

Während meiner Studienzeit am Tschaikowsky-Konservatorium in der damaligen Sowjetunion waren in der Sparte der modernen Musik meistens nur russische Komponisten vertreten, so zum Beispiel: Georgi Swiridow, Mieczyslaw Weinberg, Galina Ustwolskaja oder auch Sofia Gubaidulina, um einige Namen zu nennen.

Noch am Konservatorium hatte ich das Glück, der großen Sofia Gubaidulina ihre ‚Chaconne’ für Klavier vorzuspielen und daraufhin ihre Bemerkungen und Korrekturen zu bekommen. Dies machte mich neugierig auf weitere Begegnungen mit Komponisten und die Möglichkeit, gemeinsam an ihren Werken zu arbeiten. Ich habe mich mit Begeisterung auf das moderne und teilweise unbekannte musikalischen Terrain „gestürzt“, um mich dann später meinem künstlerischen Credo, „Unbekanntes bekannt zu machen“, zu widmen…

Erst ungefähr vier Jahre war ich in Deutschland, als ich zufällig auf Arte den Film „Bettler in Paris“ (von Heiner Sylvester und Erdmann Wingert) über den amerikanischen Komponisten Gordon Sherwood gesehen habe. Die Geschichte und die Musik dieses ungewöhnlichen Mannes haben mich sehr beeindruckt. Ich wollte und musste ihn unbedingt kennenlernen. Also habe ich bei der Fernsehstation angerufen und nach Sherwoods Adresse gefragt. Sherwood hatte keine Adresse hinterlassen, dafür aber viele Telefonnummern von seinen Freunden, die über die ganze Welt verteilt waren. So konnte man ihn ausfindig machen. Über einen Freund, der Musiker in Paris war, habe ich Gordon Sherwood gefunden, der sich zur dieser Zeit in Frankreich befand. Telefonisch habe ich mich Sherwood vorgestellt und ihn zu mir nach Bremen eingeladen. Nach einiger Zeit kam er mich tatsächlich besuchen …

Unsere Begegnung war von Anfang an sehr intensiv. Als er zu mir nach Hause kam, bat er mich gleich nach der kurzen Begrüßung, ihm etwas vorzuspielen; es war etwa 10:30 Uhr morgens. Nach dem ersten Stück wollte er immer weitere Stücke aus meinem Repertoire hören, angefangen mit Sonaten von Domenico Scarlatti bis hin zu den späteren Werken von Alexander Scriabin. Wenn Gordon ein Werk nicht kannte, verlangte er nach den Noten, um das Werk zu studieren und um die kompositorischen Einfälle des Komponisten zu verinnerlichen. Nach diesem ‚Vorspielen’ kam es zu Diskussionen über die Entwicklung der Musik und seine Zielsetzung, in allen Stilen und Formen komponieren zu wollen. Um etwa 21:00 Uhr beendeten wir diesen außergewöhnlichen ‚Musikmarathon’. Damals schon 67 Jahre alt, kannte dieser Mann scheinbar keine Müdigkeit und Zeit, wenn es um Musik ging.

„Das Leben ist viel zu kurz und man kann und sollte in dieser Zeit so viel lernen wie möglich“, ist Gordon Sherwoods Motto gewesen.

Und noch etwas anderes war ihm wichtig – es war Gordons besondere Art, den Musiker und den Menschen, der dahinter steckt, kennen zu lernen. Er war immer neugierig: auf die Musik, auf die Menschen, die Länder und verschiedenen musikalischen Traditionen; er war offen für Neues, immer bereit, zu lernen, um schließlich all diese Eindrücke in sein Werk zu integrieren.

Als ein Mensch der Extrema wird Sherwood ja gerne bezeichnet, der feste Anstellungen trotz guter Bezahlung ausschlug, der sich zeitweise gar als Bettler verdingte und nachts komponierte, der als Buddhist und Veganer (noch bevor es wie heute zum regelrechten Trend wurde) die Welt bereiste und bei all dem an seiner Kunst feilte. So etwas prägt einen Menschen ja grundsätzlich in seinen menschlichen Intentionen und Ansichten, es erhöht den Fokus auf bestimmte Aspekte. Wie war Sherwood als Mensch? Was waren seine Ziele, musikalisch wie außermusikalisch? Was war ihm wichtig und was zeichnete ihn aus?

Gordon Sherwood war ein umtriebiger, umhertreibender Freigeist, der die Neugierde fürs Leben bis in seine letzten Jahre nicht verlor. Sein fast unstillbarer Wissens- und Erkenntnisdurst haben ihn als Wanderer über ganzen den Globus und durch unterschiedlichste Kulturen geführt. Diese Erfahrung diente einer stetigen musikalischen Weiterentwicklung, was sich spürbar in seiner stilistisch so unterschiedlichen Musik erkennen lässt. Man kann sagen, dass Sherwood musikalisch die Welt „umarmte“,  die Welt mit ihrem gesamten Reichtum an Klängen und Eindrücken. Sein Herz und Geist, seine kompositorischen Gefühle und Gedanken waren immer auf der Suche nach neuen Impulsen, um diese dann mit den klassischen Formen zu vereinen. „Die neuen Gedanken und Einfälle muss ich sofort notieren. Deshalb sind viele meiner Stücke noch unvollendet. Das macht mich ganz nervös. Wenn ich 200 Jahre leben könnte, dann könnte ich vielleicht alle meine Ideen verwirklichen“, sagte Gordon Sherwood oft. Tatsächlich liegen manchmal einige Jahre zwischen der ersten Idee und der Ausführung einer Komposition. Viele seine Gedanken ruhten Jahre, bis sie irgendwann wieder von ihm aufgenommen wurden. So war es auch mit dem Klavierkonzert op. 107, welches Gordon Sherwood mir gewidmet hat. Die Entwürfe für das Klavierkonzert entstanden in den späten 1950er Jahren. Erst in den 1990ern – kurz nach unserer ersten Begegnung – vollendete er das Konzert. Die klassische Form in drei Sätzen ist voll von harmonischem Reichtum und technischen Schwierigkeiten, für den Solisten wie auch für das Orchester. Gordon pflegte über das Konzert zu sagen, es sei eine „Schlacht“ zwischen Solist und Orchester. Die Arbeit an dem Klavierkonzert mit dem Komponisten und Menschen Sherwood war für mich extrem interessant und lehrreich. Gordon begann jeden Morgen um 7 Uhr zu komponieren, später ging er mit mir durch das Komponierte. Die Musik und die Sätze hatte er schon vollständig im Kopf, worauf er sie mit seiner kalligrafischen Handschrift rein niederschrieb. Nach dem Vorspielen hat er die nötigen Korrekturen in die Partitur eingetragen. Das Klavierkonzert ist reich an großen dramatischen Spannungen, Höhepunkten und düsteren Momenten, die dann schließlich durch eine Steigerung aufgelöst werden. Höchste Priorität hatte für Gordon beim Komponieren dieses Stückes die Schönheit der Musik.

Er hatte viele Freunde und Förderer, verteilt über die ganze Welt, die nicht nur seine Musik, sondern auch den Menschen Gordon Sherwood sehr geschätzt haben. Selber habe ich ihn als sehr umgänglichen, höflichen, aber auch zielstrebigen Mann erlebt, der an den langen Abenden bei mir zu Hause bei veganem Essen und einem Gläschen gutem Wein von seinen hochinteressanten Reisen erzählte oder über die Musik diskutierte. Sein Leben war voll von Abenteuern, die manchmal auch sehr brutal waren. Jedoch hat er den Optimismus bis zu seinem Tod nicht verloren, die Liebe zur Musik hat ihm immer die nötige Kraft gegeben. „Musik war für mich seit jeher ein Elixier für meinen Geist. Ich kann daran am besten meine Sehnsucht nach Schönheit und meine Abscheu vor Krankheit und Krieg ausdrücken. Aber Musik ist das eine, das andere ist Sprache, und es gibt eigentlich keine Worte, um die Wirkung, die Musik auf mich hat, zu beschreiben“…

Es existiert eine Biografie, die Sherwood selber verfasst hat und die ca. 1000 Seiten zählt, wo er sein – nicht immer leichtes – Leben an den verschiedensten Orten dieser Erde beschreibt. Die Kriterien seines Lebens und Werkes standen stets in einem Gegensatz zur ‚normalen’ bürgerlichen Welt. Unabhängigkeit und Freiheit, Flucht aus allen sozialen Bindungen und Verpflichtungen waren neben der Musik die wichtigsten Merkmale seines Handelns.

Als junger Mann gewann er den Gershwin-Wettbewerb, den renommiertesten Komponistenwettbewerb in den USA. Am Anfang einer großen Karriere stehend, kehrte er plötzlich dem verhassten Kulturbetrieb den Rücken und entschied sich für ein Nomadenleben. Er lebte im Libanon, in Ägypten, Israel, Griechenland, Kenia, Costa Rica, China – um einige seine Stationen zu nennen. Wenn das Geld ausging, ging er nach Paris, um ein paar Jahre als Bettler Geld für die Reisen zu sammeln. Das nannte er „Self-Sponsoring“. Und dann verreiste er wieder… Überall auf der Welt fand er die Freunde und Förderer, die ihm eine Unterkunft und Unterstützung boten, damit er seine musikalischen Ideen auf das Papier bringen konnte…

Zentrales Thema für Sherwood war die Zeit. Seine Zeit war zu beschränkt, um die Neugier auf das Leben zu stillen.

„Ich hatte nie die Zeit, anderen Menschen nachzulaufen, Dirigenten zu suchen, um meine Werke aufführen zu lassen. Ich hatte nie die Zeit dafür, weil ich immer mit neuen Ideen beschäftigt war“, so Sherwood.

Seine Ausbildung genoss Gordon Sherwood bei zutiefst unterschiedlichen großen Lehrern: Aaron Copland, einer der Väter der modernen amerikanischen Musik; Philipp Jarnach – zwischen den beiden Weltkriegen einer der führenden Komponisten Deutschlands und als Mitglied der Novembergruppe mit einigen Größen der Zeit wie Kurt Weill, George Antheil, Max Butting, Hanns Eisler, Stefan Wolpe oder Heinz Tiessen (dem heute vergessenen Lehrer Celibidaches, der Tiessen nach eigenen Aussagen alles zu verdanken hatte) assoziiert; sowie Goffredo Petrassi, der nach Auseinandersetzungen mit dem Neoklassizismus und dem Serialismus einen vollkommen eigenen Stil schuf. Wie schlugen sich diese musikalischen Kontraste seiner Lehrjahre in seinem Werk nieder? Konnte er sie vereinen, und wenn ja, wie? Als weitere Einflüsse nannte Sherwood auch Schostakovitsch, Bartók sowie auch den Jazz und Blues – findet auch dies alles seinen Platz in Sherwoods Personalstil, und gilt gleiches für die Musik all der Länder, die Sherwood bereiste und erforschte?

Nach Nennung solch eines Stilpluralismus sei noch allgemein gefragt: Wie ist die Musik von Sherwood eigentlich, wie lässt sie sich beschreiben, was macht sie aus?

Das Œuvre Gordon Sherwoods ist sehr umfangreich. Sein Werkverzeichnis zählt ca. 143 Einträge. Sie umfassen Orchesterwerke, Opern, Kantaten, Chorwerke, sehr umfangreiche Kammermusik (Klaviermusik, Werke für verschiedene Streich- und  Blasinstrumente), Ballettmusik, religiöse Werke, Vokalmusik (über acht Zyklen mit eigenen Texten), Filmmusik und anderes.

Stilistisch sind die Kompositionen von seinen amerikanischen Vorbildern – Gershwin, Copland, aber auch Strawinsky, Bartók, Hindemith – beeinflusst. Einen charakteristischen Stil seiner Musik erwirkt die Verschmelzung des Klassischen mit indischen und arabischen Elementen, aber auch mit Elementen des Jazz.

Dies ergibt den äußerst charakteristischen Musikstil von Sherwood. Trotz komplexen Strukturen und dichter Stimmführungen, wie z. B. in seinen Orchesterwerken, hat seine Musik eine persönliche, unverkennbare Sprache, was auch dem ungeschulten Zuhörer den Zugang erleichtert. Seine Musik ist kraftvoll, sehr rhythmisch, polyphon, öfter aber gesanglich und melancholisch. Tiefsinn, Klang- und Ausdrucksvielfalt, Gefühlsstärke, Ideenreichtum und originelle Einfälle sind charakteristische Merkmale seiner Musik.

Sie sprachen von langen musikerfüllten Tagen voll spannender Konversationen über sein Schaffen, über den Einfluss von Musik anderer Komponisten sowie über seine Reisen – ebenso über die intensive Zusammenarbeit an seinem Klavierkonzert. Wie hat Sie Gordon Sherwood beeinflusst und inspiriert? Hat der Kontakt zu ihm Sie verändert, als Mensch wie als Musikerin?

Sicherlich hat mir die Freundschaft mit Gordon, sowohl im musikalischen als auch im menschlichen Sinne, viel gegeben.

Es mag vielleicht pathetisch klingen, aber seine große, fanatische und sehr ehrliche Liebe zur Musik hat mich in höchstem Maße beeindruckt und inspiriert.

Er war für mich wie ein brennendes, unglaublich ehrliches Energiebündel, das niemals müde wurde, wenn es um Musik ging. Er konnte die Leute, die ihm nahe standen, mit diesem Feuer regelrecht infizieren.

Wir Musiker lieben Musik, üben unseren Beruf mit Hingabe aus, aber wir machen auch Pausen, beschäftigen uns mit anderen, alltäglicheren und manchmal vergleichsweise regelrecht profanen Dingen. Gordon kannte das nicht. Er war sozusagen ein „absoluter Musikpriester“; sein Gott war die Musik, der er leidenschaftlich jede Minute seines ganzen Lebens widmete. Diese unendliche, brennende und mitreißende Kraft seiner Kreativität, ungeachtet all den Gegebenheiten, in denen er lebte, diese unstillbare Neugier auf das Neue, Unbekannte erloschen erst mit seinem Tod.

Ebenso hat mich sein Blick auf die Welt und auf die Menschen beeindruckt. Gordon mochte keine Kompromisse. Er war sehr sensibel und tiefgründig, was die verschiedenen menschlichen Charaktere anging. Er wäre niemals, auch nicht für ein besseres Engagement oder einen Vorteil für sich, auf einen Kompromiss mit jemandem eingegangen, den er nicht mochte oder respektierte. Die Menschen, die ihm begegneten, liebte oder hasste er; und die Freunde, die er hatte, waren ehrliche, ihn liebende Menschen.

  

Sherwood war wie bereits erwähnt Buddhist, aber dennoch schrieb er unzählige Werke mit dezidiert christlichem Bezug wie die Three Sacred Pieces Op. 35 oder die Bettlerkantate. Wie ist es zu erklären, dass Gordon Sherwood geistliche Musik für eine bestimmte Religion schreibt und doch einer anderen zugehört? Gibt es auch Werke für andere Religionen in seinem Schaffen? Und wie zeichnet sich das Sakrale in seiner Musik ab?

Gordon Sherwoods Verhältnis zu Gott war schwierig. Es gab in Gordons jungen Jahren eine christliche Phase, später bekannte er sich zum Buddhismus. Als ich ihn vor fast 20 Jahren kennenlernte, war er Atheist geworden.

Gordons Glaube war mehr ein Glaube an das Leben, an die Natur – wie beispielsweise zu erfahren in den „Five Pieces Depicting the Beauty of the Jaranda Trees“ Op. 63, in denen er die Schönheit der Natur, der Bäume und Blüten preist.

Seine Anschauung vom Buddhismus spiegelt sich in „Hare Krishna Finca Hare Krishna“ op. 95 wieder. Jedoch sollte man dieses Werk nicht als das Werk eines fromm Gläubigen betrachten, sondern mehr als ein Werk des Suchenden, Experimentierfreudigen, der neugierig auf die neuen Klangfarben war.

In der „Bettlerkantate“ op.99 gibt es nichts, was als sakral bezeichnet werdn könnte. Die Kantate ist eher eine „Dokumentation“ einer Periode seines Lebens, als er das benötigte Geld als Bettler in Paris beschaffte.

Den Text für die „Bettlerkantate“, wie auch die Texte für die vielen verschiedenen anderen Vokalwerke und Vokalzyklen, hat er übrigens selbst geschrieben.

Alle diese Werke wurden bis jetzt leider noch nicht uraufgeführt.

Was die Three Sacred Pieces op.35 betrifft – die waren sicherlich beeinflusst durch seine große Liebe zu Bach – man könnte sie als ein sakrales „Experiment“, ein unglaublich gelungenes und auch ehrliches „Experiment“ mit einer Musik, die eine Gänsehaut hinterlässt, bezeichnen.

Bis jetzt wurde aus diesem Zyklus nur das „Ave Maria“ aufgeführt.

Sehr bezeichnend erschien mir ein Zitat unter seinem Op. 50, „Boogie Canonicus. Nine Boogie-Woogie and Blues Pieces in Canon Form for Piano Solo“. Dort steht: „There are nine canons in Bach’s ‚Goldberg Variations‘. Beethoven wrote nine symphonies. There are nine known planets in the solar system so I’ve stopped here“. Zwei musikalische Bezüge werden hier einem physikalisch-astronomischen gegenübergestellt, um die Neunzahl zu begründen. Gibt es solche Assoziationen häufiger in Sherwoods Schaffen, und bezog er vielleicht gar auch im Alltag grundverschiedene Elemente aufeinander und kombinierte sie?

Gordon hatte einen Hang zu Zahlenmystik, wie übrigens einige andere Komponisten auch. Es existieren circa 20 Notizbücher, wo er die verschiedensten Zahlen und deren Bezüge zueinander erforscht hat. Da sind z. B. die Entfernungen von einer Stadt in die andere in Kilometern, Zeit und Geschwindigkeit aufgeführt; oder auch Taktzahlen seiner Werke, Geldbeträge, imaginäre Zeitausrechnungen etc. Gordon liebte die Welt der Zahlen, sie beschäftigte ihn. Die Zahlen bedeuten Ordnung, sie gaben ihm ein Gefühl von Ordnung in dem chaotischen, unsteten Leben, das er führte…

 

Sie sagten, Sherwood habe auf der ganzen Welt Freunde und Förderer gewonnen. Zum einen kommt mir da die Frage, wie hat er so etwas gemacht, wie konnte er als unbekannter ‚Bettler’ wichtige Freunde und Förderer gewinnen, was machte diese Begabung aus? Und zum anderen, wie konnte er trotz internationaler Anhängerschaft bis heute so komplett unetabliert bleiben?

Gordon Sherwood hat sich als „weltweit berühmtester aller unbekannten Komponisten“ bezeichnet.

Ein wichtiger Grund für seinen geringen Bekanntheitsgrad als Komponist lag in ihm selbst. Er hatte die besten Voraussetzungen für eine Karriere. Als junger Mann gewann er mehrere bedeutende Kompositionspreise und Förderungen, u. a. 1957 den erwähnten Ersten Preis des renommierten George Gershwin-Komponistenwettbewerbs, ein Fulbright-Stipendium für ein weiteres Studium in Deutschland. Sein damaliger Lehrer an der Hamburger Musikhochschule – Philipp Jarnach – bezeichnete ihn als talentiertesten und vielversprechendsten Komponisten, der seit 20 Jahren an der Musikhochschule ausgebildet wurde.

Gordon suchte keine Vorteile für sich, er wusste das alles für sich monetär und reputationsmäßig nicht zu nutzen und verweigerte all die Positionen, die ihm sein Talent eröffnet hatte. Gordon verachtete den Musikbetrieb; er passte in keinen ‚normalen’ Rahmen, weder als Komponist noch als Mensch, und wollte sich auch um nichts auf der Welt in einen solchen hinein fügen.

Und die Tatsache, keinen mächtigen Manager oder Impressario zu haben, der aus ihm einen großen Namen machen würde, hat ihm ein ganz anderes Leben bereitet. Anstatt des geregelten Musikbetriebs entschied er sich für ein abenteuerliches und unglaublich bewegtes Leben.

Seine kompromisslose Persönlichkeit war sehr eindrucksvoll, ja faszinierend. Diejenigen Menschen, die ihn getroffen haben, konnten ihn nicht so leicht vergessen.

Viele Musikerfreunde, die ihn und seine Musik unglaublich schätzten, haben versucht, nach ihren Möglichkeiten seinen Kompositionen ein öffentliches ‚Leben’ zu geben. Jedoch: ohne entsprechendes Management und PR-Vermarktung ist das gewiss eine eminent schwere Aufgabe.

Eine Aufgabe, die vielleicht nun nach seinem Ableben 2013 nachgeholt werden kann. Es ist wunderbar, zu sehen, dass sich exzellente Musiker wie Sie solch einem Meister widmen, der sich wohl auch für die Künstler weniger vermarkten lässt als beispielsweise eine Neueinspielung von Beethovensonaten. Es bleibt zu hoffen, dass der „Bekannteste der unbekannten Komponisten“ bald vielleicht schon der „unbekannteste der bekannten Komponisten“ sein wird. In diesem Sinne danke ich für das Gespräch und für Ihre Zeit.

 [Interview geführt von: Oliver Fraenzke, 2017]

Kommende Konzerttermine mit Musik Gordon Sherwoods und Masha Dimitrieva:
13.1.2018: München, Freies Musikzentrum
07.3.2018: München, Steinwayhaus