Archiv für den Monat: Mai 2018

Erhöhend

Festspiele in Bergen: Håkonshallen; Sofia Gubaidulina, Arvo Pärt, Alfred Schnittke; Kremerata Baltica, Martynas Stakionis, Gidon Kremer & Sonoko Miriam Welde (Violine), Geir Draugsvoll (Bajan), PERCelleh (Schlagwerk), Jarle Rotevatn (Präpariertes Klavier)

[Alle Rezensionen zu den Festspielen in Bergen im Überblick]

Festspiele in Bergen, Håkonshallen: Gubaidulina, Draugsvoll und die Kremereta Baltica (Foto von: Oliver Fraenzke)

Am Abend des 25. Mai 2018 spielt die Kremerata Baltica in der Håkonshallen ein Konzert mit moderner Musik zu Ehren der Festspielkomponistin Sofia Gubaidulina. Ihr Bajankonzert Fachwerk ist Höhepunkt des Abends, den der Widmungsträger Geir Draugsvoll bestreitet, zudem wurde die Kremerata durch Schlagwerker von PERCelleh ergänzt. Die Leitung des Stücks übernimmt Martynas Stakionis. Vor Fachwerk hören wir Arvo Pärts Streicherwerk Fratres mit Gidon Kremer als Solist und Alfred Schnittkes Concerto Grosso, wo sich Kremer die aufstrebende Geigerin Sonoko Miriam Welde als Partnerin nahm.

Schon die Atmosphäre der Håkonshallen verleiht der hier gespielten Musik eine ehrfurchtsgebietende und beinahe spirituelle Wirkung: Die hohen, rauen Steinwände und das aufwändige Holzdach, dazu das Fenster an der Spitze, durch welches das Abendlicht in die Halle strömt. Die Akustik erscheint sakral, angenehmer Hall schmeichelt den Streichern.

Das Programm beginnt mit Arvo Pärts Fratres für Streichorchester mit Solovioline, ein resignatives Stück, welches die Einsamkeit und Isolation des Solisten verbildlicht. Zeitgleich schwingt ein Gefühl der Hoffnung mit, jedoch nicht in physischer, sondern in religiöser Form. Virtuos gibt sich der Solopart, die technischen Anforderungen stellen ein inneres Ringen um sich selbst dar, was das Orchester reflektiert. Kremer blüht in dieser Musik auf und legt eine seiner innigsten Aufführungen dar, die ich von ihm kenne. Er gibt viel von sich Preis in dieser Musik und wir werden Teil seiner Erfahrungen.

Sonoko Miriam Welde kommt hinzu im Concerto Grosso Nr. 1 von Alfred Schnittke. Das Werk lebt vom einem Wechselspiel zwischen den beiden Violinen, die immer wieder gegeneinander ausgespielt werden, konkurrieren, und sich doch auch ergänzen. Erst kurz vor Schluss finden die beiden Instrumente im Unisono zusammen, wenngleich die Idylle nur kurz anhält. Markant ist das präparierte Klavier, welches besonders die Randsätze durch die glockenartigen Töne prägt – zwischenzeitlich wechselt der Pianist zum Cembalo, setzt sich auch hier von den Streichern deutlich ab. Als Vermittler dient das Orchester, von hier kommen die Impulse, auf welche sich dann die drei Einzelkämpfer stützen können. Wie meisterlich spielt Schnittke in diesem Concerto mit den Erwartungen des Hörers: Eingängige Momente werden genau dann unterminiert, wenn wir uns an sie gewöhnen würden, Rhythmen verschieben sich exakt im richtigen Moment – dies ist eine Meisterschaft, die oft zu wenig gewürdigt wird.

         

Composer in Residence Sofia Gubaidulina wird mit mehreren großen Aufführungen ihrer Hauptwerke geehrt, eine erklingt in diesem Konzert mit der Kremerata Baltica unter Martynas Stakionis und dem Widmungsträger Geir Draugsvoll. Im Januar 2013 kam ich durch eben dieses Stück in prägenden Kontakt mit der Musik Gubaidulinas, Draugsvoll spielte es unter Leitung von Valery Gergiev in der Münchner Philharmonie. Heute erklingt es noch gereifter und der Solist lässt spüren, wie überwältigt er noch immer von diesem Konzert ist. Das Atmen steht im Mittelpunkt, die gesamt Musik bildet ein Ein- und Ausatmen in allen Formen ab, von Hecheln, tiefem Atem bis hin zu Seufzen. Das Bajan eignet sich natürlich für solch eine Idee, reguliert schließlich die Veränderung des Luftstroms den Klang. Draugsvoll bäumt sich auf, genießt die wilden Dissonanzen, Cluster und plötzlichen Brüche. So verleiht er ihnen Sinn und Struktur, fasst die Klänge in Einheiten zusammen und schafft ein Kontinuum. Als Zugabe gibt es Piazzolla, als „Dessert“, wie es Draugsvoll lächelnd, aber passend formuliert.

[Oliver Fraenzke, Mai 2018]

In Bergen bei den Festspielen

Einmal mehr verschlägt es mich in den hohen Norden, nach Norwegen. Mein Ziel sind diesmal die Festspiele in Bergen, das größte Musikfestival Nordeuropas, wo ich im Laufe von drei Tagen insgesamt acht Konzerte besuche.


Festspiele in Bergen: Byparken, der Stadtpark (Foto von: Oliver Fraenzke)

Gegründet wurden die Bergen Festspillene 1953 nach einer Idee der Sängerin Fanny Elsta, die sich das von Grieg ausführte Musikfest in Bergen von 1898 als Vorbild nahm. König Haakon VII eröffnete die ersten Festspiele, lud dazu Leopold Stokowski, Kirsten Flagstad und Per Aabel ein. Schnell entwickelte sich das Festival zu einem Ereignis internationaler Bedeutung. Als zentral erwiesen sich hierfür die Initiative für Neue Musik, die Integration des Jazz seit den 1970ern sowie die Eröffnung der Insel Lysøen als Veranstaltungsort 1974 und die Fertigstellung der Grieghalle 1978.

Das aktive Bestreben, zeitgenössische Musik zu fördern, schlägt sich in der jährlichen Ernennung eines Festspielkomponisten nieder, der in dieser Zeit vermehrt aufgeführt wird. Zumeist gebührt skandinavischen Komponisten diese Ehre, so unter anderem Harald Sæverud 1986, Ketil Hvoslef 1990, Ragnar Søderlind 1995, Magnus Lindberg 2006 oder Bent Sørentsen 2007. Postum wurde Edvard Grieg 1993 als Festspielkomponist ausgezeichnet. In diesem Jahr fiel die Wahl auf die 1931 geborene Russin Sofia Asgatowna Gubaidulina, die mit ihrem tiefsinnigen, religiös aufgeladenen und auf Bach bezogenen Stil zu den herausragenden Komponistinnen unserer Zeit gehört.

Eine besondere Rolle kommt dem Klavierkonzert a-Moll op. 16 von Edvard Grieg zu, das seit Gründung des Festivals jedes Jahr von einem prominenten Pianisten dargeboten wurde: Kayser, Richter, Ashkenazy, Lupu, Austbø, Steen-Nøkleberg, Gilels, Schiff, Andsnes, Gimse und Süssmann sind nur einige der zu nennenden Namen. In diesem Jahr hören wir die Gewinnerin des internationalen Grieg-Wettbewerbs Ah Ruem Ahn mit dem Klavierkonzert, begleitet vom Bergen Filharmoniske Orkester unter Edward Gardner.

Die Festspiele stehen unter königlicher Schirmherrschaft und werden seit 2012 von Anders Beyer geleitet. Zu den Förderern gehören unter anderem DNB, Statoil, Bergens Tidene und Dagens Næringsliv.

Was mich zu den Festspielen zieht, ist die Vielseitigkeit der Veranstaltungen von Musik, Tanz und Kunst bis hin zu einer Reihe von besonderen Ereignissen, so beispielsweise einer VR-Arena. Musik nimmt dabei einen besonderen Stellenwert ein: Kammermusik, Chormusik und Orchestermusik werden in jedem Rahmen gespielt, vom intimen Hauskonzert bis zum öffentlichen Ereignis auf dem großen Festplatz. Unvergesslich sind für mich die Auftritte in den Häusern von Edvard Grieg, Ole Bull und Harald Sæverud, wo ich Musik in der authentischen Atmosphäre ihres Entstehens genießen kann.

Die Auswahl aus mehreren hundert Konzerten und über 70 Veranstaltungsorten fiel schwer, schließlich fiel die Entscheidung auf folgende acht Auftritte:

In den kommenden acht Tagen werde ich zu jedem dieser Konzerte eine Rezension auf www.the-new-listener.de veröffentlichen und meine Eindrücke von den Festspielen in Bergen teilen.

[Oliver Fraenzke, Mai 2018]

Virtuosität und Romantik

Ars Produktion Schumacher, ARS 38 242; EAN: 4 260052 382424

Romantic, Brilliant, Imaginative: Semenenko (Violine), Firsova (Klavier); Grieg, Tschaikowski, Castelnuovo-Tedesco, Paganini, Schubert 

Violinmusik aus der Epoche der Romantik birgt vorliegende CD mit Aleksey Semenenko und Inna Firsova. Die Eckpfeiler dieser Einspielung sind die Erste Violinsonate F-Dur op. 8 von Edvard Grieg und die Fantasie C-Dur D 934 von Franz Schubert. Dazwischen befinden sich drei Bearbeitungen von Werken für Violine und Orchester: Tschaikowskis Sérénade Mélancholique, Mario Castelnuovo-Tedescos Konzertparaphrase über die Cavantine Largo al Factorum aus Figaros Hochzeit und Paganinis I Palpiti, ebenfalls über ein Thema Rossinis. Das Arrangement von Paganinis Variationswerk für zwei Instrumente stammt von Fritz Kreisler.

Die Produktion der vorliegenden Aufnahme war der Preis eines Kammermusikwettbewerbs an der Hochschule für Musik und Tanz Köln, den Aleksey Semenenko und Inna Firsova gewonnen haben. Das Programm entwickelt sich ausgehend von Schuberts großer C-Dur-Fantasie von 1827, in denen er seine Eindrücke eines Auftritts von Paganini verarbeitete. So ist natürlich auch der Teufelsgeiger vertreten mit einer Paraphrase über Rossini, was den Faden weiterspinnt zu Castelnuovo-Tedesco und dessen Fantasie über ein Rossini-Thema aus Tancredi. Tschaikowski und Grieg komplettieren die Aufnahme, wobei Griegs Erste Violinsonate das erste Werk war, das Semenenko in die Welt der Kammermusik einführte. Mich verwundert, dass Inna Firsova nicht auf dem Cover erwähnt wird, ihr Name verbirgt sich auf der Rückseite und ihr Bild im Booklet: Und das, obgleich Semenenko doch Kammermusik studiert und bei Grieg und Schubert das Klavier einen mindestens ebenbürtigen Part zur Violine spielt, wenn nicht einen gewichtigeren!

Die Violinsonate Edvard Griegs gibt ein Bild frei auf zwei fleißige und detailverliebte Musiker, die minutiös darauf bedacht sind, die Noten genau wiederzugeben. Sie betrachten die Musik aus gewisser Distanz und fühlen sich trotzdem in die Welt des Komponisten ein. Ein großes Spektrum an Artikulations- und Dynamikabstufungen bringt Abwechslung und Vielseitigkeit in das Werk, immer neue Klangfarben bereichern die Sonate. Zu wenig achten sie allerdings noch auf das Schlichte, Volkstümliche, was ja gerade Grieg und seine skandinavischen Kollegen so sehr prägt. Der Mittelsatz wird zum Kunstwerk und verliert die Einfachheit des Volksliedes; die charakteristische Fidel-Passage lockt nicht zum Bauerntanz, sondern in den Konzertsaal. Gleiches gilt für Tschaikowskis Sérénade Mélancholique, die unartifizielle und zutiefst menschliche Gefühle ausdrückt, auch das einfache Volk anspricht.

Es folgen zwei Virtuosenwerke, in denen Semenenko seine Brillanz und Leichtfüßigkeit unter Beweis stellt. Unglaubliches gelingt ihm in Paganinis I Palpiti, wo der Hörer kaum aus dem Staunen herauskommt. Grazil bewegt er sich zwischen all den Hürden und zeitgleich gibt er den formalen Aufbau der Stücke zu verstehen, geht auch auf die Phrasierung und den innermusikalischen Kontext ein.

Das Finale ist die 25-minütige Fantasie C-Dur von Franz Schubert, in welcher der Komponist die Errungenschaften der großen Virtuosen in symphonischen Kontext eingliedert und in reinste Musik verwandelt. Auch bezüglich der Darbietung ist dies der Höhepunkt der Einspielung, die Musiker hören einander zu und erreichen ein vollkommenes Miteinander. Inna Firsova tritt in den Vordergrund: Bei Grieg wurde sie noch von der Violine überlagert und in den Bearbeitungen weilte sie doch eher in Begleitfunktion. Nun aber trumpft Firsova auf und demonstriert ihre überlegene Meisterschaft des Klaviers, die sie zur Entdeckung macht. Ihre Läufe ragen heraus und geben den Eindruck, die Erde würde sich anheben oder absenken, wenn sie in die Höhe beziehungsweise Tiefe rauscht. Ebenso bemerkenswert ist, wie autonom ihre beiden Hände fungieren. Gerade bei großem Abstand ergänzen sich die Stimmen kontrapunktisch wie zwei nur miteinander funktionierenden Kraftfelder.

[Oliver Fraenzke, Mai 2018]

 

Smyphonie und Solokonzert in einem

Alpha 395, EAN: 3 760014 193958

Wir hören eine Liveaufnahme des Zweiten Klavierkonzerts B-Dur op. 83 von Johannes Brahms, die bereits am 20. Mai 2009 entstand und nun veröffentlicht wurde. Es spielt das NHK Symphony Orchestra aus Tokyo unter Tadaaki Otaka, Solist ist Nelson Goerner.

Der Pianist Nelson Goerner ist einer der Stars von Alpha Classics und liefert in kurzen Abständen beachtliche Aufnahmen. Für Alpha spielte er bereits Werke von Beethoven, Chopin (eine Rezension der Nocturnes auf The New Listener) und Debussy für Klavier solo ein, mit Tedi Papavrami zudem Sonaten von Fauré und Franck. Nun zieht es Goerner zu Brahms und wieder zu symphonischer Musik: Gemeinsam mit dem NHK Symphony Orchestra Tokyo und Tadaaki Otaka spielt er das Zweite Klavierkonzert von Johannes Brahms. Dieser knapp 50-minütige Koloss steht für sich alleine in der Musikgeschichte, indem er die klassischen Ideale der Ausgewogenheit und Folgerichtigkeit der Entwicklung aufrechterhält und zugleich in jeder Note modern erscheint. Brahms‘ Klavierkonzert hebt sich von den Virtuosenwerken der Zeit ab, das Klavier wird nicht zur Schau gestellt, sondern gliedert sich in einen symphonischen Kontext ein, der bezwingt. Leichter zu spielen ist es für den Pianisten nicht, ganz im Gegengeit; nur entspringen die Anforderungen der Musik selbst und nicht der Idee der solistischen Präsentation. Es finden sich erstaunlich viele Techniken wieder, die aus dem Schaffen Chopins hervorgehen und in dessen Etüden und Balladen kultiviert werden.

Zu Beginn des Kopfsatzes werfen Goerner und Otaka formale Fragen auf, untergliedern die einzelnen Abschnitte und setzen immer wieder neu an. Wo ist da die Entwicklung und Kontinuität? Antworten erhalten wir nach und nach, Stück für Stück bauen die Musiker etwas auf, das Sinn ergibt. Jede neue Variation und Abwandlung fügt eine neue Facette hinzu und spätestens in der Reprise klart sich das Bild auf dieses architektonische Meisterwerk auf. Das Konzept funktioniert und erstaunt, denn nur wer aktiv mithört und versucht, zu verbinden, wird am Ende belohnt.

Wie symphonisch Brahms sein Klavierkonzert ansah, zeigt der zweite Satz: Vor dem langsamen Satz schiebt er ein Scherzo ein, welches üblicherweise nichts im Solokonzert, dafür sehr wohl etwas in der Symphonie zu suchen hat. Schwungvoll klingt es in der vorliegenden Aufnahme, energisch und kräftig. Der Wechsel vom d-Moll ins D-Dur sticht hervor, Otaka gibt ihm Gewicht. Noch mehr natürlich markieren die Musiker die Modulation nach Fis-Dur im langsamen Satz, wodurch überirdische Sphären erreicht werden und der Hörer durch diese plötzliche Magie ins Stutzen gerät. Allgemein nehmen die Musiker den dritten Satz zart und innig, behalten zeitgleich aber gewisse Bodenständigkeit. Leichtigkeit verströmt das Finale, wenngleich es im Hintergrund nicht weniger ernst oder geerdet ist. Der Rhythmus wird beschwingt umgesetzt, beinahe tänzerisch. Etwas mehr hätten die Kontraste hervorgehoben werden können, besonders bezüglich der Dynamik, wo gerade der Pianobereich noch leiser realisierbar wäre. Überzeugend ist der Anschlag Goeners, er markiert und setzt feine Akzente, erzeugt viele Schattierungen und Klangfarben. Goerner wie Otaka wissen um die weitläufige Form des Klavierkonzerts und halten stets den Kontext im Auge.

[Oliver Fraenzke, Mai 2018]

Die Musikgeschichte im Blick

Johannes X. Schachtner: Works for Ensemble, Ensemble Zeitsprung, Markus Elsner

Das Ensemble Zeitsprung unter Markus Elsner spielt Werke von Johannes X. Schachtner, der im Jahr der Entstehung dieser Aufnahme Artist in Residence des Ensembles ist. Auf dem Programm steht der Symphonische Essay von 2008 in der dritten Fassung von 2015/16, Aufstieg von 2010, Air – an Samuels Aerophon und Quatre tombeaux de vent von 2013 sowie die Inventionen III bis V, Hopscotch (2013), Canon – tribute to Johanna M. Beyer und Battery (je 2016). Die Gesangspartien in Quatre tombeaux de vent übernimmt Thérèse Wincent, Peter Schöne hören wir in Aufstieg.

 

Johannes X. Schachtner zählt zu den erfolgreicheren Komponisten der jüngeren Generation, er wird von Julia Fischer, Ulf Schirmer und anderen regelmäßig programmiert und tritt auch selbst als Dirigent auf die Bühne. Was Schachtner besonders macht, ist seine überragende Kenntnis der gesamten Musikgeschichte, die sich nicht zuletzt in seinem Werk wiederspiegelt. Der Komponist verirrt sich nicht in Modernismen und dem Bestreben nach ewig noch Neuerem, sondern reflektiert das Vorhandene und bezieht es mit ein. Und je mehr er dies tut, je „moderner“ werden auch die Werke, denn hier entfaltet sich etwas, das eigenständig und unerhört ist. Der Hörer kann es verstehen und nachvollziehen, wird nicht erschlagen von rein intellektuell erdachten Klangkonstellationen.

Am bezwingendsten erscheinen die frühesten beiden Werke dieser CD: Der Symphonische Essay und Aufstieg. Der symphonische Essay ist eine verdichtete Form einer ursprünglichen Kammersymphonie von 2008 und demonstriert noch immer symphonische Kontraste und Dualität. Errichtet ist sie über einer Idee aus Beethovens 8. Symphonie, die immer wieder herausscheint, sich aber nicht in den Vordergrund drängt. Die Form ist gereift und kompakt, schlüssig in ihrer Ausdehnung. Der Komponist beweist in diesem Werk, wie viel er von Instrumentation und dem Miteinander der Musiker versteht, wobei er sich nicht scheut, auch einmal tonal zu werden. Aufstieg basiert auf Texten von Johanna Schwedes und legt den Fokus darauf, diesen in der Musik abzubilden. So lässt Schachtner die Worte verständlich klingen und bereichert sie durch Musik, fragmentiert und setzt wieder zusammen. Dabei unterstreicht er die wichtigen Passagen subtil und überakzentuiert sie nicht, was einem kontinuierlichen Fluss durch die Texte zugutekommt. Die Sopranpartie in den Quatre tombeaux de vent ist da schwebender und umnebelt, anders als die klare und geerdete Baritonstimme in Aufschwung. Interessant sind auch die Inventionen (tatsächlich in ihrer ursprünglichen Bedeutung, wie wir sie von Bach kennen), in denen je das Schlagzeug eine tragende Rolle spielt. In jeder Invention wird es von neuen Perspektiven betrachtet und so erhalten wir ein Bild auf dieses Instrument, das Jahrhundertelang nur in orchestralen Kontexten wichtig war und erst im 20. Jahrhundert als Solist zum Vorschein trat.

Das Ensemble Zeitsprung zeichnet sich durch seine Gewissenhaftigkeit aus: Markus Elsner und seine Musiker wissen, wie wichtig und bedeutend ihre Aufgabe ist und, dass gerade bei moderner Musik eine schlechte Aufnahme auf das Stück und nicht die Musiker zurückgeführt wird, wodurch das Werk auf diese Weise schnell zugrunde gehen kann. Entsprechend viel Arbeit und genaue Reflexion stecken in der Darbietung der Musiker und wird hörbar. Mehr sogar, wir nehmen nicht nur wahr, dass die Musik verstanden wird, sondern, dass sie eine Herzensangelegenheit für alle Beteiligten ist. So wird die Musik lebendig, frisch und unverbraucht dargeboten, die Freude an ihr überträgt sich unweigerlich auf den Hörer.

[Oliver Fraenzke, Mai 2018]

 

Etwas in die Ewigkeit hinaus senden!

Interview mit der Geigerin So Jin Kim zum aktuellen CD-Debut „The Grand Duo“

Die Geigerin So Jin Kim bildet schon lange mit dem Pianisten David Fung eine symbiotische Einheit. Ganz bewusst haben sie sich mit einem CD-Debut viel Zeit gelassen. Im Falle des neuen Tonträgers war alles eine Gefühlsentscheidung. Ungewöhnlich ist das Programm allemal, wo Werke von Richard Strauss, Franz Schubert und des israelischen Gegenwartskomponisten Avnar Dorman einen Spannungsbogen wie keinen anderen bilden. 

So Jin Kim, die in Korea geborgen wurde, in den Staaten aufwuchs und heute abwechselnd in New York und Hannover lebt, bekundete im Gespräch, was ihr wichtig ist.

Erzählen Sie mir etwas über die Vorgeschichte dieser Produktion. Was war die Grundidee für diese Stücke-Abfolge?

Dieses Programm wird durch die Sonate von Richard Strauss zusammengehalten und das hat seine besondere Vorgeschichte. Als ich nach Deutschland kam, habe ich mit hiesigen Orchestern, unter anderem dem der Bayerischen Staatsoper musiziert. Ich war wirklich sehr beeindruckt von dieser Tradition und diesem Klang – vor allem, was die Blechbläser hier können. Und dann haben mich Strauss und Wagner sehr berührt. Ich bin seitdem regelrecht infiziert von der Orchestermusik von Richard Strauss. Deshalb musste eine Sonate von ihm auf die neue CD kommen. Die Violinsonate E-Dur, Opus 18 ist die letzte von Strauss in klassischer Form durchkomponierte Sonate, und sie hat riesige Parts sowohl für Klavier und Violine. Dieses Stück gibt der CD das Fundament. Schuberts A-Dur-Sonate, die auch den Untertitel „Grand Duo“ trägt, passte hierzu, obwohl dieses Stück einen großen Kontrast zu Strauss markiert. Aber dann sollte auch noch ein zeitgenössisches Stück wie ein Bindeglied funktionieren. Hier bot sich Avner Dormans zweite Sonate aus dem Jahr 2008 an. Ich kenne Avner Dorman und seine Kompositionen seit vielen Jahren und wir haben zusammen an der Juillard School studiert. Ich habe Avner dann nach Empfehlungen gefragt. Und von denen gefiel mir diese zweite Sonate am besten.

Auf das spätromantische Stück folgt Dormans zeitgenössische Komposition, bevor Schubert das Finale bildet. Wie kam es zu diesem etwas ungewöhnlichen, weil un-chronologischen Spannungsbogen?

Es hat sich so ergeben. Ich habe sehr lange mit mir über die Reihenfolge gerungen. Ich wollte die CD nicht mit dem modernen Stück beginnen, aber auch nicht beenden. Strauss und das moderne Stück enden beide mit einem exaltierten, fast wilden Part. Dormans Sonate beginnt mit einem sehr spirituell getragenen Teil, der fast wie ein Gebet wirkt. Da sehe ich eine Gemeinsamkeit, weswegen sie hier aufeinander folgen. Schuberts Sonate bekam dadurch zwangsläufig die Rolle eines Finales. Sie markiert ohnehin eine andere Welt für sich. Wer bei Schubert tief zuhört, der vergisst alles, was vorher zu hören war. Gerade dieser Aspekt hat zur Entscheidung für diese Abfolge geführt.

Haben Sie ein besonderes Klangideal?

Musik kann nicht existieren ohne Klang. Wenn ich mich in ein Stück hinein vertiefe, versuche ich, eine ganz spezifische Atmosphäre zu erzeugen. Die kluge Gestaltung des Klanges lässt im Idealfall  jene Welt erstehen, die der Komponist im Sinn hatte. Deswegen ist nur eine Spieltechnik wirklich großartig, wenn man sie nicht mehr als solche wahrnimmt. Erst sobald man nicht mehr bewusst drauf achtet, wie schnell die Finger sich bewegen, wirkt die Musik auf einer tieferen Ebene. Das ist meine Intention, wenn ich den perfekten Klang für eine Komposition suche. Und daraus schließlich Bilder, Gedanken, Emotionen hervor gehen…

Ich frage nicht zuletzt deshalb, weil Sie Ihr Instrument in Avner Dormans Sonate so ganz anders, als bei Schubert und Strauss klingen lassen. Was wollten Sie zum Ausdruck bringen?

Dormans zwei Stücke kombinieren einen Ruhezustand mit einem exaltierten, intensiven Part, bei dem Leidenschaft auch etwas mit Leiden zu tun hat. Der erste Satz ist wie ein Gebet. Der zweite umso mehr ein Ausbruch, der spieltechnisch und auch rhythmisch ins Extreme geht. Da entsteht ein rauher Klang, den man bloß nicht wieder glätten sollte. Es geht darum, mutig und extrovertiert zu sein. Hier lebt ein ganz starkes Bewusstsein für Energien.

Dormans Stück überwindet mit ausgeprägten modalen Parts ja auch die Vorherrschaft von Dur und Moll, die für Schubert und Strauss ja noch relativ verbindlich ist. Außerdem gibt es viele Fugato-Parts. Welche Funktion haben solche Kontraste in diesem Programm?

Ich mag sehr an Avners Dormans Kompositionsstil, dass er sehr zeitgenössisch ist, sich trotzdem auch sehr traditioneller Verfahren bedient. Die sogar älter als bei Schubert und Strauss sind.

Öffnet Avner Dormans Sonate hier ein Fenster? 

Auf jeden Fall. Das macht er sehr mutig und direkt, während es bei Strauss und Schubert viel vorsichtiger passiert.

Strauss hat seine Sonate im Zuge einer großen Verliebtheit in seine spätere Frau komponiert. Dorman legt seiner Sonate zwei Liebesgedichte zu Grunde. Gibt es bei Schuberts „Grand Duo“ ähnliche Bezüge?

Bei Strauss und Dorman sind solche Hintergründe sicher aufschlussreich. Schuberts Musik ist in meinem Empfinden aber so selbsterklärend, dass sich jede Diskussion über programmatische Hintergründe erübrigt. Seine Tonsprache hat eine so starke lyrische Dichte, dass ohnehin alles in jedem Moment „lovely“ ist.

Sie haben in den letzten Jahren eine beeindruckende Karriere voran getrieben. Hätten Sie ein solches Programm bereits in einem früheren Stadium erarbeiten und vor allem aufnehmen können bzw. wollen?

Es war gut, sich für das CD-Debut Zeit bis heute zu lassen. Ein Aufnahme zu machen ist eine sehr verantwortungsvolle und endgültige Sache. Es wird etwas produziert, das ewig ist. Als Musikerin lebe ich in einem Zustand ständigen Wandelns und Weiterentwicklung. Selbst während eines Aufnahmeprozesses ändert sich die Wahrnehmung ständig. Da ist es ein sehr gewichtiger Schritt, etwas in die Welt auszusenden, was nicht mehr veränderbar ist.

Wie lange arbeiten Sie schon mit Ihrem Pianisten David Fung zusammen?

David und ich sind schon lange freundschaftlich und künstlerisch miteinander verbunden. Daher war es in jedem Moment klar, dass wir uns für ein Programm entscheiden, das einen fantastischen Pianisten braucht, der hier sein ganzes Können entfaltet. Auch David mag dieses Programm sehr.

Sie hatten eingangs schon über Ihre Erfahrungen mit Orchestern geredet. Sie treten ja nicht nur als Solistin vor Orchestern auf, sondern sitzen auch selbst am Pult, zum Teil als Konzertmeisterin. Welche Erfahrungen wirken daraus auf das solistische Spiel?

Eigentlich spielt es keine Rolle, in welchem Medium jemand musiziert – wenn es doch um die Musik an sich geht. Musizieren ist einfach Musizieren. Orchesterpraxis vermittelt aber die Einsicht, dass jeder Musiker immer ein Part innerhalb eines großen Ganzen ist – so wie ein Detail in einem großen Bild. Jeder alleine kann das Stück Musik nicht erschaffen. Diese Erkenntnis bereichert auch das Solistendasein immens, vor allem das Verständnis über die eigene Rolle.

Sie leben in Europa, Amerika und sind auch in Ihrer ursprünglichen Heimat Asien viel gefragt. Welche Unterschiede erleben Sie? 

Es ist in jedem einzelnen Land unterschiedlich. Das trifft schon für Europa zu. Vor allem in Deutschland fühle ich eine tiefe Verwurzelung der klassischen Musik in der eigenen Kultur. Die hohe Kenntnis des deutschen Publikums ist in jedem Moment spürbar. Wenn in deutschen Konzerten das Publikum wirklich überwältigt ist und dies auch zeigt, bedeutet dies sehr viel. Das ist ein Statement mit Gewicht. In Amerika ist immer ein hoher Level an Enthusiasmus da. Amerikaner trauen sich gerne, richtig aus dem Häuschen zu sein, was hier fast schon Normalzustand ist. Auch das ist immer eine schöne Erfahrung. Und in Asien, vor allem in Korea ist vieles in einer Entwicklung begriffen, die Hoffnung weckt: Das Interesse an klassischer Musik wächst seit Jahren unaufhörlich.
[Interview geführt von Stefan Pieper, 2018]

CD:

The Grand Duo: So Jin Kim (Violine), David Fung (Piano)

 

Konzert-Tipp:

So Jin Kim und David Fung gastieren am 12. Juni im Pianosalon Christophori Berlin

 

 

 

 

 

The Grand Duo: So Jin Kim und David Fung legen mit ihrer Debut-CD ein überzeugendes Reifezeugnis ab

The Grand Duo – Violinsonaten
Genuin Classic, GEN 18491; EAN: 4 260036 253914

Recorded at Mendelssohn-Saal, Gewandhaus, Leipzig, Germany January 2–4, 2017 Recording Producer/Tonmeister: Holger Busse

 

Die Geigerin So Jin Kim und der Pianist David Fung haben bei ihrem CD-Debut auf die eigene innere Stimme gehört, was auf ein tief ehrliches künstlerisches Statement hinaus lief. So Jin Kim, eine in den USA aufgewachsene gebürtige Koreanerin und David Fung, ihr ebenfalls aus Korea stammender Partner am Klavier nahmen eine durch und durch lebensbejahende Sonate von Richard Strauss zum Ausgangspunkt eines künstlerischen Projekts. So Jin Kims persönliche Bekanntschaft mit dem israelischen Komponisten Avnar Dorman machte einen zeitgenössischen Gegenpol für die Debut-CD geradezu zwingend. Zum Finale dieses Programms soll Musik dort weiter machen, wo die Worte definitiv am Ende sind – in Franz Schuberts Sonate A-Dur D 575.

Bewusst haben sich die beiden jahrelang Zeit gelassen mit dieser ersten Veröffentlichung und das ist gut so. In Zeiten eines überfluteten Tonträger-Marktes sollte so ein Unterfangen im besten Sinne „für die Ewigkeit“ geplant sein, wie es So Jin Kim im Gespräch betont.

 

Diesem Anspruch werden die beiden hochmotivierten Interpreten auf jeden Fall gerecht: Da trumpft die Sonate opus 18 von Richard Strauss mit ungestümer Lebendigkeit auf, gehen berührend intime Momente mit Ausbrüchen voller Überschwang einher – nicht nur wenn es mit einem tänzerischen Finale schließlich in die Zielgerade geht. Was gibt es nicht in diesen „alten“ Formen noch zu sagen, wenn man sie, als Komponist der ausgehenden Spätromantik, aber auch im Heute als hellwacher Interpret, so meisterhaft beherrscht!

 

So Jin Kim und David Fungs Klangwelt ist frei von Effekthascherei. Das traumwandlerische Können steht in jedem Moment im Dienst der höheren Sache. So Jin Kims Ton blüht intensiv auf und ist grenzenlos wandlungsfähig. Mal ist er mit erregendem Vibrato aufgeladen und lotet glasklar die tiefsten Ausdrucksdimensionen der Musik aus. David Fung liefert bei all dem in jedem Moment das zuverlässige Rückgrat und bietet, wenn angezeigt, zupackend Paroli.

 

Man könnte denken, dass diese beiden Interpreten mit der berühmten „Sandwich-Dramaturgie“ kokettieren, wenn sie Avnar Dormans Sonate Nr. 2 aus dem Jahr 2008 in die Mitte des Programms stellen. Aber darum kann es nicht gehen, denn dieses sehr unmittelbar auf den Punkt kommende Stück Musik aus dem 21. Jahrhundert braucht sich wahrlich nicht zu verstecken! Part eins kommt sphärisch, regelrecht spirituell daher. So Jin Kims Violinton ist jetzt in andere Farben gekleidet und kommt sehr vibratoarm und schwebend daher. Dormans Musik ist neu, wirkt zuweilen latent exotisch, weil sie auch den Blick auf östliche Kulturen pflegt und setzt zugleich auf alte, ewig gültige Prinzipien – als da wären polyphone Fugato-Parts und modale Tonskalen, die – vor allem im explosiven zweiten Satz frei wildern. So Jin Kims Spiel bleibt auch in Momenten ekstatischer Wildheit lupenrein präzise. Selbst die artistischsten Läufe in hohen Regionen klingen so unangestrengt, als wenn es die erste Lage wäre. Liebe ist nicht immer nur ein Spaß, sondern es geht auch heftig konfrontativ zur Sache manchmal. So will es die programmatische Idee, welche Avnar Dorman diesen Stücken zu Grunde legte.

 

Das Bekenntnis zu ehrlicher, tiefer Empfindung, wofür Franz Schubert ewig gültige Töne gefunden hat, soll Anliegen im letzten Teil der CD sein. Und was passt besser dazu, als die emotional so überaus reichhaltige Violinsonate A-Dur! Das Duo verlieht auch dieser so reichhaltigen, in vier kolossalen Sätzen eine riesige Empfindungs-Skala auslotenden Tonsprache eine zeitlose Relevanz, um damit höhere Dinge auszudrücken.

 

Fazit: Mit ihrer Debut-CD dokumentieren So Jin Kim und David Fung im richtigen Moment ein hervorragendes Bewusstsein für künstlerische Nachhaltigkeit.


[Stefan Pieper, Mai 2018]

­Durchs Kaleidoskop nach Lateinamerika

REC Entertainment Group; EAN: 9 007970 012430

Die Gruppe Spirituosi verbindet lateinamerikanische und klassisch-europäische Musik auf ihre ganz eigene Art und Weise. Auf ihrer CD Souvenir Latino hören wir die drei Schwestern Nathalie, Evelyn und Nicole Peña Comas je als Sopranistin, Flötistin und Cellistin sowie die beiden Gitarristen Damien Lancelle und Gonzalo Manrique. Nicht mit an Bord ist der Bassist der Gruppe, Rubén Sánchez.

Spirituosi vermitteln uns lateinamerikanische Musik mit Charme und Musizierfreude. Aus drei Ländern stammen die sechs Musiker, von denen fünf auf vorliegender Aufnahme zu hören sind: Die drei Schwestern Peña Comas kommen aus der Dominikanischen Republik, Damien Lancelle ist Franzose und Gonzalo Manrique hat seine Wurzeln in Peru. So ergibt sich eine Musik, die Charakteristika aller drei Länder verschmelzt: Für uns Europäer macht der französische Einfluss die Musik zugänglicher und leichter, ohne dabei die treibende rhythmische Kraft der karibischen und lateinamerikanischen Stile abzuschwächen. Hinzu kommt, dass die Künstler klassisch ausgebildet sind und sich entsprechend mehr an ein festes Notenbild binden, als in der Musik ihrer Heimatländer in Südamerika üblich, wo die Improvisation als Stilmittel vorherrscht. Die meisten der Stücke wurden von den beiden Gitarristen arrangiert, die übrigen von Juan Carlos Paniagua. In jedem Titel erleben wir immer neue Facetten der Verbindung zwischen Europa und Lateinamerika, von ganz typischen Standards aus den südamerikanischen Ländern bis hin zu Bearbeitungen von Gabriel Fauré, dessen französischer Flair in dieser Zusammenstellung zunächst überrascht, im Gesamtkontext aber dann doch schlüssig wird. Faszinierend gestaltet sich die Synthese in Bach-ata von Damien Lancelle, die erahnen lässt, welche Musik Bach geschrieben hätte, wäre er in Peru zur Welt gekommen.

Der Spaß und die Lust an der Musik stehen hoch bei Spirituosi, wobei sie dabei keinesfalls die technischen Ansprüche vernachlässigen: Langjährige Erfahrung im Solo- und Ensemblebereich bleibt unüberhörbar. Die Stimme von Nathalie Peña Comas glänzt regelrecht in allen Lagen, hat dabei diesen so unverkennbar südamerikanisch-spanischen Kolorit inne, der unmittelbar von Sonne, Strand und Tanz träumen lässt. Evelyn Peña Comas ziert virtuos aus und verleiht der Sopranpartie eine gleichwertige Oberstimme. In wichtigen Passagen setzt sie viel Druck in ihre Stimme, wenngleich sie auch ohne diesen gut hörbar wäre. Die Tiefe erfüllt Nicole Peña Comas mit Vielseitigkeit und Lebendigkeit: Was wäre Latin ohne groovenden Bass, hier phänomenal auf das Cello übertragen. Fundament und Stütze – man möchte sagen Basso Continuo – bilden die beiden Gitarristen Damien Lancelle und Gonzalo Manrique. Ihre Stimmen sind nicht wegzudenken von dieser Art der Musik, sie erst verbinden die Einzelteile zu einem Ganzen, führen das Geschehen aus dem Mittelfeld. Mitgerissen hat mich der Stereoeffekt, dass die beiden Gitarren in der Aufnahme von unterschiedlichen Seiten erklingen – hierdurch entsteht Fülle und Vollständigkeit, die beglücken.

[Oliver Fraenzke, Mai 2018]

Saint-Saëns in Perfektion

Naxos, LC 05537; EAN: 747313347872

Camille Saint-Saëns: Piano Concertos 4 & 5 (Egyptian); Romain Descharmes (Klavier), Malmö Symphony Orchestra, Marc Soustrot

Wie nach den ersten beiden CDs nicht anders zu erwarten, wird auch die dritte CD der neuen Naxos-Gesamtaufnahme sämtlicher Werke für Klavier & Orchester von Camille Saint-Saëns höchsten Ansprüchen gerecht. Diesmal erklingen mit Romain Descharmes und dem Malmö Symphonieorchester unter Marc Soustrot die Klavierkonzerte Nr. 4 & 5.

Für meinen Geschmack stellen die beiden letzten Klavierkonzerte von Camille Saint-Saëns gleichzeitig auch den Höhepunkt seines Schaffens für diese Gattung dar. Das vierte in c-Moll (1875) übertrifft die anderen Konzerte an Tiefgang und formaler Raffinesse recht deutlich. So wird in diesem zweisätzigen Werk, das einige Konzepte der berühmten Orgelsymphonie (Symphonie Nr. 3) vorwegnimmt, etwa das schwer lastende Hauptthema des Beginns später als Scherzo paraphrasiert. Vielleicht wegen des äußerlich weniger auftrumpfenden Klavierparts, der streckenweise nur begleitende oder kommentierende Funktion hat, aber dennoch allerhöchste technische Anforderungen stellt, hört man das Werk öffentlich viel zu selten. Dem fünften Konzert (1896) hingegen – da in Luxor komponiert, auch das „Ägyptische“ genannt – ist stets ein Publikumserfolg garantiert, vor allem wegen des ungewöhnlich farbigen, stimmungsvollen zweiten Satzes, der keineswegs nur Anklänge an arabische, sondern auch an javanische (Gamelan) oder südosteuropäische Musik (Nachahmung des Cymbaloms durch das Klavier) enthält.

Auch hier zeigt der Vergleich mit meiner bisherigen Referenzaufnahme – Jean-Philippe Collard unter André Previn (EMI 1988) – die außerordentliche Qualität der Neueinspielung. Beim fünften Konzert folgen beide Darbietungen demselben Konzept; erstaunlich, dass sich sämtliche Tempi bis auf den Metronomstrich ähneln. Romain Descharmes‘ famose Anschlagskultur steht auf dem gleichen Niveau wie Collard, sowohl bei den hochvirtuosen wie auch den lyrischen Passagen: Man höre nur die Delikatesse der beiden Stellen im 2. Satz, in denen Saint-Saëns durch Quintmixturen einen völlig denaturierten Klavierklang generiert. Es sind wirklich nur unbedeutende Details, die mal dem einen, mal dem anderen Pianisten besser geraten. Wie schon bei den vorherigen CDs überzeugt aber das Orchester aus Malmö durch mehr Farbigkeit und Feinschliff, vor allem auch hinsichtlich der Dynamik. Hier hat Marc Soustrot offensichtlich erfolgreicher geprobt. Dazu kommt noch, dass die EMI-Aufnahme gerade beim ‚ägyptischen‘ Konzert zu viel Hall hat; die Naxos-Toningenieure erreichen hier eine deutlich bessere Transparenz, auch einen profunderen Bass, der aber nie aufdringlich wirkt.

Das vierte Konzert gelingt Collard eine Spur eloquenter. Er nimmt den Klavierpart im ersten Satz nicht so stark zurück wie Descharmes, vermag trotz der starken Integration ins Orchester eine klare Entwicklung aufzuzeigen. Die arpeggierte Choralstelle gegen Ende begreift er nicht nur vom Bass her, sondern arbeitet auch die Bedeutung der Oberstimme heraus. Der komplexere zweite Satz unterscheidet sich wiederum allenfalls in Nuancen. Auch hier wird die den letzten Abschnitt des Konzertes bildende liedhafte Melodie von Descharmes und Soustrot bereits verhaltener begonnen, die Steigerung zur Schlussapotheose gerät weniger affirmativ, dafür vollkommen natürlich und unaufgesetzt.

Summa summarum präsentiert Naxos mit den drei CDs dieser Serie eine neue Referenzaufnahme mit wirklich perfekten Interpretationen. Die in den letzten Jahren etwas vernachlässigten Konzerte des heute eher als konservativ abgetanen Franzosen werden so entgegen gängiger Vorurteile als deutlich innovativer dargestellt – manches weist ja etwa schon auf Rachmaninoff – und ihre hohe musikalische Qualität präzise umgesetzt. Nicht nur für Saint-Saëns-Neulinge ein Muss!

[Martin Blaumeiser, Mai 2018]

Zwei Orchester

Matinée „Familienkonzert der Gung’l-Orchester“ am 10. Mai 2018 um 11 Uhr im Prinzregententheater

Bad Reichenhaller Philharmoniker und Symphonieorchester Wilde Gungl München
Dirigenten: Christian Simonis und Michele Carulli; Moderation: Dr. Arnim Rosenbach;
Solisten: Yan Zhang (Violine); Michele Carulli (Klarinette)

©M. Hallensleben
©M. Hallensleben

Was ist schöner als ein Orchester? Nun, natürlich zwei, davon eins, die Wilde Gungl aus München und eins, die Bad Reichenhaller Philharmoniker aus Reichenhall! Und was für ein prächtiges Bild, diese vielen, vielen Musikerinnen und Musiker mit ihren beiden Dirigenten Michele Carulli und Christian Simonis. Nach einigen Anmerkungen zur Geschichte und zur Verbindung über den Dirigenten und Komponisten Josef Gung’l, den Begründer, begannen sie gemeinsam mit einem Festmarsch von Richard Strauss (1864–1949) von 1888 in strahlendem C-Dur. Schon das zweite Stück, wieder von Strauss, dem damals 13-jährigen Wunderkind, einer Orchester-Serenade, verblüffte durch seine raffinierten Orchesterfarben und lassen die spätere Meisterschaft durchaus erahnen. Wie üblich moderierte Konzertmeister der Wilden Gungl Arnim Rosenbach auf seine charmante Art und sagte als nächstes Stück vor einer Pause die Ouvertüre zur Oper „Die diebische Elster“ von Gioachino Rossini (1792–1868) an. Die beiden Orchester liefen unter dem Dirigat von Maestro Carulli zur Höchstform auf. Mit vollem Einsatz – wie wir es kennen – feuerte er seine Musikerinnen und Musiker an. So lebendig, kraftvoll und begeisternd habe ich dieses Stück noch nie erlebt, großer Jubel und verdienter Beifall auch für die solistischen Passagen und ihre Spielerinnen und Spieler. Nach der Pause übernahm gleich Maestro Simonis die Leitung und begeisterte mit einem Galopp von Josef Gung’l (1809–1889), bevor Michele Carulli als Solist an „seinem“ Instrument, der Klarinette, das zauberhafte Adagio von Heinrich Joseph Baermann (1784–1847) mit den Streichern zusammen anstimmte. Baermann, selber ein hochberühmter Klarinettist und Komponist des 19. Jahrhunderts, wusste dem Instrument in allen Lagen berückende Musik abzugewinnen. Beide Orchester wieder gemeinsam musizierten danach zwei Stücke vom Gründer Gung’l, einen Isar-Lieder-Walzer Opus 209, „den freundlichen Bewohnern Münchens gewidmet“ und einen rasanten Galopp, den „Narrengalopp“ Opus 182. Die Bandbreite des Konzertes reichte von Rossini bis Charles Kálmán (1929–2015), dem Sohn des berühmten Emmerich Kálmán, der für Sologeige und Streichorchester ein Stück namens „Nostalgie“ komponierte. Die Konzertmeisterin der Reichenhaller, Frau Yan Zhang, spielte mit intensivster Tongebung, aufs aufmerksamste begleitet von ihren Mitmusikerinnen und Mitmusikern dieses melancholisch-melodische Kleinod. Rauschender Beifall, bevor es mit Maestro Carulli wieder zum letzten Programmpunkt ging, dem Walzer und Galopp aus der Suite „Maskerade“ vom armenischen Komponisten Aram Chatschaturjan (1903–1978). Auch hier zogen die Spielerinnen und Spieler beider Orchester noch einmal alle Register ihres Könnens, wieder mit unermüdlichem Einsatz von Leib und Seele des Dirigenten. Nach dem tosenden Beifall die erwünschte und geforderte Zugabe: „Unter Donner und Blitz“, Schnellpolka von Johann Strauß (1825–1899)! Blumen über Blumen, Beifall über Beifall und das Ende eines gemeinsamen Konzertes, von dem wir uns alle eine weitere Zusammenarbeit erhoffen und wünschen. So ein tolles Feiertags-Geschenk für die ganze Familie, vielen Dank allen Beteiligten auf, vor und hinter der Bühne!

           

[Ulrich Hermann, Mai 2018]

 

Wiedersehen macht Freude

Arthaus Musik; EAN: 4058407090854

Die neue 6-DVD-Box von Arthaus Musik macht erstmals fünf der legendären Gesprächskonzerte „Wege zur Neuen Musik“ mit dem Dirigenten Gerd Albrecht, die als Education-Projekt zwischen 1986 und 1995 vom SFB produziert wurden, der Öffentlichkeit zugänglich. Ein sechstes Konzert mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin für den RBB aus dem Jahr 2011 erscheint gewissermaßen als Nachtrag. Diese Präsentationen dürfen auch heute noch als Sternstunden in Sachen Musikvermittlung gelten.

Der 2014 verstorbene Dirigent Gerd Albrecht hat sich in seiner langen Karriere nicht nur als hochrangiger Interpret von Werken der Romantik und Moderne – unvergessen die Münchner Uraufführung von Aribert Reimanns Lear – einen Namen gemacht, sondern auch als einer der Ersten intensiv um Musikvermittlung bemüht. Schon in den 1960er Jahren als GMD in Kassel gab es von ihm moderierte Erklärkonzerte für Kinder und Jugendliche. Höhepunkt dieses pädagogischen Einsatzes Albrechts waren insgesamt 14 Live-Gesprächskonzerte der Reihe „Wege zur Neuen Musik“, die zwischen 1986 und 1995 vom SFB produziert wurden, und in denen jeweils ein zeitgenössisches Werk vorgestellt und mit dem anwesenden Komponisten diskutiert wurde. Fünf dieser Produktionen und als Nachtrag ein ähnlich aufgemachtes Konzert von 2011 für den RBB erschienen jetzt – endlich! –  bei Arthaus Musik in einer aufwendigen DVD-Box: Pendereckis Partita, Henzes Barcarola, Ligetis San Francisco Polyphony, Kagels Quodlibet, Yuns Muak sowie Widmanns Elegie.

Über die musikalischen Qualitäten dieser Darbietungen brauche ich hier nur wenig Worte verlieren: Sie sind allesamt erstklassig. Das Besondere an Albrechts Gesprächskonzerten ist die Art seiner pädagogischen Herangehensweise. Die üblicherweise knapp 70-minütigen Konzerte beginnen damit, dass er zwei, drei Minuten des Anfangs eines Stücks erklingen lässt, dann im Laufe des Gesprächs mit dem auf der Bühne sitzenden Komponisten unter Beteiligung des Orchesters vor allem die komplizierte Klanglichkeit, mit der uns Neue Musik zumeist begegnet, detailliert auseinandernimmt; abschließend wird das Werk komplett gespielt. Was hier so fasziniert, ist Albrechts große Empathie, mit der er den Komponisten teils sehr persönliche Äußerungen entlockt, wie sich seine Begeisterung für raffinierte Instrumentationskunst unmittelbar auf die Zuhörer überträgt. Gleichzeitig gelingt es, das vorgestellte Stück so in den jeweiligen Schaffenskontext zu stellen, dass hier echte Komponistenporträts entstehen. Es ist das Timing, die Eloquenz seiner Erklärungen und die Wortwahl, die sich zwar an ein mit klassischer Musik vertrautes Publikum, jedoch nicht an Experten richtet, die nie langweilt und immer zum Staunen anregt.

Nebenbei kommen so auch ein paar nette Charaktereigenschaften und Eitelkeiten der Komponisten zum Vorschein, die bereits für sich als historische Dokumente sehenswert sind. So berichtet der nachdenkliche, aber auch immer sehr selbstsicher, quasi als linker Aristokrat, auftretende Hans Werner Henze beispielsweise, dass er beim Komponieren einer extremen Trompetenstelle der Barcarola rein von der Klangvorstellung nachher Kopfweh bekam. Auf der nächsten DVD erwähnt Albrecht dies gegenüber György Ligeti, worauf der mit seinem unnachahmlich verschmitzten Humor begeistert diese Steilvorlage aufnimmt: „Also, ich habe sehr selten Kopfschmerzen.“

Vielleicht mag dieses Format einem heutigen, jungen Publikum dann doch immer noch zu schulmeisterlich, zu antiquiert vorkommen. Ich wüsste jedoch nichts, was da live auf dem Gebiet moderner Musik herankäme, einschließlich Sir Simon Rattles Reihe „Die Revolution der Klänge“. Die DVDs können nicht mehr als die damals übliche TV-Qualität aus den alten MAZ-Formaten (stereo, 4:3) herausholen. Problematisch ist jedoch wie immer die Umwandlung von PAL interlaced ins NTSC-Format. Dafür kommt die Box mit einem zweisprachigen, 200-seitigem gebundenen Buch, das ganz exzellent recherchiert ist und sich neben den dargebotenen Werken ebenso umfänglich dem pädagogischen Vermächtnis Gerd Albrechts widmet. Dies entschädigt auch für den etwas hohen Preis. Schade, dass man nicht noch mehr dieser 14 Sendungen ausgraben konnte, wohl auch wegen ungeklärter Copyright-Fragen. Da wären noch ein paar gute dabei gewesen, etwa Tippett und Reimann. Trotzdem kann man Arthaus nicht genug für diese längst überfällige Veröffentlichung danken: meine ausdrückliche Empfehlung, nicht nur an Musikpädagogen.

 

[Martin Blaumeiser, Mai 2018]

Spanisch-jüdische Gesänge

Goldstein / Nemtsov: hänssler classic, HC18003; EAN: 8 81488 18003 9

Levitin / Wagner: Rondeau, ROP6155; EAN: 4 037408 061551

        

Gleich zwei Gesamteinspielungen von Alberto Hemsis Coplas Sefardies laufen gerade an: Sie enthalten die ersten vier der insgesamt zehn Bände mit jeweils sechs Gesängen. Die ersten beiden Sammlungen resultierten aus Hemsis Reisen nach Rhodos, die folgenden basieren auf Melodien, welche der Komponist in Thessaloniki sammelte. Vorgetragen werden die Lieder einmal (aufgenommen: 23.-26. Oktober 2017) von der Sopranistin Tehila Nini Goldstein und von Jascha Nemtsov am Klavier sowie einmal (9.-12. Oktober 2017) vom Bariton Assaf Levitin und dem Pianisten Naaman Wagner.

Das Interesse für die Musik seiner ererbten Kultur erwachte bei Alberto Hemsi nicht etwa im Kreise seiner jüdisch-sephardischen Familie, sondern während seines Studiums in Mailand. Ein Professor behauptete, dass die jüdischen Melodien verloren gegangen seien –  Anreiz genug für Hemsi, ihm das Gegenteil zu beweisen. Seine Forschungsreisen, die in den frühen 1930er Jahren begannen, führten ihn unter anderem nach Rhodos, Thessaloniki, Alexandria, Anatolien und Istanbul. Hemsi sammelte 232 Texte und 68 Melodien, wobei die unbegleiteten Lieder auf Ladino gesungen wurden, der heute beinahe ausgestorbenen Sprache spanischer Juden. Der Komponist griff in die Quellen ein, passte sie an das westliche Takt- und Tonartsystem an und schuf der gängigen Vortragspraxis entsprechend aufführungsgerechte Fassungen. Dazu unterlegte er ihnen Klavierbegleitung, welche entstehende Bilder und Emotionen verstärkt und untermalt.

Die Aufnahme von Assaf Levitin und Naaman Wagner verfolgt in erster Linie das Ziel, die vorliegenden Noten wiederzugeben und Vortragsanweisungen miteinzubeziehen. Es existiert kein Augenmerk darauf, sich individuell in die spanisch-jüdische Welt einzuleben und echten Ausdruck zu entfalten. Verständlich wird natürlich die Synthese spanischer Folklore und jüdischer Tradition, in die Elemente des Arabischen, Türkischen und bisweilen sogar Italienischen hineinspielen. Diese Erkenntnis jedoch verdanken wir weit mehr den Kompositionen als den darbietenden Musikern. Levitin intoniert sauber, doch sein Vortrag ist gleichförmig und ohne stimmliche Mannigfaltigkeit. Wagner spielt distanziert und zurückgehalten, meist trocken.

Ganz anders ist da die Aufnahme mit Tehila Nini Goldstein und Jascha Nemtsov realisiert: Die Musiker lassen sich deutlich mehr Zeit für die Lieder, auf ihre CD passen lediglich 20 der Lieder (bei Levitin 24 in insgesamt kürzerer Zeit). Das improvisatorische Element gewinnt mehr an Bedeutung, ebenso der Fokus auf die jüdischen Klangwelten. Hemsi schrieb selbst über sein Werk: „Genauso, wie die Poesie ihre Geschichte in unzählbaren Versen erzählt, singt die Musik ihre Geschichte in Klängen ohne Taktstriche. […] Deshalb zeichnet sich dieser Gesang durch Improvisation und ständig veränderte Variation aus. […] Niemals aufgeschrieben oder notiert, ist es ein natürlicher Gesang, erdacht anhand von Klängen und nicht Noten.“ Das Zitat spiegelt sich in vorliegender Einspielung, die sich eben die nötigen Freiheiten nimmt, um die klingende Authentizität zu beschwören. Goldstein singt inbrünstig, lyrisch, mit großer Ausdrucksbandbreite und dynamisch fein ausgewogen. Aufmerksam wirkt Jascha Nemtsov mit, hört wach zu und setzt um, schafft dabei eine funktionierende Symbiose mit der Sängerin. Hier erspüren wir ein Gefühl für das Leben hinter diesen Liedern, Musik wie gesellschaftlicher Kontext werden uns nahe gebracht.

Raten würde ich dringend zu der Aufnahme mit Goldstein und Nemtsov. Die Gefahr ist groß, dass wir bei Levitin und Wagner die Schuld dafür, dass wir die Musik nicht verstehen können und sie uninspiriert vor sich hin plätschert, bei den Liedern selbst suchen. Dass jedoch diese Lieder ganz im Gegenteil sogar hohen Repertoirewert besitzen, wird klar, wenn wir Goldstein und Nemtsov zuhören.

[Oliver Fraenzke, April 2018]

Matinée der Virtuosen

Konzert mit der Kammerphilharmonie DACAPO; Sonntag, 30. April 2018

Georges Bizet (1838-1875):Adagietto (aus der Arlesienne-Suite Nr.1)
Joseph Haydn (1732-1809):  Cello-Konzert Nr. 2 D-Dur
Sergej Rachmaninow (1873-1943) Vocalise op 34 /14
Josef Suk (1874-1935): Serenade für Streichorchester op.6

Jiri Barta, Violoncello; Franz Schottky, Dirigent

Eine Bemerkung zu Beginn: Die Programmfolge hätte am besten genau umgekehrt heißen müssen! Warum? So schön die Streicherserenade op. 6 von Josef Suk auch ist, so vertraut die Vocalise op. 34 / 14 auch in der Strreicherfassung sich anhört – die Konzertmeisterin war berückend in ihrer Solorolle – so schön der rote Teppich, das Adagietto aus der „L’Arlesienne-Suite“ dem Solisten Jiri Barta auch den Auftritt vorbereitete, der absolute Höhepunkt dieser Matinée war denn auch das zweite Cello-Konzert von Altmeister Joseph Haydn.  Dieser hochmusikalische Energie, diesem Spiel mit den leisesten und den lautesten Tönen, den Registern auf dem Cello von ganz tief bis in himmlische Höhen, der rhythmischen Vertracktheit, der Melodien-Seligkeit zu lauschen, war ein berückendes, verzauberndes Erlebnis.

Was in diesem Konzert mit seinen drei Sätzen Jiri Barta zusammen mit der DACAPO Kammerphilharmonie unter ihrem Dirigenten Franz Schottky  so spielerisch zeigten, kam fast einer Umwertung des „alten“ Papa Haydn gleich. Solch eine intensiv mitnehmende Musik traut man gewöhnlicherweise – und  wie das bei Vorurteilen so üblich ist, fälschlicherweise –dem Klassiker Haydn gar nicht zu. Wie schon  bei der letzten Matinée, in der eins von zwölf Klavierkonzerten des Joseph Haydn erklang, und diese Musik völlig zu Unrecht im Schatten steht , so gilt das für diese Aufführung doppelt. Was da an Musik und Spiel – nach dem Schillerschen Motto: „Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“ – an Klanglichkeit und gegenseitigem  Sich-die-Bälle-zuspielen zu vernehmen war, nicht eine Sekunde Leerlauf, wie sie des Öfteren bei Solisten auftritt, wenn sie scheinbar nichts zu tun haben.

Solist Jiri Barta und Orchester und Dirigent waren auf einem musikalischen Niveau, das ich in dieser Form und Intensität lange nicht erlebt habe. Begeisterter Beifall, Bravos und eine Zugabe einer Sarabande von Johann Sebastian Bach, die dem ganzen noch die Krone aufsetzte.

Dass nach solch einem fast überirdischen Höhenflug der zweite Teil des Konzertes nicht mehr diese himmlischen Höhen erreichte, darauf sollte meine Anfangs-Bemerkung hinweisen. Natürlich war der Herkules-Saal bei sommerlichstem Wetter bis auf wenige Ausnahmen voll, natürlich war diese Matinée ein sonntägliches Geschenk, was uns da Franz Schottky mit der DACAPO Kammerphilharmonie präsentierte, aber dass dabei solch ein außergewöhnliches Erlebnis auf uns wartetet, wer hätte das –außer den Musikerinnen und Musikern – geahnt.

Um so gespannter warten wir auf die nächste Saison und die Überraschungen, die dann sich im Herkules-Saal an Sonntag-Vormittagen und zu den anderen Terminen ereignen werden.

[Ulrich Hermann, April 2018]

Die Oscars zeitgenössischer Musik

Am 3. Mai werden die alljährlichen Musik- und Förderpreise der Ernst von Siemens Musikstiftung im Herkulessaal München verliehen. Die Förderpreise gehen dieses Jahr an Clara Iannotta, Oriol Saladrigues und Timothy McCormack, den Hauptpreis erhält Beat Furrer. Jeder der Komponisten bekommt einen Portraitfilm von Johannes List, Furrer zudem eine Laudatio von Thomas Macho. Das Klangforum Wien spielt unter Leitung des Hauptpreisträgers Werke aller vier.

Der Ernst von Siemens Musikpreis ist die bedeutendste Auszeichnung für zeitgenössische Komponisten und Musiker, die sich neuer Klangkunst verschrieben haben. Die Verleihung ist jedes Jahr ein wahrer Festakt und Höhepunkt für die Ernst von Siemens Musikstiftung, die jährlich über 100 Projekte fördert.

Die drei Förderpreise gehen an junge, aufstrebende Komponisten, denen es ermöglicht werden soll, sich eine Zeit lang ohne Geldsorgen ihrer schöpferischen Arbeit zu widmen. Den ersten der auf 35.000 Euro dotierten Komponistenpreise verdient sich die aus Italien stammende Komponistin Clara Iannotta: Ihr Werk „troglodyte angels clank by“ von 2015 macht großen Eindruck. Es ist konzipiert für 13 verstärkte Instrumente und Objekte. Langsam schält sich der Klang aus anfänglichem Raspeln und Knattern, bis hohe Frequenzen die Überhand gewinnen und beinahe tinnitushaft im Ohr verankert bleiben. Iannottas Musik ist nicht zum Hören gedacht, sondern zum Erleben; und eben dies geschieht, wenn die verstärkten Frequenzen kontinuierlich aneinanderreiben, wobei sie ganz eigenartige Gefühle und Stimmungen wachrufen. Oriol Saladrigues geht naturwissenschaftlich an die Musik heran, weiß um die unumgängliche Imperfektion eines jeden künstlerischen Schaffens und kalkuliert diese genau mit ein. Ihn beschäftigt das gängige Topos, Zeit und Raum zu verbinden, zu verschieben und neuartig darzustellen, was auch sein heute uraufgeführtes Werk „tempo sospeso“ prägt. Ein Schmunzeln geht durch das Prinzregententheater, als der Portraitfilm von Timothy McCormack gezeigt wird, der ihn als sympathischen und offenen Klangforscher darstellt, der von einem Hornisten die abstrusesten Effekte abverlangt. Weder Töne, noch Rhythmen gäbe es in seiner Musik, sprach der Komponist, Klänge entstehen für ihn durch Kräfte, die gebündelt und geleitet werden, und nicht durch gezielten Einsatz von Instrumenten.

Saladrigues und McCormack bleiben mir musikalisch nur wenig präsent, ihr Eindruck verwischt schnell; Iannotta ist es, die mich fesselt und deren eigenartige Tonwelt mich gefangen hält. Es lässt sich schwer sagen, ob die Durchdringung und Wucht ihrer Aussage auch in Übertragungen oder Aufnahmen wirksam sind, doch live ergreift sie die Aufmerksamkeit und besticht in jeder Sekunde.

1992 wurde Beat Furrer ebenfalls mit dem Förderpreis ausgezeichnet, nun kehrt er als Hauptpreisträger zurück. Er entschied sich dazu, seine „Canti della tenebra“ nach Gedichten von Dino Campana für Mezzosopran und Ensemble aufzuführen, womit die Wahl auf ein echtes „Münchner“ Werk fiel, das am 7. Februar 2014 in der Muffathalle das Licht der Welt erblickte. Damals schon begeisterte mich der starke Bezug zwischen Text und Musik, die Verbindung zwischen dem italienischen Futuristen, der seine letzten Jahre in Irrenanstalten verbrachte, und der Klangwelt des österreichisch-schweizerischen Komponisten der Gegenwart. Auch wenn die fünf Lieder ursprünglich für Gesang und Klavier konzipiert waren, schreien sie doch nach größerer Besetzung: Mit dem großen Ensemble klingen sie beinahe symphonisch. Beat Furrer hat kein Verlangen danach, modern oder futuristisch zu sein, er bleibt er selbst und kreuzt seine verschiedenen Einflüsse zu einer persönlichen Musik, die einzigartig und unverkennbar ist. Hautnah erleben wir den Aufbau und die Gestaltung von Motiven, die sich durch die einzelnen Lieder ziehen und immer wieder auftauchen – der Komponist bezieht den Hörer mit ein. Musik und Text verschmelzen zu einer Einheit, Tanja Ariane Baumgartner fügt sich in das Geflecht der Instrumentalstimmen ein, ohne dass eine der Seiten überwiegen würde. Die Maßstäbe für den diesjährigen Komponisten-Hauptpreis lagen hoch, ist schließlich der letzte Preisträger Per Nørgård einer der bedeutendsten und überragenden Symphoniker unserer Zeit: Doch dürfte Beat Furrer eine gute Wahl und ein würdiger Nachfolger sein.

[Oliver Fraenzke, Mai 2018]

Fragile Etüden

Cyprès, CYP1678; EAN: 5 412217 016784

 

Élodie Vignon spielt die zwölf Etüden von Claude Debussy in einer neuen Aufnahme für Cyprés.

Drei Jahre vor seinem Tod 1918 komponierte Claude Debussy seine zwölf Etüden, welche er dem Andenken Chopins widmete. Wie auch die Etüden von Chopin, Liszt, Scriabin oder – etwa zur gleichen Zeit entstanden – die von Rachmaninoff handelt es sich keinesfalls um reine Fingerübungen, sondern um ausgereifte Werke, die das gesamte Spektrum des Personalstils ihres Schöpfers beinhalten. Debussy behandelt in je einer seine Etüden verschiedene konsonante Intervalle (Terzen, Quarten, Sexten, Oktaven), die Fünf- (gewidmet Czerny) und die Vierfingerübung, Chromatik, Arpeggien, Akkorde, Ornamente und Repetitionen. Nur eine einzige der Etüden beschäftigt sich laut Titel mit einem musikalischen Problem: den opponierenden Klängen, eine Pedal- und Anschlagsübung. Hinter dem technisch basierten Konzept verbirgt Debussy allerdings weit mehr und verlangt dem Pianisten alle erdenklichen Anschlagsarten, leisestes Pianissimo and zahllose musikalische Aufgaben ab, die über Fingerfertigkeit hinausgehen. Nichtsdestoweniger schwingt natürlich eine Ästhetik der Virtuosität mit, wie sie gerade auch bei Ravel zu finden ist.

Élodie Vignon bemüht sich merklich, nah an die Zartheit und Finesse Debussys heranzukommen, was sich durchaus niederschlägt. Und doch bleibt Debussy auch hier ein Gegenstand der Komparative: Alles könnte noch feiner, noch fragiler, noch feinstofflicher sein. Nur wenigen Pianisten ist es gelungen, Debussy in seiner seidenen Substanz zutiefst zu ergründen, Michelangeli und Gieseking seien namentlich genannt. Neben diesen Referenzen verblasst ein Gros der Aufnahmen, denn hier erst wird einem bewusst, wie viel diese Musik auszusagen hat, wenn man sich ihr vollständig widmet. Dennoch ist die Aufnahme von Élodie Vignon durchaus bemerkenswert und auf überdurchschnittlichem Niveau.

[Eduard Alpmann, April 2018]