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Alles läuft zusammen

Festspiele in Bergen: Grieghallen, Griegsalen; Edvard Grieg, Ralph Vaughan Williams, Sofia Gubaidulina; Bergen Filharmoniske Orkester, Edward Gardner (Leitung), Gidon Kremer (Violine), Ah Ruem Ahn (Klavier)

[Alle Rezensionen zu den Festspielen in Bergen im Überblick]

Festspiele in Bergen: Griegsalen; Gubaidulina, Kremer und das Bergen Filharmoniske Orkester (Foto von: Oliver Fraenzke)

Im letzten Konzert, welches ich im Rahmen der Festspiele in Bergen höre, läuft alles zusammen: Im Griegsaal der Grieghalle spielt das Bergen Filharmoniske Orkester unter Leitung von Edward Gardner das Offertorium der Festspielkomponistin Sofia Gubaidulina mit Gidon Kremer als Solist an der Geige, die Fantasie über ein Thema von Thomas Tallis von Ralph Vaughan Williams sowie das Klavierkonzert a-Moll op. 16 von Edvard Grieg. Am Klavier sitzt die Gewinnerin des letzten internationalen Grieg-Wettbewerbs Ah Ruem Ahn.

Sofia Gubaidulina hört das Ende im Anfang, spinnt einen roten Faden durch das gesamte Werk, und erst im letzten Ton erfüllt sich der vollständige Sinn. Sich auf reine Intuition beim Komponieren zu berufen, genügt der gebürtigen Russin nicht, sie benötigt einen mathematischen Hintergrund, der eine zwingende Logik und Stringenz ermöglicht. Es ist die Mitte zwischen den beiden Extremen, die anzustreben ist. Offertorium gehört zu den meistgespielten Werken Gubaidulinas und entstand durch die gegenseitige Bewunderung Gubaidulinas und Kremers, der es auch heute darbietet, 27 Jahre nach der Uraufführung. Der religiöse Kontext bleibt unüberhörbar, wie der Titel suggeriert; die Melodie basiert auf Bachs Musikalischem Opfer BWV 1079. Kremer nimmt das Konzert zurückhaltend und mit gewisser Distanz, lässt sich nicht von den ungeheuren Gefühlswelten überrumpeln. Den Ausdruck verlagert er nach innen, spürt ihn mehr, als ihn aktiv herauszuholen. So entsteht eine ehrliche und glaubwürdige Wirkung der Spiritualität, welche diese Musik durchdringt. Zwar mischt sich im Griegsaal das Zusammenspiel zwischen Solist und Orchester nicht immer, aber doch hören wir kontinuierliche Interaktion zwischen Gidon Kremer und Edward Gardner, der die Bergner Philharmoniker zu enormer Klangfarbenpracht anhält.

In Ralph Vaughan Williams‘ Fantasie über ein Thema von Thomas Tallis kommt der Streicherapparat des Bergen Filharmoniske Orkesters in voller Pracht zum Einsatz. Jede einzelne Stimmgruppe ist für sich vollendet, präsentiert runden und warmen Ton in zahllosen Schattierungen und dynamischen Details. Darüber hinaus verschmelzen sie zu einem miteinander wirkenden Ganzen, ein vielschichtiger und dreidimensional plastischer Klangraum entsteht, der zudem durch das Fernorchester bereichert wird.

Zuletzt hören wir Grieg im Griegsaal der Grieghalle in der Griegstadt Bergen. Die Gewinnerin des Griegwettbewerbs Ah Ruem Ahn präsentiert sein Klavierkonzert a-Moll op. 16, das schon von Franz Liszt in höchsten Tönen gelobt wurde und schnell seinen Weg in die großen Konzerthäuser fand, wo es heute nicht mehr wegzudenken ist. Wie auch schon bei ihrem Rezital in Troldhaugen verblüfft die Koreanerin durch ihr flüchtiges, hingeworfen wirkendes Spiel, das der Musik eine Ungezwungenheit verleiht, die an Improvisation erinnert. Sie lässt es zu, dass das Orchester sie im Kopfsatz teilweise dynamisch übersteigt, doch um so prächtiger kommt sie jedes Mal wieder aus der Tiefe hervor. Für das Bergen Filharmoniske Orkester gehört das Konzert zu den Evergreens, die sie stets auf neue darbieten müssen: Entsprechend bekannt ist allen Musikern diese Musik und jedes Detail des Zusammenspiels. Dennoch stumpfen die Instrumentalisten dadurch nicht ab, sondern nutzen die Werkkenntnis für feine Artikulation und bemerkenswertes Zusammenwirken, haben noch immer Freude an Griegs Musik.

Und mit dem Konzert klingt auch meine Zeit bei den Festspielen in Bergen aus, erfüllt von Musik und Eindrücken geht es zurück nach Deutschland. Doch Norwegen wird mich wieder anziehen: Die Offenheit der Musiker, die Ungezwungenheit und Suche nach immer umfassenderem Verständnis für die Musik gibt der Kultur in den skandinavischen Ländern einen besonderen Stellenwert.

        

[Oliver Fraenzke, Mai 2018]

Lobpreisung und Tod

Festspiele in Bergen: Domkirke St. Olav; Johann Sebastian Bach, Sofia Gubaidulina; Bergen Domkor, Kjetil Almenning (Leitung), Andreas Brantelid (Cello), Manuel Hofstätter, Gard Garshol (Schlagzeug), Sigurd Melvær Øgaard (Orgel)

[Alle Rezensionen zu den Festspielen in Bergen im Überblick]

Festspiele in Bergen: Domkirke St. Olav; Domkor, Kjetil Almenning und Andreas Brantelid (Foto von: Oliver Fraenzke)

Der Domkor Bergen unter Kjetil Almenning präsentiert ein Chorkonzert mit Musik von Johann Sebastian Bach und Sofia Gubaidulina in der Domkirke St. Olav. Nach Präludium und Fuge f-Moll BWV 534 mit dem Organisten Sigurd Melvær Øgaard singt der Chor die Kantate Fürchte dich nicht BWV 228. Die zweite Hälfte des Programms bildet Gubaidulinas Sonnengesang nach Francis von Assisi, am Solo-Cello sitzt Andreas Brantelid.

Die Thematik des Todes bindet Bachs Kantate „Fürchte dich nicht“ BWV 228 und Sofia Gubaidulinas Sonnengesang nach einem Text Franz von Assisis zusammen. Während Bachs Kantate für Beerdigungen geschrieben wurde, verfasste Assisi seinen Gesang über die Schöpfung und die Geschöpfe kurz vor seinem Tod, lobt Gott von der ersten bis zur letzten Sekunde des menschlichen Lebens. Anlässlich des 70. Geburtstags des Cellisten Mstislav Rostropovich vertonte Sofia Gubaidulina den Sonnengesang und überließ dem Jubilar eine gewichtige Solopartie. Der Cellist schlüpft gar in die Rolle eines Priesters und „segnet“ zuerst die Musiker und schließlich das Publikum durch den Klang eines Flexatons, den er beinahe wie Weihrauch verteilt. Auch die Basstrommel muss der Solist bedienen.

Bestens vertraut mit der Akustik in der Domkirke St. Olav, brilliert der Bergen Domkor unter Kjetil Almenning durch glasklaren Gesang und Verständlichkeit bis in die letzte Reihe. Charakteristisch für den Chor ist die Eigenständigkeit der einzelnen Stimmgruppen, die durch minimale Unterschiede der Klangfärbung voneinander abgesetzt werden. Die Gruppen hören aufeinander und platzieren die eigene Stimme bewusst im Geflecht der Kontrapunktik.

Geladen mit Pathos und Leidenschaft tritt Andreas Brantelid auf, verleiht jedem Ton Gewicht und Bedeutung. Die vollen 40 Minuten hält er diese Anspannung durch, was auch für den Hörer anstrengend, zeitgleich aber auch anregend ist. Im Wechselspiel geht Brantelid vor allem auf die beiden Schlagzeuger ein und kooperiert mit ihnen, den Chor betrachtet er mehr als unabhängige Schicht.

       

[Oliver Fraenzke, Mai 2018]

Die Kunst, das Publikum mitzureißen

Festspiele in Bergen: Lysøen; Ole Bull, Franz Liszt, William Kroll, Wolfgang Amadeus Mozart, Dmitri Schostakowitsch; Catharina Chen (Violine), Jie Zhang (Klavier)

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Festspiele in Bergen; Lysøen von außen (Foto von: Oliver Fraenzke)

Die Veranstaltungsorte der Festspiele in Bergen reichen auch über die Stadtgrenzen hinaus. In Ole Bulls Haus auf der Insel Lysøen spielen Catharina Chen und Jie Zhang am 27. Mai 2018 ein Konzert mit einem gemischten Programm. Zu hören ist Sæterjentes Søndag und Andante Maestoso von Ole Bull, Au Lac De Wallenstadt aus den Années de pélerinage von Franz Liszt, Banjo & Fiddle aus der Feder William Krolls, die 21. Violinsonate K. 304 e-Moll von Wolfgang Amadeus Mozart und die 24 Préludes von Dmitri  Schostakowitsch op. 34a in der Fassung für Violine und Klavier.

Etwa eine Stunde Bootsfahrt von Bergen entfernt liegt Lysøen, die Lichtinsel, und birgt die Sommerresidenz von Ole Bull: Eine eigentümliche Villa in der typischen Machart der norwegischen Holzhäuser, aber durch unzählige Holzschnitzereien, bunte Fenster und kunstvolle Dekoration verziert – ein Ort von verschwenderischer Schönheit. Mit dem hohen Holzdach wirkt das Hauptzimmer beinahe wie ein Kirchenraum, hier findet das heutige Konzert statt.

Festspiele in Bergen; Lysøen von innen (Foto von: Oliver Fraenzke)

Catharina Chen und Jie Zhang machen aus dem Konzert eine Show, zu den Klängen von Ole Bulls Sæterjentes Søndag treten sie theatralisch auf die Bühne, verbinden durch subtile Übergänge die ersten vier Stücke; Chen tanzt durch den Raum und geht direkt auf den Hörer zu. Dabei geht allerdings nichts an der musikalischen Ernsthaftigkeit und Qualität verloren.

Wie auch die Zyklen von Bach, Chopin, Debussy und zahlreichen weiteren, umspannen die 24 Préludes von Dmitri Schostakowitsch alle zwölf Dur- und alle zwölf Moll-Tonarten, in prägnanter Kürze öffnen sie für kurze Zeit die Tore zu eigenartigen Klangwelten und verschließen sie sogleich wieder. In der heutigen Darbietung überzeugen sie durch ihre Schroffheit und Prägnanz, auch wenn sie mehr Kontraste hätten vertragen können. Am wenigsten liegt den Musikern die feine, zarte Musik Mozarts, der in seiner e-Moll-Sonate den Tod seiner Mutter verarbeitete. Chen und Zhang geben zu viel hinein in diese Musik, überfluten die zerbrechliche Welt Mozarts mit überschwänglicher Emotion. Doch genaue diese ist es auch, die die beiden Musiker auszeichnet und uns erinnerungswürdige Erlebnisse im ersten Konzertteil bereitet: Die beiden Stücke des Hausherren Ole Bull überragen durch ihre Passion und ihr unverfälschtes Gefühl, Liszt bleibt fromm und innig. Unterhaltsam gestaltet sich die Humoreske Banjo & Fiddle des 1980 verstorbenen Komponisten William Kroll, sie illustriert einen Wettstreit zwischen den Titelinstrumenten. Das Banjo stellt die Geige durch Pizzicato dar, die Fiedel wird durch Bogenspiel und Borduntöne davon abgehoben.

Die fröhliche Art von Catharina Chen und Jie Zhang steckt an, das Publikum bleibt aufmerksam und geht mit. Es ist eine Kunst für sich, das Publikum zu gewinnen und mitzureißen. Die Musiker des heutigen Konzerts präsentieren auf eindrucksvolle Weise, wie sehr doch der Hörer integriert werden kann in das Geschehen auf der Bühne – und die Trennung zwischen Musiker und Publikum verschwindet, alles wird zu einem einzigen Raum des Geschehens.

         

[Oliver Fraenzke, Mai 2018]

Die „besten Komponisten“

Festspiele in Bergen: Troldhaugen, Grieg Villa; Percy Grainger, Frederick Delius, Duke Ellington, Johann Sebastian Bach, Edvard Grieg; Ellen Nisbeth (Bratsche), Bengt Forsberg (Klavier)

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Festspiele in Bergen: Griegs Villa, Troldhaugen um Mitternacht (Foto von: Oliver Fraenzke)

Transkriptionen der laut Percy Grainger „besten Komponisten“ für Bratsche und Klavier werden am 26. Mai 2018 in Griegs Wohnzimmer in Troldhaugen von Ellen Nisbeth und Bengt Forsberg dargeboten. Von Grainger hören wir Auszüge aus der Skandinavisk Suite (Arr. Ellen Nisbeth), Arrival Platform Humlet und To a Nordic Princess (Arr. Ellen Nisbeth und Hans Palmquist), des Weiteren stehen auf dem Programm die zweite Sonate von Frederick Delius (Arr. Lionel Tetris), Auszüge aus Anatomy of a Murder (Arr. Hans Palmquist), die Gigue aus der zweiten Violinpartita von Johann Sebastian Bach (Arr. Ellen Nisbeth) und die Sonate c-Moll op. 45 von Edvard Grieg (Arr. Ellen Nisbeth).

Als der australische Komponist Percy Grainger seine Liste der besten Komponisten schrieb, setzte er sich selbst „nur“ auf Platz 9, nach Delius und Ellington, aber vor Mozart und Tschaikowski; auf Platz 1 steht Johann Sebastian Bach. Grainger arbeitete als junger Mann am Klavierkonzert von Edvard Grieg und besuchte den Komponisten 1907 in seinem Heim Troldhaugen. Die beiden Musiker freundeten sich trotz des großen Altersunterschiedes schnell an und Grieg schrieb noch einen Tag vor seinem Tod einen lobenden Brief an seinen Kollegen. Grainger verbreitete die Musik Griegs international, nahm unter anderem das Klavierkonzert gemeinsam mit Leopold Stokowski auf und gab Noten des Norwegers heraus.

Als Komponist schrieb Grainger hauptsächlich kürzere Werke, die meisten von ihnen bleiben im Rahmen von Miniaturen. Dabei inspirierte ihn der nordische Stil und die Kompositionsweise Griegs, wie sich deutlich beispielsweise in seiner Skandinavischen Suite abzeichnet oder auch in To a Nordic Prinzess, dem Hochzeitsstück für seine schwedischstämmige Verlobte. Einen besonderen „nordischen“ Bezug finden wir in der Zweiten Sonate von Frederick Delius, in der Anklänge an das Klavierkonzert von Edvard Grieg hörbar werden.

Ellen Nisbeth zeichnet sich durch einen eigenständigen Ton aus, der warm und voll ist, dabei eine Rauheit nicht verbirgt. In den Arrangements hebt sie die Vorzüge der Bratsche im Gegenzug zur Geige hervor, insbesondere hierbei die dunkleren und weicheren Klangfarben. Bengt Forsberg und Ellen Nisbeth sind ein eingespieltes Team, sie agieren vollkommen synchron und aufeinander abgestimmt, ergänzen einander prächtig. Die Musiker nehmen sich Freiheiten, vor allem im Bezug auf Rubato, das sich bei Grainger und Grieg deutlich macht. In Griegs Dritter Sonate unterminieren die Tempoänderungen allerdings die rhythmische Kraft und den Drang nach vorne, weicht gar das mächtige Hauptthema auf. Die Randsätze dieser Sonate sind allgemein doch mehr für die schärfere und schrillere Violine geeignet, vielleicht hätte sich ein Arrangement der F-Dur- oder G-Dur-Sonate besser geeignet für einen Vortrag auf der Bratsche. Hinreißend gestaltet sich dafür der Mittelsatz, der ungezwungen entsteht und die zarte Weise sanglich rein präsentiert. Bachs Gigue ertönt heute recht rasch, ein etwas langsameres Tempo hätte mehr Detailarbeit und Klangnuancen ermöglicht. Überzeugen können vor allem Ellington und Delius, hier entfalten sich die beiden Musiker vollkommen. Anatomy of a Murder verleihen sie einen Drive, der sich auf den Hörer überträgt, dabei scheuen Nisbeth und Forsberg auch nicht die Reibungen der wohl gesetzten Dissonanzen. Delius überzeugt durch Frische und Lebensgefühl, die Bratsche holt aus der Musik noch mehr klangliche Differenzierung heraus als eine Violine.

             

[Oliver Fraenzke, Mai 2018]

I want to be in Maria

Festspiele in Bergen: Grieghallen, Griegsalen; Igudesman & Joo

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Igudesman & Joo treten mit ihrem dritten Bühnenprogramm „Play it again!“ im Griegsalen der Grieghallen auf. Der Violinist Aleksey Igudesman und der Pianist Hyung-ki Joo mischen Klassik mit Pop, Ernst mit Spaß und bezaubern Kinder wie Erwachsene gleichermaßen.

Wenn Leonard Bernsteins West Side Story mit der Titelmelodie der Simpsons durcheinandergeworfen wird, bis schließlich Sätze wie „I want to be in the Simpsons“ oder „I want to be in Maria“ herauskommen, dann kann nur von Igudesman & Joo die Rede sein. Die beiden Musiker greifen in der Musikgeschichte vor und zurück, bilden die unmöglichsten musikalischen Kollagen und vereinen, was niemals je hätte vereint werden sollen.

In ihrem neuesten Streich, Play it again!, thematisieren sie den beliebtesten Teil eines klassischen Konzerts: Die Zugabe. Hier kann der Musiker noch einmal unter Beweis stellen, was er kann, seine gesamte technische Potenz bündelt sich in einem kurzen und prägnanten Stück, das zugleich das Publikum hinausgeleitet. Und so kommen Iguldesman & Joo auf die Bühne, danken für den Applaus und gehen wieder – lassen sich dann aber doch noch zu einer Zugabe überreden … und noch einer … und noch einer.

Igudesman & Joo schlüpfen in die Rollen verschiedener Musiker, die sich in ihren Zugaben präsentieren wollen: in den spießig-genauen Deutschen, den coolen Engländer, den überakzentuierenden Franzosen und sogar in den „fiedelnden Alien“, mit dem erster Kontakt aufgebaut wird. Wir hören eine Uraufführung des asiatischen Komponisten Song Way Too Long, Musik des Argentiniers Juan Sebastian Bacho und erleben den Hit I Will Survive in seiner ursprünglichen Version, wie ihn Mozart komponierte.

Die Musiker singen, tanzen und spielen, während der Hörer aus dem Lachen kaum herauskommt. Die Mischung aus wirkungsvollen Gags und subtilen Anspielungen innerhalb der Musik spricht jeden an, erfahrene Konzertgänger ebenso wie diejenigen, denen die klassische Musik noch vollkommen fremd ist – jeder kommt auf seine Kosten. Und genau das macht Igudesman & Joo aus: Sie bringen mit Humor Menschen an die Klassik heran und machen Lust auf mehr, sogar ernstere Musik. Dies gelingt durch ihr künstlerisches Können in allen Bereichen, Aleksey Igudesman und Hyung-ki Joo sind nicht nur Komiker, sondern ernstzunehmende Musiker. Hier trifft Qualität und Begeisterung zusammen, heraus kommt ein einmaliges Bühnenprogramm voller Musik, Gesang, Tanz, Scherz und Skurrilität.

         

[Oliver Fraenzke, Mai 2018]

 

Bach, Spanien, Rock

Festspiele in Bergen: Grieghallen; Johann Sebastian Bach, Henry Purcell, Manuel Oltra, King Crimson; Ricardo Odriozola (Bratsche und Leiter), Griegakademiets kammerorkester

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Im Foyer der Grieghalle hören wir am 26. Mai 2018 mittags um 12 Uhr das Kammerorchester der Griegakademie (Griegakademiets kammerorkester) unter Leitung des Violinprofessors Ricardo Odriozola. Umrahmt wird das Programm von Bach, mit dessen „Vor deinen Thron tret ich hiermit“ die Musiker einziehen und die Bühne auch wieder verlassen. Dazwischen gibt es die Fantasie Nr. 4 von Purcell, Manuel Oltras Suite per a flauta i orquestra de corda und ein Arrangement von King Crimsons FraKctured aus der Feder des Dirigenten.

Vielseitiger könnte ein Programm kaum sein: Von Bach und Purcell über einen spanischen Komponisten des 20. Jahrhunderts bis hin zur Progressiv Rock Band King Crimson. Der in Norwegen lebende Spanier Ricardo Odriozola weiß, die Welten zu vereinen und zu einem Konzert zusammenzufügen. Er stellte ein Kammerorchester aus Studenten und Lehrkräften der Griegakademie zusammen und lud Gäste aus Schweden ein, um dieses Projekt zu verwirklichen.

Die Musik beginnt hinter der Bühne, zu einer auskomponierten Einleitung treten die Musiker auf die Bühne, aus einem meditativen Orgelton entwickelt sich nach und nach Bachs „Vor deinen Thron tret ich hiermit“, bis das Thema in vollem Glanz erstrahlt. In der Vielstimmigkeit von Bach und Purcell zeigt sich die Qualität der Studenten aus Bergen: Jede Linie besitzt Aussagekraft und mischt sich gleichwertig zu etwas größerem, übergeordnetem, zu einer musikalischen Gemeinschaft. Ricardo Odriozola leitet von den Mittelstimmen aus, wir hören ihn von der Bratsche koordinieren. Seine Wahl, in diesem Konzert die Bratsche und nicht die Geige zu spielen, erweist sich als Geniestreich, denn so werden die weichen, warmen Seiten betont. Für Manuel Oltra legt Odriozola sein Instrument beiseite und stellt sich an das Dirigentenpult. Die Suite besteht aus kurzen Stücken hochwertiger Unterhaltungsmusik, die künstlerischen Anspruch aufweisen und doch unbeschwert ins Ohr gehen. Beschwingt reißen sie den Hörer in ihren Bann, Optimismus erfüllt das tänzerische Spiel zwischen Flöte und Streichorchester. Ricardo Odriozola bearbeitete FraKctured von King Crimsom zu einem treibenden Streichorchesterstück: Es steht im 5/4-Takt und begeistert durch rhythmische Präsenz und Wildheit, wobei von der ersten bis zur letzten Note eine formale Geschlossenheit zu bemerken ist. King Crimson verbindet die Ungezügeltheit der Rockmusik mit einem Sinn für klassische Ausgewogenheit.

Das Talent der zu einem Großteil jungen Musiker ist überragend, alle verstehen sich ohne Worte alleine durch Gesten und sind in der Lage, aktiv zuzuhören. Sie schauen über den Tellerrand des Standard-Repertoires hinaus und finden sich auch in unbekannter Musik zurecht, nehmen sie ernst und begeistern sich für sie. Die Leidenschaft zur Musik wird hier nicht für technische Perfektion geopfert, sondern steht im Einklang mit ihr. Odriozola reiht die einzelnen Stücke nicht bloß aneinander, sondern gestaltet sie in einem dramaturgischen Bogen, wodurch das Konzert ein ganzheitliches Erlebnis wird.
[Oliver Fraenzke, Mai 2018]

     Ricardo Odriozola bei jpc

     King Crimson: The ConstruKction Of Light (jpc)

Unbeschwert, skizzenhaft und doch vollendet

Bergen Festspiele: Troldhaugen, Grieg Villa; Franz Schubert, Franz Liszt, Edvard Grieg, Fritz Kreisler, Sergei Rachmaninoff; Ah Ruem Ahn (Klavier)

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Festspiele in Bergen: Griegs Villa, Troldhaugen um Mitternacht (Foto von: Oliver Fraenzke)

Die koreanische Pianistin Ah Ruem Ahn spielt in Griegs Villa in Troldhaugen. Auf dem Programm ihres Konzerts vom 25. Mai 2018 stehen Franz Schuberts Klaviersonate c-Moll D. 958, Ricordanza aus den Transzendentalen Etüden von Franz Liszt, Edvard Griegs Poetiske tonebilder op. 3 und Liebesleid von Fritz Kreisler in einem Arrangement von Sergei Rachmaninoff.

Die Sommertage in Norwegen sind lang, und so liegt es nahe, auch zu später Stunde noch Konzerte zu veranstalten: Um 22:30 beginnen die Auftritte in Griegs Wohnzimmer seiner Residenz Troldhaugen. Heute spielt hier Ah Ruem Ahn, die den letzten internationalen Edvard-Grieg-Klavierwettbewerb gewann. Etwa 50 Zuhören passen in das geräumige Wohnzimmer, wenn die Türen zur Veranda geöffnet sind, was zudem Licht der untergehenden Sonne hereinströmen lässt. Die Akustik besticht durch ihre Klarheit und Direktheit an jedem Ort des Raums; Grieg schuf sich einen perfekten Veranstaltungsort für Kammermusikkonzerte direkt in seiner Villa. Auch heute noch finden die Auftritte auf seinem eigenen Steinway & Sons aus den 1890er-Jahren statt, dessen Klang eine gewisse Zärtlichkeit ausströmt, dabei voluminös und voll im Klang bleibt.

Die Darbietungen Ah Ruem Ahns zeichnen sich durch ihre Leichtigkeit und Unbeschwertheit aus. Ungezwungen entstehen die Stücke aus sich heraus und bewahren sich beinahe eine Art Skizzenhaftigkeit, wobei sie zeitgleich Reife ausstrahlen. Dynamisch bleibt die Koreanerin zurückgehalten und intim, Höhepunkte gestaltet sie durch innere Spannung statt durch äußerliche Aufruhr. Ah Ruem Ahn besitzt ein Gespür für Kontraste und weiß genau, wie weit sie diese ausdehnen kann, ohne sie überzustrapazieren. Die viersätzige Schubert-Sonate hält sie als Einheit zusammen, schafft eine private und in der Tiefe brodelnde Atmosphäre – sie vertraut dem Hörer eine persönliche Gefühlswelt an. Ricordanza weist keine Anzeichen eines Virtuosenstücks auf, jede technische Schwierigkeit dient musikalischem Ausdruck. Es macht den Eindruck, eine Harfe spiele auf, wenn Ahn in die oberen Register gleitet: Sie transzendiert den Klavierklang zu orchestraler Vielfalt, so dass man tatsächlich denkt, man höre andere Instrumente mitschwingen. Flüchtig hingeworfen und doch vollendet erscheinen die Poetischen Tonbilder des Hauseigentümers, Edvard Griegs. Die Frühwerke deuten schon an, was Griegs spätere Kompositionen ausmachen sollte: den nordischen Ton und den subtilen Gebrauch von Anklängen an Volksmusik. Rachmaninoff arrangierte unzählige Werke für Klavier Solo, darunter auch drei berühmte Wiener Tänze aus der Feder Kreislers, dabei ergänzte er pianistisch ansprechende Passagen wie schillerndes Tonleiterspiel. Doch selbst diese verleiten Ah Ruem Ahn nicht dazu, sich zur Schau zu stellen, sie bleibt bei ihrem innigen, unprätentiösen Stil.

Das Hauskonzert ist das perfekte Umfeld für eine Pianistin wie Ah Ruem Ahn, welche die Nähe zum Hörer braucht, um sich voll zu entfalten. In dieser privaten Atmosphäre blüht sie auf und überzeugt, indem sie den Hörer direkt anspricht und in ihr Spiel integriert.

       

[Oliver Fraenzke, Mai 2018]

Erhöhend

Festspiele in Bergen: Håkonshallen; Sofia Gubaidulina, Arvo Pärt, Alfred Schnittke; Kremerata Baltica, Martynas Stakionis, Gidon Kremer & Sonoko Miriam Welde (Violine), Geir Draugsvoll (Bajan), PERCelleh (Schlagwerk), Jarle Rotevatn (Präpariertes Klavier)

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Festspiele in Bergen, Håkonshallen: Gubaidulina, Draugsvoll und die Kremereta Baltica (Foto von: Oliver Fraenzke)

Am Abend des 25. Mai 2018 spielt die Kremerata Baltica in der Håkonshallen ein Konzert mit moderner Musik zu Ehren der Festspielkomponistin Sofia Gubaidulina. Ihr Bajankonzert Fachwerk ist Höhepunkt des Abends, den der Widmungsträger Geir Draugsvoll bestreitet, zudem wurde die Kremerata durch Schlagwerker von PERCelleh ergänzt. Die Leitung des Stücks übernimmt Martynas Stakionis. Vor Fachwerk hören wir Arvo Pärts Streicherwerk Fratres mit Gidon Kremer als Solist und Alfred Schnittkes Concerto Grosso, wo sich Kremer die aufstrebende Geigerin Sonoko Miriam Welde als Partnerin nahm.

Schon die Atmosphäre der Håkonshallen verleiht der hier gespielten Musik eine ehrfurchtsgebietende und beinahe spirituelle Wirkung: Die hohen, rauen Steinwände und das aufwändige Holzdach, dazu das Fenster an der Spitze, durch welches das Abendlicht in die Halle strömt. Die Akustik erscheint sakral, angenehmer Hall schmeichelt den Streichern.

Das Programm beginnt mit Arvo Pärts Fratres für Streichorchester mit Solovioline, ein resignatives Stück, welches die Einsamkeit und Isolation des Solisten verbildlicht. Zeitgleich schwingt ein Gefühl der Hoffnung mit, jedoch nicht in physischer, sondern in religiöser Form. Virtuos gibt sich der Solopart, die technischen Anforderungen stellen ein inneres Ringen um sich selbst dar, was das Orchester reflektiert. Kremer blüht in dieser Musik auf und legt eine seiner innigsten Aufführungen dar, die ich von ihm kenne. Er gibt viel von sich Preis in dieser Musik und wir werden Teil seiner Erfahrungen.

Sonoko Miriam Welde kommt hinzu im Concerto Grosso Nr. 1 von Alfred Schnittke. Das Werk lebt vom einem Wechselspiel zwischen den beiden Violinen, die immer wieder gegeneinander ausgespielt werden, konkurrieren, und sich doch auch ergänzen. Erst kurz vor Schluss finden die beiden Instrumente im Unisono zusammen, wenngleich die Idylle nur kurz anhält. Markant ist das präparierte Klavier, welches besonders die Randsätze durch die glockenartigen Töne prägt – zwischenzeitlich wechselt der Pianist zum Cembalo, setzt sich auch hier von den Streichern deutlich ab. Als Vermittler dient das Orchester, von hier kommen die Impulse, auf welche sich dann die drei Einzelkämpfer stützen können. Wie meisterlich spielt Schnittke in diesem Concerto mit den Erwartungen des Hörers: Eingängige Momente werden genau dann unterminiert, wenn wir uns an sie gewöhnen würden, Rhythmen verschieben sich exakt im richtigen Moment – dies ist eine Meisterschaft, die oft zu wenig gewürdigt wird.

         

Composer in Residence Sofia Gubaidulina wird mit mehreren großen Aufführungen ihrer Hauptwerke geehrt, eine erklingt in diesem Konzert mit der Kremerata Baltica unter Martynas Stakionis und dem Widmungsträger Geir Draugsvoll. Im Januar 2013 kam ich durch eben dieses Stück in prägenden Kontakt mit der Musik Gubaidulinas, Draugsvoll spielte es unter Leitung von Valery Gergiev in der Münchner Philharmonie. Heute erklingt es noch gereifter und der Solist lässt spüren, wie überwältigt er noch immer von diesem Konzert ist. Das Atmen steht im Mittelpunkt, die gesamt Musik bildet ein Ein- und Ausatmen in allen Formen ab, von Hecheln, tiefem Atem bis hin zu Seufzen. Das Bajan eignet sich natürlich für solch eine Idee, reguliert schließlich die Veränderung des Luftstroms den Klang. Draugsvoll bäumt sich auf, genießt die wilden Dissonanzen, Cluster und plötzlichen Brüche. So verleiht er ihnen Sinn und Struktur, fasst die Klänge in Einheiten zusammen und schafft ein Kontinuum. Als Zugabe gibt es Piazzolla, als „Dessert“, wie es Draugsvoll lächelnd, aber passend formuliert.

[Oliver Fraenzke, Mai 2018]

In Bergen bei den Festspielen

Einmal mehr verschlägt es mich in den hohen Norden, nach Norwegen. Mein Ziel sind diesmal die Festspiele in Bergen, das größte Musikfestival Nordeuropas, wo ich im Laufe von drei Tagen insgesamt acht Konzerte besuche.


Festspiele in Bergen: Byparken, der Stadtpark (Foto von: Oliver Fraenzke)

Gegründet wurden die Bergen Festspillene 1953 nach einer Idee der Sängerin Fanny Elsta, die sich das von Grieg ausführte Musikfest in Bergen von 1898 als Vorbild nahm. König Haakon VII eröffnete die ersten Festspiele, lud dazu Leopold Stokowski, Kirsten Flagstad und Per Aabel ein. Schnell entwickelte sich das Festival zu einem Ereignis internationaler Bedeutung. Als zentral erwiesen sich hierfür die Initiative für Neue Musik, die Integration des Jazz seit den 1970ern sowie die Eröffnung der Insel Lysøen als Veranstaltungsort 1974 und die Fertigstellung der Grieghalle 1978.

Das aktive Bestreben, zeitgenössische Musik zu fördern, schlägt sich in der jährlichen Ernennung eines Festspielkomponisten nieder, der in dieser Zeit vermehrt aufgeführt wird. Zumeist gebührt skandinavischen Komponisten diese Ehre, so unter anderem Harald Sæverud 1986, Ketil Hvoslef 1990, Ragnar Søderlind 1995, Magnus Lindberg 2006 oder Bent Sørentsen 2007. Postum wurde Edvard Grieg 1993 als Festspielkomponist ausgezeichnet. In diesem Jahr fiel die Wahl auf die 1931 geborene Russin Sofia Asgatowna Gubaidulina, die mit ihrem tiefsinnigen, religiös aufgeladenen und auf Bach bezogenen Stil zu den herausragenden Komponistinnen unserer Zeit gehört.

Eine besondere Rolle kommt dem Klavierkonzert a-Moll op. 16 von Edvard Grieg zu, das seit Gründung des Festivals jedes Jahr von einem prominenten Pianisten dargeboten wurde: Kayser, Richter, Ashkenazy, Lupu, Austbø, Steen-Nøkleberg, Gilels, Schiff, Andsnes, Gimse und Süssmann sind nur einige der zu nennenden Namen. In diesem Jahr hören wir die Gewinnerin des internationalen Grieg-Wettbewerbs Ah Ruem Ahn mit dem Klavierkonzert, begleitet vom Bergen Filharmoniske Orkester unter Edward Gardner.

Die Festspiele stehen unter königlicher Schirmherrschaft und werden seit 2012 von Anders Beyer geleitet. Zu den Förderern gehören unter anderem DNB, Statoil, Bergens Tidene und Dagens Næringsliv.

Was mich zu den Festspielen zieht, ist die Vielseitigkeit der Veranstaltungen von Musik, Tanz und Kunst bis hin zu einer Reihe von besonderen Ereignissen, so beispielsweise einer VR-Arena. Musik nimmt dabei einen besonderen Stellenwert ein: Kammermusik, Chormusik und Orchestermusik werden in jedem Rahmen gespielt, vom intimen Hauskonzert bis zum öffentlichen Ereignis auf dem großen Festplatz. Unvergesslich sind für mich die Auftritte in den Häusern von Edvard Grieg, Ole Bull und Harald Sæverud, wo ich Musik in der authentischen Atmosphäre ihres Entstehens genießen kann.

Die Auswahl aus mehreren hundert Konzerten und über 70 Veranstaltungsorten fiel schwer, schließlich fiel die Entscheidung auf folgende acht Auftritte:

In den kommenden acht Tagen werde ich zu jedem dieser Konzerte eine Rezension auf www.the-new-listener.de veröffentlichen und meine Eindrücke von den Festspielen in Bergen teilen.

[Oliver Fraenzke, Mai 2018]