Die Gesamtausgabe der Lieder Felix Draesekes: Präsentation und Konzerttermine

Die bei Musikproduktion Höflich veröffentlichte Gesamtausgabe der Lieder Felix Draesekes, im Auftrag der Internationalen Draeseke-Gesellschaft (IDG) herausgegeben von Wolfgang Müller-Steinbach und Norbert Florian Schuck, wird im Rahmen der 39. IDG-Jahrestagung am 21. Juni 2025 in Coburg präsentiert. Am 22. und 29. Juni folgen Lied-Matineen in Bad Rodach und Leipzig. Es musizieren Julia Oesch (Mezzosopran), Gotthold Schwarz (Bass) und Wolfgang Müller-Steinbach (Klavier).

Felix Draeseke war zu seinen Lebzeiten vor allem als Komponist von Orchester-, Kammer- und geistlicher Chormusik bekannt. Im Wesentlichen denkt man auch heute noch vor allem an diese Zweige seiner Produktion, wenn die Rede auf ihn kommt. In seinem hinsichtlich der Gattungen und Formen höchst vielfältigen Schaffen hat Draeseke jedoch auch dem Lied einen wichtigen Platz eingeräumt und sich in allen Perioden seiner künstlerischen Entwicklung der Komposition für Gesang und Klavier gewidmet. So entstanden seine Lieder zum großen Teil innerhalb kurzer Zeit jeweils am Anfang, in der Mitte und am Ende seiner Laufbahn. Die Musikwelt hat sie seinerzeit weitgehend als Nebenwerke eines Meisters der großen Formen angesehen. Entsprechend wenig standen sie im Mittelpunkt des Interesses. Doch haben auch damals schon feinsinnigere Kommentatoren auf den Wert dieser Stücke hingewiesen.

Draesekes Liedschaffen umfasst insgesamt 95 Titel, von denen neun derzeit als verschollen gelten müssen. Von den erhaltenen 86 waren die allermeisten im Notenhandel nicht mehr verfügbar. Auf einige Opera konnte man über die Petrucci Music Library (IMSLP) im Netz zurückgreifen, doch andere waren nur über Bibliotheken und Archive zu erreichen. Um diesen Missstand zu beheben und Draesekes Lieder wieder einem größeren Publikum nahezubringen, beschloss die Internationale Draeseke-Gesellschaft, eine Gesamtausgabe der Lieder Felix Draesekes zu veröffentlichen. Maßgeblich angeregt wurde das Projekt durch Wolfgang Müller-Steinbach, der die Herausgabe der ersten beiden Bände übernahm. Der dritte und letzte Band lag in der Verantwortung des Verfassers dieser Zeilen. Für die Veröffentlichung konnte der Verlag Musikproduktion Höflich gewonnen werden.

Die drei Bände sind ungefähr gleichen Umfangs: Der erste enthält 27, der zweite 29, der dritte 30 Lieder, wobei in den zweiten auch Draesekes einziges Melodram Der Mönch von Bonifazio aufgenommen wurde. Die Bände wurden nicht stur chronologisch gestaltet, sondern versuchen jeweils einen Eindruck von der Vielfalt des Draesekeschen Liedschaffens zu vermitteln. So finden sich in jedem Band Stücke unterschiedlichen Umfangs und Charakters: Lyrische Stimmungsbilder stehen neben Balladen, Miniaturen neben ausgedehnten, teils das Symphonische streifenden Gesängen. Die vom Komponisten gewählten Opus-Zusammenstellungen blieben dabei natürlich unangetastet. Neben den zu Lebzeiten Draesekes veröffentlichten Werken findet sich auch eine kleine Anzahl an Stücken, die mit dieser Edition zum ersten Mal überhaupt in den Druck gelangen.

Aufgrund der Tatsache, dass sich nicht selten Abweichungen zwischen Draesekes Manuskripten und den Erstdrucken finden lassen, letztere zudem immer wieder Druckfehler aufweisen, stand von vornherein fest, dass man es nicht bei einem bloßen Nachdruck der historischen Ausgaben belassen konnte und das vorhandene Notenmaterial kritisch zu sichten war. Soweit vorhanden, nahmen die Herausgeber die Manuskripte zur Grundlage ihrer Neuedition. In den Fällen, in denen der Verbleib des Manuskripts unbekannt war, wurde der Erstdruck als Primärquelle herangezogen.

Das Ergebnis dieser Arbeit, die dreibändige Gesamtausgabe der Lieder Felix Draesekes, erschienen bei Musikproduktion Höflich, wird im Rahmen der 39. Jahrestagung der Internationalen Draeseke-Gesellschaft in Coburg und Bad Rodach der Öffentlichkeit vorgestellt. Interessenten beachten dazu bitte die folgenden Termine:

Samstag, 21. Juni 2025, 17:00 Uhr, Coburg, Aula des Gymnasiums Casimirianum: Vorstellung der Edition im Rahmen einer Präsentation mit Lieder-Beispielen, Hintergrundinfos und Erläuterungen zur Entstehungsgeschichte des Draesekeschen Vokalwerks unter Mitwirkung der Künstler.

Sonntag, 22. Juni 2025, 11:00 Uhr, Bad Rodach, Jagdschloss: Lieder-Matinee in Zusammenarbeit mit dem Rückertkreis Bad Rodach. Auf dem Programm stehen Lieder und Gesänge aus allen Schaffensperioden Draesekes in Würdigung des Erscheinens der neuen IDG-Edition. Die Matinee wird moderiert von LKMD i. R. Udo-R. Follert.

Eintritt frei. Um eine Spende wird gebeten.

Das Programm der Matinee wird an folgendem Termin in Leipzig wiederholt:

Sonntag, 29. Juni 2025, 14:00 Uhr, Leipzig, Grieg-Begegnungsstätte: Du bist der ungebrochne Sonnenstrahl

Eintritt frei. Um eine Spende wird gebeten.

Mitwirkende an allen Terminen:

Julia Oesch, Mezzosopran

Gotthold Schwarz, Bass (Thomaskantor emeritus)

Wolfgang Müller-Steinbach, Klavier

[Norbert Florian Schuck, Juni 2025]

Nicolas Hodges überwältigt den Herkulessaal mit Rebecca Saunders‘ Klavierkonzert

Das letzte Konzert der musica viva Saison 24/25 am 23. Mai brachte Claude Viviers spätes Ensemblestück „Et je reverrai cette ville étrange“, Helmut Lachenmanns „Klangschatten – mein Saitenspiel“ und Rebecca Saunders‘ Klavierkonzert „To An Utterance“ mit einem überragenden Nicolas Hodges. Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks leitete Matthias Hermann.

Matthias Hermann und Nicolas Hodges mit dem BRSO © BR/Astrid Ackermann

Nicht ganz so gut besucht wie die Veranstaltungen zuvor, hatte das letzte Konzert der musica viva Saison 24/25 im Herkulessaal doch ein paar Schmankerl parat, die unterschiedlicher kaum sein konnten. Zweifellos war der gebürtige Kanadier Claude Vivier (1948–83) ein höchst unkonventioneller Künstler, der – zeitweise Schüler von Karlheinz Stockhausen – avantgardistische Moden oder Darmstädter Prämissen mutig über den Haufen warf und bald einem ganz eigenen Stil vertraute, der seinem Primat der Melodie in aufregender Weise Raum gab und damit auch seinen Hörern oft zu mystischer Versenkung verhalf.

Als Dirigenten hat man den Lachenmann-Schüler Matthias Hermann eingeladen, der vor zwei Jahren bei der Neufassung von My Melodies für den bereits erkrankten Peter Eötvös eingesprungen war (siehe unsere Kritik). Für Viviers Et je reverrai cette ville étrange von 1982 muss er kunstvoll verschnörkelte Monodien, die von sieben Solisten des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks meist quasi im Unisono – im ersten und da capo im letzten der sechs Abschnitte mal in Terzen – vorgetragen und von fernöstlichem Schlagwerk fast rituell untermalt werden, klanglich fein abstimmen. Dies gelingt z. B. bei einigen sehr hübschen Mixturen äußerst ansprechend, aber etliche Stellen könnten präziser zusammen sein.

Man könnte Hermann auch mangelnde Präzision bei den zunächst zeitlich recht vereinzelten, harten Knalleffekten, vor allem Bartók-Pizzicati, in Helmut Lachenmanns (*1935) Klangschatten – mein Saitenspiel (1972) vorwerfen – zumindest da, wo sie tatsächlich punktgenau zusammen sein sollten. Zum Glück werden diese für die 48 solistisch agierenden Streicher schnell vom Komponisten mit zunehmenden Unschärfen versehen, bis in der Mitte des Stücks alles flächiger wird, was sofort eine ungeahnte Sogwirkung erzeugt und erstaunlich farbig und fantastisch klingt. Die drei Klaviere wirken hier entgegen ihrer Natur meist wie klangverlängernde Echokammern, aber keinesfalls solistisch – trotzdem großes Lob für Yukiko Sugawara, Tomoko Hemmi und Alexander Waite, die sich wie die enorm konzentrierten Streicher des BRSO natürlich mit allen erdenklichen, ungewöhnlichen Spieltechniken auseinandersetzen müssen. Faszinierend etwa, wie gegen Schluss einige der Cellistinnen ein instabiles Bassfundament auf dem mit Bogen gestrichenen Saitenhalter erzeugen. Hermanns Timing und sein Überblick über die gesamte Vielfalt der Geräuschentwicklung kann jedenfalls überzeugen. Zu Recht erfährt das Stück, das heutzutage natürlich niemanden mehr zu provozieren vermag, allgemeine Zustimmung.

Für ihr Klavierkonzert To An Utterance (2020) mit nicht nur im Schlagzeug riesiger Orchesterbesetzung musste sich die britische Komponistin Rebecca Saunders – Ernst von Siemens Musikpreisträgerin 2019 – schon etwas Besonderes ausdenken, um dem Solisten ein klangliches Gegengewicht zu ermöglichen. Jede Menge Cluster, vor allem jedoch allgegenwärtige Glissandi, oft über die gesamte Tastatur und in teils derart atemberaubender Geschwindigkeit und Dynamik, dass man fast glaubt, einem Player Piano von Conlon Nancarrow zuzuhören. Was hier die Hände von Nicolas Hodges – durch fingerfreie Handschuhe vor Abschürfungen geschützt – leisten, geht weit über das hinaus, was etwa Stockhausen in seinem berüchtigten Klavierstück X fordert, gerade auch an emotionaler Energie. Die geht hier tatsächlich meist vom Klavier aus; das grandios instrumentierte Orchester der lange auf kammermusikalische Besetzungen spezialisierten Komponistin – immer spannungsvoll, dabei wie der drohende Abgrund für den hyperaktiven Pianisten – nimmt dessen Anregungen auf und transformiert dessen häufig als Haltepunkt genutzten Resonanzraum zu wilden und schönen Klängen: z. B. enorm differenzierten Streicherflageoletts, die dann noch mit Akkordeon in höchster Lage bekrönt werden. Das an sich sehr gelungene Werk zerfasert formal allerdings durch zu schnelle Wechsel zwischen ungezähmter Brutalität und deutlich gemäßigterem Material – gibt es da eine Anspielung auf Tristan? – und bringt dramaturgisch daher nicht nur den Pianisten im Sinne der weniger geläufigen Bedeutung des Titels bis „zum bitteren Ende“. Hodges ist mit seiner phänomenalen Technik und unermüdlichen Präsenz einmal mehr ein Erlebnis im Herkulessaal, und Orchester und Dirigent fühlen sich in Saunders‘ kalkulierter Klangorgie sichtlich wohl: tosender Applaus.

[Martin Blaumeiser, 24. Mai 2025]

Für Franz Schmidt auf den Tasten: Andreas Jetter und Karl-Andreas Kolly

Der 150. Geburtstag Franz Schmidts, der im vergangenen Jahr begangen wurde, bot den Anlass zu einer Anzahl höchst erfreulicher CD-Veröffentlichungen. Neben der bereits Ende 2023 erschienenen Gesamteinspielung der Symphonien durch das BBC National Orchestra of Wales unter Jonathan Berman (siehe dazu auch unser Interview mit dem Dirigenten) und der erstmals auf CD herausgekommenen Aufnahme der Oper Fredigundis sind hier besonders die Leistungen zweier Musiker hervorzuheben, die sich auf den Tasten von Klavier und Orgel für Franz Schmidt eingesetzt haben: Andreas Jetter, der die zwei ersten Folgen seiner Gesamtaufnahme der Schmidtschen Orgelwerke vorlegte, und Karl-Andreas Kolly, der dem Komponisten ein Klavieralbum widmete.

Andreas Jetter: Königsfanfaren und Silberglanz

Vol. 1 Königsfanfaren

Ambiente Audio, ACD-2047; EAN: 4029897020478

Vol. 2 Silberglanz

Ambiente Audio, ACD-2049; EAN: 4029897020492

Als Orgelkomponist ist Schmidt wiederholt missverstanden worden, da man ihn aufgrund seiner Kritik an bestimmten Tendenzen des damaligen Orgelbaus – er lehnte beispielsweise eine „Überladung“ mit Registern ebenso ab wie Jalousieschweller zur Erzeugung stufenloser Crescendi und berief sich auf Silbermann als Ideal – für einen Parteigänger der „Orgelbewegung“ hielt. So hat es Organisten gegeben, die seinen Werken ein dünnes, hartes Klangbild verliehen und beim Vortrag betont zackig artikulierten – sprich: die Musik „antiromantisch“ auffassten. Nun steckt in Schmidt tatsächlich mehr von einem „barocken“ Komponisten als in vielen seiner Zeitgenossen. Äußerlich schlägt sich das bereits an seiner Vorliebe für Fugen nieder, zu welchen sich innerhalb der Orgelwerke verschiedene weitere Formen barocken Ursprungs – Chaconne, Toccata, Choralvorspiel – hinzugesellen. Auch lässt sich bei ihm eine starke emotionale Ausgeglichenheit feststellen, die namentlich in seiner vorletzten Schaffensphase Ende der 1920er Jahre zu einer Musik führt, von der man mit Conrad Ferdinand Meyer sagen kann: Sie „strömt und ruht“. Diese geistige Verwandtschaft mit der vorromantischen Musik – die er mit Zeitgenossen wie Felix Draeseke, Felix Woyrsch und Gerhard Strecke teilt – sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Schmidts Klangvorstellungen sich deutlich von den asketischen Idealen neobarocker Antiromantiker abhoben. Er selbst, der viele Jahre als Cellist bei den Wiener Philharmonikern mitspielte, sagte einmal, dass er in seinem Inneren stets symphonische Musik höre. Und das Instrument, auf dem die meisten seiner Orgelwerke mit ausdrücklicher Billigung des Komponisten uraufgeführt wurden, war die Rieger-Orgel des Musikvereinssaals in Wien. Es liegt also keinesfalls fern, Schmidts Orgelmusik auf Instrumenten wiederzugeben, die eine orchestral anmutende Klangfülle verbreiten. Freilich darf die Orgel kein „brüllendes Ungeheuer“ (Schmidt) sein, sollte auf die speziellen Forderungen, die Schmidt an seine Spieler stellt – er hat sie in verschiedenen Texten dargelegt – , Rücksicht genommen werden.

Andreas Jetter hat für seine Einspielungen der Orgelwerke Schmidts mit der 1927/28 errichteten Behmann-Orgel der Kirche St. Martin in Dornbirn ein Instrument gewählt, dass man zur Wiedergabe dieser Musik als geradezu ideal bezeichnen kann. Es handelt sich um eine romantisch-symphonische Orgel, deren Disposition allerdings deutliche Einflüsse der Elsässer Orgelreform zeigt, mit welcher Schmidts Ansichten im Bezug auf den Orgelbau im Wesentlichen übereinstimmten. Sie gestattet einen opulenten, warmen, vielfältig abgestuften Klang durch trennscharf voneinander abgehobene Register, was der Darstellung der Schmidtschen Polyphonie mit ihrer mitunter komplizierten Chromatik sehr zugute kommt.

Mit seiner Gesamtaufnahme der Orgelkompositionen Schmidts, die bei Ambiente Audio erscheint, ist Jetter jetzt bei der Hälfte angekommen. Die beiden vorliegenden Alben Königsfanfaren und Silberglanz geben jeweils eine gute Vorstellung von der Vielseitigkeit des Komponisten. Königsfanfaren kombiniert die beiden großen Variationswerke, die Variationen und Fuge über ein eigenes Thema D-Dur (über die Königsfanfaren aus der Oper Fredigundis) und die Chaconne cis-Moll, mit den kürzesten Orgelstücken Schmidts, den Vier kleinen Choralvorspielen. Silberglanz (der Titel spielt auf die Orgel des Franziskanerklosters in Preßburg/Bratislava an, die Schmidts Klangideal nachhaltig beeinflusste) vereint die in Ausmaß und Charakter sehr unterschiedlichen Präludien und Fugen in Es-Dur und A-Dur mit der Toccata C-Dur und dem großen Choralvorspiel über Der Heiland ist erstanden.

Einige dieser Werke stellen bereits durch ihre gewaltige Ausdehnung immense Ansprüche an die Organisten. So sind Präludium und Fuge Es-Dur mit 36 Minuten Aufführungsdauer etwa anderthalbmal so lang wie die längsten entsprechenden Werke Max Regers und knapp dreimal so lang wie diejenigen Johann Sebastian Bachs. Davon entfallen 20 Minuten auf die Fuge allein. Das Präludium ist ein symphonisches Allegro, vergleichbar dem Kopfsatz von Schmidts Zweiter Symphonie. Die halbstündige Chaconne gliedert sich in vier große Abschnitte, die jeweils in einer Kirchentonart stehen (äolisch, lydisch, dorisch und ionisch), stellt also eine Art Orgelsymphonie in Variationenform dar. Der Choral Der Heiland ist erstanden wird im entsprechenden Choralvorspiel nicht nur einmal präsentiert, sondern erscheint in dorischem Modus, in „normalem“ Moll, schließlich in Dur, dabei auf verschiedene Weise kontrapunktisch bearbeitet: in asketischer Zweistimmigkeit, als Versettenfuge, in dialogischem Satz zwischen Oberstimme und Pedal, imitatorisch im Pedal unter rauschenden Figurationen der Manuale…

Gerade in diesen groß dimensionierten Kompositionen zeigt sich Jetters Meisterschaft im Umgang mit Schmidts Musik. Seine Aufführungen entwickelt er aus den Gegebenheiten des Raumes. Er musiziert mit der Akustik der Kirche, nicht gegen sie, und erzeugt durch kluge Nutzung des Nachhalls spannungsvolle, „sprechende“ Generalpausen, welche sich besonders in der zerklüfteten Struktur des Es-Dur-Präludiums bewähren. Mit den Besonderheiten der Harmonik Schmidts, die oft das Ergebnis des Gegeneinanders chromatischer Linien ist, ist er wohlvertraut, sodass er die großen Spannungsbögen der Musik optimal nachvollziehen und gestalten kann. Hervorheben möchte ich namentlich die introvertierten Abschnitte, wenn sich die Musik immer mehr in die Stille zurückzuziehen scheint. Jetter nimmt seine Hörer bis in die verborgensten Winkel des Schmidtschen Kosmos mit, behält aber bei allem Sinn für die schönen Einzelheiten stets die Übersicht über das Ganze und zeigt, wie kurzweilig und vielschichtig diese monumental ausladenden Werke sind.

Jetters Kunst, den gewaltigen Gebläseapparat einer Orgel durch geschmeidige Artikulation wirklich zum Singen bringen, ist natürlich dort besonders am Platze, wo ausdrücklich ein vokaler Tonfall erwartet wird, nämlich in den Choralvorspielen, aber auch dem weihnachtlich getönten A-Dur-Präludium mit seiner pastoral wiegenden Melodik. Die C-Dur-Toccata ist unter seinen Händen weniger ein flottes Virtuosenstück als viel mehr ein in kraftvollen Wogen dahinfließender, silbrig glänzender Klangstrom.

Karl-Andreas Kolly: Franz Schmidt. The Piano Album

Capriccio, C5526; EAN: 845221055268

Mehr als drei Viertel der Spielzeit von Karl-Andreas Kollys bei Capriccio erschienener CD Franz Schmidt. The Piano Album entfallen auf Werke, die auch auf Jetters Königsfanfaren zu hören sind. Der Grund liegt schlicht und einfach darin, dass Franz Schmidt, obwohl als einer der großen Pianisten seiner Zeit anerkannt, nur sehr wenige Originalkompositionen für Klavier hinterlassen hat. Für ihn, der von der Orgel fasziniert war und innerlich immer ein Orchester hörte, besaß der sich rasch verflüchtigende Klavierklang wenig Reiz. Dass Schmidt überhaupt für das Instrument komponierte (und das auf dem von ihm gewohnten hohen Niveau!), lag vor allem an seiner Bekanntschaft mit Pianisten Paul Wittgenstein, der wiederholt Werke bei ihm bestellte: zwei konzertante Kompositionen mit Orchester, drei Kammermusikwerke in Quintettbesetzung und schließlich, kurz vor Schmidts Tod, eine Solo-Toccata, die wie ein Gruß über die Jahrhunderte hinweg an Altmeister Sweelinck klingt. Da Wittgenstein durch eine Verwundung im Ersten Weltkrieg seinen rechten Arm verloren hatte, sind alle diese Werke Schmidts der linken Hand allein zugedacht. Die einzige originale Komposition, die Schmidt für Klavier zu zwei Händen schrieb, ist eine vierminütige Romanze, die als privates Geschenk für seinen Trauzeugen zu Lebzeiten unveröffentlicht blieb: ein kleines Juwel, das Schmidts harmonische Kunstfertigkeit auf wenigen Takten zusammenfasst und in den Glockenklängen des Mittelteils den französischen Impressionisten auffallend nahekommt. Aufgrund dieser in quantitativer Hinsicht mageren Ausbeute, entschied sich Karl-Andreas Kolly, der bereits Schmidts Klavierkonzerte eingespielt hat, drei Orgelwerke des Komponisten für Klavier zu bearbeiten, um ihm zum 150. Geburtstag ein Solo-Album widmen zu können. So wird der Großteil der CD von den Transkriptionen der Chaconne, der Fredigundis-Variationen und des Choralvorspiels über O, wie selig seid ihr doch, ihr Frommen eingenommen.

Ich frage mich, was Schmidt wohl dazu gesagt hätte, hätte er Kollys Darbietungen seiner Orgelmusik auf dem Klavier hören können. Meines Erachtens hat der Pianist die selbstgestellte Aufgabe glänzend gelöst und es geschafft, die Werke den Bedingungen des Klaviers optimal anzupassen. Namentlich die Chaconne klingt, als wäre sie nie für ein anderes Instrument geschrieben gewesen. Die fehlende Möglichkeit der Registrierung kompensiert Kolly mit sehr abwechslungsreicher Artikulation und feiner Abstufung der Dynamik. Das rasche Entschwinden des Klavierklangs lässt ihn deutlich schnellere Tempi wählen als Andreas Jetter: Mit der Chaconne ist er in gut 23 Minuten, mit den Variationen über die Königsfanfaren in knapp 20 Minuten fertig. Auf der Orgel der Dornbirner Kirche wären das überhetzte Zeitmaße, für die Darbietung auf dem Klavier sind sie jedoch genau richtig, um den feierlichen, würdevollen Grundcharakter der Kompositionen hervortreten zu lassen. In der Nachzeichnung der melodischen Linien, der sorgfältigen Phrasierung und dem Streben, dem Tasteninstrument größtmögliche Kantabilität zu verleihen, überzeugt Kolly nicht minder als Jetter, sodass es ein Vergnügen ist, die betreffenden Werke in den Aufnahmen beider Musiker vergleichend anzuhören.

Zwei wahre Meister sind hier für Franz Schmidt auf den Tasten tätig gewesen, deren Einspielungen uneingeschränkt zu empfehlen sind. Im Falle Andreas Jetters darf man auf die noch ausstehenden Folgen seiner Gesamtaufnahme gespannt sein.

[Norbert Florian Schuck, Mai 2025]

Verleihung des Ernst von Siemens Musikpreises 2025 an Sir Simon Rattle

Bei der Verleihung des Ernst von Siemens Musikpreises 2025 an den Chefdirigenten des BRSO, Sir Simon Rattle, wurden wie üblich auch die diesjährigen Förderpreisträger geehrt: für Komposition Ashkan Behzadi, Bastien David und Kristine Tjøgersen. Die Preise für Ensembles gingen an collective lovemusic aus Strasbourg bzw. das Tacet(i) Ensemble aus Bangkok. Drei Stücke der Nachwuchskomponisten wurden vom Riot Ensemble unter Leitung von Aaron Holloway-Nahum vorgestellt. Für Arnold Schönbergs Kammersymphonie Nr. 1 E-Dur op. 9 dirigierte Simon Rattle 15 Mitglieder des BRSO.

V.l.n.r.: Sir Willard White, Ilona Schmiel, Sir Simon Rattle, Bastien David, Tabea Zimmermann, Kristine Tjøgersen, Ashkan Behzadi © EvS-Musikstiftung/Astrid Ackermann

Auch die diesjährige Preisverleihung der Ernst von Siemens Musikstiftung fand im Münchner Herkulessaal statt, erneut moderiert von Annekatrin Hentschel vom Bayerischen Rundfunk. Offensichtlich hatte man aus der für die Anwesenden fast unerträglichen Überlänge der Veranstaltung im vorigen Jahr gelernt und kam mit perfekt durchorganisierten 130 Minuten aus, so dass die Gäste beim anschließenden Empfang nicht schon todmüde waren. Die Vorsitzende des Stiftungsrats, Tabea Zimmermann, durfte trotzdem stolz eine noch nie dagewesene Summe von gut 4 Mio. € eingesetzter Fördermittel für diverse Projekte in mittlerweile über 30 Ländern verkünden. Und sie schien ebenfalls erleichtert über die – vorerst – abgewendete geplante GEMA-Reform mit absehbar katastrophalen Folgen für den Bereich der klassischen Musik. Die kurzen Porträtfilme über die Förderpreisträger Komposition bzw. Ensemble von Johannes List konnten nach den etwas infantilen Ausrutschern nun wieder an das gewohnte Niveau von vor 2024 anknüpfen. Sie machten Lust auf die geförderten Ensembles collective lovemusic aus Straßburg bzw. Tacet(i) aus Bangkok – von Neuer Musik aus Südostasien hört man bei uns ja so gut wie nie etwas – und trugen nicht unwesentlich zum Verständnis der dann folgenden Live-Beiträge mit Musik der jungen Komponisten bei. Insgesamt hatte man sich für den Nachwuchs – falls diese Bezeichnung bei teils schon über 40-jährigen Künstlern überhaupt noch angemessen ist – mehr Zeit genommen als für den Hauptpreisträger, aber zum Glück die Rituale der Preisverleihung etwas eingedampft.

Die Stücke der Förderpreisträger Komposition wurden vom kleinen, in den Niederlanden ansässigen Riot Ensemble unter Leitung von Aaron Holloway-Nahum dargeboten: Bei Carnivalesque (iii) (2014/17) des gebürtigen Iraners Ashkan Behzadi (*1983), der später in Montreal und New York ausgebildet wurde, wo er nun lebt und selbst an der Manhattan School of Music lehrt, durften die Musiker noch weitgehend auf zumindest halbwegs vertraute Spielweisen zurückgreifen: unterschiedliche Texturen mit spannenden Kontrasten, kaleidoskopartig und dennoch verbunden, handwerklich kunstvoll ausgearbeitet. Nur warum die Musik kurz vor Schluss beinahe auf der Stelle trat, verstand man beim ersten Hören überhaupt nicht.

Die Musik des Franzosen Bastien David (*1990), der u. a. bei José Manuel López López und Gérard Pesson studierte, ist hinsichtlich der Klangerzeugung dagegen völlig kompromisslos: In Six chansons laissées sans voix (2020) werden stimmliche Lautäußerungen ganz ungewöhnlich auf Instrumente übertragen: Bogen auf Holzlamellen, – allenfalls hier erkennt man Tonhöhen – Reiben eines Luftballons mit einem feuchten Schwamm, Ziehen einer Angelschnur über eine Harfensaite etc. Dies wirkte vor allem erst einmal hübsch perkussiv, und man fühlte sich an afrikanische Musik erinnert, aber dann vermittelte sich über dieser Basis leider so gut wie nichts: Den Rezensenten langweilte diese erschreckend dünne Substanz recht bald. Vor ein paar Jahren hat David ein kreisförmiges Metallophon mit 216 im Abstand von jeweils einem Zwölftelton gestimmten Lamellen erfunden. Sowas ist eigentlich ebenfalls ein alter Hut: Man denke an das Instrumentarium eines Harry Partch und das in diesem Zusammenhang von Dean Drummond entwickelte Zoomoozophone

Die Norwegerin Kristine Tjøgersen – zunächst Klarinettistin, erst relativ spät in Linz bei Carola Bauckholt zur Komponistin ausgebildet – vertraut ebenfalls kaum noch traditioneller Handhabung ihres fantasiereichen Instrumentariums: So wird in ihrem preisgekrönten Klavierkonzert keine einzige Taste gedrückt. Sie entdeckt ihre Klangwelten und die zur Produktion nötigen Utensilien vielmehr in der Natur, sei dies unmittelbar im Wald oder in Forschungsergebnissen von Biologen – so wie den Unterwasseraufnahmen singender Fische am Great Barrier Reef, die sie zu Seafloor Dawn Chorus (2018, rev. 2025) inspiriert haben und die sie für dieses Stück quasi transkribiert hat. Auch wenn dies keine simple Mimesis darstellt, beeindruckte Tjøgersens Musik durch Natürlichkeit, fassliche Schönheit und vermittelte durchaus etwas von der – hier sei der altmodische Begriff erlaubt – Erhabenheit der Schöpfung, die es zu bewahren gilt. Der dahinterstehende Aufruf zum politischen Handeln erinnerte den Rezensenten – nicht nur wegen des Titels – an Liza Lims „Extinction Events and Dawn Chorus“; tatsächlich entstand Tjøgersens Werk jedoch gleichzeitig und rief im Herkulessaal allgemeine Bewunderung hervor.

Den diesjährigen Hauptpreisträger Sir Simon Rattle muss man an dieser Stelle sicherlich nicht mehr vorstellen. Kaum ein Dirigent hat sich schon in ganz jungen Jahren so energisch für die Aufführung zeitgenössischer Musik eingesetzt wie er und ist mittlerweile von seinem Repertoire her derart breit aufgestellt. Und wenn man beobachtet, wie das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks nach dem Tod Mariss Jansons‘ und der nachfolgenden, lähmenden Pandemie seit seinem Amtsantritt erst vor zwei Jahren wieder zu einem der am hinreißendsten musizierenden Klangkörper weltweit aufgeblüht ist, ist dies allein schon Hochachtung wert, verbunden mit der Hoffnung, dass er München als Dirigent noch möglichst lange erhalten bleiben möge. Die warmherzige Laudatio hielt der Bariton Sir Willard White, Rattles Weggefährte seit fast 45 Jahren – und mit solch wunderbarer Stimme, die als Porgy oder Wotan wohl jedermann zutiefst bewegt, geriet dessen Verneigung vor einem großen Künstler umso eindringlicher und glaubwürdiger.

Simon Rattle selbst wollte sich in seinen Dankesworten bewusst kurz halten und lieber musizieren, und so soll hier lediglich darauf hingewiesen werden, dass Sir Simon das Preisgeld für ein ins BRSO eingebettetes Ensemble mit historischen Instrumenten einsetzen möchte – man darf gespannt sein. Zum Ausklang der Veranstaltung hatte Rattle dann Arnold Schönbergs Kammersymphonie Nr. 1 E-Dur op. 9 ausgewählt, ein schon historisch geradezu ideales Vorzeigestück für 15 Instrumentalisten, und erwähnte mit Respekt, dass sein anwesender Lehrer John Carewe diese schon seit 70 Jahren draufhat. Rattle leitete das Schönberg-Stück natürlich auswendig und mit feinster handwerklicher Virtuosität. Seine Solisten aus dem BRSO folgten dem energischen und bis ins Detail stimmigen Konzept mit Freude und Engagement, und so wurde aus einem recht komplexen, etwas sperrigen Werk ein emotional vielschichtiges und begeisterndes Erlebnis, für das sich der Saal mit starkem Beifall bedankte.

[Martin Blaumeiser, 19. Mai 2024]

Hochemotional und kultiviert: Simone Young dirigiert beim BRSO Werke der Zweiten Wiener Schule

Im Konzert des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks am 15. Mai 2025 erklangen in der Isarphilharmonie unter Leitung der exzellent vorbereiteten Simone Young drei Meilensteine der Neuen Wiener Schule: Anton Weberns „Fünf Stücke für Orchester op. 10“, Alban Bergs „Drei Orchesterstücke op. 6“ und Alexander Zemlinskys „Lyrische Symphonie“ – mit der Sopranistin Maria Bengtsson sowie dem Bariton Michael Volle.

Maria Bengtsson, Simone Young und Michael Volle mit dem BRSO © BR/Astrid Ackermann

Christopher Mann nennt in seiner Einführung mit der schon dabei gut aufgelegten australischen Dirigentin Simone Young sogleich den Namen, der über allen folgenden Darbietungen schwebt: Arnold Schönberg. Als Schüler und späterer Schwager Alexander Zemlinskys (1871–1942) gilt er ja als Begründer der Zweiten Wiener Schule; und er war wiederum Lehrer von Anton Webern (1883–1945) und Alban Berg (1885–1935). Die drei Werke des Abends entstanden innerhalb von nur 12 Jahren – zwischen 1911 und 1923 – und sind relativ selten zu hören: Weberns Fünf Stücke für Orchester op. 10 wegen ihrer minimalistischen Besetzung kaum in Programmen mit großen Klangkörpern, Bergs Drei Orchesterstücke op. 6 genau umgekehrt wegen des geforderten Riesenapparats, und Zemlinskys Lyrische Symphonie hat an diesem Donnerstag gar ihre Erstaufführung beim BRSO.

Weberns Orchesterminiaturen op. 10 (1911/13) sind quasi ein Gegenentwurf zu seinen großbesetzten 6 Orchesterstücken op. 6, die wiederum Vorbild für Berg waren. Von den gut 20 Instrumenten – darunter allerdings Exoten wie Mandoline, Celesta oder Röhrenglocken – erklingen oft nur wenige gleichzeitig. Der klangliche Reichtum und die Konzentration des Ausdrucks der insgesamt (!) nur etwa fünf Minuten dauernden Stücke verlangt von den Musikern höchste Präzision und in einem so großen Saal extrem gutes Aufeinander-Hören. Simone Young – u. a. zehn Jahre GMD an der Hamburgischen Staatsoper – zeigt, nur hier ohne Taktstock, alles genauestens an, insbesondere die sehr delikat auf den Raum abzustimmende Dynamik. Die erstaunlich phantasievollen, knappen musikalischen Gesten werden so zu echten Kabinettstückchen. Einfach grandios, wie man in der Isarphilharmonie etwa am Schluss des dritten Stücks die große Trommel im ppp mehr über den Solarplexus als über das Gehör wahrzunehmen glaubt. Aber verglichen mit dem, was danach kommt, ist dies natürlich nur ein Appetizer.

Bergs Drei Orchesterstücke op. 6 – vollendet unmittelbar bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs – warten nun mit einem Orchester auf, das selbst Mahlersche Dimensionen zu sprengen scheint. Sie sind vielleicht der Inbegriff des musikalischen Expressionismus, von ihrer emotionalen Intensität wie von der strukturellen Komplexität her, die keine „Füllstimmen“ kennt: Alles hat thematisch-motivisches Gewicht und stellt Dirigenten bei der Herstellung einer dynamischen Balance, die sowohl die Details hörbar macht, zugleich die Schichtungen von Haupt- und Nebenstimmen verständlich abbildet, vor bis dato völlig unbekannte Probleme. Zudem sind schon die rein instrumentalen Anforderungen an sämtliche Spieler exorbitant: Die 1. Posaune z. B. beginnt direkt mit einem hohen es“. Rhythmisch wird es ebenfalls dicht, obwohl keine Orgie an Taktwechseln notiert ist, wie etwa in Strawinskys Sacre. Frau Young koordiniert dies alles nicht nur perfekt, sondern geht auch emotional mit, ohne je übers Ziel hinauszuschießen: zutiefst beeindruckend. Alles bleibt klar, sieht immer geschmeidig aus, und mit der linken Hand gibt die Dirigentin nicht nur alle wichtigen Einsätze, sondern klug disponierend stets sehr deutliche dynamische Impulse. Die instrumentale Virtuosität und Empathie der Musiker des BRSO wird dem in jeder Weise gerecht. Vom anfangs noch wie in Schleier gehüllten Präludium über den unwirklichen Reigen streift der Zuhörer fast wie ein Voyeur in einem von Wänden unbehinderten Flug quer durch verschiedenste morbide Tanzböden, wo Walzer- und Ländler-Fetzen nur momentweise und perspektivisch verzerrt erscheinen, dabei längst keine fin-de-siècle Hochstimmung mehr aufkommen mag. Der Marsch schließlich wird zum reinen, gewalttätigen Horrortrip: wie eine Vision der noch ungeahnten Gräuel des beginnenden Krieges. Und hier darf der mörderische Holzhammer aus Mahlers Sechster tatsächlich dreimal aktiv werden – bis zum bitteren Ende. Wie kultiviert und farbig das dann trotzdem klingt, ist an diesem Abend schon ein kleines Wunder, das sofort erste Bravorufe provoziert.

Vor gut einem Jahr litt das Münchner Rundfunkorchester bei Zemlinskys Lyrischer Symphoniewir berichteten – unter Sänger-Absagen und unglücklichem Timing: nur einen Tag nach dem Jubiläumskonzert des BRSO. Dieses konnte nun unter optimalen Bedingungen seine erste Bekanntschaft mit dem lange unterschätzten Stück machen, das erst seit den 1980er Jahren als gleichrangig zu Mahlers Lied von der Erde anerkannt wird. Liegt die Gemeinsamkeit in der Verwendung asiatischer Dichtung, – hier des Bengalen Rabindranath Tagore – zielt Mahlers Vertonung mehr auf Weltschmerz, Zemlinskys imaginäre Liebesgeschichte hingegen auf ein wenig stereotype psychologische Innenwelten von Mann und Frau, jedoch als Individuen. Zemlinsky ging indes nicht den Weg Schönbergs und seiner Schüler in die Zwölftontechnik mit. Das BRSO unter Simone Young bringt den orchestralen Farbreichtum der tonalen, harmonisch zwischen Modalität und sensibler Chromatik pendelnden Partitur, an faszinierend schönen Details noch über Mahler oder Berg hinausgehend, in voller Pracht zur Geltung. Dabei trägt der große symphonische Bogen über das gesamte Werk. Ausdruck, Tempi, sehr differenzierte, bewusste Agogik und Balance stimmen auf den Punkt. Das übertrifft die gute Aufführung des Rundfunkorchesters dann doch nochmals spürbar.

Michael Volle erfasst als Heldenbariton ohne Sentimentalität und Pathos, aber mit Bestimmtheit und guter Textverständlichkeit, die Vorgaben des Komponisten exakt: Bis zum Schluss „ist der tiefernste, sehnsüchtige, doch unsinnliche [!] Ton des ersten Gesanges festzuhalten.“ Die Ausdruckswelten der Frau sind vielschichtiger und extremer. Dafür reicht der von Zemlinsky angedachte jugendlich-dramatische Sopran der jungen Schwedin Maria Bengtsson nicht ganz aus. Bei „Mutter, der junge Prinz…“ fehlt ihr schlicht das stimmliche Fundament und die Genauigkeit der Artikulation, um über das schillernde Orchester herüberzukommen. Hierzu bräuchte es wohl doch eine Strauss-Stimme, die eher Salome oder die Kaiserin als die Marschallin beherrscht. Da dem Rezensenten Michael Volles Stimme von Opern- und Konzertbühne gut vertraut ist, und dessen Timbre hier ebenso heller wirkt als „normal“, mag daran freilich die Akustik des HP8 mal wieder eine gewisse Mitschuld haben. Im musikhistorisch nachwirkenden vierten Gesang „Sprich zu mir, Geliebter“ wird sowohl der Sopranpart als auch das Violinsolo besonders zärtlich und mit Wärme gestaltet, vielleicht ein wenig zu passiv und verhalten. Das ist jedoch anscheinend das Konzept der Dirigentin, die bei der umsichtigen Begleitung der Gesangssolisten ihre lange Opernerfahrung gekonnt einbringt. Absolut ergreifend gelingt Bengtsson dann ihr letzter Gesang „Vollende denn das letzte Lied“ mit seinen bereits nicht mehr tonalen, eiskalten Linien, wo sie glaubwürdig voll aus sich herausgeht. Die nächtlichen Klangfarben des einsamen Endes in ihrer fantastischen Instrumentation – die letzte Partiturseite ist ein Wunderwerk – gelangen mit der großen Streicherbesetzung wirklich zauberhaft ans Publikum.

Insgesamt ein selbst für BRSO-Verhältnisse außergewöhnlich gelungener Abend, der mit begeistertem Applaus für alle Ausführenden honoriert wird. Diejenigen Abonnenten, die dem Konzert – wegen des vermeintlich anstrengenden Repertoires? – ferngeblieben waren, haben da leider eine Weltklasse-Leistung verpasst.

[Martin Blaumeiser, 16. Mai 2025]

Porträtkonzert für Pascal Dusapin bei der musica viva

Am 25. April 2025 widmete die musica viva im Münchner Herkulessaal ein gesamtes Konzert dem großartigen französischen Komponisten Pascal Dusapin (*1955), der Ende Mai einen runden Geburtstag feiert. Unter Leitung der Dirigentin Ariane Matiakh spielte das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks neben den Soli Nr. 6 und 7 für Orchester und dem Violinkonzert „Aufgang“ mit dem Uraufführungssolisten Renaud Capuçon noch „Wenn du dem Wind…“ – drei Szenen aus der Oper Penthesilea mit der Mezzosopranistin Christel Loetzsch.

Loetzsch, Capuçon, Dusapin, Matiakh © Astrid Ackermann/BR

Zugegebenermaßen mag der Rezensent musica viva Konzerte, in denen Kompositionen von nur einem zeitgenössischen Komponisten erklingen, mit am liebsten, weil man sich dabei – zumeist – auf nur einen Stil und eine dann hoffentlich individuelle Klangwelt einstellen muss als von oft sehr heterogenen Programmen quasi durchgeschüttelt zu werden. Der Franzose Pascal Dusapin feiert Ende Mai seinen siebzigsten Geburtstag und ist in seiner Heimat seit über 30 Jahren ein echter Star, in Deutschland mit seinen Werken noch ein wenig unterrepräsentiert, wenn auch gerade in München kein Unbekannter mehr: Zuletzt war vor knapp zwei Jahren im Herkulessaal sein sehr kontemplatives Orchesterwerk „Konzert Nr. 1 für großes Orchester“ Morning in Long Island zu erleben – siehe unsere Rezension. Als einziger Schüler Iannis Xenakis‘ ist seine Musik zwar von mathematischen Konzepten durchdrungen, im Vordergrund steht aber immer vermittelbare Emotionalität an oberster Stelle: Der vor allem von Literatur und bildender Kunst geprägte Dusapin legt stets Wert darauf, sein Publikum tatsächlich zu erreichen; sicher mit ein Grund seines Erfolges.

Die beiden Orchesterstücke Reverso (Solo Nr. 6, 2006) und Uncut (Solo Nr. 7, 2009) sind die beiden letzten Teile eines fast 20 Jahre währenden Projekts einer Art Symphonie, die sich zwar „wie russische Babuschkas“ (Dusapin) aus einzelnen Kompositionsaufträgen zusammensetzt, die jedoch im Hinblick auf ein großes Ganzes konzipiert wurden. Eine Gesamtaufführung aller sieben „Sätze“ am Stück (~ 100 Min.) hat indes bisher nicht stattgefunden, und auch die obigen Stücke erklangen am Freitag nicht hintereinander, weil dies ein zu großes zeitliches Ungleichgewicht der beiden Konzerthälften zur Folge gehabt hätte. Im Gegensatz zu den zahlreichen Konzerten für Orchester der letzten 100 Jahre, wo dann einzelne Gruppen bzw. Solisten besonders hervortreten dürfen, versteht Dusapin den Gesamtapparat als ein Instrument, was deutlich wahrnehmbar vor allem die Holzbläser eher entindividualisiert. Trotzdem zeigen Reverso und Uncut höchst unterschiedliche Charaktere. So erscheint Reverso als in den Raum zusammengefaltete Klangfläche, – wie ein skulpturales Objekt, etwa ein sich dynamisch verändernder Torus – bei der nicht einmal mehr der zeitliche Verlauf linear wahrgenommen wird, trotzdem mit einer sehr harmonischen Hüllkurve. Hier sind in den Feinstrukturen Einflüsse des Minimalismus hörbar, die ohne Aleatorik auskommen, zugleich die dynamische Energie eines Edgar Varèse, dessen Arcana ein musikalisches Schlüsselerlebnis für Dusapin war. Die vor allem in Wien ausgebildete französische Dirigentin Ariane Matiakh schlägt deutlich, leider meist parallel – die linke Hand gibt fast nur Einsätze – und durchweg zu groß, überzeugt durch sehr klares und organisches Timing, hervorragenden Überblick sowohl bei den übergeordneten dramatischen Verläufen als auch der Agogik im Detail. Weniger Kontrolle hat sie freilich über die Feindynamik: Wenn sie selten mal mit Links etwas anzeigt, schaut da schon niemand mehr hin. Das funktioniert bei den Soli noch ganz gut, erstaunlicherweise sogar bei den drei Opernszenen, rächt sich jedoch später im Violinkonzert. Uncut ist deutlich schärfer konturiert, farbiger, in den Extremlagen intensiver, beginnt mit einer Art Blechbläserfanfare – am Schluss gibt es für die Gruppe und das Schlagwerk Extra-Applaus – und wirkt schon aufgrund des rascheren Grundtempos eben überhaupt nicht statisch: große Begeisterung dafür beim Publikum.

Dusapin schreibt momentan bereits an seiner elften Oper, und seine Penthesilea (2015) – nach Kleists bizarrer Umdichtung des Mythos – gehört sicher zu seinen beeindruckendsten Werken. Aus dem kurzen Prolog und den Szenen 2 und 4 schuf der Komponist eine dreisätzige Suite für den Konzertgebrauch ‒ lediglich mit der Hauptprotagonistin als Vokalpartie. Die Mezzosopranistin Christel Loetzsch hat die im wahrsten Sinne des Wortes „mörderische“ Partie konzertant schon komplett mit Frau Matiakh aufgeführt, verfügt über eine außergewöhnlich präsente Höhe und beherrscht alle stimmlichen Facetten, die vom „normalen“ Operngesang über Sprechgesang, Sprechen, Geschrei bis zu animalischeren Lautäußerungen reichen ‒ dies zum Glück eher im tieferen Register ‒ gemäß den hochdifferenzierten Anweisungen der Partitur; und so werfen sich hier mit der souverän vermittelnden Dirigentin die Solistin und das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks in einem hochdramatischen Rausch gekonnt die Bälle zu. Wie vereinzelt bei manchen Ensemblewerken Xenakis‘ kommt der Harfe fast die Rolle eines Mediums zu, das ein gewisses Maß an Selbstreflexion bei der furienhaften Penthesilea ermöglicht. Was Frau Loetzsch gänzlich fehlt, ist leider ein für einen so großen Saal ausreichendes Fundament in der Mittellage und damit leider einhergehend jegliche stimmliche Wärme: Selbst mit der teils manierierten Überartikulation mancher Konsonanten ist nicht auszugleichen, was den Vokalen an Klangfarben mangelt. So bleibt die einstudierte Exaltiertheit streckenweise unglaubwürdig und ihr Vortrag geht doch stellenweise unter ‒ ohne Schuld des Orchesters. Trotzdem erntet die Sängerin am Schluss dieser emotionalen tour de force wahre Beifallsstürme.

Dusapins deutsch betiteltes Violinkonzert Aufgang von 2011 ist ein Musterbeispiel für sein Vermögen, zeitgemäße Klangwelten selbst in für viele Kollegen „überkommenen“ Formen kompromisslos zur Geltung zu bringen. Das Stück wird mit seiner traditionellen Dreisätzigkeit ‒ schnell, langsam, schnell ‒ schon äußerlich üblichen Hörerwartungen gerecht. Renaud Capuçon, bereits der Uraufführungsinterpret, hat den klangfarblichen Reichtum und die virtuos darzubietende Ausdrucksstärke des Werks in jeder Hinsicht verinnerlicht und kann die Schönheit und Energie des Violinparts mühelos aufs Publikum übertragen. Dieser erfordert Sanglichkeit in der Höhe, zupackende Verve, aber auch kontemplative Innigkeit in zahlreichen Solopassagen und extrem präzises Aufeinander-Reagieren zwischen Violinisten und Orchester. Diesem fehlt hier nun die erwähnte Kontrolle Frau Matiakhs über die Feindynamik, und so muss Capuçon leider – insbesondere bei Laufwerk – zu oft vergeblich um eine angemessene Balance kämpfen. Der sehr lange langsame Satz hat eine bemerkenswerte Steigerung nach der Mitte und endet dann in typisch Dusapinscher Melancholie. Das Finale ist absolut hinreißend und rundet ein vielschichtiges Konzert zu aller Zufriedenheit ab. Capuçon verzichtet trotz lautstarker Zustimmung allerdings auf die von manchem erwartete Zugabe.

[Martin Blaumeiser, 27. April 2025]

Mit Musik wird alles noch besser: Gisela Höhnes Buch „Dann mit RambaZamba“

Mitteldeutscher Verlag 2024; ISBN 978-3-96311-956-9

Was hat eine Rezension des Theaterbuchs Dann mit RambaZamba in einem klassischen Musikmagazin zu suchen? Auf den ersten Blick eher nichts, auf den zweiten recht viel. Denn es handelt sowohl von der Überwindung von Grenzen, als auch von der Bedeutung der Musik bei der künstlerischen Arbeit mit seelisch, geistig oder körperlich eingeschränkten Menschen. Dafür steht beispielhaft das Schauspielkollektiv RambaZamba, das untrennbar verbunden ist mit der Regisseurin Gisela Höhne. In ihrer kürzlich erschienenen Autobiographie erzählt sie sehr persönlich vom „Theater und Leben zwischen Tiefen und Höhen“, wie der Untertitel heißt.

Gisela Höhne wird 1949 im thüringischen Suhl geboren, wächst in Stralsund auf und zieht 1967 nach Berlin. Hier lebt sie ihre Theaterbegeisterung aus und beginnt zunächst ein Filmregie-Studium in Babelsberg. Damit nicht zufrieden wechselt sie an die renommierte Schauspielschule Ernst Busch, macht in Studentenproduktionen auf sich aufmerksam und tritt 1974 ein Engagement in Neustrelitz an. Doch 1976 ändert sich ihr Leben schlagartig, als ihr erster Sohn Moritz mit dem Down-Syndrom geboren wird. Sie entscheidet sich, den Beruf hintanzustellen, um ihn intensiv betreuen zu können. In der ehemaligen DDR ist eine angemessene Förderung begrenzt, deshalb wird Gisela Höhne selbst aktiv, kämpft gegen Vorurteile und findet Möglichkeiten, die Entwicklung von Moritz positiv zu beeinflussen. Aber irgendwann merkt sie, wie ihr das Theater fehlt. Deshalb studiert sie, als die Kinder aus dem Gröbsten heraus sind – 1979 kommt der zweite Sohn Jacob zur Welt –, Dramaturgie und Theaterwissenschaft. Parallel dazu entsteht die Idee, mit Menschen einer anderen geistigen Ordnung – wie Gisela Höhne sie nennt – künstlerisch zu arbeiten. Sie beginnt mit Moritz und Jugendlichen aus seinem Umfeld, kleine artistische Zirkusstücke zu erarbeiten.

Daraus entsteht 1990 die Kunstwerkstatt Sonnenuhr e.V. und 1991 das Theater RambaZamba, das Gisela Höhne zusammen mit ihrem langjährigen Partner, dem Regisseur Klaus Erforth entwickelt. Das Ensemble besteht aus Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen, deren Potential die beiden in rund 40 Inszenierungen sensibel erwecken und dadurch ihr Selbstbewusstsein stärken.

Dass dazu ein langer Weg des Probierens und Herantastens und die Überwindung von Herausforderungen multipler Art gehören, verschweigt Gisela Höhne nicht. Sie kämpft um Finanzen, Räume, Stellen und leistet Überzeugungsarbeit bei politisch Verantwortlichen. Künstlerisch ist sie da schon längst etabliert. Die ausgewählten Stücke sind zwar anspruchsvoll –, etwa Shakespeares Wintermärchen, Medea oder Woyzeck neben Eigenkreationen – doch werden sie den darstellerischen Möglichkeiten der Truppe angepasst. Phantasie und Improvisation sind genauso Mittel wie die Einbeziehung von Musik und einer eigenen Band – auch wegen der eingeschränkten Artikulation mancher Mitspielenden. Nur drei Beispiele: Winterreise, eine poetische szenische Aufführung von Schuberts Liederzyklus, arrangiert für Schlagwerk, Geige und Gitarre mit tänzerischen Elementen; die freche Chanson-Revue Am liebsten zu dritt über ein Tabuthema: dass Menschen mit Down-Syndrom möglichst keine Kinder bekommen sollen; die eigenwillige Opernadaption Orpheus ohne Echo zu von Maria Callas gesungenen Arien.

Die Beschreibung der Inszenierungen macht einen besonderen Reiz des Buches aus, ein anderer sind die Porträts einiger Mitwirkenden mit ihren Stärken, Schwächen und Eigenarten. Gisela Höhne hat für ihre Idee gerungen und gewonnen. „Für mich erfüllt sich ein Traum“ beschreibt sie ihr Gefühl, als das RambaZamba am Anfang seines Bestehens im Deutschen Theater auftritt, dem sich später europaweite Gastspiele anschließen. Dank ihres unermüdlichen Einsatzes und dem vieler guter Geister – genannt sei stellvertretend die musikalische Allroundfrau Bianca Tänzer –, die mit Leib und Seele dabei sind, erreicht sie die Professionalisierung des RambaZamba. Auch dafür erhält sie 2009 das Bundesverdienstkreuz. Heute verfügt die vielfach ausgezeichnete Truppe über feste Arbeitsplätze, hat ihren Platz in der Berliner Kulturbrauerei gefunden und arbeitet mit Schauspiel- und Regiegrößen zusammen. 2017 übergibt Gisela Höhne die Geschäftsführung und Intendanz an ihren inszenierenden Sohn Jacob. Dann mit RambaZamba ist nicht nur für Kulturinteressierte lesenswert. Das mit zahlreichen Farbfotos angereicherte Buch bricht eine Lanze für gelungene Inklusion und richtet einen liebevollen Blick auf zu wenig beachtete Menschen.

[Karin Coper, April 2025]

Klingende Musikgeschichte – Stationen des Historischen Bildungskonzerts vom 17. Jahrhundert bis heute

Um in das Thema einzuführen, möchte ich mit einer kleinen autobiographischen Begebenheit beginnen. Als ich vor vielen Jahren meinen damaligen Musiklehrer in der gymnasialen Oberstufe mit Blick auf eine nahende Prüfung fragte, ob er mir Literatur empfehlen könne, die einen fundierteren Überblick über die Musikgeschichte vermittelt, erhielt ich folgende Antwort: „Schau dir doch einfach diese Konzertserie von Bernstein an.“ Freilich hatte ich damals bereits von Leonard Bernstein gehört, aber die von meinem Lehrer angedeutete Konzertreihe war mir bis dato unbekannt. Mit diesen recht spärlichen Informationen machte ich mich an das (letztlich recht aufwendige) Unternehmen, mir irgendwoher das besagte Material zu beschaffen. Was mir mein Lehrer damals empfahl, waren die sogenannten Young People’s Concerts, die Bernstein in den späten 50er bis frühen 70er Jahren mit dem New York Philharmonic Orchestra überaus erfolgreich präsentierte.

Diese Konzerte, in denen Bernstein mit all seiner medialen Vermittlungskompetenz und vor allem seinem Charisma klassische Musik einem damaligen Millionenpublikum durch das Fernsehen näherbrachte, sollte letztlich auch mein Interesse nicht nur für die Musikgeschichte allgemein, sondern speziell auch für die Art ihrer Aufbereitung und Vermittlung beeinflussen. Ich kann meinen biographischen Einstieg vielleicht dahingehend bilanzieren, dass Bernstein mit seinen Young People’s Concerts sicherlich dazu beigetragen hat, dass ich mich später für das Studium der Musikwissenschaft entschied.

Wenn man einmal grundsätzlich über den hier angerissenen Zusammenhang von Musikgeschichte, musikgeschichtlicher Bildung und deren Vermittlung ins Nachdenken gerät, so gelangt man fernab der traditionellen Formate musikhistorischer und -historiographischer Aufbereitung auch zu dem Phänomen des Historischen Konzerts. Genauer gesagt, zum Historischen Bildungskonzert im Sinne einer klingenden Vermittlung von Musikgeschichte. Im Zuge einer Recherche nach dem Ursprung und zentralen Entwicklungsstationen dieses Konzerttypus wird recht schnell offensichtlich, dass das Format durch die Geschichte hindurch häufig mit konkreten Bildungsintentionen verknüpft wurde. Diese Vermittlungsabsichten dokumentieren sich vor allem in der Art und Weise der Selektion von bestimmtem Repertoire sowie in den die Konzerte zumeist flankierenden Werkkommentaren der Programmverantwortlichen, in denen die Begründung der intendierten Auswahl mitgeliefert wird.

Im Folgenden möchte ich mich auf ausgewählte Fallbeispiele des Historischen Konzerts im Zuge eines kleinen „Gänsemarschs der Epochen“ (Ernst Bloch) konzentrieren und dabei die den Konzerten zugrundeliegenden Bildungsintentionen erläutern. Die Frage nach den Absichten, wie und warum bestimmte Kompositionen ausgewählt und kommentiert werden, damit sie in der Funktion einer übergeordneten musikgeschichtlichen Bildungsidee aufgehen, stellt das verbindungsstiftende Motiv meiner Ausführungen dar.

I. Das Historische Konzert als tönende Theologie im 17. Jahrhundert

Den Anfang meines Überblicks bildet eines der wohl frühesten Historischen Konzerte aus dem damals protestantisch geprägten Nürnberg um die Mitte des 17. Jahrhunderts. Bei diesem Exempel handelt es sich weniger um die Absicht einer Wiederbelebung älterer Musik um ihrer selbst willen, als vielmehr um die wohldurchdachte Darbietung von Kompositionen, die so etwas wie eine chronologisch sortierte, klingende Geschichte der christlichen Musik bot.

Was wissen wir über das betreffende Konzert, das am 31. Mai 1643 in Nürnberg stattfand? Dokumentiert ist, dass der damalige Professor für Theologie der Nürnberger Universität, namens Johann Michael Dilherr, ein großer Liebhaber und Kenner der Musik war, und dass eben dieser Dilherr ein Gesuch an den Rat der Stadt richtete, um eine sogenannte „Entwerffung des Anfangs, Fortgangs, […] Brauchs und Mißbrauchs der Edlen Music“ ausrichten zu dürfen, was dann auch positiv beschieden wurde. Über den Inhalt und Ablauf des Konzerts im großen Stadtsaal geben die Chroniken des Nürnberger Archivs recht genaue Auskunft. Man kann zunächst festhalten, dass dieses in jederlei Hinsicht groß angelegte Konzert einiges Aufsehen in der Stadt erregte, was umso mehr erstaunen mag, als wir uns in einer Zeit omnipräsenter Konflikte, verursacht durch die Wirren des Dreißigjährigen Krieges, befinden. Doch die Stadtchronik gibt wieder, dass nicht nur das nahezu gesamte, verfügbare Personal an städtischen Musikanten, Stadtpfeifern, Sängern, Kantoren und Organisten aufgeboten wurde, sondern dem Konzert schließlich auch eine „unglaubige Menge Volks, ja wohl etliche Taußend Menschen“, beigewohnt haben muss.

Das Konzertprogramm, welches Dilherr ausgewählt und in einer lateinischen Vorrede ausführlich erläutert hat, vollzieht zunächst eine Entwicklung der biblischen Musikgeschichte nach. Die unverkennbare theologisch motivierte Kontextualisierung des Programms stand dabei im Dienste der Veranschaulichung, welche Bedeutung und welcher Nutzen der musica sacra seit der Erschaffung der Welt zukam. Entsprechend reicht der erste Teil des Programms von einem anfänglichen Gesang dreier Diskantisten im Sinne einer Versinnbildlichung der Engels- oder Himmelsmusik mit Texten aus dem Genesisbericht, über Harfen- und Flötenspiel in Erinnerung an Jubal, dem biblischen Erfinder der Instrumente, über alttestamentarische Psalmgesänge der Erzmusiker David und Salomo bis hin zu neutestamentarischen Lobliedern anlässlich Jesu Verkündigung – um hier nur einige der dargebotenen Stücke aufzulisten. Nach Abschluss dieses biblischen Programmteils kam es dann zu einem zeitlichen Wechsel innerhalb des Konzertablaufs. Denn durch Dilherrs Wahl eines gregorianischen Chorals bewegte sich das Programm fortan erstmals auf dem Boden musikgeschichtlicher Tatsachen. Es folgten sodann Beispiele für mehrstimmige Figuralmusik (u. a.) von Johannes Ockeghem, womit wir uns bereits mitten im 15. Jahrhundert befinden, sowie eine Motette Orlando di Lassos, also eines Vertreters des 16. Jahrhunderts. Mit doppelchörigen Werken von Giovanni Gabrieli und Hans Leo Hassler – Akteuren, die wir heute historiographisch in die Frühphase der Barockmusik einordnen – sollte dann der vorläufige musikgeschichtliche Höhepunkt, sowohl was die kompositionstechnische Entwicklung als auch den Nutzen gottesdienstlicher Musik betrifft, präsentiert werden. Durch diese vergleichende Gegenüberstellung von Komponisten und Stilen aus verschiedenen Epochen beabsichtigte Dilherr auf den kompositorischen Fortschrittsprozess der Kirchenmusik aufmerksam zu machen. Dieses Vorhaben enthielt dabei eine zentrale theologische Bildungsintention: Dadurch, dass Dilherr am Ende des Konzerts auch einen protestantischen Choral sowie eine Darbietung des Verses „Coelestis musica salve“ darbieten ließ, bekam der musikgeschichtliche Fortschrittsgedanke des Konzerts einen konfessionellen, und zwar einen protestantisch-lutherischen Akzent. Nachdem die Musik der biblischen Vergangenheit und der nicht zu überbietenden Gegenwart verklungen war, erfolgte eine Art prophetische Ankündigung der nahenden Himmelsmusik, eben jener „coelestis musica“, als einem Sinnbild für die im protestantischen Glauben fest verankerte Vorstellung von der endzeitlichen Apokalypse. Biblische Vergangenheit, weltliche Gegenwart und zukünftige Prophetie wurden damit in dem Nürnberger Konzert auf Basis eines theologisch geleiteten Geschichtsverständnisses zusammengeführt und durch das göttliche Medium der musica sacra klingend zum Ausdruck gebracht.

II. Das Historische Konzert Gottfried van Swietens – oder: Zur Konstruktion eines musikgeschichtlichen Erbes

Ich komme damit zum zweiten Fallbeispiel eines Historischen Bildungskonzerts und mache dabei einen großen Sprung vom 17. in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts. Hierbei geht es mir um die Anfänge des Historischen Privatkonzerts, die neben ersten Ausprägungen in London und Berlin vor allem in Wien zu finden sind – und hier personell aufs Engste verbunden mit dem Diplomaten, Bildungspolitiker und bedeutenden Musikmäzen Baron Gottfried van Swieten.

Van Swieten, der ab 1777 Präfekt der kaiserlichen Hofbibliothek war und zeitlebens als großer Kenner der Tonkunst, mitunter auch als „Patriarch der Musik“ gerühmt wurde, versammelte seit den 1780er Jahren in seiner Wiener Dienstwohnung namhafte Musiker in sonntäglichen Matineen, bei denen vorrangig Werke alter Meister, insbesondere Musik Johann Sebastian Bachs und Georg Friedrich Händels, gespielt und studiert wurden. An diesen Veranstaltungen der sogenannten Gesellschaft der Associierten Cavaliere nahm unter anderem auch Wolfgang Amadeus Mozart ab 1782 regelmäßig teil, den van Swieten ebenso protegierte wie später Ludwig van Beethoven. Im Rahmen der Matineen sollte Mozart erstmals in intensiven wie kompositorisch nachhaltigen Kontakt mit der Musik Bachs kommen. Auch Joseph Haydn stand in engem, langjährigem Verhältnis zu van Swieten, der (u. a.) für die Bearbeitung der Libretti zu den Oratorien Die Schöpfung und Die Jahreszeiten verantwortlich zeichnete. Nicht zuletzt widmete Beethoven dem Baron seine Erste Symphonie aus Dankbarkeit für die ihm zukommende Förderung – aber wohl auch aus strategischem Kalkül, wohlwissend um Stellung wie Einfluss van Swietens im damaligen Musikzentrum Wien.

Es ist sicherlich nicht übertrieben zu behaupten, dass van Swieten aufgrund seiner musikalischen Kompetenzen und mäzenatischen Netzwerke maßgeblich zur Konstruktion dessen beigetragen hat, was wir heute historiographisch (eingedenk aller terminologischen Schwierigkeiten) mit dem Begriff „Wiener Klassik“ bzw. als „klassische Trias“ bezeichnen. Entscheidend mit Blick auf die von van Swieten veranstalteten, an eine aristokratische wie intellektuelle Elite gerichteten Hauskonzerte ist die funktionale historische Verortung speziell der Werke Bachs und Händels in das damals zeitgenössische Verständnis von Musikgeschichte. In diesem Punkt konkretisiert sich die besondere Vermittlungsintention van Swietens. Entscheidend ist, dass er die Komponisten Bach und Händel als historische Instanzen installierte, an die er vor allem Haydn und Mozart kompositorisch anschließbar machen wollte – und zwar im Sinne einer wenn auch nicht fortschrittsgeleiteten, so doch geschichtlich folgerichtigen Stilentwicklung. Das in der Musikhistoriographie des 19. und frühen 20. Jahrhunderts vielfach zu lesende Narrativ von einem heroengeschichtlichen Entwicklungsgang der Musik, welcher von Bach und Händel ausgehend unmittelbar zu den Wiener Klassikern führt, findet mit den Historischen Konzerten van Swietens eine der frühesten Vorbildungen. Kurz gesagt werden Bach und Händel – wohlbemerkt bereits in den 1780er Jahren – im Zuge der Swieten-Konzerte zu Vorläufern einer neuen Musikepoche inthronisiert, eben zu jener der sogenannten „klassischen Trias“. Hier vollzieht sich nicht weniger als die Konstruktion eines historiographischen Erbes, das in der Musikgeschichte für lange Zeit diskursmächtig wirken sollte.

III. Das Historische Konzert als musikgeschichtliches Korrektiv – François-Joseph Fétis

Mit den rezeptionsgeschichtlichen Folgen der „Wiener Klassik“ sind wir im „langen“ 19. Jahrhundert angelangt, und ich möchte als Beispiel eines Historischen Konzerts aus dieser Zeit auf ein bedeutendes Projekt des belgischen Komponisten und Musikschriftstellers François-Joseph Fétis eingehen. Ab dem Jahre 1832 organisierte Fétis in Paris zwei vielbeachtete Veranstaltungen: zum einen die Vorlesungsreihe Cours de philosophie musicale et d’histoire de la musique und zum anderen die damals weithin beachteten Concerts historiques. Das Neuartige und Aufsehenerregende dieser öffentlichen Konzerte war die Art und Weise der philosophisch-historischen Betrachtung, die sich in der methodischen Anordnung der Programme nach bestimmten Gattungen, Schulen, Nationen und Epochen niederschlug. Bemerkenswert ist, wie Fétis während der Planung und Durchführung der Konzerte mehr und mehr zu der Überzeugung gelangte, die bis dato vorherrschende musikalische Fortschrittsdoktrin anzuzweifeln.

Aus musikgeschichtlichem Interesse hatte er nicht nur die historiographischen Schriften eines Charles Burney und Johann Nikolaus Forkel gelesen, sondern auch ältere Kontrapunkt- und Harmonielehrbücher studiert. Im Zuge dessen war Fétis zu der Überzeugung gelangt, dass viele der vergessenen Kompositionen für ihn musikalisch gehaltvoller waren als die meisten Werke aus neuerer Zeit. Er beschäftigte sich daraufhin mit den Werken bedeutender Komponisten der Vergangenheit, bis zurück zur Musik der Trouvères und Troubadours, und erkannte, dass die ihnen zugrundeliegenden musikalischen Regeln variabel, weil je nach Ort und Zeit verschieden waren.

In seiner – unvollendet gebliebenen – Histoire générale de la musique, die Fétis 1869 begonnen hatte, erklärte er schließlich die europäisch-abendländische Musikgeschichte zu einer von vielen Entwicklungssträngen und entzog ihr damit den Status eines Paradigmas, an dem alle anderen Musikarten und -stile zu messen seien. Es war diese ästhetische Nivellierung historischer Unterschiede mit dem Ergebnis einer bis dato neuartigen Aufwertung älterer Musik bzw. einer Abwertung des stilistischen Fortschrittsnarrativs eurozentristischer Provenienz, die Fétis in seinen Historischen Konzerten als zentrale Bildungsintention klanglich zu vermitteln trachtete.

IV. Das Historische Konzert der Gegenwart und die Evidenz der klingenden Lebenswelt

Zum Abschluss möchte ich nochmals einen großen zeitlichen wie räumlichen Sprung machen – dieses Mal vom Paris des 19. zur amerikanischen Ostküste des 20. Jahrhunderts. Damit komme ich wieder zurück zum Ausgangspunkt meiner Vorbemerkung. In meinem letzten Beispiel für ein Historisches Konzert widme ich mich den Anfängen einer angewandten Vermittlung von Musikgeschichte mittels des damals noch jungen Mediums Fernsehen. Den Beginn dieser Entwicklung bildet – wie bereits angedeutet – Leonard Bernstein, den ich hier allerdings nur kurz anführen möchte. Vielmehr geht es mir im Folgenden um die Frage, welche gegenwärtigen Konzepte des Historischen Konzerts es eigentlich gibt und wie musikhistorische Bildung in Zeiten aktueller Vermittlungsdebatten aussehen kann.

Ein überaus erfolgreiches Format bildet in diesem Zusammenhang die Fortführung der von Bernstein initiierten Young People’s Concerts. In New York war in den 2000er-Jahren der Dirigent Delta David Gier mitverantwortlich für die Konzeption dieser Konzerte. Es ist für mein Thema aufschlussreich nachzuvollziehen, wie Gier und seine Mitstreiter des New York Philharmonic Orchestra das Format derart modernisiert haben, dass es beständig eine große Zielgruppe von Kindern wie Erwachsenen ansprach und noch immer anspricht. Zu fragen wäre, wie das Erfolgskonzept dieser Aktualisierung musikhistorischer Bildung umrissen werden kann.

In einer Ankündigung der Konzertreihe für das Jahr 2009 hat Gier einen Teil der Programme wie folgt erläutert: „In jedem der vier Konzerte […] haben wir dieses Jahr vier verschiedene Aspekte, die wir durch die Musik vermitteln möchten. Das erste Konzert widmet sich zum Beispiel dem Thema ,Musik zum Tanz‘. Das Element […] ist Rhythmus, und wir werden gemeinsam einen Weg durch dieses Programm beschreiten, das von Bach bis hin zu Steve Reich reicht – und vielleicht noch darüber hinaus. Es soll darum gehen, wie der Rhythmus Teil unseres täglichen Lebens ist, von unserem Herzschlag bis hin zur Art und Weise, wie wir gehen. […] Es geht darum, welche Rolle der Rhythmus in all diesen verschiedenen Musikstilen und -epochen spielt. Wir beenden dieses Konzert mit dem Bolero von Ravel – der eine Art ultimatives Rhythmusstück ist.“

Der Vermittlungsansatz, den Gier hier am Beispiel eines der Konzerte skizziert, kann als repräsentativ für die Gestaltung der gesamten Serie gelten. Zentral ist dabei der Versuch, auf Basis eines übergeordneten musikalischen Themas, wie hier dem Zusammenspiel von Musik und Tanz bzw. Rhythmus und Bewegung, anschauliche Beispiele aus der Musikgeschichte auszuwählen und diese zur Grundlage eines klingenden Bildungstransfers zu machen – eines Transfers, der darauf abzielt, ein Bewusstsein für die Musik im Sinne ihrer ästhetischen Äquivalenz bzw. Übertragbarkeit auf ganz alltägliche Phänomene wie dem großstädtischen Klangrhythmus zu schaffen. Die Kinder und Jugendlichen werden durch die Konzerte dafür sensibilisiert, ihre eigene Lebenswelt als eine klingende wahrzunehmen und diese Erfahrungen wiederum im Rahmen neuer Konzerterlebnisse einzubeziehen. Dieser phänomenologisch basierte Ansatz, der auf eine sinnstiftende Beziehung zwischen der eigenen Biographie und der tönenden Umwelt abzielt, scheint mir gegenwärtig einer der Hauptstränge der Vermittlungskonzepte Historischer Konzerte zu sein und den Erfolg der Formate bei einem nicht allein jüngeren Publikum mitzuerklären.

Damit bin ich am Ende meiner Ausführungen angelangt. Wichtig ist mir, abschließend nochmals auf das verbindungsstiftende Motiv meiner verschiedenen Fallbeispiele hinzuweisen: und zwar auf das übergreifende Anliegen, mittels der Selektion eines bestimmten Musikrepertoires auf übergeordnete geschichtliche, historiographische und/oder ästhetische Sachverhalte aufmerksam zu machen. Sei es die Vermittlung einer spezifisch konfessionellen Musikhistorie wie 1643 in Nürnberg oder die Konstruktion eines musikgeschichtlichen Erbes der „Wiener Klassik“ durch van Swieten, die Aufwertung alter Musik im Sinne eines historiographischen Korrektivs wie bei Fétis oder die Starkmachung eines Sinnbezugs zwischen den Werken der sogenannten „klassischen“ Musik und der eigenen Lebenswelt in heutigen Formaten des Historischen Konzerts – in all diesen Beispielen geht es letztlich um die Mitteilung einer Bildungsidee qua Geschichtsrekurs, genauer gesagt: um eine tönende Vermittlung von Musikgeschichte, die in ihrem Verklingen Vergangenheit erfahrbar macht und damit in mehrerlei Hinsicht mit Sinn erfüllt.

[Kai Marius Schabram, April 2025]

Simon Rattle dirigiert exemplarisch Boulez, Berio und Lachenmann

Diesmal – ungewohnt an einem Samstag: 22. März – leitete Simon Rattle „sein“ musica viva Konzert der Saison im Herkulessaal, das ausschließlich älteren Werken von Jubilaren des Jahres 2025 gewidmet war: Pierre Boulez‘ „Cummings ist der Dichter“, Luciano Berios „Laborintus II“ sowie Helmut Lachenmanns „Harmonica“ – mit dem Tubisten Stefan Tischler. Neben dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks wirkte auch wieder der Chor mit, teilweise solistisch.

Simon Rattle, Stefan Tischler, Helmut Lachenmann © Astrid Ackermann; BR

Im sehr gut besuchten Herkulessaal gab es letzten Samstag ein außergewöhnliches Symphoniekonzert der musica viva: zwar keine Uraufführung, dafür jedoch gleich drei Klassiker der Neuen Musik, die trotz ihres Nimbus eigentlich sehr selten gespielt werden. Damit sollten wohl deren Komponisten als Jubilare des Jahres 2025 besonders geehrt werden.

Cummings ist der Dichter (1970) von Pierre Boulez (1925–2016) war in München zuletzt 2016 im Prinzregententheater unter der Leitung George Benjamins zu hören – mit dem gerade noch bestehenden SWR-Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg sowie dem SWR Vokalensemble. Damals erklang die Fassung mit 16 Solostimmen. Zum Glück hat sich Sir Simon Rattle für die dreifache Besetzung – bei den in der Partitur von 1986 als solchen gekennzeichneten Tutti-Passagen – entschieden, die dem Chor des Bayerischen Rundfunks (Einstudierung hierfür: Max Hanft) viel besser das nötige chorische Atmen bei den zahlreichen sehr lange liegenden Klängen in dieser Vertonung eines Gedichts des Amerikaners Edward Estlin Cummings erlaubt. Ebenso erreicht der bei diesem Stück ausnahmsweise ohne Taktstock dirigierende Sir Simon so eine deutlich bessere Balance mit dem nie aufdringlich werdenden Orchester. Und zum Glück betont er überhaupt nicht die vielen an- und abschwellenden Triller der Partitur, die den Rezensenten bei anderen Darbietungen auf Dauer nervten und an diesem Abend öfter als Ausschwingvorgänge verstanden werden. Rattle widmet sich mehr der Feindynamik innerhalb des höchst anspruchsvollen Chorsatzes und darf dem in dieser Hinsicht enorm selbstständigen Agieren seiner nur 27 Spieler des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks – ohne Schlagzeug! – voll vertrauen. Insgesamt erstaunt die Lebendigkeit, Natürlichkeit und Transparenz des Klanges dieser unter der Motorhaube freilich seriellen, zugleich irgendwie frühlingshaften Musik, die auch das Publikum anspricht.

Vielschichtiger und eher Musiktheater als ein konzertantes Werk, präsentiert sich Luciano Berios (1925–2003) gut halbstündiges Laborintus II von 1965, auf einen collage-ähnlichen Text Edoardo Sanguinetis, deutlich experimenteller. Eine Sprecherin – als Gast und nicht wirklich überzeugend: Marie Goyette – sowie aus dem Chor des BR drei singende Frauenstimmen und acht mit Sprechgesang im weitesten Sinne befasste Solisten (alle exzellent!) müssen sich also mit einem Dschungel an Texten – von der Bibel über Dante, Ezra Pound, T. S. Eliot und natürlich Sanguineti selbst – auseinandersetzen (Einstudierung: Stellario Fagone). Dazu kommt dann wiederum ein ähnlich dimensioniertes Orchester wie bei Boulez, diesmal allerdings mit äußerst effektivem Schlagzeug, plus ein 2-Kanal-Zuspielband. Für alle Stimmen fordert Berio Mikros, und einmal mehr schafft die Klangregie Norbert Ommers optimale Voraussetzungen für eine immer stimmige Balance, so dass Rattle hier souverän extrem unterschiedliche Klangräume bedienen kann. Vieles kommt aus historischen Kontexten mittelalterlicher Musik, aber dagegen gibt es gelenkte Aleatorik à la Lutosławski, wiederholte Patterns wie im Musical, eine Stelle mit Jazzimprovisationen, Agitprop der 1960er Jahre und dann im letzten Drittel noch das unerbittliche Tonband. Wie Rattle – völlig klar in seiner konzentrierten Zeichengebung – dieses komplexe Geflecht zu einem durchaus unterhaltsamen, faszinierenden Organismus verschmilzt, ist eine wirkliche Glanzleistung und weil Berio trotzdem immer auch eine Prise italienischen Humors einfließen ließ, letztlich echt begeisternd.

Helmut Lachenmann, der im November 90 Jahre alt wird, hat neben einer gewissen Verweigerungsästhetik oft vermocht, klangliche Opulenz mit einer unglaublichen Palette ganz neuartiger Klänge des immer ganzheitlich betrachteten Instrumentariums zu erzeugen. Ein Musterbeispiel dafür ist Harmonica (1981/83): Nach der Pause spielt so das volle Orchester mit seinem praktisch durchgehend beschäftigtem Solo-Tubisten: Stefan Tischler. Man gönnt ihm natürlich, das Stück als eines der wenigen vorzeigbaren Konzerte für sein Instrument aufzufassen. Doch trotz der ungeheuren physisch-technischen Anforderungen, die Tischler sensationell bewältigt, der enormen Vielfalt an Spielanweisungen und Ausdruckscharakteren: Harmonica ist ebenso wenig ein Solokonzert im herkömmlichen Sinn wie das Klavierkonzert von Ferruccio Busoni, das beim BRSO im Juni gespielt werden wird. Der Solist erscheint fast nie als Auslöser des gleichermaßen hochdifferenzierten Geschehens im Orchester, sondern eher als der neunmalkluge Kommentator im Hintergrund, der vielleicht sogar emotional vieles steuert, gleichzeitig jedoch hinterfragt. Lachenmann hat den Solopart übrigens nachträglich komponiert. Ein geistreiches Spiel und ein überwältigendes Klangbad, schon an der Grenze zur Überinstrumentierung, das jedoch zweifellos seinesgleichen sucht. Hier scheinen Rattle und sein Orchester endgültig in ihrem Element zu sein: Lachenmanns Musik hat, gerade auch wegen dessen kritischer Grundhaltung, nach über 40 Jahren nichts von ihrer Faszination verloren. Der Komponist, der am Schluss auf die Bühne kommt, und alle Mitwirkenden dürfen hochverdient minutenlangen Applaus entgegennehmen.

[Martin Blaumeiser, 23. März 2025]

Grace – The Music of Michael Tilson Thomas

Pentatone PTC 5187 355 (4 CDs & Buch)

EAN-Nr.: 8 717306 263559

Michael Tilson Thomas gehört zu den namhaftesten Dirigenten unserer Zeit. Anlässlich seines 80. Geburtstags hat Pentatone eine 4-CD-Edition veröffentlicht, die es ermöglicht, Tilson Thomas nun auch als Komponisten umfassend kennenzulernen.

Am 21. Dezember des vergangenen Jahres feierte Michael Tilson Thomas seinen 80. Geburtstag. Seit den Siebzigerjahren ist der Dirigent bekannt und beliebt – nicht nur in seiner amerikanischen Heimat. Sein Repertoire ist zwar vielfältig, aber auch von konkreten Vorlieben geprägt. Oper gehört nicht dazu, die Musik des Barock auch eher weniger. MTT, wie er von seinen Freunden und Fans genannt wird, hat sich vor allem in der Sinfonik des 20. Jahrhunderts hervorgetan. Besonders die Werke amerikanischer Komponisten haben in Tilson Thomas einen ebenso begeisterten wie hochkompetenten Interpreten gefunden: Er ist bislang der Einzige, der das Gesamtwerk von Carl Ruggles einspielte, seine Ives-Einspielungen zählen zu den besten, die es auf dem Markt gibt, und auch die Musik Aaron Coplands, den er persönlich kannte, zählt zu seinen Spezialitäten: Im Juni 2022 brachte er mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks im Münchner Herkulessaal Coplands Dritte Symphonie zur umjubelten Aufführung.

Leider wurde vor einigen Jahren ein bösartiger Gehirntumor beim Dirigenten festgestellt; nach Behandlungen ist er wiedergekehrt, und so wie es jetzt aussieht, wird MTT Ende April sein Abschiedskonzert mit des San Francisco Symphony Orchestra geben, dem er von 1995 bis 2020 als Chefdirigent vorstand.

Dass sich Michael Tilson Thomas immer auch als Komponist betätigte, ist allerdings zumindest außerhalb Amerikas nie so recht ins Bewusstsein der Öffentlichkeit getreten. Daher hat die Firma Pentatone zu Tilson Thomas‘ 80. Geburtstag eine luxuriöse Box mit 4 CDs herausgegeben, auf der zumindest ein großer Teil seiner Musik vertreten ist. Und nicht nur das: Die Box kommt in Form eines luxuriösen Buchs daher, in dem sich zahlreiche Fotografien, Kommentare und Einführungstexte finden, letztere meist von Tilson Thomas selbst. Die Qualität dieser Hommage ist kaum zu übertreffen – das betrifft nicht nur die wunderschöne Aufmachung, sondern auch durchweg die Klangqualität und vor allem die Interpretationen: Natürlich ist zumeist MTT persönlich (als Dirigent) an ihnen beteiligt, und die diversen Solisten lesen sich wie ein Who is Who der Musikszene: Renee Fleming, Thomas Hampson, Jean-Yves Thibaudet und andere. Nicht zu vergessen sind sämtliche Gesangstexte mit abgedruckt. Ein tolles Geburtstagsgeschenk also.

Kommen wir nun wenigstens kurz zur Hauptsache der Box: Michael Tilson Thomas‘ Musik. Die meisten werden es schon ahnen: Wer hier Avantgarde europäischer Prägung erwartet, wird enttäuscht werden. Größtenteils bewegt sich Tilson Thomas auf dem Boden der Tonalität, und er hat auch keine Angst vor Polystilistik: Jazz, Broadway, Vaudeville: Alles taucht in den Stücken auf, und sei es nur ganz kurz. In ihrer Ablehnung jeder Form von Purismus erinnert diese Musik an die von Thomas‘ Kollegen wie André Previn und vor allem Leonard Bernstein, mit dem er auch befreundet war.

Einige kurze Stücke sind Musikerfreunden gewidmet – nicht zuletzt das Lied Grace, das der Sammlung ihren Namen gab und Lenny Bernstein zugeeignet wurde. Oder (für mich einer der Glanzpunkte der Box) Symphony Cowgirl, ein echter Country-Song für Nancy Bechtle, die für das San Francisco Symphony Orchestra arbeitete und maßgeblich daran beteiligt war, MTT in die Stadt zu holen; sie liebte Country Music, und dies ist ihr Abschiedsgeschenk.

Insgesamt lässt sich konstatieren, dass Tilson Thomas sich in (relativ) kleiner Form am glücklichsten äußerte: Dazu zählt das Orchesterstück Lope, das die Liebe des Komponisten zu Hunden thematisiert, die drei Klavierstücke Upon Further Reflection (hier gespielt von John Wilson) oder Urban Legend, ein kleines Konzert für Kontrafagott und Orchester, hier vorgetragen in einer Version für Bariton-Saxophon.

Zwei große Gesangszyklen (Poems of Emiliy Dickinson und Meditations on Rilke) finden sich ebenso wie Tilson Thomas‘ wohl bekannteste Komposition From the Diary of Anne Frank für Sprecherin und Orchester. Tilson Thomas schrieb dieses Stück für die Schauspielerin Audrey Hepburn, mit der er es auch uraufführte; Solistin der vorliegenden Aufnahme ist Isabel Leonard. Kurz gesagt: Wer sich für Michael Tilson Thomas interessiert, wird um die Box nicht herumkommen. Ein hochsympathischer Dirigent, Komponist und – Mensch.

[Thomas Schulz, März 2025]

Roland Leistner-Mayer – eine Würdigung zu seinem 80. Geburtstag

Roland Leistner-Mayer, der am 20. Februar sein 80. Lebensjahr vollendet, kann mittlerweile auf ein Schaffen von 159 Opuszahlen zurückblicken, hinter denen sich Werke unterschiedlichster Gattungen und Besetzungen, von einminütigen Miniaturen für Soloinstrumente bis zur abendfüllenden Chorsymphonie, verbergen. So vielgestaltig dieses Gesamtwerk ist, eines bleibt in ihm immer konstant: die hohe Qualität der Kompositionen. Man kann sich ein beliebiges Stück Leistner-Mayers heraussuchen, und man wird auf ein Meisterwerk stoßen, auf eine mit echter Hingabe geschaffene Arbeit, in welcher der Komponist hinter jedem Ton steht, den er geschrieben hat. Kurz vor Eintritt in sein neuntes Lebensjahrzehnt hat Leistner-Mayer mit seinem Streichquartett Nr. 8 aufs schönste bestätigt, dass er zu den schätzenswertesten Tondichtern unserer Zeit gehört. Das Werk wurde am 27. Januar 2025 durch das Sojka-Quartett Pilsen im Jüdischen Gemeindezentrum Regensburg uraufgeführt und am folgenden Tag im Sudetendeutschen Haus in München ein zweites Mal gespielt. Dort hörte es der Komponist zum ersten Mal.

Roland Leistner-Mayer studierte in München bei Harald Genzmer und Günter Bialas, ohne dass einer dieser Lehrer einen nachhaltigen Einfluss auf ihn ausübte. Eine gewisse Nähe zu Bialas lässt sich in seinem Frühwerk wohl feststellen, doch wurde sein Kompositionsstil schließlich durch ganz andere Eindrücke entscheidend geprägt. Kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs im böhmischen Graslitz an der Grenze zu Sachsen geboren (heute Kraslice in Tschechien), hatte Leistner-Mayer die Heimat seiner Eltern bereits als Kleinkind verlassen müssen. Tschechien wurde für ihn zu einem Sehnsuchtsort, den zu bereisen ihm erst als Erwachsener möglich war. Er lernte die Musik Leoš Janáčeks kennen, die ihn mit elementarer Kraft in ihren Bann zog und seitdem nicht mehr losgelassen hat. „Wahrheit“ lautet das Wort, mit dem Leistner-Mayer auf die Frage antwortet, was ihm Janáček bedeute. Stets skeptisch gegenüber vorgefertigten Kompositionssystemen und der Idee, der Wert eines musikalischen Werkes lasse sich an seinem „Materialstand“ ablesen, fand Leistner-Mayer in Janáček den künstlerischen Rückhalt, der ihm den endgültigen Durchbruch zu seinem persönlichen Idiom ermöglichte.

Leistner-Mayers Musik lebt von der Einfachheit der tonalen Grundspannungen. Die Melodik basiert auf diatonischen Skalen, die aber selten reines Moll oder Dur sind und in der Regel durch modale Wendungen, häufig phrygische, angereichert werden. Von demonstrativer Handwerkskontrapunktik, hat Leistner-Mayer stets Abstand gehalten, dennoch ist er ein polyphon denkender Komponist, für den sich die Harmonik aus dem Aufeinandertreffen der Stimmen, nicht aus einem System von Akkordfunktionen, ergibt. Seine dissonanten Akkorde erhalten ihre Wucht dadurch, dass sich in ihnen lineare Bewegungen der Stimmen zum gleichzeitigen Erklingen zusammenballen. Der „eingefrorene Vorhalt“ ist fester Bestandteil seines Stiles. An eine Haupttonart fühlt sich Leistner-Mayer häufig nicht gebunden. Es gibt Stücke, die tonal zu ihrem Ausgangspunkt zurückfinden – so kann die Zweite Symphonie als Werk in as-Moll, das Zweite Streichtrio als in d-Moll stehend gelten –, doch meist wechselt das tonale Zentrum im Verlauf des Werkes. Diesen Prozessen hat Leistner-Mayer viel Aufmerksamkeit gewidmet und jedem seiner großen, zyklischen Werke diesbezüglich ein individuelles Erscheinungsbild gegeben. So wird etwa im Siebten Streichquartett eine gewisse Geschlossenheit erzielt, indem beide Ecksätze in Fis schließen. Das Werk beginnt allerdings in C. Eine weitere Spezialität Leistner-Mayers besteht darin, Tonarten anzudeuten, ohne dass sich die Musik entscheidet. Der Kopfsatz des Zweiten Streichquartetts schwankt zwischen G und Es, wobei sich im Es-Bereich Dur und Moll mischen. Zwar wird G anfangs von Es nach wenigen Takten verdrängt, doch schließt der Satz letztlich in G.

Die spezifische Art der Harmonik Leistner-Mayers lässt seine Musik einerseits fest, hart und entschlossen klingen, doch ist dem immer ein melancholischer Gegensatz beigemischt. Sehr deutlich zutage treten die zwei Seiten seines Wesens in dem Streichquartett Nr. 6, das aus Sieben untapferen Bagatellen besteht. In diesen kurzen Sätzen münden kraftvolle Klänge regelmäßig in Zweifel und Unentschiedenheit. Hier findet sich eine künstlerische Gestaltung des Scheiterns, wie sie nur ein großer Formkünstler unternehmen kann. Dass Leistner-Mayer im Übrigen die Kunst, ein Werk zum Ende hin energisch zu steigern, glänzend beherrscht, hat er in zahlreichen seiner Finalsätze eindrucksvoll bewiesen. Überhaupt ist er ein Meister des Allegros, wie sie heutzutage selten sind. Er schreibt Musik, die sich – in schnellen wie in langsamen Tempi und häufig unter Verwendung unregelmäßiger Metren und Rhythmen – tatsächlich bewegt und die immer eine nachvollziehbare Handlung besitzt. In diesem Sinne waltet in seinem Schaffen ein klassischer Geist.

Wie gesagt, umfasst Leistner-Mayers Schaffen Kompositionen zahlreicher Gattungen und Besetzungen. Mit seinen Werken für großes Orchester hat der Komponist weniger Erfolg gehabt als man angesichts ihres offenkundigen Wertes glauben möchte. Zwar existieren Rundfunkproduktionen seiner drei Symphonien, aber keines dieser Werke hat in den letzten 30 Jahren eine weitere Aufführung erlebt. Die Dirigenten und Konzertveranstalter, die diese Zeilen hier lesen, seien deshalb ausdrücklich auf Leistner-Mayers symphonisches Schaffen aufmerksam gemacht. Die ersten beiden Symphonien sind rein instrumentale Stücke von jeweils etwa 23 Minuten Spieldauer. Die Erste op. 14 (1975) besteht aus einem großen Satz, in welchem deklamatorische Themen mehrfach zu heftigen Ausbrüchen gesteigert werden. Die Zweite op. 31 (1984) ist zweisätzig. Nach einem forsch vorandrängenden Kopfsatz beginnt der zweite Satz zunächst langsam, lässt aber dann einen lebhaften Schlussteil folgen, der die Klänge des ersten Satzes aufgreift. Was die Behandlung des Orchesters betrifft, zieht Leistner-Mayer den schroffen Kontrast dem geschmeidigen Mischklang vor. Die Dritte Symphonie op. 81 (1994) kommt als Werk für Sopran- und Bariton-Solo, Chor und Orchester (mit einem prominenten Altsaxophon-Solo, geschrieben für den großen Saxophonisten John-Edward Kelly) einem Oratorium nahe. Auf einen Text Rudolf Mayer-Freiwaldaus komponiert, trägt sie den Titel Das weiße Requiem. Die Farbe weiß symbolisiert dabei die Sphäre der Seligen, mit deren Tanz – im Kontrast zum eröffnenden schwarzen Tanz des Todes – das achtsätzige Werk nach etwa 70 Minuten schließt. Die Vokalstimmen, die im Laufe der Handlung die Toten, die Diesseitigen, die Überirdischen, die Überlebenden und die Seligen verkörpern, sind durchweg präsent, dennoch ist der Stil der Komposition, ähnlich anderen großen Chorsymphonien wie Schostakowitschs Dreizehnter, Petterssons Zwölfter oder Eliassons Quo Vadis, mit denen Leistner-Mayers Werk die Gegenüberstellung nicht zu scheuen braucht, echt symphonisch. Es gibt übrigens mit der Musik für Kontrabass und Orchester op. 38 und dem Konzert für Flöte, Harfe und Streichorchester op. 137 zwei gewichtige Kompositionen Leistner-Mayers, die noch ihrer Uraufführung harren. Welche Musiker möchten sich die Ehre erwerben?

Am stärksten im Schaffen des Komponisten vertreten ist die Kammermusik. Die Vielfalt der Kombinationen, für die Leistner-Mayer geschrieben hat, ist kaum zu überblicken. So hat er mittlerweile acht Streichquartette, drei Streichtrios, ein Nonett für Bläser und Streicher, jeweils ein Quintett für Klavier, Gitarre, Klarinette und Streichquartett, ein Bläserquintett, ein Flötenquartett, ein Quartett für vier Hörner, verschiedene Trios für Klavier in Kombination mit Streichern und/oder Bläsern komponiert. Unter den Duos finden sich große Sonaten für Violine, Viola, Violoncello, Kontrabass, Klarinette, jeweils mit Klavier. Dazu kommen unzählige kleinere Werke vom Solo bis zum Quartett. Eine gesonderte Gruppe stellen die bislang zehn Poeme dar, kleine Tondichtungen in freier Form für verschiedene Besetzungen. Mit Ausnahme von Nr. 10, die für Violine, Horn und Klavier geschrieben ist, handelt es sich um Duos. Im siebten und achten dieser Stücke ist das Hackbrett zu hören. Mit diesem Instrument verbindet Leistner-Mayer, der mit der Hackbrett-Virtuosin Heidi Ilgenfritz verheiratet ist, eine besondere Beziehung. Für seine Frau hat er eine ganze Hackbrett-Literatur verfasst: Solostücke, Duos für zwei Hackbretter, Kammermusik für ein, zwei oder vier Hackbretter mit anderen Instrumenten, sowie ein Konzert für Hackbrett und Streichorchester. Jedes dieser Werke beweist, dass das Hackbrett ein vollwertiges Konzertinstrument ist, dessen klangliches Potential in hochpoetischer Musik trefflich entfaltet werden kann.

Von zahlreichen kammermusikalisch oder kammerorchestral besetzten Werken Leistner-Mayers liegen CD-Aufnahmen vor, von denen die meisten beim Verlag Vogt & Fritz erschienen sind, der auch den Großteil seiner Partituren veröffentlicht hat. Sie sind entweder vom Verlag oder beim Komponisten selbst zu beziehen. In den vergangenen Jahren hat auch TYXart drei CDs mit Kammermusik Leistner-Mayers herausgebracht. Die erste ist ganz seinem Schaffen gewidmet und enthält die Streichquartette Nr. 5–7, gespielt vom Sojka-Quartett. Die beiden anderen kombinieren jeweils eines seiner Werke mit Stücken anderer Komponisten. So sind auf dem Album des Duos Maiss-You (Burkhard Maiss, Violine und Viola, und Ji-Yeoun You, Klavier) neben Leistner-Mayers Sonate für Viola und Klavier noch Violinsonaten von Béla Bartók (Nr. 2) und Leoš Janáček zu hören. Das Deutsche Streichtrio präsentiert als Streichtrios aus Böhmen Leistner-Mayers Streichtrio Nr. 3 gemeinsam mit dem Trio Nr. 2 von Bohuslav Martinů und stellt diesen beiden modernen Stücken Trios aus dem 18. Jahrhundert von Johann Baptist Vanhal und Vaclav Pichl gegenüber. Alle drei Alben sind nicht nur dazu geeignet, den Kompositionen Leistner-Mayers, sondern auch den anderen Werken Freunde hinzuzugewinnen, und können wärmstens empfohlen werden.

Wenige Tage vor seinem 80. Geburtstag ist nun Leistner-Mayers jüngstes Werk in die Öffentlichkeit getreten, das Streichquartett Nr. 8 op. 159. Wie man aus einer Notiz des Komponisten im Programmheft der Münchner Aufführung vom 28. Januar erfahren konnte, nennt er es Das Wirbelquartett. Der Titel greift die Bemerkung eines ungenannten Komponistenkollegen auf, der meinte, im Finalsatz des Werkes würden die Taktarten „ganz schön durcheinander wirbeln“, denn jeder Takt steht in einer anderen. Mit etwa 35 Minuten Spieldauer ist das viersätzige Werk nicht nur das bislang umfangreichste Streichquartett Leistner-Mayers, sondern auch eines seiner ausgedehntesten zyklischen Werke überhaupt. (Die meisten sonatenartigen Stücke des Komponisten dauern zwischen 15 und 30 Minuten. Die Dritte Symphonie ist eine Ausnahme.) Der äußeren Ausdehnung entspricht das innere Gewicht des Quartetts. Der erste Satz ist ein unruhiges, nervös gespanntes Stück, das ständig zwischen langsamen und raschen Tempi hin und her wechselt. Ihm schließt sich ein Scherzo feurig-tänzerischen Charakters an. Der langsame Satz schlägt in der Stimmung die Brücke zum den Kopfsatz. Ungefähr die Mitte zwischen einer Elegie und einem Trauermarsch haltend, steigert er sich zu einem machtvollen Höhepunkt und verklingt schließlich still. Das bereits erwähnte „Wirbel“-Finale bildet den Abschluss: ein energisch voran stürmender Satz, der Leistner-Mayers Fähigkeit, auch bei ständig wechselnden Takten die Musik in Fluss und Schwung zu halten, das beste Zeugnis ausstellt. Dem Sojka-Quartett (Martin Kos, Martin Kaplan, Tomáš Hanousek und Hana Vítková), das in dem zuvor gespielten Beethoven-Quartett op. 18/4 etwas schwächelte, namentlich im zu rasch genommenen Finale, gelang in diesem Werk eine Darbietung, die von den Qualitäten der Komposition vollends überzeugen konnte. Ist es vermessen zu hoffen, dass auch dieses neueste Streichquartett von Roland Leistner-Mayer bald in einer angemessenen Wiedergabe den Weg auf den Tonträger finden möge? Quartett-Ensembles, die nach guter zeitgenössischer Musik für ihre Konzerte suchen, sollten jedenfalls nicht an ihm vorüber gehen. Erschienen ist es bei edition 49, über welchen Verlag mittlerweile auch die bei Vogt & Fritz publizierten Werke zu beziehen sind.

Dem Komponisten sei zu seinem bald anstehenden 80. Geburtstag gewünscht, dass ihm seine kräftig fließende Inspiration möglichst lange erhalten bleibe, auf dass er der stattlichen Reihe seiner Werke noch zahlreiche Meisterstücke hinzufügen kann. Seine Musik, die sich nie der Mode gebeugt hat und Ausdruck einer leidenschaftlichen, empfindsamen Seele ist, wird schwerlich veralten können und – die Prognose möchte ich wagen – in ferner Zukunft noch so frisch und unverbraucht dastehen wie heute die Musik seines Vorbilds Janáček. Die Musiker brauchen nur hineinzugreifen in diese Fülle.

[Norbert Florian Schuck, Februar 2025]

Zum 150. Geburtstag von Erkki Melartin und Walter Courvoisier

Wie neulich schon im Zusammenhang mit Emil Mattiesen erwähnt, fallen in das laufende Jahr die 150. Geburtstage einer Vielzahl hervorragender Komponisten. Gleich zwei sind am 7. Februar 1875 zur Welt gekommen: der Finne Erkki Melartin und der Schweizer Walter Courvoisier.

Erkki Melartin (1875–1937)

Erkki Melartin, um 1900

Die Rezeption Erkki Melartins zeigt beispielhaft, dass man ein hochbegabter Künstler sein und dennoch aufgrund einer ungünstigen historischen Konstellation ins Hintertreffen geraten kann. Nicht dass Melartins Karriere erfolglos verlaufen wäre – ganz im Gegenteil: Er war eine feste Größe im finnischen Musikleben seiner Zeit, seine Werke wurden regelmäßig gespielt, er genoss Ansehen als Dirigent und Pädagoge und leitete von 1911 an 25 Jahre lang, bis kurz vor seinem Tod, das Konservatorium in Helsinki. Dennoch stand Melartin stets im Schatten des ein knappes Jahrzehnt älteren Jean Sibelius, der zu dem Zeitpunkt, als der jüngere Kollege sich in seiner Heimat zu etablieren begann, gerade im Begriff stand, Weltruhm zu erwerben und in Finnland zur nationalen Identifikationsfigur aufzusteigen. Melartin hat die Stellung des älteren durchaus akzeptiert. Sein eigenes Schaffen zeugt davon, dass auch er zu Sibelius aufsah: Ausladende Melodiebögen mit modalen Wendungen, markante Rhythmen in flüssiger Diktion, dazu die „nordischen“ Lichteffekte in der Instrumentation – jene typisch sibelianischen Stilelemente finden sich auch in Melartins Musik. Er war einer der ersten finnischen Komponisten, die durch die Pflege jener Stilmerkmale dazu beitrugen, dass der Sibeliussche Personalstil zum Inbegriff des „Finnischen“ in der Musik wurde. Damit war zugleich die Rangfrage hinsichtlich des öffentlichen Ansehens geklärt.

Es wäre allerdings grundfalsch, Melartin als einen bloßen Sibelius-Epigonen abzutun. Dazu finden sich in seinem Schaffen zu viele Elemente, die bei Sibelius kein Gegenstück haben. Anhand der sechs Symphonien Melartins zeigt sich exemplarisch, wie unterschiedlich sich beide Komponisten bei ähnlicher Ausgangslage entwickelt haben. Für Sibelius wird die Arbeit mit fest umrissenen Themen immer unwichtiger. Die thematischen Konturen lösen sich immer mehr in Bewegung auf, mit ihnen der klassisch-akademische Tonsatz und die überkommenen Sonatenformen. Dass Kopfsatz und Finale seiner Ersten Symphonie mit dem gleichen Thema beginnen, ist bereits der größte Tribut, den Sibelius dem Konzept der zyklischen Thematik in der Symphonik je erstattet hat. Für Melartin ist diese Idee, die namentlich auf Franz Liszt und César Franck zurückgeht, stets wichtig geblieben. In dieser Hinsicht war er gerade kein Sibelius-Nachfolger. In seinen Symphonien verliert die thematische Arbeit nie ihren Stellenwert. Auch begegnen wir Themen, die sich als Leitgedanken durch mehrere Sätze eines Werkes ziehen. Auf die Idee, das Finale einer Symphonie als Quadrupelfuge zu gestalten, wie es Melartin in seiner Fünften tut, wäre Sibelius gleichfalls nie gekommen. Ein gewisser Einfluss Gustav Mahlers, dessen Musik Melartin 1909 als erster in Finnland zu Gehör brachte, zeigt sich in einer Vorliebe für marschartige Themen und Blechbläsersignale. In Melartin deswegen eine Art „finnischen Mahler“ sehen zu wollen, wäre allerdings verfehlt. Melartins Symphonien sind mit ihren Spieldauern zwischen 26 und 45 Minuten viel kürzer als jede Symphonie Mahlers. Als Musik, die „wie die Welt“ alles umfassen soll, sind sie gleichfalls nicht gedacht.

Melartin begann mit zwei knappen, weniger als halbstündigen Symphonien in c-Moll (1902) und e-Moll (1904), die er offenbar als Werkpaar betrachtete und unter der gemeinsamen Opuszahl 30 zusammenfasste. Ihnen folgten die deutlich längeren, rund dreiviertelstündigen Symphonien Nr. 3 F-Dur op. 40 (1907) und Nr. 4 E-Dur op. 80 (1912). Hebt sich die Dritte durch ein langsames Finale von den übrigen ab, so wartet die Vierte, die den Beinamen Sommer-Symphonie trägt, mit drei wortlosen Frauenstimmen im langsamen Satz auf. Melartin hat seine 1916 vollendete Fünfte Symphonie op. 90 Sinfonia brevis genannt. Allerdings ist dieses Werk, in dessen Kopfsatz sich ein „sibelianisches“ und ein „mahlerisches“ Thema schroff gegenüberstehen, nicht viel kürzer als die beiden vorangegangenen Symphonien und länger als die ersten beiden. Möglicherweise ist das „brevis“ als programmatische Abkehr von der spätromantischen Opulenz zu sehen. Die originellste Symphonie Melartins ist zweifellos die 1924 komponierte Sechste op. 100. Die vier Sätze dieses Werkes sind von den vier Elementen inspiriert und setzen Erde, Wasser, Luft und Feuer in Musik. Verglichen mit den früheren Symphonien gibt es hier keine einheitsstiftende Haupttonart. Das Werk beginnt in c-Moll und endet in Es-Dur. In der Instrumentation herrschen dunkle Farben vor, besonderes Gewicht kommt den Blechbläsern zu, wodurch die Härten der Harmonik noch hervorgehoben werden. Beschließt Sibelius zur gleichen Zeit die Reihe seiner Symphonien in apollinischer Heiterkeit, so entwickelt sich Melartin am Ende seines Weges als Symphoniker zum Expressionisten. Wohin dieser Weg Melartin in seiner Siebten, Achten und Neunten Symphonie geführt hätte, lässt sich leider kaum sagen. Der Komponist hatte für diese Werke bereits Opusnummern reserviert, schaffte es aber nur noch, einen Entwurf zum Kopfsatz der Siebten Symphonie zu beenden. Alles übrige blieb im Stadium unterschiedlich weit gediehener Skizzen.

Dass Melartin aus dem Schatten von Sibelius nicht herauskam, liegt nicht zuletzt an der Tatsache, dass er wesentlich weniger Glück mit Verlegern hatte. So blieben, mit Ausnahme der Sechsten, alle seine Symphonien zu Lebzeiten ungedruckt. Lange standen für Aufführungen nur schlechte Kopien der Manuskripte zur Verfügung. Die Dritte Symphonie musste es sich gefallen lassen, jahrzehntelang nur in zusammengestrichener Gestalt zu erklingen. Erst Anfang des 21. Jahrhunderts wurden im Auftrag der Erkki-Melartin-Gesellschaft die Manuskripte des Komponisten gesichtet und kritische Editionen aller Symphonien erstellt. Die Partituren dieser und weiterer Werke können auf der Seite der Gesellschaft angesehen werden.

Die Symphonien Melartins sind wohl der bedeutendste, aber zahlenmäßig nur ein kleiner Teil eines riesigen Gesamtwerks, das weit über 500 Einzeltitel in nahezu allen Gattungen umfasst. So schrieb Melartin außerdem die Oper Aino, das Ballett Die blaue Perle, Bühnenmusiken, vier Streichquartette und weitere Kammermusikwerke für verschiedene Besetzungen, zahlreiche Klavierstücke und Chorwerke. Besonders geschätzt wird sein reiches Liedschaffen, in welchem sich Vertonungen finnischer, schwedischer, deutscher und französischer Texte finden.

Walter Courvoisier (1875–1931)

Starb Erkki Melartin, der zeitlebens unter einer schwachen Gesundheit litt, bereits eine Woche nach seinem 62. Geburtstag, so erreichte der ebenfalls am 7. Februar 1875 geborene Walter Courvoisier nicht einmal dieses Alter: Im Dezember 1931 fiel er mit 56 Jahren der Tuberkulose zum Opfer.

Walter Courvoisier, um 1929

Courvoisiers Lebensweg begann und endete in der Schweiz, zum Hauptwirkungsort wurde ihm aber München, wo er schließlich zum angesehensten Musikpädagogen Süddeutschlands aufstieg. Eine musikalische Karriere war Courvoisier nicht vorgezeichnet. Als Sohn eines Chirurgen wurde von ihm erwartet, die väterliche Tradition fortzusetzen. So studierte er Medizin, wurde mit einer Arbeit über Prostatakrebs zum Dr. med. promoviert und praktizierte kurze Zeit als Assistent seines Vaters in der Basler Chirurgie. In seiner Freizeit beschäftigte er sich autodidaktisch mit Komposition und hatte bereits größere Kammermusikwerke komponiert, als er sich entschloss, dem Rat des bedeutenden Basler Komponisten Hans Huber zu folgen und ein geregeltes Musikstudium aufzunehmen. Courvoisier erbat sich eine Auszeit vom medizinischen Dienst, ging nach München, um bei Ludwig Thuille zu studieren – und kehrte nie zum Arztberuf zurück. In München wurde Courvoisier bald zu Thuilles Lieblingsschüler und wuchs wie von selbst in die Rolle seines Nachfolgers hinein, als der er sich nach dem frühen Tod des Lehrers glänzend bewährte. Unter seinen Schülern finden sich illustre Namen wie Dora Pejačević, Max Butting, Roberto Gerhard, Paul Ben-Haim, Willy Burkhard, Hermann Reutter und Heinrich Sutermeister.

Courvoisier war ein sehr selbstkritischer Komponist, der in späteren Jahren bedauerte, einige seiner Frühwerke in den Druck gegeben zu haben. Auch zog er das einzige größere Orchesterwerk, das er einer Opuszahl würdig befand, den Symphonischen Prolog zu Carl Spittelers Olympischer Frühling, letztlich zurück. In seinem Nachlass finden sich mehrere aufführungsfertige Werke, die einmal ihren Platz in der offiziellen Liste seiner Kompositionen hatten, dann aber durch andere Stücke ersetzt wurden. Dieser Selbstkritik ist es wohl auch zuzuschreiben, dass Courvoisier große Formen in der Instrumentalmusik weitestgehend mied. Es gibt keine Symphonie von ihm, und aus seiner Reifezeit kein mehrsätziges, sonatenförmiges Kammermusikwerk. Zum Schwerpunkt seines Schaffens wurde die Liedkomposition. Auf diesem Gebiet, das letztlich auf über 200 Einzelstücke anwuchs, ist Courvoisier einer der Großen seiner Zeit gewesen. Seine Lieder leben von der Ausgewogenheit zwischen feiner Ausdeutung des Textes und formstrenger musikalischer Gestaltung. Der Klaviersatz ist motivisch dicht gearbeitet und verrät den meisterhaften Kontrapunktiker. Die Möglichkeiten der nachwagnerischen, spätromantischen Harmonik setzt Courvoisier sehr gezielt ein, um Textworte hervorzuheben oder formale Eckpunkte zu kennzeichnen. Ein Schwelgen um des Schwelgens willen ist ihm ebenso fremd wie stimmliche Virtuosität als Selbstzweck. Den Gipfel seiner Liedkunst markieren wohl die geistlichen Lieder op. 27 und 29, in denen er seine Harmonik mit archaisierenden, modalen Wendungen anreichert und dadurch zu besonders innigem, leidenschaftlichem Ausdruck gelangt. Gerade die als Gebet angelegten Stücke sind von einer Intensität, der man sich schwerlich entziehen kann. Die Lieder sind für Klavierbegleitung geschrieben, eignen sich aber auch für den Vortrag mit Orgel, etwa in kirchlichen Konzerten, wunderbar.

Die Instrumentalmusik Courvoisiers besteht im wesentlichen aus zwei Gattungen: Variationen für Klavier und Suiten für Solostreichinstrumente. Auf beiden Gebieten zeigt sich der Komponist als ein Künstler, der die knapp bemessenen musikalischen Räume der jeweiligen Sätze aufs Reichste auszugestalten vermag. Gerade die sechs Suiten für Violine op. 31 und die zwei Suiten für Violoncello [op. 32] sollte sich kein Violin- oder Cellospieler, der nach wertvollem Solorepertoire sucht, entgehen lassen. Nur Achtungserfolge konnte Courvoisier mit seinen Opern erringen, dem Musikdrama Lanzelot und Elaine und dem Lustspiel Die Krähen, denen sich noch eine nie aufgeführte Eichendorff-Vertonung Der Sünde Zauberei anschloss. Vielleicht könnte man sie einmal konzertant probieren, schlechte Musik enthalten sie gewiss nicht. Unbedingt in die Konzertsäle zurückgeholt werden sollte allerdings Courvoisiers Hauptwerk, die abendfüllende Kantate Auferstehung, eine Gedenkkomposition für die Opfer des Ersten Weltkriegs, die mit der Stimme eines einsamen Rufers beginnt („O Tod, wie bitter bist du“) und mit einer gewaltigen Doppelfuge endet.

[Norbert Florian Schuck, Februar 2025]

Der Liedermeister Emil Mattiesen – ein Beitrag zu seinem 150. Geburtstag

1875 war ein exzellenter Komponisten-Jahrgang, weswegen wir 2025 die 150. Geburtstage einer ganzen Reihe hervorragender Tondichter feiern dürfen. Der Ehrentag Reinhold Gliéres (11. Januar) liegt bereits hinter uns. In den nächsten Monaten stehen – die Liste ist unvollständig, ich bitte um Ergänzung in der Kommentarspalte – folgende an:

Erkki Melartin und Walter Courvoisier (7. Februar)

Richard Wetz (26. Februar)

Maurice Ravel (7. März)

Franco Alfano (8. März)

Donald Tovey (17. Juli)

Samuel Coleridge-Taylor (15. August)

Paul Scheinpflug (10. September)

Mikalojus Ciurlionis (22. September)

Cyril Rootham (5. Oktober)

Emil Mattiesen (1875-1939)

Auch der heutige Tag kennt einen Jubilar: Emil Mattiesen. Mattiesen gehört zu jenen Komponisten, auf welche die Redakteure der zweiten Auflage des Lexikons Die Musik in Geschichte und Gegenwart meinten verzichten zu können. So strichen sie den ihm in der ersten Auflage gewidmeten Artikel ersatzlos. Das Ansehen, das der Komponist Mattiesen zu Lebzeiten und noch einige Zeit nach seinem 1939 erfolgten Tode genoss, war jedoch größer als es die Einschätzung jener Musikhistoriker vermuten lässt. Auf einem ganz anders gearteten Gebiet ist Emil Mattiesen allerdings ein klassischer Autor: Seine Bücher Der jenseitige Mensch (1925) und Das persönliche Überleben des Todes (3 Bände, 1936–1939) sind bis heute die umfangreichsten deutschsprachigen Veröffentlichungen zur Parapsychologie geblieben.

Mattiesen war ein vielseitig interessierter Mann. Am 23. Januar (nach dem damals im Russischen Reich noch gebräuchlichen Julianischen Kalender am 11. Januar) 1875 in Dorpat geboren, wuchs er im intellektuell anregenden Klima dieser bedeutendsten baltischen Universitätsstadt auf, die auch heute noch, unter dem Namen Tartu, das wichtigste Bildungszentrum Estlands ist. Von Anfang an standen Musik, Philosophie und Naturwissenschaften gleichermaßen im Zentrum seines Interesses. Sein wichtigster Musiklehrer war Hans Harthan, ein Schüler Joseph Gabriel Rheinbergers. Mit 17 Jahren legte Mattiesen das Abitur ab und studierte anschließend in Dorpat und Leipzig. 1896 wurde er in Leipzig mit einer Arbeit Über philosophische Kritik bei Locke und Berkeley zum Doktor der Philosophie promoviert. Nach einem kurzen Intermezzo als Redakteur bei der Nordlivländischen Zeitung in Dorpat, heuerte er 1898 als Matrose auf einem Segelschiff an, das ihn nach Java, Sumatra, Borneo und China brachte. 1899 kam er nach Japan, wo er Vorlesungen an der Deutschen Universität in Kyoto hielt. Bereits 1900 setzte er seine Reisen fort und besuchte die Vereinigten Staaten, Mexiko, Indien, Myanmar und Tibet. Er lernte mehrere asiatische Sprachen und betrieb Forschungen zu indischen Religionen. 1904 ließ er sich in England nieder und lebte bis 1908 als Privatgelehrter in Cambridge. Anschließend zog er nach Deutschland und nahm in Berlin seinen Wohnsitz. Erst ab dieser Zeit trat seine musikalische Tätigkeit gegenüber der wissenschaftlichen stärker in den Vordergrund. Nachdem er von 1922 bis 1925 in Fürstenfeldbruck bei München gelebt hatte, fand er in Gehlsdorf, heute Ortsteil von Rostock, seine endgültige Bleibe. 1929 nahm er einen Lehrauftrag für Kirchenmusik an der Theologischen Fakultät der Universität Rostock an und bekleidete somit im Alter von 54 Jahren erstmals in seinem Leben ein musikalisches Amt. Daneben war er auch als Universitätsorganist und Leiter der akademischen Musiken, sowie als Musikkritiker beim Rostocker Anzeiger tätig. In seinen letzten Lebensjahren beschäftigte er sich vorwiegend mit Parapsychologie und versuchte durch Zusammentragen zahlreicher Fälle das Weiterleben der Seele nach dem Tode empirisch zu beweisen. Emil Mattiesen starb am 25. September 1939 an Leukämie.

Als Komponist war Mattiesen ein ausgesprochener Spezialist. Sein veröffentlichtes Schaffen umfasst ausschließlich Werke für Gesang und Klavier. Dazu kommen laut MGG1 ein Streichquartett, mehrere Chorwerke, Orgelstücke und Bühnenmusik zu Ernst Barlachs Schauspiel Sintflut, die aber sämtlich ungedruckt blieben. Es folgt eine Übersicht über die veröffentlichten Werke, die alle im Verlag C. F. Peters erschienen, zu dessen Inhaber Henri Hinrichsen der Komponist auch privat in freundschaftlicher Verbindung stand:

  • Fünf Balladen vom Tode für Singstimme (vorzugsweise Bariton oder Mezzosopran) und Klavier op. 1 (1910)
  • Zwölf Gedichte für Singstimme und Klavier op. 2 (Heft I, Nr. 1–6: mittel und hoch; Heft II, Nr. 7–12: tief) (1913)
  • Acht Lieder und Gesänge für Singstimme und Klavier op. 3 (Heft I, Nr. 1–4: mittel und hoch; Heft II, Nr. 5–8: mittel und tief)
  • Willkommen und Abschied nach Johann Wolfgang von Goethe für Tenor und Klavier op. 4
  • Künstler-Andachten, Heft I (Nr. 1–4) für hohe und mittlere Singstimme und Klavier op. 5 (1920)
  • Künstler-Andachten, Heft II (Nr. 5–8) für mittlere und tiefe Singstimme und Klavier op. 6 (1920)
  • Vier heitere Lieder für hohe und mittlere Singstimme und Klavier op. 7
  • Sieben Gesänge nach Gedichten von Ricarda Huch für Singstimme und Klavier op. 8 (Heft I, Nr. 1–3: hoch; Heft II, Nr. 4–7: mittel und tief) (1920)
  • Zwölf Liebeslieder des Hafis in Georg Friedrich Daumers Nachdichtung für Singstimme und Klavier op. 9 (1920)
  • Balladen von der Liebe für Singstimme und Klavier op. 10 (1920)
  • Stille Lieder, Heft I op. 11 (1922)
  • Stille Lieder, Heft II op. 12 (1922)
  • Zwiegesänge zur Nacht für eine weibliche und eine männliche Mittelstimme mit Klavierbegleitung op. 13 (1925)
  • Vom Schmerz. Fünf Gedichte für Singstimme und Klavier op. 14 (1930)
  • Überwindungen. Sieben Gedichte für Singstimme und Klavier op. 15
  • Der Pilger. Ein Lieder-Zyklus für Singstimme und Klavier op. 16 (1928)
  • Acht zärtliche Lieder für Singstimme und Klavier op. 17 (1927)

Die Konzentration auf Lieder und Gesänge erinnert nicht von ungefähr an Hugo Wolf, mit dessen Schaffen Mattiesen durch den Wiener Liedkomponisten Theodor Streicher bekannt gemacht wurde. Sowohl hinsichtlich der genauen Deklamation des Textes, als auch im Bezug auf den motivisch durchdrungenen Klaviersatz und die postwagnerische Harmonik hat Wolf bei Mattiesen deutliche Spuren hinterlassen. Sein Debüt mit einer Balladensammlung brachte Mattiesen das Etikett eines ausschließlichen Balladenkomponisten ein, doch fallen nur zwei weitere seiner Veröffentlichungen (op. 4 und op. 10) in dieses Spezialgebiet der Liedkunst. Dennoch hat Mattiesens „reiche Lyrik“, so Hans Joachim Moser in seinem Standartwerk Das Deutsche Lied seit Mozart, „zweierlei von der Ballade gelernt und übernommen: die Freude am Illustrativen und die wirksamen Schlüsse, was beides der Wirkung seiner Lieder im Konzertsaal gewiß nicht abträglich war.“ Mattiesens Liedschaffen bietet eine Vielfalt an Stilen, Stimmungen und Formen. Altertümelndes, wie der sich in barockisierendem Kontrapunkt und bachischer Singstimmenführung ergehende Fröhliche Musikus (op. 7/2), steht neben schwelgerischer Jugendstilromantik (Nachtlied, op. 2/7) und kargen, konzentrierten Stücken, deren raue, dissonante Tonsprache bereits als expressionistisch bezeichnet werden kann (Herbstgefühl, op. 14/4). „[D]erselbe ernste Denker, der in op. 15 das Über ein Grab und Rückerts Stirb und Werde vertont hat, verfügte über drastische Komik im Huhn und Karpfen und bei Storms Von Katzen; sonnigen Humor beweisen die Vertonungen von G[ottfried] Kellers Berliner Pfingsten und von Mörikes Jedem das Seine […]“ (Moser). Kritisiert wurde mitunter Mattiesens Klaviersatz, der gerade in den Frühwerken durch quasi-orchestrale Klangfülle die Pianisten vor große Herausforderungen stellt. Allerdings macht sich in späteren Gesängen eine „wachsende Verfeinerung“ (Moser) in der Behandlung des Klaviers bemerkbar. Die Gesänge op. 17 zeichnen sich durch eine „Rückkehr zur Schlichtheit der Mittel“ (Dieter Härtwig, MGG1) aus.

Mattiesen geriet keineswegs mit seinem Tode in Vergessenheit. Noch Jahrzehnte später führten namhafte Sänger einzelne seiner Lieder im Repertoire. So existieren Aufnahmen Mattiesenscher Gesänge durch Richard Bonelli, Dietrich Fischer-Dieskau, Hermann Prey, Kurt Moll und Harald Stamm (zwei Duette aus op. 13) sowie Ulf Bästlein. Es lässt sich freilich nicht leugnen, dass Mattiesen von der Wiederentdeckungswelle, von welcher zahlreiche vernachlässigte Komponisten gerade des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts profitierten, bislang kaum erfasst wurde. Der Grund ist weniger in der Qualität seiner Werke als in seiner Konzentration auf das Klavierlied zu sehen, lag der Schwerpunkt der Wiederentdeckungen in unseren Tagen doch vor allem auf symphonischer und Kammermusik. Eine ganz Emil Mattiesen gewidmete Tonträgeredition ist im Jahr seines 150. Jubiläums immer noch Desiderat. So sei also unseren Sängerinnen und Sängern dieses reiche Liedschaffen herzlich empfohlen. Sie werden darin manches Juwel zu Tage fördern können.

[Norbert Florian Schuck, Januar 2025]

Franz Schmidts 150. Geburtstag – Bericht von der Jubiläumsfeier der Musikschule Perchtoldsdorf

2024 ist vorüber, und damit das Jahr, in welches Franz Schmidts 150. Geburtstag fiel. Im April 2024 hatte ich ein Konzert in Perchtoldsdorf bei Wien besucht und in der Besprechung desselben angemerkt, dass, was das Gedenken an Schmidt betrifft, der Vorort der Hauptstadt den Rang abgelaufen hat. Diese Formulierung hat ihre Gültigkeit behalten. In Wien, dem Hauptwirkungsort des Komponisten, tat sich seitdem nichts, was einen Grund geliefert hätte, an ihr etwas zu ändern.

In der südwestlich an Wien angrenzenden Marktgemeinde Perchtoldsdorf, wo Schmidt seit 1926 lebte, hat man es sich dagegen nicht nehmen lassen, den Komponisten angemessen zu ehren. Nicht weniger als zwölf Veranstaltungen hat die im Ort ansässige Franz Schmidt-Musikschule im vergangenen Jahr durchgeführt. Den krönenden Abschluss fand die Reihe am 22. Dezember 2024, dem Tag, an dem sich der Geburtstag des Meisters zum 150. Male jährte. Die musikalisch reich ausgestattete Geburtstagsfeier im Franz Szeiler-Saal der Musikschule war eine durchaus internationale Veranstaltung, denn sie führte, sowohl was die Mitwirkenden, als auch was die Gäste betraf, Freunde des Schmidtschen Schaffens aus mehreren Ländern zusammen.

Durch den Abend führten die Leiterin der Musikschule, Maria Jenner, und der britische Dirigent Jonathan Berman, dessen Gesamtaufnahme der Symphonien Schmidts auf diesen Seiten besprochen wurde (siehe auch das Interview mit Jonathan Berman). Auf unterhaltsame Weise verknüpften sie, teils auf Deutsch, teils auf Englisch, die einzelnen Musikbeiträge, dabei immer wieder Episoden aus Schmidts Leben einflechtend. Im Publikum saßen mehrere Nachkommen von Schülern oder Freunden Franz Schmidts. Auch unter den Musikern fand sich mit dem Cellisten Wolfgang Panhofer der Sohn eines Schmidt-Schülers (des Pianisten Walter Panhofer). Gemeinsam mit dem Pianisten Michael Capek spielte er sehr idiomatisch zwei der Drei kleinen Fantasiestücke nach ungarischen Nationalmelodien, die das älteste Werk Schmidts sind, das dieser als gültig betrachtete. Franz Schmidts einziger noch lebender Enkel, der Schauspieler August Zirner, der sich abseits von Film und Bühne als Flötist betätigt, konnte leider nicht persönlich an der Veranstaltung teilnehmen, hatte aber im Vorfeld ein Video aufgenommen, das nun als Gruß an die Anwesenden gezeigt wurde: Gemeinsam mit vier Schülerinnen der Musikschule (Marlene Stralz, Elisabeth Stix, Anna Dockner und Nevena Vaz Gomes Bairrada) spielte Zirner das Thema des Variationssatzes aus der Zweiten Symphonie seines Großvaters in einer Bearbeitung für vier Flöten und Kontrabass.

Schmidt, der zu den besten Pianisten seiner Zeit gehörte, fühlte sich vom Klang des Klaviers nicht zum Komponieren angeregt, hat aber auf Bestellung des einarmigen Pianisten Paul Wittgenstein das Repertoire für die linke Hand mit konzertanten, kammermusikalischen und solistischen Meisterwerken reich bedacht. Für Klavier zu zwei Händen schrieb er nur ein einziges Stück: die Romanze aus dem Jahr 1922. Als Geschenk für seinen Trauzeugen verfasst, geriet es dem Komponisten „aus den Augen, aus dem Sinn“ und wurde erst lange nach seinem Tod gedruckt. Der Churer Domkapellmeister Andreas Jetter, der als Organist gerade an einer Gesamteinspielung der Schmidtschen Orgelmusik arbeitet, war genau der richtige Mann darauf hinzuweisen, welche Qualitäten in dem kurzen Werk stecken, dessen Glockenimitationen eine überraschende Brücke zur Klangwelt Debussys schlagen. Auch der schweizerische Pianist Karl Andreas Kolly hat sich für Schmidt eingesetzt und eine CD aufgenommen, wozu er aufgrund des Mangels an zweihändigen Originalkompositionen mehrere Orgelstücke für Klavier übertrug. Die Stärken des Klaviers geschickt nutzend, gab Kolly mit dem Choralvorspiel über O, wie selig seid ihr doch, ihr Frommen aus den Vier kleinen Choralvorspielen von 1927 eine überzeugende Kostprobe seiner Arbeit. Da der Franz Szeiler-Saal auch über eine kleine Orgel verfügt, konnte durch Stefan Donner, dessen wunderbare Darbietung der C-Dur-Toccata in der Perchtolsdorfer Kirche St. Augustin dem Verfasser dieser Zeilen noch in guter Erinnerung war, auch dieser Teil des Schmidtschen Schaffens präsentiert werden. Diesmal spielte Donner Präludium und Fuge A-Dur von 1934.

Dass die Musikausbildung in Perchtoldsdorf in den Händen fähiger Kräfte liegt, davon zeugte die Aufführung des langsamen Satzes aus dem für Paul Wittgenstein komponierten Klavierquintett G-Dur, zu welcher sich Robert Neumann (Violine), Thomas Kristen (Violoncello) und Michael Capek (Klavier), die als Lehrer an der Franz Schmidt-Musikschule wirken, mit der Schülerin Mirjam Österreicher (Viola) und Eri Ota-Melkus, Violinistin im Streichquartett Wien-Tokyo, zu einem gut miteinander harmonierenden Ensemble zusammentaten. Als eine Begabung, die zu großen Hoffnungen Anlass gibt, erwies sich die zwölfjährige Pianistin Agnes Krenn. Sie trug ein gerade erst anlässlich des Schmidt-Jubiläums entstandenes Werk des österreichischen Komponisten Florian C. Reithner (*1984) vor. Reithner hat diesem Madrigal ein Thema Schmidts zugrunde gelegt, aber nicht verraten, um welches es sich handelt. Da er Schmidt nie wörtlich zitiert, muss man sich beim Versuch, die Frage zu klären, an Assoziationen halten. Ich habe den Eindruck, dass es sich um das Thema des Lammes aus dem Buch mit sieben Siegeln handelt. Einmal davon abgesehen ist das Stück, das stilistisch viel mehr an Olivier Messiaen als an Schmidt erinnert, eine schätzenswerte Arbeit eigenen Rechts und macht neugierig auf weitere Musik seines Autors.

Der Abend, der mit dem Beginn der Ersten Symphonie in Jonathan Bermans Aufnahme eingeleitet wurde, klang mit Schmidts unverwüstlicher Zugnummer, dem Intermezzo aus der Oper Notre Dame, ebenfalls in der von Berman dirigierten Einspielung, aus. Mit diesem gelungenen Abschluss ihres Gedenkprogramms darf die Franz Schmidt-Musikschule Perchtoldsdorf getrost für sich einen Ehrenplatz in der Rezeption ihres Namensgebers im Jahr seines 150. Geburtstags beanspruchen.

[Norbert Florian Schuck, Januar 2025]

Fabian Enders‘ Gesamtaufnahme von Beethovens „Egmont“

Querstand, VKJK2406; EAN:4025796024067

Die Filharmonie Brno hat unter der Leitung von Fabian Enders bei Querstand eine Gesamteinspielung von Ludwig van Beethovens Schauspielmusik op. 84 zu Johann Wolfgang von Goethes Tragödie Egmont vorgelegt. Als Sopransolistin ist Evelin Novak zu hören, als Rezitator der melodramatischen Abschnitte Klaus Mertens.

Von Beethovens Schauspiel-Musik zu Goethes Drama Egmont wird traditionell zwar meist nur die Ouvertüre aufgeführt, dies jedoch umso häufiger – sie ist ebenso unbestrittenes Meisterwerk wie „Hit“ der klassischen Musik. Über Jahrzehnte wurde die übrige Musik aus Beethovens Schauspielmusik zu Goethes Drama Egmont hingegen sehr stiefmütterlich behandelt. Öffentlich aufgeführt wird das komplette Werk fast nie, eingespielt nur alle Jubeljahre einmal.

Zu Beethovens Geburtstagsjahr 2020 – geplant als feierliches Jubelfest und letztlich in den Wirren der Coronakrise unter seinen Möglichkeiten geblieben – änderte sich an diesem Umstand aber einiges: Binnen kurzer Frist wurde gleich eine Hand voll Egmonts neu auf CD veröffentlicht, sodass es zusammen mit den historischen Aufnahmen aktuell zehn verschiedene Einspielungen am Markt gibt, unter denen man komfortabel seinen Favoriten wählen kann.

Dirigent Fabian Enders legt nun mit der Filharmonie Brno in Koproduktion mit dem Deutschlandfunk eine elfte Version beim Label Querstand vor – dies als Ergebnis eines Live-Mitschnitts aus der Potsdamer Friedenskirche vom 19. 11. 2021. Enders hat sich für den Einbezug von Goethe-Textrezitation entschieden, sodass im Rahmen der Gesamtspielzeit dieses Albums immerhin etwa 15 von insgesamt 54:29 min. auf den Textanteil (durch die sonore Stimme von Klaus Mertens vorgetragen) entfallen.

Dabei hat Fabian Enders selbst eigens eine neue Textfassung entwickelt, in der (wie er im Booklet zur vorliegenden CD schreibt) „eine von der Notwendigkeit des Dialogischen gelöste Textgestaltung“ erreicht werden sollte, „die die Szenen gleichsam als Bilder und Bezugsmomente der Musik deutlich … und Motive der Handlung im Hintergrund schlüssig sichtbar werden lässt.“ Das ist zweifellos gut gelungen, und so lässt sich auch der Textanteil in dieser Produktion recht gut anhören, aber eigentlich sind wir ja wegen Beethoven hier.

Da ist Enders Herangehensweise zunächst überraschend: Im Gegensatz zu vielen modernen Beethoven-Deutungen, bei denen die Rolle des Komponisten als Musik-Revolutionär gerne besonders herausgekitzelt wird, indem gern schroffe Akzente und straffe Tempi gesetzt werden, kleidet Enders das übrigens wirklich gut disponierte mährische Orchester in einen samtigen Wohlklang – zumeist perfekt ausbalanciert und durchgehend klangschön.

Im Orchester gibt es allerdings erkennbar Solisten und Instrumentengruppen, die unzweifelhaft besser sind als andere. Besondere Erwähnung verdienen die schön samtigen Streicher, während die Holzbläser zuweilen angestrengt wirken. Die Solo-Oboe schießt dabei des Öfteren über das Ziel hinaus und stört die ansonsten gute Abstimmung.

Die Tempi sind durchweg recht bedächtig, was nicht weiter stört, wenn die innere Spannung gehalten werden kann. In einigen Nummern jedoch (z.B. „No. 3, Zwischenakt II“ oder „No. 7 Clärchens Tod bezeichnend“) würde man sich in der Tat etwas mehr Dynamik wünschen. Alles in allem ist die Interpretation aber so stimmig, dass man sich als Hörerin oder Hörer hier in eine regelrechte Wohlfühlstimmung eingleitet.

Die Gesangsdarbietungen lassen sich ebenfalls ganz auf diese Klangvision ein. Sopranistin Evelin Novak ist leider nicht optimal textverständlich, jedoch ist das nur ein kleiner Malus, denn ihr warmes, lyrisches Klang-Timbre entschädigt ausreichend dafür, dass man sich den Text der Lieder im Booklet zusammensuchen muss.

Das Melodram „Süßer Schlaf…“ ist ein Musterbeispiel für Enders‘ wirklich gute Aufführungs-Leitung: In optimalem Atem koexistieren hier Rezitator und Orchester. Auch die Balance innerhalb des Orchesters ist hier ganz wunderbar. Speziell dieses Stück wirkt auffällig gut eingeprobt. Rezitator Klaus Mertens hat zudem sichtliche Freude daran, sich in hymnischer, schwelgender Art diesem Relikt des frühesten 19. Jahrhunderts ganz hinzugeben.

Vom Aufnahmeklang gibt es Gutes zu berichten: Angenehm räumlich, ohne ein „zu viel“ an Hall. Ja, man nimmt diesem Klang den Live-Ursprung durchaus ab, während sich jedoch die Nebengeräusche, die Live-Aufnahmen manchmal mit sich bringen, auf ein Mindestmaß reduziert sind. Man sollte wohl noch anmerken, dass die als von Beethoven als „Siegessymphonie“ betitelte Schlussnummer in dieser Einspielung vom Schlussapplaus des Konzert-Publikums gefolgt ist (das ohrenscheinlich sehr zufrieden war).

Als Fazit lässt sich ziehen, dass wir es hier mit einer im besten Sinne unauffälligen Egmont-Aufnahme zu tun haben: statt Überbetonung von Extremen gibt es hier wohligen Schönklang und gute Orchesterleistungen – Ein Album zum „Am-Stück-Durchhören“. So etwas kann stellenweise etwas altmodisch wirken und ist gewiss nicht dazu angetan, „Originalklang“-Enthusiasten zu begeistern. Eher schon haben wir es hier mit einer modernen Alternative zu der in die Jahre gekommenen Karajan-Aufnahme von 1969 zu tun. Und das ist für manche ja vielleicht sogar die erfreulichere Nachricht als wenn dies die neueste Einspielung im Grenzbereich der aktuellsten Strömungen der historischen Aufführungspraxis wäre.

[René Brinkmann, Januar 2025]