Paul Büttner – Wiederentdeckung eines Sinfonikers von Rang

cpo 555 482-2; EAN: 7 61203 54822 4

Das Osnabrücker Label CPO stellt drei Orchesterwerke des Dresdner Komponisten Paul Büttner vor. Die zweite seiner vier Sinfonien und die Vision liegen damit erstmals auf CD vor, gekoppelt mit der Heroischen Ouvertüre. Das Brandenburgische Staatsorchester Frankfurt wird geleitet von Jörg-Peter Weigle.

Zwar dürfte der Name des Komponisten Paul Büttner (1870–1943) den meisten Musikfreunden nach wie vor eher wenig bekannt sein, aber immerhin kann man mittlerweile doch von einer veritablen kleinen Büttner-Renaissance sprechen, die sich im Wesentlichen innerhalb der letzten fünf Jahre ereignet hat. Dass dies ist so, hat sehr viel mit dem Dirigenten, Musikjournalisten und unermüdlichen Initiator musikalischer Entdeckungen abseits der Konventionen Christoph Schlüren zu tun: Schlürens Label Aldilà Records war es, das zunächst seine Triosonate für Streichtrio (mit dem Trio Montserrat) und dann eine Streichorchesterversion seines (einzigen) Streichquartetts herausgebracht hat; beide CDs sind auf dieser Seite besprochen worden. Und erneut Schlüren zeichnet auch für den Begleittext der vorliegenden CPO-Neuerscheinung verantwortlich.

Um einmal mehr in aller Kürze die biographischen Eckdaten zu umreißen: Paul Büttner, geboren und auch verstorben in Dresden, war ein Schüler Draesekes am Dresdner Konservatorium, wo er später (mit Unterbrechungen) auch selbst wirkte, zunächst als Chorgesangslehrer, dann außerdem als Lehrer für Musiktheorie, ab 1918 auch u. a. für Komposition und Orchesterdirigieren und schließlich ab 1924 als dessen künstlerischer Leiter. Seinen relativ späten Durchbruch als Komponist erlebte Büttner 1915 mit der Uraufführung seiner Dritten Sinfonie im Leipziger Gewandhaus unter der Leitung von Arthur Nikisch, zu einem Zeitpunkt also, als er bereits mit der Komposition seiner vierten und letzten Sinfonie begonnen hatte. Sozialdemokrat, in der Arbeiterbewegung engagiert und mit einer jüdischen Pianistin verheiratet, wurde er nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten aller Ämter enthoben. Nach dem Krieg wurde sein Schaffen bis zu einem gewissen Grad in der DDR gepflegt, auch auf Initiative seiner Frau Eva, und seine Vierte Sinfonie auf Schallplatte eingespielt. In Westdeutschland hat Büttners Musik nach dem Krieg keine Rolle gespielt, und spätestens seit der Wende, auch in der DDR wohl eher schon etwas früher, ist es still um ihn geworden.

Büttners Schaffen ist nicht sehr umfangreich; die Orchestermusik nimmt darin einen prominenten Platz ein. In ihrem Zentrum stehen vier Sinfonien, von denen allesamt Aufnahmen aus DDR-Zeiten vorliegen. Auf Schallplatte veröffentlicht wurde indes wie erwähnt nur die Vierte Sinfonie, und diese Aufnahme wurde 2001 vom schwedischen Label Sterling auf CD wiederveröffentlicht, nun gemeinsam mit der Heroischen Ouvertüre – lange Zeit der einzige erhältliche Tonträger mit Musik Büttners. Insofern legt CPO mit dem neuen Programm das insgesamt zweite Album mit Orchesterwerken Büttners vor, wobei die Heroische Ouvertüre zum zweiten Mal auf CD erscheint, Präludium, Fuge und Epilog. Eine Vision meines Wissens hier zum ersten Mal überhaupt eingespielt wird und die Zweite Sinfonie ihre Erstveröffentlichung auf Tonträger erfährt – Pionierarbeit also.

Büttners Sinfonie Nr. 2 G-Dur, entstanden 1902, hat Karl Laux als „die frühlingshaft helle unter den vier Geschwistern“ bezeichnet, eine treffende Beschreibung eines in der Tat von heiteren, beschwingten, mitunter geradezu euphorischen Tönen dominierten Werks, das ohne wirklichen langsamen Satz auskommt und fast durchgängig in seiner „hellen“ Grundtonart G-Dur gehalten ist (nur die langsame Einleitung zum Finale sorgt für dunkler getönte Kontraste). Eher ungewöhnlich für ein Sinfonieallegro dabei die Vortragsanweisung „affetuoso“ im ersten Satz, die aber das sich schwärmerisch emporwindende Hauptthema doch passend charakterisiert. Dass Büttner eigentlich weder Brahms noch Bruckner wirklich nahesteht, sondern eher seinem Lehrer Draeseke und, ohne retrospektiv zu wirken, zum Teil deutlich an Beethoven anknüpft, zeigt ganz besonders das kräftig-zupackende Scherzo, während im Trio Büttners volkstümliche Seite zum Tragen kommt. Für die von Laux aufgezeigten Ländler-Anklänge fehlt hier eigentlich der Dreiertakt, ich würde bei der besagten tänzerischen Episode eher an eine kleine Polka denken, auf jeden Fall an eine ländlich-pittoreske Tanzszene, allerdings inmitten eines von erheblichem Momentum vorangetriebenen echt sinfonischen Scherzos.

Das Finale ist hier in der sogenannten „erweiterten Fassung“ eingespielt, wobei nicht völlig klar ist, ob es sich dabei um die Erstfassung oder die Revision des Satzes handelt. Beide Varianten sind denkbar, also eine nachträgliche Straffung oder aber Büttners Absicht, dem nach der langsamen Einleitung folgenden Kehraus-Finale mehr Gewicht zu verleihen. In der Tat lässt das bunte Treiben dieser Introduzione, Variazioni e Finale durchaus an Haydn denken, auch der schon genannte volkstümliche Tonfall scheint immer wieder durch. Dabei ist die Struktur des Satzes tatsächlich nicht unkomplex, denn weder könnte man eine eindeutige Variationenfolge identifizieren noch ein schulbuchmäßiges Rondo: die Konturen vermischen sich, variiert wird hier eigentlich durchgängig. Dabei ist Büttner ein fabelhafter Orchestrator, in aller Regel auf Basis der klassischen Orchesterbesetzung, beim Auftragen von Farben also eher umsichtig und wohldosiert, Effekte wie in den burlesk-humorigen Schlusstakten der Sinfonie sehr bewusst disponierend. Dass die 36 Minuten dieser Sinfonie wie im Flug vergehen (so Schlüren im Beiheft), ist jedenfalls Tatsache, ebenso, dass etliche Themen und Motive dieses Werks so einprägsam geraten sind, dass sie noch lange im Gedächtnis des Hörers ihren Widerhall finden. Eine enorm kurzweilige, vergnügliche Sinfonie, obwohl zugleich so gewichtig, dass man nicht auf die Idee käme, sie in die Nähe eines Divertimentos zu rücken.

Die beiden weiteren Orchesterwerke auf der CD stammen aus den 1920ern, gehören also zu Büttners späten Orchesterwerken (danach folgte nur noch 1937 das Konzertstück für Violine und Orchester). Präludium, Fuge und Epilog. Eine Vision, 1922 komponiert, wurde ursprünglich unter dem Titel Sinfonische Phantasie. Der Krieg konzipiert; man darf das Werk also wohl als künstlerische Reaktion auf den Ersten Weltkrieg deuten, wobei Büttner hier ebenso wie in der Heroischen Ouvertüre allerdings auf konkrete Programme verzichtet hat – allzu direkte Deutungen erscheinen somit wenig angemessen. Dahinter verbirgt sich ein ohne Unterbrechungen gespieltes, psychologisch komplexes Triptychon. Das Werk geht von einer Atmosphäre des Ungewissen, latent Bedrohlichen aus, eine Art langsame Einleitung, die ein kreisendes Motiv vorstellt. Nach einer Weile lichten sich die Nebel, und es ertönt, glänzend orchestriert (hier kann man vielleicht sogar ein wenig ans Richard Strauss denken, mit dem Büttner freilich insgesamt wenig gemein hat), ein forscher kleiner Marsch; die Musik setzt sich sozusagen in Bewegung. Mit der Fuge an zweiter Stelle (ihr Thema greift das kreisende Motiv vom Beginn abgewandelt wieder auf) beginnt das dezidiert konflikthafte Zentrum des Werks. Nach einer Weile scheint die Rückkehr des Marsches eingeleitet zu werden, doch dies erweist sich als Täuschung, vielmehr folgt ein Moment brütend-düsteren Innehaltens, bevor die Fuge wieder beginnt und am Ende doch erneut nur in Agonie mündet. Der kurze Epilog öffnet dann die Tore zu helleren, versöhnlicheren Klängen, vielleicht eine Vision des Friedens in zarten Farben, bevor die letzte Minute des Werks auch dies wieder zurücknimmt und zur fatalistischen Atmosphärik des Beginns zurückführt, inklusive des kreisenden e-moll-Motivs, das das Werk in düsterer Stimmung beendet.

Die Heroische Ouvertüre, 1925 entstanden, ist nicht unbedingt das kämpferische, Heldentaten beschwörende Stück, das der Titel vielleicht suggeriert, sondern eher eine von frischem Optimismus dominierte, wirkungsvolle Konzertouvertüre. Eine kurze Einleitung in c-moll bereitet die Bühne für ein Allegro (in C-Dur), das von einem kraftvoll emporschnellenden Thema beherrscht wird, das gleichzeitig eine gewisse klassizistische Note besitzt und dafür sorgt, dass diese Ouvertüre auf den ersten Blick eventuell als das traditionellste der drei Werke anmuten mag. Gleichzeitig besitzt sie alles, was für Büttner typisch ist, insbesondere die unkonventionelle Behandlung der Form, denn ein klassisches Sonatenallegro ist sie keinesfalls, sondern transformiert ihr Material fortwährend, sodass sich das meiste eben nicht ohne weiteres wiederholt, sondern abgewandelt wiedererscheint oder gänzlich verschwindet (zwar völlig anders geartet, kamen mir dabei Boris Tschaikowskis Bemerkungen zu seiner Sewastopoler Sinfonie in den Sinn, die ihr Material ganz ähnlich einem Prozess fortwährenden Wandels unterzieht). Ich hege nach wie vor den Verdacht, dass es sich bei dem Thema, das in der vorliegenden Aufnahme ab 7:35 erstmals zu hören ist, um ein bekanntes Lied handeln könnte, es gelang mir bislang jedoch nicht, dies zu erhärten; auf jeden Fall aber zitiert Büttner kurz Carl Maria von Webers Lützows wilde Jagd. Bemerkenswert nicht zuletzt die mannigfaltigen motivisch-thematischen Verknüpfungen, die der vermeintlich kaleidoskopischen Anlage der Ouvertüre tatsächlich eine beträchtliche Stringenz verleihen.

Das Brandenburgische Staatsorchester Frankfurt unter seinem (mittlerweile auch schon wieder) ehemaligen Chefdirigenten Jörg-Peter Weigle liefert solide, routinierte Interpretationen von Büttners Musik. Dabei gelingen die drei Werke durchaus unterschiedlich gut: vergleicht man etwa die Aufnahme der Heroischen Ouvertüre mit der alten Einspielung unter Hans-Peter Frank, so ist Weigles Lesart zwar die „korrektere“ (wohingegen Frank gewisse Kürzungen vornimmt), aber auch die weniger inspirierte. Das Feuer, das Frank etwa zu Beginn des Allegro zu entfachen versteht, findet man bei Weigle nicht, die Streichertremoli, die bei Frank die Musik vorantreiben, wirken hier eher beiläufig. So verliert die Ouvertüre an Spannung und wirkt letztlich blasser, als sie eigentlich ist. Deutlich besser gerät die Vision, vielleicht auch angesichts ihrer offensichtlicheren Dramatik und dunkleren Expressivität. Die Einspielung der Sinfonie bewegt sich zwischen diesen beiden Polen. Gerhard Pflügers alte Aufnahme aus dem Jahr 1951 (der die Neueinspielung natürlich bereits durch ein Mehr als Details aufgrund der wesentlich besseren Klangqualität überlegen ist) ist insgesamt die schwung- und elanvollere, auf der anderen Seite schafft Weigles gesetzteres Tempo u. a. im Trio des Scherzos Raum für ein gemütvolleres Ausloten der Volksmusikepisode, die bei Pflüger etwas gehetzt wirkt.

Schlürens umfänglicher, sowohl in der Breite als auch in der Tiefe profund informierender und einordnender, die Charakteristika der Tonsprache Büttners eingehend diskutierender Begleittext ist dabei einmal mehr nachdrücklich zu empfehlen. Sehr erfreuliche (Neu-) Entdeckungen von Musik eines Komponisten, von dem man in den kommenden Jahren hoffentlich noch mehr zu hören bekommt – vielleicht ja sogar eine weitgehend komplette Werkschau der Kammer- und Orchestermusik.

[Holger Sambale, November 2025]

Ein franko-belgischer Sonatenabend in Wien

Unter dem Motto Französische Violin-Welten fand am 16. Oktober 2025 im Großen Sendesaal des ORF RadioKulturhauses Wien ein Kammerkonzert mit Duo-Kompositionen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts statt. „Französisch“ war hier im weitgefassten Sinne zu verstehen, denn es standen ausschließlich Werke französischsprachiger Belgier auf dem Programm. Freilich: César Franck lebte als naturalisierter französischer Bürger in Paris, wo er als Lehrmeister zwei Generationen französischer Komponisten ausbildete. Auch Guillaume Lekeu, Schüler Francks, verbrachte den letzten Abschnitt seines viel zu kurzen Lebens, in dem er seine bedeutendsten Werke schrieb, in Frankreich. Rémy Ballot (Violine) und Anika Vavić (Klavier) brachten an diesem Abend die Violinsonaten Francks und Lekeus zur Aufführung, die beide für den dritten Komponisten des Programms geschrieben wurden, den großen Violinisten Eugène Ysaÿe. Von diesem erklang zu Beginn das kurze Charakterstück Rève d’enfant. Zwischen den beiden Sonaten spielten Rémy Ballot und seine Ehefrau Iris Ballot den langsamen Satz aus Ysaÿes Sonate für zwei Violinen.

Man hörte also ein stilistisch sehr einheitliches Programm. Die Musik des Abends entführte die Zuhörer in die Welt der Belle Epoque bzw. des Fin de Siècle, deren musikalischer Stil maßgeblich von César Franck geprägt wurde. Es ist die Zeit der opulent angereicherten Funktionsharmonik mit ihren raffinierten Alterationsakkorden, chromatischen Zwischentönen und Stellvertreterharmonien. Bei aller Modernität ihrer Musik haben sich die Komponisten der Franck-Schule, im Gegensatz zu den modernistischen Strömungen seit den 1920er Jahren, nicht als Bürgerschrecks inszeniert. Ihre Musik ist eine Spätblüte der Salon-Kultur des 19. Jahrhunderts. Die Ästhetik ist konziliant, verbindend ausgerichtet: Leidenschaft und Eleganz sind keine Gegensätze, Tiefgründigkeit und Schroffheit keine Synonyme; das Kunstfertige zeigt sich in anmutigster Gestalt (siehe den Kanon im Finale von Francks Sonate) und überall, im Heftigen wie im Ruhigen, strahlt die Musik eine einladende Wärme aus.

Zu diesem Eindruck trägt nicht zuletzt bei, dass viele Gedanken bei Franck, Lekeu und Ysaÿe vokal erfunden sind. Rémy Ballot trägt dieser Gesanglichkeit Rechnung, indem er ausgiebig Vibrato anwendet. Was ihn dazu bewegt ist Kunstverstand und Eigenverantwortung des Ausführenden bei der Verlebendigung der Musik, nicht Manierismus und Mode. Nachdem das Vibrato einige Zeit in gewissen Kreisen ziemlich verpönt gewesen ist, kommt es derzeit anscheinend als Mode und Manier wieder, mit der die Musik zugekleistert wird, ganz gleich, ob es passt oder nicht. Für Ballot ist es schlicht ein Kunstmittel, kein Selbstzweck. Er nutzt es, um Schattierungen zu schaffen und Binnenkontraste zu setzen, was sich gerade in der 40-minütigen Sonate Lekeus als vorteilhaft erweist. Je nach Situation im musikalischen Geschehen wendet er es stärker oder schwächer an. Ganz fremd ist ihm die übertriebene Emotionalisierung, der aufgesetzte Effekt, die Affektiertheit. Er entwickelt die Musik von innen her, dem Spannungsauf- und abbau der harmonischen Verhältnisse folgend. Ganz wunderbar gelingt ihm die allmähliche Entfaltung des Kopfsatzes der Franck-Sonate aus der Stille heraus!

Anika Vavić ist zweifellos eine ausgezeichnete Pianistin. Das Geburtstagskonzert für Kalevi Aho, das sie gemeinsam mit dem Ehepaar Ballot vor zwei Jahren in Wien gegeben hat, ist mir noch in guter Erinnerung. Leider war diesmal ihre Leistung nicht ganz so herausragend wie damals. Die Lekeu-Sonate wirkte nicht ausreichend durchdrungen, was anhand der ruhigeren Teile des Werkes deutlich wurde. Der aufgewühlte letzte Satz war nicht zu beanstanden. Diejenigen Abschnitte der beiden ersten Sätze, die im Klavier wenig figuriert sind, hätten dagegen mehr melodische Ausrichtung vertragen. Hier wirkte manches eher aneinandergereiht denn als tonsprachliche Sinneinheit erfasst. Vavićs Vortrag der Franck-Sonate litt nicht unter dieser Schwäche. Hier fanden Violine und Klavier zu einer gelungenen Darbietung zusammen.

Den Höhepunkt des Abends markierte der zweite Satz aus Ysaÿes Violinduo, ein 1915 entstandenes Stück, das stellenweise die Grenzen des Franckschen Idioms zum Impressionismus Debussys überschreitet. Das Zusammenspiel von Iris und Rémy Ballot ist in seiner makellosen Harmonie schlichtweg bewundernswert. Angesichts der Achtsamkeit, mit der sie einander die Motive hin- und herreichen und sich gegenseitig stützen und ergänzen, meint man, einen einzigen Menschen zugleich auf zwei Violinen spielen zu hören. Gern hörte man von den beiden nun auch die übrigen Sätze der Ysaÿe-Sonate!

[Norbert Florian Schuck, Oktober 2025]

80 Jahre musica viva: K. A. Hartmann, Alberto Posadas und ein hinreißendes Cellokonzert von Benjamin Attahir

Anlässlich des 80. Geburtstags der Münchner musica viva bewältigte das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks am 24. Oktober 2025 im Herkulessaal unter Duncan Ward ein beachtliches Programm: Zu Ehren des Begründers der Konzertreihe erklang Karl Amadeus Hartmanns späte 8. Symphonie. Zuvor gab es zwei neuere Instrumentalkonzerte: Das „Königsberger Klavierkonzert“ von Alberto Posadas (*1967) mit dem Pianisten Florian Hölscher sowie das Cellokonzert „Al Icha“ von Benjamin Attahir (*1989) mit Jean-Guihen Queyras.

Jean-Guihen Queyras, Christopher Ward, BRSO / © Astrid Ackermann-BR

Kaum zu glauben: Die Münchner Konzertreihe für moderne Musik, musica viva, wurde nun 80 Jahre alt. Die Verteilung des Programms quer über die gesamte Spielzeit eines Spitzenorchesters sucht wohl weltweit ihresgleichen und hält das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, oft einschließlich des Chores, in stetem Kontakt zu aktuellen Kompositionen. Als der Münchner Komponist Karl Amadeus Hartmann (1905–1963) am 7. Oktober 1945 im Prinzregententheater das erste Konzert veranstaltete – mit Musik von Mahler, Debussy und Busoni – war der anhaltende Erfolg der Reihe noch nicht absehbar. Längst zählt die musica viva zu den absoluten Aushängeschildern Münchner Kultur und das Konzert am Freitag war nicht nur wegen des Jubiläums wieder gut besucht – mit einem heterogenen und ungewöhnlich langen Programm.

Der Spanier Alberto Posadas hat kurz zuvor in der Bayerischen Akademie der Schönen Künste den Happy New Ears-Preis 2025 für Komposition der Hans und Gertrud Zender-Stiftung entgegengenommen. Der Preis für Publizistik zur Neuen Musik ging diesmal an Christian Utz. Posadas richtet sich häufig an mathematischen Modellen aus – z. B. im Streichquartett-Zyklus Liturgia fractal an komplexen Fraktalen. Derlei Konzepte mögen bei Kammermusik noch aufgehen. In seinem Königsberger Klavierkonzert (2023) ist es der Eulerkreis, den der Mathematiker im Umfeld des berühmten Königsberger Brückenproblems entwickelt hatte, eine der Grundlagen der Graphentheorie. Dass sich dies musikalisch auf klangliche „Brücken“ zwischen Klavier und Orchester übertragen lässt, zeigt Posadas mit einer völlig hypertrophen Orchestrierung, die zwar erstaunliche und interessante Einzelereignisse hervorbringt, jedoch mangels wahrnehmbarer motivischer Arbeit auf den Hörer ziellos, fast beliebig wirkt: ein mit zudem 40 Minuten Länge völlig unverdaulicher Klops. Florian Hölscher, der Posadas bereits den Klavierzyklus Erinnerungsspuren abgerungen hatte, muss einen exorbitant schwierigen Part bewältigen: auf der Tastatur Cluster und schnellste Bewegungsmuster in ständigem Wechsel, im langsamen Mittelsatz unkonventionelles, sonores Spiel im Innern des Flügels. Der Brite Duncan Ward steuert die Klangmassen erneut souverän, kann aber bei dieser Musik keinen Funken überspringen lassen, weder aufs Orchester noch das Publikum: wohlwollender Applaus allenfalls für den Solisten.

Völlig andere musikalische Qualitäten zeigt dann das Cellokonzert Al Icha des französischen Komponisten Benjamin Attahir. Kulturell gleichermaßen in der westlichen wie der arabischen Musik verwurzelt, hat sich Attahir sogar mit Klezmer beschäftigt. In der Zeit des Corona-Lockdowns entstanden, verbindet er hier, im letzten, nächtlichen Stück eines Zyklus, der sich den fünf täglichen muslimischen Gebetszeiten widmet, Elemente von Gregorianik, Rak’ahs und eben jiddischer Melodik zu einer genialen Symbiose. Auch für den Solisten bietet das Werk emotional traumhaft differenzierte und klanglich bestechende Entfaltungsmöglichkeiten. Attahir war 2021 nach den ersten Proben nicht ganz mit der zu barocken Auffassung des Cellisten Jean-Guihen Queyras einverstanden und änderte den Solopart in einigen Details so, dass ein „postromantischer Klang“ erreicht wird. Attahirs Musik ist allerdings keinesfalls mit amerikanischer Neoromantik – Schwantner, Rouse etc. – zu verwechseln. Er benutzt hochkomplizierte Strukturen und Rhythmen, Mikrotonalität, beherrscht zugleich sensationell geschickt altbewährte Formen wie Fugati, ob deren Schönheit man durchaus in Verzückung geraten kann. Man sieht es an der bei dieser Darbietung gestalterisch viel mehr eingreifenden linken Hand des Dirigenten und an den Reaktionen des Orchesters, dass diese Musik unmittelbar lebendige Kommunikation bewirkt. Queyras hat das Stück – dies ist die vierte Aufführung – mittlerweile so verinnerlicht, dass bei ihm eine Freiheit und Tiefe des Ausdrucks entsteht, wie man sie sonst nur von Klassikern des Repertoires erwartet. Der Saal bejubelt die Musiker und den noch jungen Komponisten enthusiastisch wie selten.

Am Schluss gibt es dann nochmal eine halbstündige kalte Dusche: Karl Amadeus Hartmanns achte und letzte Symphonie entstand 1962. Der Nazi-Terror war in der BRD nicht ansatzweise aufgearbeitet und der Kalte Krieg hatte in der Kuba-Krise einen neuen Tiefpunkt erreicht. In der für ihn typisch zweisätzigen Form gelingt Hartmann ein Höhepunkt an orchestraler Expressivität, die hörbar eine Linie Mahler–Berg fortsetzt. Die Wucht, mit der Emotionen hier geradezu eruptiv aufwallen und doch gegen Wände zu rennen scheinen, kann zutiefst verstören, auch heute noch. Trotzdem muss so etwas schon damals – als die Gattung Symphonie fast verschwunden schien und der Serialismus sich für viele Komponisten als Irrweg erwies – etwas antiquiert, wenn nicht stur gewirkt haben. Letztlich hat Alban Berg in seinem dritten Orchesterstück aus Op. 6 schon zu Beginn des Ersten Weltkriegs ähnlich dystopische Visionen fast bis an die Grenze ausgelotet. Hartmanns kompositorische Meisterschaft steht außer Frage, und das BRSO gibt wieder sein Bestes für den bedeutendsten Symphoniker der Stadt. Ward setzt die Mechanismen perfekt um, mit denen hier beängstigende Dramatik in immer neuen Wellen aufgebaut wird und hält die (An)-Spannung bis zum Schluss. Die wunderbare Ausgewogenheit seiner 6. Symphonie – Hans Werner Henze hat diese mit größter Empathie beschrieben – ist dafür weit weg, und man darf sich fragen, ob Hartmann, hätte er noch länger gelebt, diesen Weg weiter beschritten hätte. In ihrer humanistischen Warnung vor der Apokalypse muss man die Achte heutzutage leider wieder absolut ernstnehmen. Die Münchner wissen sowieso, was sie K. A. Hartmann zu verdanken haben und applaudieren anhaltend.

[Martin Blaumeiser, 25. Oktober 2025]

Das MKO mit Haydn, Ives und der deutschen Erstaufführung von Dieter Ammanns Violakonzert

Das Münchener Kammerorchester besteht 2025 seit nunmehr 75 Jahren. Im Prinzregententheater startete am 16. Oktober die unter dem Motto „Wonderland“ stehende Jubiläumssaison mit Joseph Haydns Symphonie Nr. 6 «Le Matin», Charles Ives‘ Symphonie Nr. 3 „The Camp Meeting“ sowie der deutschen Erstaufführung des neuen Bratschenkonzerts „No templates“ des Schweizer Komponisten Dieter Ammann mit Nils Mönkemeyer als Solist. Musikalisch geleitet wurde der Abend von Bas Wiegers.

Dieter Ammann und Nils Mönkemeyer / © Florian Ganslmeier

Im praktisch ausverkauften Münchner Prinzregententheater erwartete man am Donnerstag ein spannendes Konzert, das wohl gleich eindrucksvoll demonstrieren sollte, in welches musikalische „Wunderland“ das MKO in der Jubiläumssaison 2025/26 sein Publikum zu führen gedenkt.

Das Programm startet mit Joseph Haydns erster „Tageszeiten“-Symphonie: Nr. 6 D-Dur »Le matin« von 1761, die neben der damals noch unüblichen Viersätzigkeit – es gibt ein Menuett als 3. Satz – zudem für einige Orchestermitglieder, allen voran Violine und Flöte, dankbare kleine Soli bereithält. Wahrscheinlich absichtsvoll lässt der Niederländer Bas Wiegers, einer der drei Associated Conductors des MKO und nur in diesem Werk ohne Taktstock agierend, die Musik etwas schläfrig beginnen. Nach dem stets als Sonnenaufgang interpretierten Übergang zum Allegro wird umso frischer, fein strukturiert und mit hübscher Dynamik musiziert. Wiegers gibt gestaltende Impulse, kann aber schnell auf die größeren Einheiten gehen. Man gibt sich historisch informiert, benutzt etwa Naturhörner, verzichtet dabei zum Glück auf Manierismen mancher Barockensembles, wie etwa zu kurz gespielte abgesetzte Notenwerte. Der langsame Satz lebt von den teils skurrilen Soli und einigen fahlen Oktaven: Haydn gab seinem Humor schon im Antrittsjahr am Fürstenhof Esterhazy Raum, und besonders die Konzertmeisterin kann hier glänzen, so wie das Fagott später im Trio des 3. Satzes. Das Finale ist dann wirklich sehr energetisch und macht einfach Spaß. Natürlich bekommen danach auch alle Solisten innerhalb des MKO eine Extraportion Applaus.

Der Höhepunkt des Abends ist ganz klar das für Nils Mönkemeyer geschriebene und Anfang des Jahres von ihm in Basel uraufgeführte Violakonzert „No templates“. Daran hat der Schweizer Tüftler Dieter Ammann (*1962) wieder mehrere Jahre gearbeitet: Das Ergebnis ist dafür erneut grandios. Für ganz großes Orchester schreibt der Komponist sensationell, doch stets weit entfernt von oberflächlicher Effekthascherei; in München zuletzt mit dem Orchestre de la Suisse Romande zu hören (wir berichteten). Hinreißend, wie er ebenso aus einer viel kleineren Besetzung eine überraschend breite Farbpalette hervorzaubern kann. Dabei gibt es wohldosiert durchaus auch Geräuschhaftes, aber sogar fast tonale Erinnerungsmomente in der vertikalen Klangstruktur. Das Verhältnis zwischen Bratsche – die Partie verlangt nicht nur technisch dem Solisten alles ab – und Orchester folgt der altbewährten Dramaturgie: Individuum versus Kollektiv, mit zunächst klar abgegrenzten Stimmungen. Ammann spielt dabei ganz wunderbar mit den spezifischen Klangcharakteristika der Viola. So zwingt etwa nach dem ersten Drittel das Orchester den Solisten in eine sehr intensive Doppelgriffpassage in tiefer Lage, aus der sich der famose Nils Mönkemeyer quasi mit großer Mühe selbst wieder freischälen muss. Viel später gibt es dann eine echte, große Kadenz mit herrlich ausdrucksvollen, leisen Kantilenen. Mönkemeyer ist über das gesamte, gut halbstündige Werk emotional unglaublich vielschichtig präsent und ganz nah am Publikum. Und an ein paar Stellen hört man natürlich, dass Ammann zunächst vom Jazz und Funk zur Klassik gekommen ist: bei schnellen, rhythmisch pointierten Passagen immer spannungsvoll und mit vorwärtsstrebendem Drive. Wiegers leitet das Stück souverän, so dass das Orchester diesen Farbrausch überzeugend mitgestaltet. Wie durchdacht Ammanns Instrumentationskunst ist, zeigt sich ganz am Schluss, wo die Bratsche in allerhöchster Lage – Mönkemeyer braucht dazu nicht einmal Quart-Flageoletts – ein positives Ende herbeiträumt und vom exzellenten Schlagzeug mit gestrichenen Zimbeln unterstützt wird, die heutzutage die präzisesten Klangerzeuger für extremste Höhen darstellen. So kann garantiert nichts schiefgehen: faszinierend. Ammanns neues Meisterwerk wird vom Saal zu Recht bejubelt, Solist, Dirigent und das Orchester sowieso.

Immer recht schwierig ist es im einst erzkatholischen München, den Funken bei der Musik des ersten amerikanischen Avantgardisten Charles Ives wirklich überspringen zu lassen. Dabei gehört dessen 3. Symphonie, entstanden 1904–11, zu seinen eher harmlosen Kompositionen, in der er nicht kompromisslos collagiert. Der Titel The Camp Meeting verweist auf die in den USA des 19. Jahrhunderts verwurzelten großen religiös-sozialen Treffen nicht nur der Erweckungsbewegung. So bilden etliche protestantische Choräle, die bis vor 30 Jahren wohl noch jedes amerikanische Schulkind problemlos hätte mitsingen können, die Grundlage für eigenwillige, aber klare und harmonisch recht unbedenkliche symphonische Strukturen. Hierzulande kennt man – inklusive der Orchestermusiker – weder Text noch Musik dieser Gesänge, was deren Vermittlung innerhalb eines umfassenderen Kontexts fast unmöglich macht. Ohne bei den Proben anwesend gewesen zu sein: Auch Wiegers wird damit schon aus Zeitgründen nicht weit gekommen sein. Das MKO spielt klangschön, jedoch dynamisch ein wenig zu undifferenziert und gleichförmig. Trotzdem könnten die Streicher gerade im 1. Satz Old Folks Gathering noch dichter, gebundener klingen. Die momentweise bereits an Gospels anklingenden Rhythmen im 2. Satz wirken ziemlich steif; hier zeigt auch Wiegers nicht die nötige Flexibilität. Im Finale können die Bläser begeistern, jedoch die Streicher nutzen aus den genannten Gründen nie richtig die „geistlichen“ Energiebälle, die Ives ihnen dauernd vor die Füße wirft. So bleibt die Darbietung recht blutleer, „nett“ ohne wirklich ergreifend zu sein. In dieser Musik steckt eigentlich noch weitaus mehr drin. Das spürt das Publikum sehr wohl und der Beifall für dieses Schlüsselwerk der US-Symphonik erscheint lediglich höflich.

[Martin Blaumeiser, 18. Oktober 2025]

Sir Simon Rattles „Wozzeck“ in der Isarphilharmonie

Mit drei konzertanten Aufführungen von Alban Bergs bahnbrechendem Opernklassiker „Wozzeck“ in der Münchner Isarphilharmonie HP8 startete Sir Simon Rattle seine neue Saison mit dem Symphonieorchester und Chor des Bayerischen Rundfunks. Zudem hatte man den Kinderchor der Bayerischen Staatsoper eingeladen und konnte mit hochkarätigen Solisten aufwarten, allen voran Malin Byström als Marie und Christian Gerhaher in der Titelrolle. Unser Rezensent besuchte das Konzert am 3. Oktober 2025.

BRSO, Christian Gerhaher, Sir Simon Rattle, Malin Byström (Aufführung vom 2. 10. 2025) / © BR-Astrid Ackermann

Für die Einführung zu Alban Bergs Wozzeck – nach Georg Büchners Dramenfragment und vor 100 Jahren im Dezember 1925 uraufgeführt – hat Annekatrin Hentschel mit dem 82-jährigen Komponisten, Dirigenten und Chansonnier HK Gruber den idealen Gesprächspartner. Gruber, wie Berg ein echter Wiener, könnte wohl stundenlang mit Sachverstand und Witz von der Jahrhundertoper – in puncto Qualität – schwärmen. Leider merkt man ihm in der Sprechgesangsrolle des 1. Handwerksburschen nachher dann doch an, dass er an diesem Abend stimmlich leicht angeschlagen ist. Die Vorteile der konzertanten Opernaufführung einer solch komplexen Partitur wie der des Wozzeck macht sich Sir Simon Rattle mit seinem mal wieder bestens aufgelegten BRSO natürlich voll zu Nutze. Vieles erscheint so deutlich transparenter als aus einem Orchestergraben im Opernhaus heraus, und für die Zuhörer wird einmal optisch deutlich, wie viele verschiedene solistische Aufgaben es da im Orchester zu bestaunen gilt. Ob man mit den Gesangssolisten im Rücken diese auch besser führen kann, darf jedoch angezweifelt werden. Zudem verleitet eine solche Aufstellung in einem großen Konzertsaal durchaus dazu, die Sänger dynamisch zuzudecken. Selbst der eigentlich stimmgewaltige Christian Gerhaher hat an einigen Stellen damit zu kämpfen, etwa in der Fuge (II. Akt, 2. Szene) oder der ersten Wirtshausszene.

Die stimmliche und emotionale Ausdeutung einer der Paraderollen des Baritons ist nach wie vor grandios. Die Palette an unterschiedlichsten Klangfarben auf engstem Raum und differenziertester Textbehandlung berührt den Saal von der ersten Szene an. Gerhahers Wozzeck ist nur noch äußerlich ein Getriebener, eigentlich längst dem Schicksal als in seiner Wahrnehmung der Welt entrückter Geistesgestörter voll ergeben und ohne Hoffnung: eine Figur, die allenfalls Mitleid erwecken kann. Dies wird ihm allerdings nur durch die Musik und das Publikum zuteil, überhaupt nicht von den übrigen Protagonisten. Die meisten sind erstklassig: Malin Byström als Marie begeistert durch außerordentlich sichere und flexible Tongebung, wirkt aber nicht durchgehend glaubwürdig. Die heikle Bibelszene zu Beginn des dritten Akts, wo Berg gerade an den melodisch großartigsten Stellen reinen oder halben Sprechgesang fordert, bewältigt sie partiturgetreu und absolut überzeugend. Nicky Spences seit vielen Jahren verlässlicher Charaktertenor ist für den Hauptmann eine Idealbesetzung. Mit immer noch exzellenter Höhe zeichnet er eine brüchige Figur; im Grunde ein Weichei, das vom Doktor (Brindley Sheratt) beliebig in die Enge getrieben werden kann. Dessen phänomenaler Bass – dämonisch, edel, hier zugleich ekelhaft zynisch und am Rand des Größenwahns – ist die eigentliche Überraschung des Abends, ungemein faszinierend. Dagegen fallen der glanzlose Eric Cutler (Tambourmajor), der allzu distanzierte Edgaras Montvidas (Andres) und Rinat Shaham (Margret), die sich in der zweiten Wirtshausszene in falsches Verismo-Pathos verirrt, merklich ab. HK Gruber, dem sich Rattle nicht etwa besonders zuwendet, weil er vom Dirigenten deutlichere Führung benötigen würde, sondern um klarzumachen, dass hier nun quasi ein zweites Orchester (sonst Bühnenmusik) spielt, setzt seine genaue Vorstellung von der Partie präzise um – wie gesagt, mit stimmlichen Einschränkungen. Der Chor des Bayerischen Rundfunks (Einstudierung: Peter Dijkstra) und der Kinderchor der Bayerischen Staatsoper (Kamila Akhmedjanova) mit Felix Bellheim (Mariens Knabe) machen ihre Sache tadellos, ebenso Ludwig Mittelhammer (2. Handwerksbursch).

Rattle deutet mit dem Orchester die expressionistischen Qualitäten der Partitur stilistisch auf den Punkt genau aus. Die ja nur in wenigen Abschnitten bereits zwölftönige Komposition knüpft für ihn besonders an Gustav Mahler an: spürbar gerade bei den Tanzformen, deren ironische Behandlung Berg von dessen 9. Symphonie übernommen hat, aber gleichermaßen in Details der Orchestrierung. Auch Schönbergs Kammersymphonie op. 9 lässt bekanntlich grüßen, vieles erscheint als überdimensionale Ensemblemusik. Die teils komplizierten Klangschichtungen erscheinen beim BRSO mit der größten Selbstverständlichkeit, wirken natürlich bis vertraut, dienen allein dem dramatischen Fluss. Nie verfällt Rattle in Hektik, wählt sehr stimmige Tempi, die Berg eh‘ meist minutiös notiert, hat immer den nächsten Höhepunkt im Blick und gibt, wo es die Partitur ermöglicht, insbesondere Gerhaher genügend Freiraum für spontane Gestaltung. Insgesamt eine sehr solide, stets spannungsreiche Darbietung, hinter der sich freilich gute szenische Realisationen an großen Opernhäusern nicht verstecken müssen. Wer sich an dieses epochale Werk heranwagt, will es halt als Vorzeigestück für alle Mitwirkenden präsentieren; das gelingt an diesem Abend.

[Martin Blaumeiser, 4. Oktober 2025]

Tolle Gäste aus Korea zelebrieren Pagh-Paan, Messiaen und Sibelius

Das erste musica viva Konzert nach der Sommerpause am 25.9.2025 bestritten Gäste aus Korea: Das Busan Philharmonic Orchestra unter seinem künstlerischen Direktor Seokwon Hong spielte im Münchner Herkulessaal drei Werke der Komponistin Younghi Pagh-Paan anlässlich ihres 80. Geburtstags: „Sori“, „Der Glanz des Lichts“ mit den beiden Solisten Byol Kang und Nils Mönkemeyer sowie „Frau, warum weinst du? Wen suchst du?“ Nach der Pause erklangen dann Olivier Messiaens «L’Ascension» und Jean Sibelius‘ 7. Symphonie.

Busan Philharmonic Orchestra, Byol Kang, Nils Mönkemeyer, Seokwon Hong
© Astrid Ackermann/BR

Erneut hatte man zum Auftakt der neuen musica viva Saison ein großes Orchester eingeladen, das noch nie in München gespielt hat, diesmal ermöglicht von koreanischen Förderern und in Zusammenarbeit mit den Berliner Festwochen: Das Busan Philharmonic Orchestra aus Koreas zweitgrößter Metropole schickt fast 100 Musikerinnen und Musiker auf die Bühne im leider beschämend schlecht besuchten Herkulessaal. Gewidmet ist der Abend vor allem der schon lange in Deutschland lebenden Komponistin Younghi Pagh-Paan, die Ende November ihren 80. Geburtstag feiert.

So erklingen drei Stücke der allerersten weiblichen Kompositionsprofessorin unseres Landes (von 1994 bis 2011 in Bremen). Trotz der über 40 Jahre, die hierbei umspannt werden, kann man daran gut einige Charakteristika der immer bescheiden auftretenden Künstlerin festmachen, die aus gesundheitlichen Gründen leider diesmal nicht anwesend ist. Mit Sori – was im Koreanischen für alles akustisch Wahrnehmbare steht – erlangte sie 1980 in Donaueschingen quasi den internationalen Durchbruch. Sie hatte mit dem Stück längst begonnen, als die damalige Militärdiktatur in ihrer Heimat das Massaker von Gwangju anrichtete. Wenn der ebenfalls bei uns tätige Isang Yun ein Jahr später über das Drama die quasi dreiteilige sinfonische Dichtung Exemplum in memoriam Kwangju (damalige westliche Schreibweise) mit klarer Teleologie schrieb, ist Pagh-Paans Stück für großes Orchester vielschichtiger: Mit einer fantastischen Farbenvielfalt, besonders beim Schlagzeug, wird indigenes musikalisches Material aus Korea in eine ganz moderne Faktur eingebunden. Der von Beginn an „in sich hineingeschluckte Groll“ entfaltet dabei eine Sogwirkung, die musikalisch zu großen Steigerungen, aber später unweigerlich zu Aus- bzw. Abbrüchen führt. Integrierte Trillerpfeifen und brutale Aleatorik, die den Rest des Orchesters fast niederzuwalzen scheint, sind gegen Schluss dann unzweideutige Hinweise auf die starke Verarbeitung auch eines nationalen Traumas: sehr beeindruckend. Der Dirigent Seokwon Hong agiert schon hier grandios. Seine Schlagtechnik ist hochdifferenziert bei meistens kleinem Bewegungsambitus; Hong kann aber, wo nötig, ebenso extrem animierende Impulse übertragen, sorgt in seinem Riesenorchester für dynamisch perfekte, immer durchhörbare Klangschichtungen. Unterstützt wird er in den Streichergruppen von bemerkenswert aufmerksamen und resoluten Konzertmeisterinnen und -meistern.

Die an Maria Magdalena gerichteten Jesus-Worte „Frau, warum weinst du? Wen suchst du?“ – so der Titel von Pagh-Paans bislang letzter Orchesterpartitur (2023) – zielen hier musikalisch auf den ganz großen Trost eines, wenn nicht aller Menschen. Dabei spielt natürlich auch der eigene Abschied von ihrem Ehemann, dem Komponisten Klaus Huber († 2017) eine Rolle. Das sehr effektiv instrumentierte 7-Minuten-Stück hält eine mystische, schimmernde Spannung, bis in die fast weihevollen Klangballungen der Bläser. Der Glanz des Lichts (2012) ist ein Doppelkonzert für Violine & Viola mit nun deutlich reduziertem Orchester – 32 Streicher, 2 bis 3-faches Holz usw. Hierbei geht es um die wiederum mystische Dimension des Lichts einerseits, der des Ausatmens andererseits. Die beiden Solisten – Nils Mönkemeyer anfangs deutlich präsenter und aktiver als seine Partnerin Byol Kang an der Violine – sind zunächst total ins Orchester integriert, wenn auch die eigentlichen Initiatoren klanglicher Veränderung. Die Demonstration unterschiedlicher Amplituden von Vibrato, ergreifend schön schließlich in einer Art Duo-Kadenz, löst im Orchester sensibelste, fein austarierte Reaktionen aus. Wieder typisch für Pagh-Paans Ästhetik, dass die Musik sich gleichermaßen nach außen wie nach innen richtet und selbst in Momenten beinahen Stillstands tragfähig bleibt: großer Applaus.

Nach der Pause dann zwei Klassiker, wieder mit voller Besetzung, in der das koreanische Orchester beweisen kann, dass es auf Weltklasse-Niveau musiziert. Olivier Messiaens vier Meditationen über die Himmelfahrt, L’Ascension von 1933, symbolisieren musikalisch ganz explizit den Aufstieg in andere Sphären. Hierbei lassen besonders die auch bei komplexesten Akkorden blitzsauber intonierenden Bläser im ersten Stück sowie die intensivst glänzenden Streicher mit der beinahe unerträglichen Süße schon des frühen Messiaen im letzten aufhorchen. Zum Höhepunkt des Abends wird jedoch Jean Sibelius‘ letzte Symphonie, die einsätzige Siebte von 1924, für viele seine beste. Neben wirklich überzeugender emotionaler Führung der völlig ungewöhnlichen formalen Dramaturgie, bei dessen zwischenzeitlichen Steigerungen er das Orchester stets noch im Zaum hält, gelingt Hong im gesamten, recht bläserlastigen Werk eine vollkommen stimmige Balance. Dies lässt die Streicher nicht nur nie untergehen, sondern deren Strahlkraft als völlig gleichberechtigtes Gegengewicht zum Blech ohne Abstriche zum Tragen kommen. Das ist absolut phänomenal und kann sich mühelos etwa mit der ausgezeichneten Darbietung des BRSO von 2017 im Gasteig unter Salonen messen. Im Herkulessaal kann man dieses Meisterwerk eigentlich nicht klarer und klanglich wirkungsvoller auskosten als an diesem Abend. Das Publikum gibt danach sein Bestes, den Koreanern gebührend Zustimmung zu signalisieren.

[Martin Blaumeiser, 28.9.2025]

Das Kind juchzt mit: Melanie Diener und Thomas Hampson bringen Opernklasse nach Waiblingen

Das Baby ist fast durchweg ruhig. Während seine Mutter Jasmin Etminan die Arie der Tosca erarbeitet, hört ihr sieben Monate alter Sohn gemeinsam mit der Oma zu. Dozentin Melanie Diener hat nichts dagegen, im Gegenteil: sie scherzt, wenn er sich glucksend meldet, und macht weiter mit dem Unterricht. So entspannt, familiär und hochprofessionell zugleich ist die Atmosphäre bei der Opernwerkstatt Waiblingen. Sie findet in diesem Jahr zum 6. Mal statt, im Bürgerzentrum des kleinen, nahe Stuttgart gelegenen Ortes. Die Idee hatte Diener, die in Waiblingen aufgewachsen ist und bis heute hier lebt. Die Sopranistin, berühmt für ihre Wagner- und Mozartinterpretationen, holte Thomas Hampson mit ins Boot. Die beiden kennen sich seit zwanzig Jahren, traten beispielsweise in Salzburg zusammen in Don Giovanni auf. Und sie haben ein gemeinsames Anliegen: die Förderung des Nachwuchses. Zusammen bilden sie ein harmonisches Team, auch wenn sie mittlerweile unterschiedliche künstlerische Schwerpunkte setzen: Hampson, einer der Superstars der Klassikszene, gibt zwar Meisterklassen, etwa beim Heidelberger Frühling, ist aber noch mit kaum glaubhaften siebzig Jahren auf allen Bühnen der Welt unterwegs; Melanie Diener lehrt als Professorin für Gesang und IGP (Instrumental- und Gesangspädagogik) an der gut 100 Kilometer entfernten Musikhochschule Trossingen und wirkt eher bodenständig. Wofür auch spricht, dass sie 2025 zur Remstälerin des Jahres gekürt wurde. Die Auszeichnung erhielt sie für „ihr klares Bekenntnis zur Region und damit zum Remstal“.

Thomas Hampson und Melanie Diener / © Peter Oppenländer

In Waiblingen arbeitet das Duo seit Gründung der Werkstatt 2019 zusammen. Sie wird unter anderem finanziell durch die Eva Mayr-Stihl – Stiftung gefördert, erzählt Brigitta Diel, die innerhalb der städtischen Kulturabteilung für das Projekt zuständig ist. Sie organisiert und koordiniert, scheint überhaupt omnipräsent zu sein. Sie brenne für die Werkstatt, wird sie nicht müde, zu betonen. Die Stipendiaten – sie sind zwischen 22 und 32 Jahren alt – erhalten eine Woche lang ein kostenloses „Gesamtpaket“: es beinhaltet tägliche Lockerungsübungen vor dem Einzelunterricht, Ensembleproben und die Teilnahme am abschließenden Konzert mit der Württembergischen Philharmonie Reutlingen unter Leitung der aufstrebenden Dirigentin Ariane Matiakh, dazu freie Verpflegung und Logis bei Waiblinger Gastfamilien. Solch Angebot macht die Werkstatt wohl attraktiv: in diesem Jahr gab es rund 150 Bewerbungen für zwölf Plätze. Zu den Ausgewählten gehört der Chinese WenBo Shuai. Beim Studium wurde seine Stimme zunächst als Bariton eingestuft, bis ein Gastdozent seine Fähigkeit zum Countertenor entdeckte. In diesem Fach schloss Shuai als erster in der Geschichte der Hochschule von Shanghai mit dem Bachelor ab. Ab Oktober wird er seine Ausbildung in Stuttgart fortsetzen.

6. Internationale Opernwerkstatt Waiblingen / © Peter Oppenländer

Von weit her kommt auch der Südafrikaner Lonwabo Mose, eine Hüne von Mann mit ausgesprochen sympathischer Ausstrahlung. Sein imposanter Bass prädestiniert ihn für Rollen wie Sarastro und Verdis Banquo, aber auch als Leporello macht er gute Figur. Mose wird erstmal nach Kapstadt zurückkehren, hofft aber auf Auftritte in Europa und den USA.

6. Internationale Opernwerkstatt Waiblingen / © Peter Oppenländer

Shuai und Mose sind nur zwei der Gesangstalente, mit denen Melanie Diener und Thomas Hampson intensiv arbeiten. Sie feilen an jedem Detail, an der Technik, dem Atem, der Aussprache, dem Ausdruck, korrigieren hier einen Ton, dort an der Stütze. Und es ist erstaunlich, welche Fortschritte sie erzielen. Beispielsweise bei Maria Melts, die den Cherubino beim Einstieg bereits überzeugend vorträgt. Melanie Diener aber dringt noch mehr in die Tiefe, erklärt die Figur mit viel Humor, gibt Tipps für eine freiere Höhe („ich brauche mehr und schnellere Energie“) und siehe da: Melts klingt danach gelöster und noch pointierter.

6. Internationale Opernwerkstatt Waiblingen / © Peter Oppenländer

Oder Wilma Kwamme, die einen außergewöhnlich klangschönen Mezzo besitzt. Hampson analysiert mit ihr die Dorabella-Arie, seziert gleich das Rezitativ und bringt die Schwedin, die momentan in Wien studiert, zu einer ausgewogeneren Balance zwischen optimiertem Körpergefühl und musikalischer Linie. Dabei schöpft Hampson aus einem enormen Repertoirefundus und weitet manche Stunde zu einer musikhistorischen Lektion aus.

6. Internationale Opernwerkstatt Waiblingen / © Peter Oppenländer

Das ist ungemein lehrreich, nicht nur für die Teilnehmenden, sondern auch für das Auditorium. Denn die Opernwerkstatt ist keine abgeschlossene Blase. Im Gegenteil, sie will offen sein für die Bevölkerung der Stadt. Die Meisterklassen können bei freiem Eintritt besucht oder per Stream mitverfolgt werden, nur das abschließende Konzert kostet etwas. Und wer noch Berührungsängste zur Klassik hat, kann sie beim Happening auf dem historischen Marktplatz abbauen. Da nämlich hört man von den Stipendiaten ganz andere Klänge: sie singen aus dem Fenster des ersten Stocks vom alten Rathaus heraus typische Lieder ihrer Heimat. Obendrein liegt in der Auslage der Buchhandlung Tauber passende nationale Lektüre, etwa persische Gedichte oder ein historischer chinesischer Roman. Und auch an das Publikum der Zukunft ist gedacht. An einem Vormittag sind Schulklassen eingeladen. Sie erhalten auf spielerische Weise eine unterhaltsame Lektion in Sachen Operngesang. Wie sich dabei Kinder und Profis begegnen, miteinander singen und Gemeinsamkeiten entdecken („Meine Eltern stammen auch aus China“, ruft ein Junge ), ist wunderbar mitzuerleben – und der Gedanke der Werkstatt, musikalische Exzellenz mit interkulturellem Austausch zu verbinden, besonders greifbar. Kurzum: Waiblingen ist ein gelungenes Beispiel dafür, wie Musik Weltoffenheit fördern kann.

[Karin Coper, September 2025]

Ersteinspielung: Maximilian Steinbergs Symphonie Nr. 3

Fuga Libera, FUG 831; EAN: 5400439008311

Den Namen Maximilian Steinberg hat wohl jeder schon einmal gehört, der sich mit russischer Musik des frühen 20. Jahrhunderts befasst hat. Man kennt ihn zumindest als Schüler, Schwiegersohn und Herausgeber Nikolai Rimskij-Korsakows, als Mitschüler Igor Strawinskijs und als Kompositionslehrer Dmitrij Schostakowitschs. Dass der 1883 in Vilnius geborene und seit 1901 in Sankt Petersburg ansässige Steinberg zu jenen Persönlichkeiten gehörte, die sich im Zentrum der musikgeschichtlichen Entwicklung Russlands bewegten und dort keine ganz unbedeutende Rolle spielten, lässt sich mithin nicht abstreiten. Zwar konnte Steinberg zu Lebzeiten als Komponist einige Erfolge im In- und Ausland feiern, doch geriet sein Schaffen nach seinem Tode 1946 weitgehend in Vergessenheit. Dass sich sein Schüler Schostakowitsch frühzeitig seinem Einfluss entzogen hatte und Strawinskij nicht gut auf ihn zu sprechen war, da er sich in jungen Jahren in den Augen Rimskij-Korsakows zugunsten Steinbergs zurückgesetzt sah, dürfte in den Nachkriegsjahrzehnten nicht dazu beigetragen haben, das Interesse an Steinbergs Musik zu steigern. Erst in der jüngeren Vergangenheit haben es Einspielungen seiner Werke ermöglicht, sich von seinen kompositorischen Fähigkeiten ein genaueres Bild zu machen – ein Prozess, der noch lange nicht abgeschlossen ist, denn eine größere Zahl seiner Hauptwerke wartet bis heute auf ihre Erstaufnahme. Bis vor kurzem zählte noch Steinbergs 1928 vollendete Symphonie Nr. 3 g-Moll op. 18 zu diesen auf Tonträger nicht greifbaren Stücken. Im vergangenen Jahr wurde dies durch das Uralische Jugend-Symphonieorchester (Ural Youth Symphony Orchestra) unter der Leitung von Dmitrij Filatow (Dmitry Filatov) geändert: Sie nahmen die Symphonie gemeinsam mit der Orchestersuite aus Dmitrij Schostakowitschs Ballett Der Bolzen op. 27a für die belgische Musikproduktion Fuga Libera auf.

Steinberg komponierte insgesamt fünf Symphonien. Die ersten beiden entstanden noch vor dem Ersten Weltkrieg, die letzten drei datieren von 1928, 1933 und 1942. Steinberg gehört also, ähnlich dem ungefähr gleichaltrigen Mikolai Mjaskowskij, dem die Dritte Symphonie gewidmet ist, zu jenen Symphonikern, deren Schaffen die Zarenzeit mit der sowjetischen Epoche verknüpft. Von Steinbergs Frühwerk konnte man sich bereits seit der Jahrtausendwende ein gutes Bild machen, da die Göteborger Symphoniker unter Neeme Järvi damals für Deutsche Grammophon zwei CDs mit den ersten beiden Symphonien und weiteren frühen Orchesterwerken aufnahmen. Wenn dieses Projekt als Zyklus geplant gewesen ist, so kann man nur bedauern, dass er nicht vollendet wurde. Erst 2017 erschien wieder eine CD mit Steinbergscher Orchestermusik, als Martin Yates mit dem Royal Scottish National Orchestra für Dutton die Vierte Symphonie Turksib und das Violinkonzert einspielte, und damit erstmals Werke aus Steinbergs sowjetischer Schaffensphase präsentierte. Die nun erstmals aufgenommene Dritte Symphonie markiert in gewissem Sinne einen Wendepunkt in Steinbergs Entwicklung. Die frühen Symphonien stehen zwar fest in der Tradition des Mächtigen Häufleins und Alexander Glasunows und sind entsprechend von Elementen slawischer Folklore durchdrungen, doch sind sie keine folkloristischen Werke im engeren Sinne. Das ändert sich mitten in der Dritten Symphonie, wenn Steinberg, Nachkomme einer jüdischen Familie, dem langsamen dritten Satz das jüdische Volkslied El Yivneh Hagalil als Hauptthema zugrunde legt. Dieses findet auch im Finale Verwendung und darf die Symphonie apotheotisch gesteigert beschließen. In den beiden folgenden Symphonien geht Steinberg diesen Weg weiter und greift auf kasachische bzw. usbekische Volksmelodien zurück. Dass er damit durchaus konform mit den Wünschen der Propagandisten des „Sozialistischen Realismus“ ging, ist ihm in der Musikliteratur wiederholt verübelt worden.

Es scheint unter Musikhistorikern eine Tradition zu geben, Steinberg – der nie ein schlechtes Wort über seinen berühmten Kommilitonen verloren hat – als Kontrastfigur zu benutzen, um zu zeigen, wie großartig Igor Strawinskij ist und welch tristem Schicksal dieser entging. So meint etwa Stephen Walsh (Stravinsky: A Creative Spring), dass sich Steinberg zu einem „langweiligen, respektierten sowjetischen Komponisten und Lehrer“ entwickelt habe. Und für Richard Taruskin (Stravinsky and the Russian Traditions) ist Steinberg ein Komponist, „für den man kein besonderes Interesse entwickeln kann“, anhand dessen sich aber zeigen lasse, wie Strawinskij wohl komponiert hätte, wäre er in Russland geblieben. Er hätte dann nämlich ziemlich genau solche Sachen geschrieben wie Steinbergs Dritte Symphonie. Beim Lesen dieser Zeilen spürt man geradezu die Erleichterung des Autors, dass Strawinkij durch seine Emigration nach Paris darum herum gekommen ist, so etwas schreiben zu müssen…

Aber halt! Die Leute, die sich hier offenbar posthum an Steinberg dafür rächen wollen, dass Rimskij-Korsakow ihn Strawinskij vorzog, vergessen, dass die Begabungen Steinbergs und Strawinskijs, obwohl sie beide der gleichen Schule entstammten, unterschiedlich gewichtet waren und auf unterschiedliche Betätigungsfelder hinzielten. Um es kurz zu sagen: Strawinskij wurde ein Ballettkomponist, der auch Symphonien, Steinberg ein Symphoniker, der auch Ballette schrieb. Man höre sich einmal die jeweils ersten Symphonien beider Komponisten an! Strawinskijs Symphonie op. 1 ist ein gutes Werk in der guten Tradition seiner damaligen Vorbilder Rimskij-Korsakow und Glasunow, die auch in der gleichzeitig entstandenen Ersten Symphonie Steinbergs als Vorbilder erkennbar sind. Aber verglichen mit Steinbergs Symphonie wirkt diejenige Strawinskijs in der Entwicklung der musikalischen Gedanken deutlich weniger souverän, obwohl nach den Regeln auch hier alles korrekt ist. Für Strawinskij, dessen spätere Symphonien aus dem Geist seiner Ballettmusiken geboren sind und ganz anders klingen, war die traditionelle Symphonik ein Lehrbuchstoff, den er als Kompositionsschüler zu bewältigen lernte. Für Steinberg war sie die natürliche Umgebung, in der er sich fühlte wie der Fisch im Wasser. Strawinskij fand seinen Stil, indem er zur symphonischen Tradition in schroffe Opposition ging, aber warum hätte Steinberg mit ihr brechen sollen?

Wie die drei zuvor auf CD erschienenen Symphonien Steinbergs zeugt auch die Dritte von seiner außerordentlicher Begabung als Symphoniker. Mit den klassischen Formmodellen geht er durchweg phantasievoll um. Man höre nur, wie er im ersten Satz die Reprise unmerklich aus der Durchführung herauswachsen lässt und dann das Seitenthema, das in der Exposition als lyrisches Intermezzo erschien, kontrapunktisch über das Hauptthema schichtet und dadurch den Höhepunkt der musikalischen Handlung an eine sehr späte Stelle im Satz verlagert! Das Finale ist als zyklisches Fazit angelegt, wobei Steinberg weniger als acht Minuten benötigt, das mit Zitaten aus den Sätzen 1 und 3 gespickte Geschehen zur Abrundung zu bringen – Längen gibt es bei ihm nicht. Das Hauptthema des Finales ist zudem eine freie Umformung des Volksliedthemas aus dem dritten Satz; ein weiteres Thema, das fugiert verwendet wird, leitet sich deutlich vom Seitenthema des Kopfsatzes ab. In der Partitur stellt Steinberg es dem Dirigenten frei, die zwei Schlusstakte des dritten Satzes zu spielen, oder sie wegzulassen, um das Finale direkt anzuschließen. Dmitrij Filatow hat sich für den Attacca-Übergang entschieden, was der Dramaturgie des Werkes förderlich ist.

Mit Strawinskij verbindet Steinberg sein überragendes Instrumentationstalent. Der Orchesterklang der Dritten Symphonie ist fein abgestuft, farbensatt, konturenscharf und wirkt selbst im Tutti nie dick. An zahlreichen Stellen merkt man, dass man keine Symphonie des 19. Jahrhunderts mehr vor sich hat. Der in dieser Hinsicht „modernste“ Satz ist das Scherzo, ein leichtfüßiges, spielerisches Stück, das nichtsdestoweniger durch die ständigen unregelmäßigen Wechsel von 2/4- und 3/4-Takten recht unruhig wirkt und mit seiner oft kammermusikalisch anmutenden, durch Celesta, Harfe, Triangel und Glockenspiel stark aufgehellten Instrumentation kaum mehr „spätromantisch“ erscheint.

Mit dem dritten Satz kehrt das romantische Pathos freilich in die Symphonie zurück. Wie Steinberg das einfache, in melodischem Moll gehaltene Liedthema in einen durchaus mit Chromatik stark angereicherten Tonsatz einbettet, ohne dass der Charakter des Themas verloren geht und das Ganze harmonisch überladen wirkt, zeugt vom Einfallsreichtum wie vom guten Geschmack des Komponisten. Überhaupt ist Steinberg ein fesselnder Harmoniker: Seine Musik gründet sich auf einfache diatonische Verhältnisse, die er aber durch chromatische Zwischentöne stets interessant zu beleuchten weiß.

Filatow und das Uralische Jugendorchester leisten treffliche Arbeit dabei, diese Symphonie, die man in jeder Hinsicht ein Meisterwerk nennen kann, wieder zum Leben zu erwecken. Auf ihrer CD haben sie das Stück mit einem Werk von Steinbergs Schüler Schostakowitsch gekoppelt: der Suite aus dem Ballett Der Bolzen, das zur gleichen Zeit wie die Symphonie des Lehrers entstand. Musikalisch bietet sie einen starken Kontrast. Auch Schostakowitsch bedient sich folkloristischer Motive, allerdings in derb karikierender, grotesk zuspitzender Absicht, wobei er bewusst mit der Trivialität spielt – Tendenzen, die Maximilian Steinberg fremd waren. Steinberg blieb letztlich ein von den Idealen der vorrevolutionären russischen Musik geprägter Komponist, allerdings einer, der künstlerisch nicht erstarrte und lebenslang seinem Stil neue Seiten hinzuzugewinnen vermochte.

Nach Järvis Einspielungen dauerte es 16 Jahre, bis eine weitere Symphonie Steinbergs auf CD kam. Von dieser bis zur vorliegenden CD waren es immerhin noch sieben Jahre. Möge die Ersteinspielung der Fünften Symphonie Steinbergs, einer Symphonie-Rhapsodie auf usbekische Themen, nicht ähnlich lange auf sich warten lassen!

[Norbert Florian Schuck, September 2025]

Musikalisches Gipfeltreffen – Impressionen vom Enescu-Festival in Bukarest 2025

George Enescu ist nicht zu übersehen. Wer dieser Tage durch die prächtigen Straßen Bukarests flaniert, begegnet ihm an allen Ecken und Enden. Denn das Konterfei des berühmtesten nationalen Komponisten hängt an Wimpeln in der ganzen Stadt, markante Plakate – ein leuchtend orangener Kreis vor blauem Hintergrund – werben für Konzerte des „Internationalen George Enescu Festival“. Der Spätsommer 2025, genauer die Wochen zwischen dem 24. August und dem 21. September, steht ganz im Zeichen der größten Festspiele für klassische Musik in Rumänien. In Zahlen: rund 4000 Kunstschaffende aus 28 Nationen sind in über 100 Konzerten zu hören. Finanziert wird das Ganze zu etwa 90 % vom Staat, den Rest decken private Sponsoren ab. Die Tickets sind im Vergleich zu ähnlichen Festivitäten moderat, die günstigsten kosten 5 Euro, Studierende haben freien Eintritt und es gibt Rabatte für Senioren. Auch außerhalb der Hauptstadt werden Konzerte angeboten, etwa in Timișoara oder Sibiu.

Gegründet wurde das Internationale George Enescu Festival 1958, es fand zunächst mit Unterbrechung alle drei Jahre statt, seit 2001 sind es nur zwei. Doch wer ist der 1881 geborene Musiker? In Rumänien kennt ihn jedes Kind, er ziert die Vorderseite der Fünf-Lei-Banknote und seine folkloristisch inspirierten Stücke, etwa die beiden Rhapsodies Roumaines, sind populäres Allgemeingut. Enescu studierte in Paris, machte als Geiger und Dirigent Karriere und prägte das rumänische Musikleben bis Mitte der 40er Jahre. Das kommunistische Regime aber lehnte er ab, deshalb emigrierte er 1946 nach Frankreich, wo er 1955 starb. Als Komponist hinterlässt er ein vielseitiges, zwischen Spätromantik und Moderne stilistisch weitgefächertes Oeuvre, das mit wenigen Ausnahmen außerhalb Rumäniens immer noch eine Außenreiterrolle einnimmt. Das will das Festival ändern und Enescu über die Grenzen hinaus bekannter machen. Rund 50 seiner Werke werden gespielt, ein Höhepunkt wird die Inszenierung der einzigen Oper Oedipe sein. Doch die Festwochen bieten weit mehr als eine Enescu-Schau, sie sind gleichzeitig ein Gipfeltreffen künstlerischer Eminenzen. In einem Monat geben sich die Stars der klassischen Musikszene und internationale Spitzenorchester buchstäblich die Klinke in die Hand, gefühlt ist jeder von Rang und Namen vor Ort. Diesmal reisen beispielsweise Magdalena Kožená mit dem Orchestra dell’Academia Nazionale di Santa Cecilia an, Martha Argerich mit dem Orchestre de Monte-Carlo (geleitet vom Exgatten Charles Dutoit) und Anne-Sophie Mutter mit dem Orchestre National de France.

Die 27. Ausgabe steht 2025 unter dem Motto „Celebration“. Gefeiert werden Jubiläen bedeutender Komponisten und einiger Ensembles: die runden Geburtstage von Ravel, Pierre Boulez und Luciano Berio, der 50. bzw. 70. Todestag von Enescu und Schostakowitsch spiegeln sich in den Programmen wieder. So wird etwa Lady Macbeth von Mzensk, multimedial aufbereitet, erstmals in Rumänien gespielt.

Ravel: L’heure espagnole / © Petrica Tanase

Beim besuchten zweiten Wochenende dominiert Vokalmusik. Zum Auftakt gibt es in der Oper Bukarest eine komödiantisch pralle Produktion aus Cluj-Napota von Maurice Ravels Buffa L’heure espagnole. Das Ensemble, darunter die peruanische Tenorhoffnung Iván Ayón-Rivas, der vor Kraft strotzende Bariton Armando Noguera und die sinnliche Gaëlle Arquez, trifft charmant den frivolen Geist des Einakters. Deftiger langt Dirigent James Gaffigan zu: er entfacht mit dem Orquestra de la comunitat Valenciana spanisches Temperament, französische Subtilität bekommt weniger Raum. Die hat am nächsten Tag die Alte Musik-Truppe Les Ambassadeurs – La Grande Écurie, die mit auffällig vielen Instrumentalistinnen besetzt ist, reichlich im Gepäck. Auf dem Programm steht Dardanus von Jean-Philippe Rameau. Die Vertonung der griechischen Sage um den titelgebenden Halbgott und seine Liebesbeziehung zur feindlichen Prinzessin Iphise bereitet musikalisch viel Plaisier. Der Geiger und Dirigent Emmanuel Resche-Caserta entfaltet eine mitreißende, farbige Klangpracht, der Chœur de Chambre de Namur setzt als Zauberwesen, Ungeheuer und höfisches Personal chorische Glanzlichter und das Gesangsquintett – Judith Van Wanroij , Benoit-Joseph Meier, Thomas Dolié und Stephan Macleod – zeichnet sich durch stilistisches Können und vokalgestalterische Delikatesse aus. Die Krone aber gebührt Marie Prevost: als Venus lässt sie reinste Jubeltöne hören, spinnt zauberhafte Bögen und nimmt durch ihre sympathische Ausstrahlung zusätzlich für sich ein.

Jean-Philippe Rameau: Dardanus / © Andrada Pavel

Dardanus findet im prachtvollen Athenäum, dem historischen Schmuckstück unter den Bukarester Konzertsälen, statt. Dort gibt auch Asmik Grigorian, die gerade in Salzburg für ihren Crossover-Liederabend bejubelt wurde, zu später Stunde einen Soloabend traditioneller Art. Romanzen von Tschaikowski und Rachmaninoff, dazu zwei Enescu-Songs als Liebeserklärung an das rumänische Publikum stehen auf dem Programm. Die Sopranistin singt sie glorios, mit fülliger Stimme, samtigen Höhen und dramatischem Ausdruck. Sie macht aus den melancholischen Melodien große Arien, was der Atmosphäre der Lieder zwar nicht entspricht, aber beeindruckt. Auf Effekt setzt auch ihr Pianist Lukas Geniušas. In Gestus und Mimik ähnelt er einem exzentrischen Tastenlöwen, doch wie er sich in die Klavierbegleitungen versenkt und seine Solostücke zelebriert, ist bezwingend.

Asmik Grigorian und Lukas Geniušas / © Andrada Pavel

In bestem Licht präsentiert sich die Sinfonia Varsovia. Unter Leitung von Constantin Grigore bringt sie zusammen mit dem Kammerchor PRELUDIU – Voicu Enăchescu das Requiem for My friend von Zbigniev Preisner zu ergreifender Wirkung. Der Filmkomponist schuf es im Gedenken an den Regisseur Krzysztof Kieślowski, er verbindet liturgische Sequenzen mit einer weltlich-meditativen Klanglandschaft. Zwei Tage später beweist das Orchester in einem klug konzipierten Programm erneut seine Höchstform. Diesmal wird es von Marta Gadolinska, derzeit noch GMD in Nancy, beflügelt. Mit präziser Zeichengebung und gestalterischer Kraft lässt sie schon die Ouvertüre von Grażyna Bacewicz vor Spannung vibrieren, tritt dafür im anschließenden Klavierkonzert Nr. 1 von Chopin ganz zurück und ist aufmerksame Begleiterin für Rafał Blechacz bei seinem poetisch-sensiblen Ausflug in die Romantik. Nach der Pause entwickelt die Dirigentin dann eine enorme, stets kontrollierte Sogkraft für Wojciech Kilars Tondichtung Krzesany und Enescus‘ Chor-Symphonie Vox maris, der Sound ist geschmeidig und voll, dabei aber nie kompakt. Wunderbar! Das Gastspiel des Warschauer Orchesters ist Teil der rumänisch-polnischen Kultursaison 2024-2025 und setzt damit in zunehmend nationalistisch geprägten Zeiten ein wichtiges Zeichen zur Völkerverständigung. So wie es auch der Auftritt des Ukrainian Freedom Orchestra zur Eröffnung ist, der sowohl als Geste wie als politisches Statement verstanden werden kann.

Marta Gadolinska / © Maria Gindac

Was gibt es noch? Nicht alles kann erwähnt werden angesichts der Fülle von Veranstaltungen. Es gibt Kammermusik im Sala Auditorium, eine konzertante Zauberflöte und György Kurtags Fin de partie als Referenz an den fast 100-jährigen Komponisten. Und auch an junge Menschen wird gedacht. Eine phantasievoll gestaltete Matinee im altehrwürdigen Odeontheater vermittelt Kindern Enescus Biographie in einer Mischform aus Musikausschnitten und Texten. Das Jugendorchester Orchestra Sinfonietta unter Mihnea Ignat offenbart hohes Niveau, das Manuskript liest der omnipräsente künstlerische Leiter und Dirigent Cristian Măcelaru selbst. Es ist sein Anliegen, das Festival für die junge Generation zu öffnen. Und er hat Erfolg damit: „Enescu in Control“ heißt ein Projekt – es präsentiert Programme unterschiedlichster Couleur, von Bachbearbeitungen bis zum Jazz, im angesagten Club Control, die offenbar den Geschmack der Youngsters treffen. Die Karten sind heiß begehrt – ein gutes Omen für die Zukunft.

Mihnea Ignat, Orchestra Sinfonietta / © Maria Gindac

[Karin Coper, September 2025]

Inspirierende Erfahrungen bei den „Raritäten der Klaviermusik im Schloss vor Husum“ (III)

Abschließend die Besprechung der letzten drei Konzerte des diesjährigen Festivals „Raritäten der Klaviermusik“ im Schloss vor Husum: Klavierabende von Mark Viner (21.8.), Illia Ovcharenko (22.8.) und Chiyan Wong (23.8.).

Wann immer der noch fast jugendlich wirkende Mark Viner in Husum auftritt, liegen die Erwartungen besonders hoch, weil er wie nur ganz wenige Künstler in geradezu idealer Weise das virtuose Kernrepertoire des Raritätenfestivals vertritt, vor allem mit Komponisten wie Leopold Godowsky oder Charles-Valentin Alkan. Viner ist zudem seit über 10 Jahren Vorsitzender der Alkan Society und arbeitet erfolgreich an der ersten Gesamtaufnahme von dessen Klavierwerk. Beide Hälften seines Konzerts am 21. 8. begann er jedoch mit Transkriptionen berühmter Melodien Charles Gounods durch Franz Liszt. Die klangliche und pianistische Souveränität des Pianisten erinnert sofort an Marc-André Hamelin, allerdings auch über weite Strecken an dessen gewisses – hier britisches – Understatement. Viners Darbietung von Les Adieux S 409 über ein Motiv aus „Roméo et Juliette“ erschien durchaus gehaltvoll; noch besser gelang die glitzernd klare Hymne à Sainte Cécile S 491 mit konsequent aufgebauter Steigerung. Dennoch vermisste man in seinem Klavierspiel echten Tiefgang: Emotional offensichtlich selbst absolut unbeteiligt, gehört er eben nicht zu den musikalischen „Deutern“, überlässt dies ganz seiner Hörerschaft. Ignaz Paderewskis Nocturne op. 16,4 erwies sich als gefällige Petitesse. Als Rarität interessanter das diesem 1926 gewidmete Nocturne „Ragusa“ (historischer Name Dubrovniks) seines amerikanischen Schülers Ernest Schelling, das über einem Barkarolen-Rhythmus zumeist hemiolische Melodik entwickelt, mit exquisiter Harmonik und atmosphärischem Klaviersatz.

Vom nach wie vor unterbelichteten Klavierschaffen Cécile Chaminades präsentierte Viner drei Stücke, die sich ebenfalls See-Motiven widmeten: Marine op. 38, nicht sonderlich charakteristisch; L’Ondine, mögliches Vorbild für Ravels gleichnamiges Stück, beides schlicht zu laut vorgetragen; schließlich die dankbaren Pêcheurs de nuit aus den Poèmes provençaux. Die großen pianistischen Herausforderungen des Abends waren erwartungsgemäß zum einen zwei perfekt beleuchtete „Phonoramas“ aus Godowskys Java-Suite: Wayang-Purwa und The Bromo Volcano – mit großartiger Durchsichtigkeit des komplexen, feinsinnigen musikalischen Geflechts und eindringlicher Bildhaftigkeit der vorjährigen Aufführung des kompletten Zyklus durch Patrick Hemmerlé nach einhelligem Bekunden des Publikums weit überlegen. Zum anderen überzeugten Alkans nettes Nocturne Nr. 4 „Le grillon“, Posement aus den 12 Dur-Etüden op. 35, wo Viner aus den dicken Akkorden gekonnt die Mittelstimmen herausarbeitete, und schließlich die Trois petites fantaisies op. 41: Zwar geriet ihm das Alla-breve von Nr. 2 etwas zu langsam und man erkannte nie, dass dessen Thema stets auftaktig beginnt, dafür gelang die typisch Alkansche, absolut verrückte Presto-Orgie von Nr. 3 – primitiv, aber gut – wirklich hinreißend. Was Alkan angeht, ist Viner momentan eindeutig der Platzhirsch. Die Bravos für diese Leistung waren redlich verdient. Trotzdem wäre wohl zumindest ein Werk mit gewichtigerer musikalischer Substanz für ein solches Programm wünschenswert.

Warum man sich vom Ukrainer Illia Ovcharenko, in diesem Jahr der jüngste Pianist in Husum, ausgerechnet Robert Schumanns erst 1976 veröffentlichte Exercises WoO 31 – über das Allegretto-Thema aus Beethovens Siebter – gewünscht hatte, blieb schleierhaft. Das eh‘ sehr unreife Werk erklang im Rittersaal bereits 2007 (Piers Lane), und Ovcharenko hatte sich für den 22. 8. aus den in drei Quellen überlieferten 15 Variationen eine dramaturgisch völlig misslungene Mischfassung zurechtgebastelt. Die rein technischen Schwierigkeiten meisterte er ordentlich, spielte aber durchwegs viel zu laut, was im Schloss vor Husum sofort Missfallen beim anspruchsvollen Publikum hervorrief. Ferruccio Busonis Elegie Nr. 3 „Meine Seele bangt und hofft zu dir“ gehört trotz enormer technischer Anforderungen zu den introvertiertesten Werken des Deutsch-Italieners. Leider agierte Ovcharenko auch hier zu massiv, kaum geheimnisvoll; die erzitternde Zartheit einer im Innersten verunsicherten Seele wurde so nicht deutlich.

Vieles am übrigen Programm – Werke von in der heutigen Ukraine gebürtigen Komponisten – gefiel dem Rezensenten dann sehr wohl. Für die rückwärtsgewandte, jedoch beim Raritätenfestival immer beliebte Salonmusik Sergej Bortkiewiczs traf Ovcharenko genau den richtigen Tonfall, etwa beim schönen Nocturne „Diana“ op. 24,1. Zwei Stücke Paderewskis erhielten von ihm die nötige Eleganz, ohne perfekt zu sein. Als Frühwerk Levko Revutskys (1889–1977) lehnt sich die Sonate h-Moll op. 1 recht uneigenständig an Liszt und Rachmaninow an, wirkte unter Ovcharenkos Händen allzu bombastisch: Selbst mit Gewalt lässt sich daraus kein Meisterwerk machen. Dies nivellierte die ausgezeichneten Wiedergaben von dessen Préludes zuvor. Insbesondere die beiden unkonventionellen Stücke op. 7 – das zweite haarsträubend brillant die gesamte Tastatur in Besitz nehmend – machten Eindruck. Noch faszinierender gelangen am Schluss die nicht nur harmonisch bemerkenswerten Cinq Préludes op. 44 seines Landsmanns Boris Ljatoschinsky, dessen fabelhafte Symphonien endlich mal in deutschen Konzertsälen erklingen sollten.

Das letzte Konzert am 23. 8. spielte der mittlerweile in Berlin lebende Hongkonger Chiyan Wong. Die in Details miteinander verflochtenen sechs Sätze der 1902 entstandenen Suite des von Kind an musikalisch gut vernetzten Gustave Samazeuilh (1877–1967) analysierte Wong geradezu in all ihren Feinheiten. Melodische Oberstimmen knallte er jedoch unverhältnismäßig spitz heraus: auf Dauer nervig. Dies störte bei den Variations sur «Auprès de ma blonde» des berühmten Pariser Organisten Naji Hakim (*1955) – an der Église de la Saint-Trinité Nachfolger Olivier Messiaens – weniger, da schon das Thema sehr staccato-mäßig daherkommt. Das ganz traditionell strukturierte Variationswerk mit unverhohlener Nähe zur französischen Unterhaltungsmusik endete mit einem ansprechenden Finale. Was Wong von seinem Kompositionslehrer Hakim wirklich mitgenommen hat, ließ sich allerdings anhand seines eigenen ganz kurzen Klavierstücks ‚tch‘ kaum festmachen. Etwas sinnlicher erklang immerhin Sergej Prokofjews Amoroso-Finale op. 102,6 aus der Cinderella-Suite.

Nach der Pause versuchte der in England ausgebildete Pianist den Zuhörern Busonis „Konzertfassung“ der Bachschen Goldberg-Variationen nahezubringen, die er vor 6 Jahren beeindruckend eingespielt hat. In Husum übertrieb er dabei freilich gnadenlos: Busoni empfahl den Wegfall sämtlicher Wiederholungen und den Verzicht auf neun der 30 Variationen, erstellte dafür eine klanglich wirkungsvolle Version der letzten Variationen – gerade hier schwächelte Wong kurz – und der Wiederholung der Aria ohne Verzierungen. Wong nahm die romantisierenden Vortragsangaben Busonis allzu ernst, überbetonte zudem die Entwicklung der Basslinie auf verstörend manierierte Art und Weise inklusive unmotivierter Tempomodifikationen. Schließlich entkleidete er die abschließende Aria nicht nur bis auf die Knochen, sondern ließ von ihr quasi überhaupt nichts mehr übrig – ein intellektuelles Experiment sehr zur Verärgerung des Publikums, das mehrheitlich keine Zugabe einforderte. So kam Ferruccio Busoni dieses Jahr in Husum insgesamt nicht gut weg. Neben selbst für den als Vielhörer berüchtigten Rezensenten inspirierenden Neuentdeckungen waren hingegen vor allem die Abende von Aline Piboule und Daniel Grimwood unvergessliche Höhepunkte der durchgehend erstklassigen Raritäten der Klaviermusik 2025.

[Martin Blaumeiser, 27. August 2025]

Hier geht es zu den beiden ersten Teilen des Berichts:

Teil 1

Teil 2

Inspirierende Erfahrungen bei den „Raritäten der Klaviermusik im Schloss vor Husum“ (II)

In Fortsetzung unseres ersten Beitrags über das diesjährige Festival „Raritäten der Klaviermusik“ im Schloss vor Husum bespricht unser Rezensent die drei Konzerte vom 18.–20. August 2025:

Der schwedische Pianist Roland Pöntinen – schon mehrfach Gast des Husumer Festivals –konzentrierte sich in seinem Klavierabend am 18. 8. auf selten zu hörende Werke der 1890er Jahre. Otilie Suková (1878–1905) war eine Tochter Antonín Dvořáks und spätere Ehefrau seines Meisterschülers Josef Suk. Die Trauer über ihren frühen Tod verarbeitete dieser in seiner berühmten Asrael-Symphonie. Ihre einzigen eigenen Kompositionen, 4 kleine Klavierstücke, hatte Suk notiert; drei davon erschienen 1909 als Zeitschriftenbeilage, das wohl dem Vater gewidmete „Dem teuren Papa“ erst 2018 bei Bärenreiter. Bei Sukovás Humoreske wirkte Pöntinen noch etwas steif, trug dafür die drei übrigen, einfallsreicheren Stücke durchaus mit Feingefühl vor.

Wilhelm Stenhammar (1871–1927) war selbst ein exzellenter Pianist mit einer riesigen „Pranke“ wie Brahms, was man nicht nur seinem 2. Klavierkonzert anmerkt, welches zuletzt wieder gerne von Herbert Blomstedt zur Diskussion gestellt wurde. Die Sonate g-Moll (1890) ist hingegen noch ein Frühwerk, das stark an Brahms (Scherzo) und, unverkennbar im Finale, konkret an Schumanns Sonate in derselben Tonart anknüpft. Nur die Romanza verströmt bereits ansatzweise typisch nordische Melancholie. Pöntinen gestaltete im gesamten Stück die Tempi flexibel, hätte stellenweise aber rhythmisch noch prägnanter sein können. Er brachte die unterschiedlichen Charaktere der einzelnen Themen auf den Punkt, überzeugte gerade bei den lyrischeren Momenten. Nur den vierten Satz begann er deutlich zu laut. Nach Noten spielte er danach drei der späten 18 Klavierstücke op. 72 Peter Tschaikowskys und hinterließ hier einen eher zwiespältigen Eindruck. Sehr geschmackvoll gelang die Berceuse (Nr. 2), über erstaunlich eisernem Rhythmus; allerdings pfuschte Pöntinen schon hier bei schnellen Wechseln in die hohe Lage – manches wirkte zu unpräzise. Der Rhythmus von Tendres reproches (Nr. 3) erschien leicht missverstanden, und bei Scherzo-Fantaisie (Nr. 10) – nach Skizzen zur abgebrochenen 7. Symphonie entstanden und zugegebenermaßen im korrekt gewählten Tempo fast unspielbar schwer – ließ der Pianist manches unter den Tisch fallen, so dass das Stück tatsächlich wie ein vom Komponisten aus einer Orchesterpartitur improvisierter Auszug erklang.

Im zweiten Teil vermochte Pöntinen zum Glück, sich mächtig zu steigern. Richtig gut war schon die Auswahl von je drei Préludes (aus opp. 15 und 16) und Etüden (aus op. 8) Alexander Skrjabins, berückend schön Cécile ChaminadesLes Sylvains“ op. 60. Ihre Faune – in gekonntem, effektiven und harmonisch reichen Klaviersatz – schienen allerdings an diesem Abend eher mit nordischen Trollen Griegs verwandt als in mediterranen Gefilden angesiedelt. Drei der 6 Études op. 111 von Camille Saint-Saëns (Nr. 1; Nr. 4 mit durchdachten Glocken-Illusionen, Nr. 6 über Material aus dem Finale seines 5. Klavierkonzerts) beeindruckten ebenfalls. Zum Höhepunkt wurde jedoch zuvor ein makelloser, bis ins letzte Detail ausgeloteter Vortrag von Claude Debussys frühen Images oubliées: Anschlag, Pedalisierung und Nutzung des Resonanzraumes unter perfekter Kontrolle. Dieses Niveau wurde nochmals mit der ersten Zugabe, Ravels Pavane pour une infante defunté, bestätigt. Pöntinen entließ das Publikum mit seiner Bearbeitung von Vladimir Cosmas leitmotivischem Thema Sentimental Walk (frei nach Satie) aus der Filmmusik zu Jean-Jacques Beineix‘ „Diva“ (1981).

Am 19. August war der einzige heutzutage wirklich „exotische“ Programmpunkt die letzte der sechs Klaviersonaten (g-Moll op. 39, 1806) des Wiener Komponisten Anton Eberl (1765–1807), der anscheinend Schüler W. A. Mozarts war und noch nach dessen Tod der Familie verbunden blieb. Sein auch pianistisch recht anspruchsvolles, dreisätziges Stück nimmt sich bereits mehr Beethoven als seinen Lehrer zum Vorbild und erreicht im ausladenden langsamen Satz fast gleiches Niveau. Das Thema des Finales im 2/4-Takt scheint gar dem Hauptmotiv aus dessen „Sturm-Sonate“ op. 31,2 teils „abgekupfert“ zu sein. Herbert Schuch näherte sich dem tiefsinnigen Werk mit der gebotenen Gelassenheit und enormer klanglicher Sensibilität: Während des gesamten Konzerts wagte er das Risiko, ein Pianissimo bis an die Grenze dessen anzubieten, wo ein Steinway-D überhaupt noch reagiert: faszinierend. Bei der Wiederholung der Exposition des Kopfsatzes baute er ein paar stilistisch korrekte Verzierungen ein und nahm sich auch die Freiheit für ganz kleine formale Eingriffe an Eberls manchmal zu „quadratischer“ Periodenbildung. Dies alles vermochte das Publikum zu begeistern.

Ferruccio Busonis (1866–1924) späte Toccata (Preludio – Fantasia – Ciaccona) von 1922 gilt trotz ihrer relativen Kürze von gut 10 Minuten zu Recht als eines seiner Hauptwerke für Soloklavier: pianistisch vertrackt, harmonisch schon recht kompromisslos und von einer den Hörer geradezu erschlagenden Ausdrucksintensität – eigentlich. Der Komponist gibt zwar keine Metronomzahlen vor, dennoch verfehlte Schuch zum einen in allen Teilen die hier erwartbaren Tempi etwas nach unten und vereitelte so in den schnellen Abschnitten das in Lisztschem Sinne angestrebte Transzendieren kompositorischer und instrumentaler Virtuosität. Zum anderen müsste man sich klarmachen, welche Rollen verschiedene Motive nur wenig später in Busonis Opus summum, der nicht mehr ganz vollendeten Oper Doktor Faust spielen. Das Staccatissimo des Beginns geriet zu weich, das zugleich geforderte Arditamente oder das con calore aufblühende Thema in der Fantasia zu unterkühlt etc. Damit konnten Busoni-Kenner nicht wirklich zufrieden sein.

Ganz hervorragend dann wieder Busonis phänomenale Bearbeitung des Trauermarschs aus Richard Wagners „Götterdämmerung“. Erneut zahlte sich Schuchs Mut zu extrem leisem Spiel bei der Gestaltung einer dynamischen, quasi plastischen Illusion des hier weitgehend düsteren Klangbilds eines riesigen Orchesterapparats aus, wodurch klar modellierte (Leit-)Motive durch flächige Elemente sinnhaft unterfüttert erschienen.

Julius Reubkes (1834–1858) Orgelsonate Der 94. Psalm“ sowie seine von Umfang und Schwierigkeit her dem Vorbild seines Lehrers Liszt kaum nachstehende Klaviersonate b-Moll entstanden kurz hintereinander Anfang 1857, als sich bereits die damals unheilbare „Schwindsucht“ abzeichnete, die ein Jahr später zum Tod des jungen Komponisten führte. Während die Orgelsonate sich, heute unbestritten, schnell als eine der großartigsten Orgelwerke des gesamten 19. Jahrhunderts herumsprach, geriet die Klaviersonate – da lange nicht mehr in Druck – bald in Vergessenheit und erweckte erst ab den 1980ern wieder das Interesse der Pianisten. Sie gehört aber längst noch nicht zum Standardrepertoire, stand dafür in Husum schon mehrfach auf dem Programm. Leider gelang es Herbert Schuch nicht, an das Niveau der besten Darbietungen des Werkes heranzukommen. Die drei miteinander verbundenen Sätze bilden eine Liszts h-Moll-Sonate vergleichbare bogenförmige Großform mit überbordender Energie. Schon beim Hauptthema des Kopfsatzes nahm Schuch dessen Wucht zu früh heraus, phrasierte die einzelnen Perioden zu deutlich ab. Ähnlich relativierte der Pianist andere Stellen, etwa nur wenig später das più forte e stringendo kurz vor dem quasi recitativo. Natürlich war Schuch den technischen Anforderungen des Werks gewachsen und beeindruckte wieder durch klanglich hervorragende Gestaltung der lyrischeren Momente, so beim choralartigen Seitenthema und durchgängig im Andante sostenuto. Leider folgte er nicht nur im ersten Satz Reubkes vorgeschlagenem Strich, sondern nahm auch im Finale, in dem der Komponist sich fraglos ein wenig wiederholt, einige kleine Kürzungen vor, die in diesem Fall unverzeihlich erschienen. Der Hauptkritikpunkt hier richtet sich jedoch an die Kleinteiligkeit von Schuchs Vortrag, die über größere Strecken laufende Entwicklungen für den Hörer nicht nachvollziehbar machte. Offenkundig unterschätzte der Pianist die Dramatik der gesamten Sonate mit ihrem bis zur Manie gesteigerten Zur-Schau-Stellen noch vorhandenen Überlebenswillens, wo hingegen in der wenig späteren Orgelsonate am Schluss bereits jedwede Hoffnung – die zumindest noch im ansonsten äußerst brutalen Psalmtext steckt – musikalisch negiert wird. So verkaufte er das Stück spürbar unter Wert, was dann selbst die wirkungsvollen Zugaben nicht mehr wettmachen konnten.

Eine wiederum andere Künstlerpersönlichkeit betrat am 20. 8. das Husumer Podium: Aline Piboule. Rein pianistisch mit konventioneller, grundsolider Technik und ohne irgendwelche Allüren, durch Extravaganzen aufzufallen, stellte sie sich ganz in den Dienst der von ihr vortrefflich präsentierten, wirklich weit jenseits des Mainstreams angesiedelten Klavier-Preziosen. Vom ersten Augenblick an erwies sich die Französin als wahre Poetin am Flügel, die es verstand, das Publikum unmittelbar zu fesseln. Cyril Scott (1879–1970) folgte als junger Komponist den französischen Impressionisten, bis hin zur Reanimation barocker Formen wie in der viersätzigen Pastoral Suite. Gerade der Rigaudon mochte manchen Hörer vielleicht an den entsprechenden Satz aus Ravels Le Tombeau de Couperin „erinnern“; tatsächlich ist Scotts Zyklus der ältere. Die für den Briten typischen, zahlreichen Taktwechsel erschweren manchmal, größere Zusammenhänge zu erkennen, was Piboule jedoch geschickt löste. Auffallend ihr hierbei äußerst sparsames Pedal, als wollte sie die Harmonik keinesfalls zusätzlich aufweichen. Schon beim liebenswerten Konzertwalzer Ernst von Dohnányis über ein Thema aus Leo Delibes Ballett Coppelia zeigte sie, dass sie natürlich Pedalisierung optimal einsetzen kann; ein durchaus virtuoses Stück, dafür ohne die Überdrehtheit ähnlicher Bearbeitungen etwa Godowskys oder Schulz-Evlers.

Frank Bridge (1897–1941) kennt man eher als Lehrer Benjamin Brittens als durch seine eigene Musik: wohl der immer noch meistunterschätzte britische Komponist des 20. Jahrhunderts. Dabei ist insbesondere die Kammermusik sensationell (Klavierquintett, 2. Klaviertrio, 4. Streichquartett) und wird über die Jahre immer moderner. Die Three Sketches von 1906 sind noch ganz tonal und absolut romantisch. Piboule erfasste deren Tiefgang perfekt und brachte sämtliche Feinheiten unprätentiös zum Tragen. Mel Bonis‘ (1858–1937) Kammermusik fand zuletzt zunehmend Beachtung auf dem Tonträgermarkt. Dass ihre Klavierwerke genauso anspruchsvoll, zugleich dankbar sind, bewies Aline Piboule mit zwei Beispielen aus einer ganzen Reihe von Stücken, die mythologische bzw. literarische Frauengestalten porträtieren. Ophélia – nachdenklich, mit tollen Klavierfarben, lediglich etwas zu lang – und Desdémona hinterließen einen starken Eindruck.

Der Rezensent hatte immer schon gewisse Probleme mit dem Spätwerk Gabriel Faurés. So begeisterte am Mittwoch allenfalls dessen Barcarolle Nr. 3 von 1885, während die späten Stücke – die 13. und damit jeweils letzten seiner Barcarolles bzw. Nocturnes (1921) – mal wieder langweilten. Keinesfalls die Schuld der Pianistin, die sich mit ein wenig übertriebener Dynamik leider vergebens bemühte, mehr Leben in diese Musik zu bringen. Das Beste kam an diesem Abend zum Schluss, mit Musik der beiden bretonischen Komponisten Guy Ropartz (1864–1955), dessen tolle Symphonien man unbedingt kennen sollte, und einem – wie Albert Roussel – seefahrenden Komponisten: Jean Cras (1879–1932). Dieser brachte es bis zum Konteradmiral und führte immer ein Klavier mit an Bord. In Deutschland noch nahezu unbekannt, sind seine Werke auf dem CD-Label timpani mittlerweile gut dokumentiert. Sehr interessant bei Ropartz‘ Nocturnes Nr. 1 & 3 ist z. B. deren rhythmische Binnenstruktur. So finden sich in beiden Stücken 7er-Rhythmen: In Nr. 1 im 7/4 bzw. 21/8-Takt (=7×3); Nr. 3 steht durchgehend im 21/16-Takt (=3×7) – auch sonst großartige Musik. Cras‘ Deux Paysages spielen mit Exotismen (I) bzw. einer von Tempo und Agogik ungemein flexibel behandelten, eingängig schlichten Melodie (II). Für diese Werke ist sicherlich noch einige Überzeugungsarbeit zu leisten. Piboule traf mit ihren exzellenten Darbietungen beim Husumer Publikum damit schon mal voll ins Schwarze.

(Zum dritten und abschließenden Teil siehe hier!)

[Martin Blaumeiser, 22. August 2025]

Inspirierende Erfahrungen bei den „Raritäten der Klaviermusik im Schloss vor Husum“ (I)

Das diesjährige Husumer Festival „Raritäten der Klaviermusik“ bot vom 16. bis 23. 8. 2025 erneut eine hochinteressante Auswahl an hörenswerten, dabei weitgehend unbekannten Werken. Für 2025 eingeladen hatten der künstlerische Leiter, Peter Froundjian– siehe unser Interview – und die Stiftung Nordfriesland: Saskia Giorgini, Daniel Grimwood, Roland Pöntinen, Herbert Schuch, Aline Piboule, Mark Viner, Illia Ovcharenko und Chiyan Wong. Zusätzlich zur angeschlossenen diesjährigen Ausstellung – „Ronald Stevenson (1928–2015): Der schottische Franz Liszt“ – gab es, wie immer, am 17. 8. eine Matinee: Kenneth Hamilton gedachte in seinem Gesprächskonzert des 10. Todestages seines ehemaligen Lehrers. Hier der erste Teil des Berichts unseres Rezensenten Martin Blaumeiser:

Der Rezensent besuchte zum ersten Mal das Husumer Festival, und generell muss man die für derartige Klaviervorträge wirklich optimale Atmosphäre und Akustik des schönen Rittersaals samt immer glänzend eingerichtetem Steinway-D Flügel loben, besucht von einem höchst aufmerksamen, fachkundigen und dankbaren Publikum, das anscheinend keine Huster kennt.

Saskia Giorgini / © Nicolai Froundjian

Die Konzertreihe eröffnete am Samstag, 16. 8., die italienische Pianistin Saskia Giorgini, die bei Leonid Margarius, Enrico Pace und Pavel Gililov studiert und u. a. 2016 den Internationalen Mozart-Wettbewerb in Salzburg gewonnen hat. Ihre letzten beiden CDs mit Klavierwerken Franz Liszts erhielten je einen Diapason d’Or, und der erste Teil ihres Programms widmete sich ausschließlich einer Reihe von natürlich eher selten zu hörenden Werken der späten Reifezeit des Komponisten, namentlich aus den Jahren 1865 bis 1885. Noch am bekanntesten davon dürfte das 6. Stück aus den Années de pelerinage (Troisième année) sein: Wie in ihrer gesamten Darbietung glänzte Giorgini in Sunt lacrimae rerum mit einer geradezu perfekten Balance zwischen Haupt- und Nebenstimmen sowie großartigem dramaturgischen Überblick über die zumeist von tiefem Ernst, Trauer und Melancholie oder gar Selbstzweifel getragene Musik. Ebenso lobenswert erschien ihre sehr geschickte Pedalisierungskunst, gerade auch bei rezitativischen Stellen: eine vollkommene Illusion von Legato-Kantabilität. Liszt verzichtet in den hier dargebotenen Stücken trotz des erwartbar hohen technischen Anspruchs – abgesehen vom bewusst einfach gesetzten Kleinen Klavierstück As-Dur aus S.192 – komplett auf äußerliche Virtuosität, selbst bei der 3. Trauerode „Le triomphe funèbre de Tasse“ über Material aus seiner symphonischen Dichtung Tasso. Umso mehr freute man sich über klar vermittelte Emotionen.

Der Rest von Giorginis Vortrag beschäftigte sich – Liszts 5 Ungarische Volkslieder eingeschlossen– mit kunstvollen Bearbeitungen zumeist folkloristischer Gesänge, im zweiten Teil von Amy Beach und Percy Grainger. Beachs Zyklus von vier Inuit-Gesängen, Eskimos op. 64, darf als Rarität gelten; ihre westliche Harmonisierung würde man heute wohl als „kulturelle Aneignung“ brandmarken. Giorgini spürte hierbei, wie auch im folgenden Omaha Tribal Dance (aus op. 83) jedoch ganz dem Gehalt der Melodien nach, arbeitete deren unterschiedliche Charaktere und unverstellte, schlichte Schönheit heraus. A Hermit Trush at Eve op. 92,1 mit seinem das Gefühl von Freiheit verströmendem Drosselgesang in der rechten Hand wurde zu einem der Höhepunkte des Abends. Aus der sehr detaillierten Notation Graingers – insbesondere im Lullaby (aus Tribute to Foster“) mit fein ziselierten „Glasharmonikaklängen“ als Begleitung, wo die beiden Hände teils asynchron, aber eben gleichzeitig beschleunigen und abbremsen – zauberte Giorgini ein wohliges Klangbad, vermied aber die ebenfalls vom Komponisten angestrebten extremen Dynamikunterschiede.

Geniale Volksliedbearbeitungen und intelligente Opernparaphrasen nahmen im bedeutenden Klavierwerk des Schotten Ronald Stevenson (1928–2015) einen breiten Raum ein und setzten so bis ins 21. Jahrhundert die Transkriptionskunst Liszts fort. Für die diesjährige kleine Ausstellung „Der schottische Franz Liszt“ hatte Prof. Monika Hennemann (Cardiff) u. a. von Stevensons Witwe einige ganz besondere Leihgaben erhalten, und Kenneth Hamilton trug in seiner Matinee am 17. 8. nicht nur – zweisprachig – einige recht humorvolle Anekdoten vor, sondern selbstredend typische Kostproben aus Stevensons vielschichtigem Schaffen. Hamilton demonstrierte etwa die Verwendung von Obertoneffekten in den Three Scottish Ballads und dem Heroic Song for Hugh MacDiarmid sowie eine der Referenzen Stevensons an Henry Purcell (Little Jazz Variations on Purcell’s „New Scotch Tune“). Wirklich begeistert aufgenommen wurden dann zwei pianistische Schwergewichte: Die zum 100. Todesjahr Liszts entstandene Symphonic Elegy – mit zahlreichen Allusionen auf Liszt, Chopin usw. – sowie das auf einer pentatonischen keltischen Melodie aufbauende Stück Beltan Bonfire mit vielfältigen Bezügen, darunter einer feinen Anspielung auf die Feuer-/Wasserprobe aus der Zauberflöte. Insgesamt geriet Hamiltons kräftig entschiedener Vortrag etwas zu sehr in den Forte-Bereich; und waren die Stevenson-Bearbeitungen von Novellos „We’ll Gather Lilacs“ und Richard Taubers Erfolgsschnulze „My Heart and I“ eigentlich bereits programmierte, hinreißend effektvolle Zugaben, enttäuschte der Pianist mit Busonis Bearbeitung von Chopins As-Dur-Polonaise: viel zu schnell, nervös und die Absichten Busonis fast schon bösartig entstellend – völlig unnötig.

Daniel Grimwood / © Thomas Lorenzen

Im Konzert des Briten Daniel Grimwood am Sonntagabend erklang zunächst ein recht einfältiges, ganz in der Tradition der Wiener Klassik stehendes Rondo der aus dem heutigen Bad Tölz stammenden Komponistin Josepha von Fladt (geb. Kanzler, 1778–1843), die – zusammen mit C. M. von Weber und Meyerbeer – noch beim berühmten Abbé Georg Joseph Vogler ausgebildet worden war. Dies war wohl als Einstimmung auf die folgenden Kompositionen ihres berühmtesten Schülers, Adolph Henselt (1814–1889), gedacht: Nach dessen ersten kompositorischen Gehversuchen bei Fladt führte der Weg des hochbegabten Pianisten über Studien bei Johann Nepomuk Hummel (Weimar) und Sigismund Thalberg (Wien) 1838 bis zur Position des Hofpianisten beim russischen Zaren. Henselts Klavierkonzert galt bis um 1910 als wegweisender Gattungsbeitrag. Schon bei den drei Beispielen seiner gefälligen Salonmusik überzeugte Grimwood mit einem enormen, immer zielführend eingesetzten Dynamikumfang und einer auffallend individuellen, dabei schlüssig die harmonischen Verläufe unterstützenden Agogik, noch mehr bei Henselts Deux Romances, zwei in jeder Hinsicht fein gearbeiteten Transkriptionen von Liedern des damals in Russland beliebten Grafen Michail Wielhorsky.

Nach dem kurzen Dreaming op. 15,3 von Amy Beach dann eine echte Entdeckung: die noch völlig unbekannte Klaviermusik von Carl Baermann junior (1839–1913), einem Sohn des gleichnamigen berühmten Münchner Klarinettisten, dem u. a. Mendelssohn Konzertstücke für Klarinette & Bassetthorn gewidmet hatte. Carl jr. wirkte erfolgreich im Liszt-Umfeld und ging 1881 nach Boston, war dort etwa ein Lehrer von Amy Beach. Grimwoods Darbietung von fünf seiner 12 Etüden op. 4 (1877) – musikalisch hochwertig und technisch auf einem Niveau zwischen Chopin und Rachmaninow angesiedelt – hinterließ bereits größeres Erstaunen. Die späte, auch formal recht komplexe Polonaise pathétique (1913) erwies sich gar als, freilich rückwärtsgewandtes, Meisterwerk; mit geschicktem, anspruchsvollem Klaviersatz und dramatischer Emotionalität, deren weitgespannten Entwicklungsprozess der Brite mit großer Übersicht absolut faszinierend nachzeichnete.

Vom Dirigenten und Pianisten Eduard Schütt (1856–1933) kennt man allenfalls einige Paraphrasen von Walzern Johann Strauß‘. Im dreisätzigen, empfindungsreichen Au bal op. 75 (ca. 1905) begegnet der Komponist der gesellschaftlichen Institution des Tanzsaals schon fast wie einem Relikt einer untergehenden Epoche. Charles-Marie Widor (1844–1937) beschränkte sich keineswegs nur auf Orgelwerke, sondern schrieb Musik aller Gattungen. Sein Carnaval op. 61 ist ein umfangreicher (65 Partiturseiten!) 12-teiliger Klavierzyklus von Charakterstücken, thematisch jedoch nicht so geschlossen wie Schumanns gleichnamiges Opus. So könnte man aus diesem Werk fraglos Nummern einzeln aufführen. Technisch schwierig, auch weil pianistisch ungeschickter als etwa Liszt oder gar Godowsky, sind die mittleren Sätze 4-10 quasi in Tanzformen gegossene Nationalporträts, leider eher stereotyp und allesamt zu lang geraten; Grimwood erlaubte sich hier zwei, drei kleine Kürzungen. Bei den äußeren Stücken – von eigenwilligem, bisweilen bizarrem Charme, zudem klanglich beeindruckend – gelang dem Pianisten, den Funken aufrichtig überspringen zu lassen: mehr als nur anerkennender Applaus für einen wahren Kraftakt. Obwohl Liszts Transkription von Isoldes Liebestod in seiner orchestralen Wirkung nach wie vor stärker sein mag, gelang es Grimwood mit seiner Zugabe der Wagner-Bearbeitung von Moritz Moszkowski, deren Qualitäten – sie ist pianistisch deutlich virtuoser und strukturell enorm klar – optimal herauszuarbeiten: ein bemerkenswerter Abend.

(Zur Fortsetzung siehe hier!)

[Martin Blaumeiser, 19. August 2025]

Klavierfestival Husum 2025 beginnt am 16. August – Interview mit dem künstlerischen Leiter, Peter Froundjian

Vom 16. bis 23. August findet im Schloss vor Husum wieder das Festival Raritäten der Klaviermusik statt: Jeden Tag ein Klavierabend (jeweils um 19:00 Uhr) plus eine Matinee am Sonntag, 17. 8. um 11 Uhr. Die alljährliche Konzertreihe – ausgefallen nur im Corona-Jahr 2020, und nachgeholt in Form eines kleinen zusätzlichen Drei-Tage-Festivals im Jahr 2022 – ist schon bald nach ihren Anfängen 1987 vom Geheimtipp zu einem festen Event der internationalen Klavierszene aufgestiegen. Dies mit ganz einmaligen Programmen und der Chance, nicht nur für junge Pianisten, auch eigene Entdeckungen und Wünsche jenseits des Mainstreams aufs Podium zu bringen. Dieses Jahr sind eingeladen: Saskia Giorgini, Daniel Grimwood, Roland Pöntinen, Herbert Schuch, Aline Piboule, Mark Viner, Illia Ovcharenko und Chiyan Wong sowie für die Matinée zum 10. Todestag des britischen Komponisten Ronald Stevenson dessen ehemaliger Schüler Kenneth Hamilton. The New Listener nutzte die Gelegenheit für ein Interview von Martin Blaumeiser (TNL) mit dem Gründer und künstlerischen Leiter des Festivals, Peter Froundjian.

Schloss vor Husum – © Nicolai Froundjian

TNL: Wie sind Sie eigentlich seinerzeit auf Husum gekommen?

Peter Froundjian: „Ja, das war so, dass ich mich auf eine feste Stelle als Klavierdozent an der Musikschule, die für den ganzen Kreis zuständig und auch im Schloss angesiedelt ist, beworben hatte. Als ich dann die Location mit dem schönen Rittersaal gesehen habe, – ich kannte den Ort ja zuvor nur vom Namen – hat es für mich irgendwie sofort Klick gemacht. Denn es gab da etwas, was ich eigentlich durch meine Neugier, vieles kennenzulernen, schon während meines Studiums als gebürtiger Berliner im dortigen Musikleben immer schmerzlich vermisst hatte.
Die Veranstalter trauen sich nicht, einen Namen wie Szymanowski oder Medtner und Alkan aufs Programm zu setzen. Mir hat mal einer gesagt: Egal, ob das Konzert sonst Bach, Mozart oder Chopin enthält – wenn da Szymanowski steht, kommen gleich 100 Leute weniger.“

TNL: Das ist leider tatsächlich so, selbst oder gerade in großen Städten.

Peter Froundjian: „Dass es sich so verhält, ist eben sehr horizontverengend. Ich sah es in Ankündigungen, dass in einer Woche z. B. zwei-, dreimal die b-Moll-Sonate von Chopin in einem Klavierabend auf dem Programm stand usw. All diese Dinge hatte ich im Hinterkopf. Und da habe ich mir vorgestellt: Also in diesem Saal, der weder zu groß noch zu klein ist, könnte man etwas arrangieren. Daher habe ich auch die Stelle angenommen und bin gependelt. Nach zwei Jahren habe ich dann die Möglichkeit bekommen, bei der Kulturabteilung des Kreises Nordfriesland mein Konzept vorzulegen, das eigentlich bis heute unverändert ist: mit acht Konzerten und einer Matinee. Das war ein Glücksfall, weil an so einen Ort die Mehrzahl der Besucher von außerhalb kommt. Die Leute, die Augen haben, um zu sehen, was da präsentiert wird, kommen aus London, New York oder was weiß ich, weil sie dort auch nicht bekommen, was in diesem Festival geboten wird. Das heißt, man konnte nicht nur ein, zwei Konzerte veranstalten, man musste es geradezu zu einem Festival – keinem großen – schnüren, damit es sich lohnt, anzureisen. Und dies hat sich als richtig erwiesen.
1987 überschnitt sich das noch mit dem Schleswig-Holstein Musikfestival, aber davon habe ich mich nicht anfechten lassen und gesagt: Mein Konzept ist gänzlich anders. Das ist speziell und das bleibt so, wie ich mir das vorgestellt habe. Und weil es beim ersten Mal schon gut ankam, da haben die mir beim Kreis Nordfriesland gesagt: Gut, dann machen Sie es nochmal weiter, und beim dritten Mal, 1989, war so eine Art Durchbruch.“

TNL: Da kamen Marc-André Hamelin und andere mit Alkan?

Peter Froundjian: „Genau, Ronald Smith mit Alkan, Hamish Milne, Jean-Marc Luisada und verschiedene Leute. So hat sich das etabliert.“

TNL: Welche Rolle spielt bei der Finanzierung denn heute die Stiftung Nordfriesland, die Stadt selber oder auch der Förderverein?

Peter Froundjian: „Also das ruht auf dem Kreis Nordfriesland. Die Stiftung Nordfriesland gehört zum Kreis und sie ist der Veranstalter. Die stehen dafür gerade und geben natürlich auch den größten Betrag. Von der Stadt Husum kommt ein eher bescheidener Zuschuss und der Förderverein tritt ein, wenn zum Beispiel unser Steinway D-Flügel, der immer wieder aus Berlin transportiert wird, kommt, was jedes Jahr mehr kostet. Es gibt immer kleine Neuigkeiten, kleine Änderungen, aber im Großen und Ganzen läuft es so; dafür steht dann der Förderverein auch.“

TNL: Ich missbillige den Begriff der sogenannten Kleinmeister, der lange selbst in der Musikwissenschaft verwendet wurde. Fürchterlich, was sind Kleinmeister? Oder umgekehrt, was ist – um es mit Marcel Reich-Ranicki zu formulieren – „weltbedeutend“?

Peter Froundjian: „Ich finde, man muss erstmal genug kennen, um dann seine eigene Wahl zu treffen. Selbst viele unter den Klugen plappern ja einfach alles nach. Es ist ja keine Kunst, zu sagen, dass die drei letzten Beethoven-Sonaten weltbedeutend sind. Da kann ich mich daran hängen und das über viele Generationen wiederholen. Bei diesen massenhaften Klavierwettbewerben gibt es ja immer einen Sieger oder einen ersten Preisträger. Ich muss immer ein bisschen den Kopf schütteln, wenn ich von dem dann wieder höre: Ach, ich freue mich jetzt sehr, sämtliche Beethoven-Sonaten aufzunehmen. Oder dies und das, was wir schon in x-facher Ausführung haben, sogar von unübertroffenen Künstlern. Wenn sich das Musikleben darin erschöpfen soll, wird es nicht gut ausgehen, dann wird’s wirklich museal. Ich möchte, dass man zeigt, was alles in der Musik möglich ist und möglich war, gerade auch auf dem Klavier. Das ist wie ein Mikrokosmos: Das Klavier ist ja ein Miniaturorchester und deswegen gibt es auch so viel Literatur. Aber die muss erstmal in einer gehörigen Breite gespielt und erkannt werden. Deswegen ist so ein Festival richtig. Ich rühre an keine Saison in den großen Musikzentren. Das Festival ist extra, eben im Sommer, und präsentiert etwas, was es im sonstigen Musikleben kaum gibt. Der Sinn ist nicht, um aus touristischen Gründen irgendetwas für diese oder jene Region auf die Beine zu stellen. Kommunalpolitiker verstehen nicht, wofür das Festival steht. Für sie ist einzig und allein entscheidend, ob es erfolgreich ist: Es kommen tatsächlich Viele; es ist ausverkauft. Na gut, dann können wir es weitermachen.“

TNL: Sie haben ein gutes Händchen für junge Pianisten und Pianisten, die ins Konzept des Festivals passen und an ausgefallenen Sachen einigermaßen interessiert sind. Wie treten Sie mit ihren Vorstellungen an die heran?

Peter Froundjian: „Ich lasse mir natürlich Programmvorschläge zukommen und dann redigiere ich manchmal da drin und sage: Dies oder das hätte ich gerne ersetzt. Oder manchmal bin ich auch mit etwas nicht einverstanden, weil ich das Werk einfach nicht so wertvoll finde, als dass es gespielt werden sollte. Manchmal gibt es da auch verschiedene Ansichten; ich muss aber davon überzeugt sein. Bei manchen Programmpunkten bin ich der Initiator gewesen. Ich habe z. B. letztes Jahr Alfonso Soldano ein Nocturne des nahezu gänzlich unbekannten französischen Komponisten Albert Bertelin empfohlen. Er hat es dann erfreut aufgegriffen, einstudiert und sogar zugestimmt, dass wir das auf die CD nehmen, auch wenn es nicht bis aufs letzte I-Tüpfelchen perfekt ist, weil er es wahrscheinlich zum ersten Mal vor Publikum gespielt hat. Und so erklingt es jetzt erstmalig auf einer Tonaufnahme. Dieses Jahr habe ich beispielsweise Chiyan Wong die Suite von Gustave Samazeuilh vorgeschlagen. Umgekehrt kamen von ihm dann die Variationen des Organisten und Komponisten Naji Hakim – auf solche Weise kommt ein einmalig spannendes Programm zusammen. Die Agenturen schießen übrigens nicht quer, was die Programme betrifft. Eher mal eine Plattenfirma, wenn es Kollisionen mit eigenen Studioaufnahmen und unseren Live-CDs gibt.“

TNL: Worin besteht der Reiz der kleinen Formen? Als Interpret muss man sofort hundertprozentig da sein, und dann ist es schon wieder vorbei. Gar nicht leicht, so etwas in einem Abend zwischen anderen Stücken unterzubringen.

Peter Froundjian: „Kleinere Stücke sind natürlich auch Lyrik. Und es gibt bedeutende Lyrik im geschriebenen Wort. In Konzerten sind solche Formate meist etwas unterrepräsentiert.

Manche Komponisten haben Bedeutendes auf diesem Gebiet geleistet. Es gibt so einige „leise“ Künstler, die kleinere Formate bevorzugt haben. Zum Beispiel Anatoli Ljadow: Der hat keine Sonate geschrieben, nur zwei, drei Variationszyklen: Das ist dann auch das Umfangreichste in seinem Schaffen. Gerade bei den Russen gibt es Leute, die bedeutende Klaviermusik geschrieben haben. Nehmen wir Mili Balakirew: Man redet nur von Islamey, aber da gibt es sehr gute Nocturnes, Mazurken usw. Wenn man an diese Gattungen nicht rangeht und die nie spielt, dann wird man immer nur ein schiefes und ungerechtes Bild von diesen Komponisten haben. Es geht um feine Auswahl der besten Dinge davon. Und dann bringt man wirklich wieder was Neues zu Gehör, was einfach im Archiv schlummert. Das mit den Raritäten ist eigentlich immer ein Balanceakt. Man muss akzeptieren, dass es viel schlechte Musik gibt und natürlich auch schlechte Komponisten, die dahinterstehen. Es braucht so eine innere Stimmgabel, um zu sehen: Ist das gut oder nicht? Ich gehe dafür selber ans Klavier oder höre mir eine Aufnahme an, und manchmal bin ich ganz erstaunt, wie gut etwas ist – und dennoch fast nie gespielt wurde. Dann sage ich, das muss ich demjenigen, den ich eingeladen habe, vorschlagen. Nicht ganz einfach, dieses Konzept so zu verwirklichen. Aber wenn es dann nachher steht, ist es eben handverlesen. Ich fange immer wieder neu mit der sprichwörtlich leeren Leinwand an.

Es gibt wenige Leute, muss man auch sagen, solche wie Marc-André Hamelin, die wirklich wissen, worum es geht. Der ist bisher – nicht offiziell – sowas wie ein Artist in Residence des Festivals gewesen und stemmt einfach alles. Nächstes Jahr kommt er wieder: Ich habe schon die Zusage, dass er spielen wird. Er hat immer neue Ideen und freut sich dann auch, wenn er seiner Inspiration freien Lauf lassen darf.

TNL: 2010 kam ja mal die Sonate von Jean Barraqué – ein kompliziertes, serielles Monstrum ohne Gleichen, das ich trotzdem mag. Was darf man dem Publikum, das besonders die verkappten oder verkannten Romantiker bis ins 20. Jahrhundert liebt, in Husum überhaupt zumuten?

Peter Froundjian: „Erstmal muss es einen Pianisten geben, der sowas gut spielt, – in diesem Fall Jean-Frédéric Neuburger – aber es war natürlich eine Zumutung. Einige waren wohl verärgert; vielleicht sind ein paar dann gegangen. Da bin ich bin tolerant bis zu einem gewissen Punkt, will eben auch nicht vor den Kritikern dastehen wie jemand, der praktisch nur einen sehr eingeengten Rahmen gelten lässt. Wir hatten ja auch Ustwolskaja und Charles Ives sowieso, einige Male sogar. Ich mache aber kein Festival gegen das Publikum und natürlich nicht nur für Leute wie Sie und mich. Nicht umsonst hat mal ein Pianist gesagt, Husum habe irgendwie das beste Publikum der Welt, und jedenfalls das stillste, was er je erlebt habe. Das ist ein gutes Zeichen. Wir machen allerdings keine Universitätsveranstaltung, sondern ein öffentliches Konzert und freuen uns darüber, dass auch normale Konzertbesucher Geschmack an unserem Festival gefunden haben und kommen und ihre Neugier sozusagen auf sehr angenehme und schöne Weise belohnt wird.“

TNL: Von Dogmatikern aus dem Umfeld der Darmstädter Schule wurde ja eine Art Sibelius-Verdikt gepflegt, – beim jüngeren Publikum zum Glück kein Thema mehr – was nach meiner Meinung dazu geführt hat, dass bei uns generell nordische Komponisten immer noch viel zu wenig gespielt werden.

Peter Froundjian: „Da haben Sie vollkommen recht; unglaublich, wie fest ein solches Verdikt hier saß – übrigens auch Künstlern gegenüber, die so zwischen den Stilen stehen, aber auch wirklich bedeutende Komponisten gewesen sind. Die Engländer waren nicht so – haben immer ein Faible gehabt für Sibelius oder Carl Nielsen. Übrigens hat ausgerechnet Neuburger dann 2013 die Sibelius-Sonate bei uns aufgeführt. Ich versuche auch, in den französischen Raum reinzugehen. Die Leute reden immer nur von Debussy und Ravel; was da alles unbekannt geblieben ist! Die ganze Schule um César Franck beispielsweise, Chausson, d’Indy, aber auch Chabrier: fantastisch! Ich würde mich ja freuen, wenn die Leute, die vom Impressionismus in der Musik sprechen, mal erkennen würden, dass der erste Impressionist nicht Debussy war, sondern eigentlich Emmanuel Chabrier. Der hat Musik „out of doors“ sozusagen schon in seinen Pièces pittoresques geschrieben; schließlich war er auch sehr mit den ganzen impressionistischen Malern befreundet.

Das Festival ist für mich auch ein Akt der Gerechtigkeit. Ein großes Wort, aber das steht bei mir im Vordergrund, und ich freue mich, wenn Komponisten zu Wort kommen, die wirklich ungerechterweise links liegen gelassen worden sind.“

TNL: Haben Sie noch bislang unerfüllte konkrete Programmwünsche? Wo Sie sagen: „Das wollte ich immer und das klappte irgendwie bislang nicht“, oder: „Ich bin jetzt erst auf etwas gestoßen, das auch für mich neu ist.“

Peter Froundjian: „Das kommt immer vor, aber aus dem Hut kann ich das heute nicht einfach sagen. Es gibt Werke, die ich ganz gerne noch vorgestellt haben würde, aber wir haben schon sehr, sehr viel gemacht. Trotzdem entdeckt man immer wieder Neues, und von der Pianistenseite kommt auch was, beispielsweise in diesem Jahr die Etüden von Carl Baermann junior; ich kannte den überhaupt nicht, aber wer kann das schon von sich behaupten?“

TNL: Ein Sohn des berühmten Klarinettisten [Anm. der Redaktion: Carl Baermann, 1811– 1885], oder?

Peter Froundjian: „Ja, der aus München. Dieser Sohn ist später nach Boston gegangen. Daniel Grimwood hat seine Musik entdeckt und will das wahrscheinlich auch einspielen. Jetzt trägt er bei uns einige Etüden und Stücke von ihm vor: wirklich sehr schöne Stücke.“

TNL: Die Mission des Festivals besteht also weiter. Wie sieht es denn mit jungem Publikum aus? Die sind es eigentlich leid, immer dieselben Dinge zu hören und wollen auch nicht unbedingt teure Eintrittspreise für normales Repertoire mit „großen Namen“ bezahlen. Wäre dafür das Husum-Festival nicht genau richtig?

Peter Froundjian: „Wir haben ein bisschen Probleme damit, Karten kostengünstiger abzugeben wegen der geringen Platzanzahl. Hätten wir 200 Plätze, wäre es schon besser, aber wir brauchen halt auch die Einnahmen durch die Eintrittspreise. Im normalen Musikleben will man oft den Pianisten, den großen Künstler vorstellen: mit Repertoire angefangen von Bach bis vielleicht Impressionismus, Bartók, Prokofieff oder so. Dieses Konzept gerät bei uns quasi gewollt ins Wanken, weil hier der Schwerpunkt auf den Werken liegt: Die Werke sind der Star. Natürlich möchte ich, dass sie bestmöglich dargeboten werden, und dafür muss man auch sehr, sehr viel können. Es geht nicht darum, jetzt den nächsten Preisträger vom – was weiß ich – Cliburn-Wettbewerb zu präsentieren, sondern die Werke bestmöglich darzubieten; und die besten Beweise dafür, dass das auch gelingt, sind ja die CDs. Insofern sind diese CDs das Bleibende von diesem Festival.“

TNL: Hätten Sie für das kommende Programm einen Tipp für jemanden, der noch nie beim Raritätenfestival war und vielleicht zwar klavieraffin ist, aber auch nicht der extreme Ausgräber bei sich zu Hause, was CDs betrifft?

Peter Froundjian: „Das Konzert von Roland Pöntinen [Montag, 18. 8. 25], würde ich sagen, und vielleicht auch das von Daniel Grimwood [Sonntag, 17. 8. 25], obwohl auf dem Programm alles unbekannte Namen sind. Die Leute wissen kaum, wer Eduard Schütt ist oder Charles-Marie Widor oder Carl Baermann junior. Aber das ist alles wunderschön klingende Musik.“

TNL: Wir freuen uns natürlich auf alle acht Konzerte, die Künstler und Ihr gesamtes Team. Herzlichen Dank für das Gespräch!

(Das Interview wurde am 5. 8. 2025 via Zoom geführt.)

Hinweis der Redaktion: Unser Rezensent wird im Anschluss an das Festival hier ausführlich berichten. Das diesjährige Programm und Infos zu noch verfügbaren Karten findet der interessierte Leser auf der Seite: https://piano-festival-husum.com/
Die zugehörige CD-Reihe erscheint bei Danacord: https://www.danacord.dk/collections/ husum.html
Die beiden neuesten CDs sind auf der dortigen Homepage: https://danacord.com/

[Martin Blaumeiser, 10. August 2025]

Ernst Gernot Klussmann: Expressive frühe Kammermusik eines Hamburger Meisters

eda records, EDA 55, EAN: 8 40387 10055 5

Anlässlich des 75-jährigen Bestehens der Hochschule für Musik und Theater Hamburg ruft die vorliegende Produktion mit dem Komponisten Ernst Gernot Klussmann (1901–1975) einen der Gründerväter der Institution in Erinnerung. Vorgestellt werden zwei frühe Kammermusikwerke, es spielen das Kuss-Quartett und der Pianist Péter Nagy.

Mit der vorliegenden Neuerscheinung des immer wieder mit musikalischen Pioniertaten aufwartenden Labels eda records – vormals unter dem Namen Edition Abseits bekannt – erlebt die Musik des Komponisten Ernst Gernot Klussmann ihre Premiere auf Tonträger. In der Tat: weder scheint es zu Lebzeiten Klussmanns zu einer Schallplattenproduktion gekommen zu sein, noch hat es bislang irgendeines seiner Werke in eine Anthologie oder dergleichen geschafft. Echtes Neuland also, und bereits ganz grundsätzlich einmal mehr ein Beleg dafür, welch unerhörte Fundgrube die Musik des 20. Jahrhunderts doch bietet mit einem schier überreichen Angebot an Könnern, deren Musik schlicht nicht wahrgenommen wird – in krasser Antithese zur nach wie vor verbreiteten Mär von der Begrenztheit des Repertoires der klassischen Musik.

Klussmann, geboren 1901 in Bergedorf, das damals noch nicht zu Hamburg gehörte, studierte zunächst privat Komposition und Orgel bei Felix Woyrsch (dessen Schaffen in den letzten Jahren erfreulicherweise an Aufmerksamkeit gewonnen hat) sowie Klavier u. a. bei Ilse Fromm-Michaels, selbst Komponistin. Anschließend zog es Klussmann an die Münchener Akademie der Tonkunst, wo er bei so eminenten Musikerpersönlichkeiten wie Joseph Haas (Komposition) und Sigmund von Hausegger (Dirigieren) studierte. Nach dem Abschluss seiner Studien 1925 fand er seine erste feste Anstellung in Köln und unterrichtete dort zunächst an der Rheinischen Musikschule und später an der Hochschule für Musik.

Zurück nach Hamburg ging er 1942, als das dortige Vogt’sche Konservatorium in eine Musikschule umgewandelt wurde, aus der dann eine Musikhochschule hervorgehen sollte. Die Leitung dieser Musikschule übernahm Klussmann. Da er 1933 in die NSDAP eingetreten war, wohl vorwiegend zum Schutz seiner Familie (seine Musik war in entsprechenden Kreisen bereits vorher als „entwurzelte Kunst“ bezeichnet worden), wurde er 1945 entlassen, 1948 nach langwierigen Berufungsverfahren jedoch wieder als Direktor eingesetzt. Als 1950 schließlich die avisierte Musikhochschule gegründet wurde, wurde Klussmann ihr stellvertretender Direktor und Professor für Komposition, was er bis zu seiner Pensionierung 1966 blieb. Er starb 1975 in Hamburg.

Sein Werkverzeichnis nennt 56 Opuszahlen, darunter nicht weniger als zehn Sinfonien; Vokalmusik spielt ebenfalls eine wichtige Rolle mit fünf Opern sowie Kantaten, Chorwerken und Liedern, zusätzlich Musik für Klavier und Orgel. Spätestens im letzten Jahrzehnt seines Lebens erlangte seine Musik kaum noch Beachtung: wie das Beiheft ausführt, verband Klussmann mit der Rundfunkausstrahlung seiner Sinfonie Nr. 6 op. 39 (1964) die Hoffnung auf eine Aufführung seiner mit der Sinfonie verwandten Oper Rhodope, aber letztlich ohne Erfolg: seine sämtlichen größer besetzten Werke der letzten Jahre blieben unaufgeführt. Ironischerweise gehörten private Rundfunkmitschnitte ebendieser Sinfonie bislang zu den wenigen Möglichkeiten, sich mit seiner Musik überhaupt zu befassen.

Das vorliegende Album stellt zwei Kammermusikwerke aus Klussmanns frühem Schaffen vor – in der Tat scheint sich seine Kammermusik ganz generell auf die ersten zwei Dekaden seiner kompositorischen Laufbahn zu konzentrieren. Mit dem Klavierquintett e-moll op. 1 begegnen wir Klussmanns überhaupt erstem „offiziellen“ Werk, entstanden 1925 wohl als Abschluss seiner Studien. Ein ambitioniertes, passioniertes, ausdrucksmächtiges Stück, dessen viersätzige Gliederung nicht von ungefähr an eine Sinfonie gemahnt, wahrhaft „orchestrale“ Kammermusik. Wie für ein Erstlingswerk nicht ungewöhnlich, orientiert sich Klussmann dabei relativ deutlich an spät- bis spätestromantischen Vorbildern, ohne sich allerdings in der Totalen einem bestimmten Komponisten oder einer spezifischen Richtung anzuschließen.

Das Hauptthema des 1. Satzes, vorgestellt von der 1. Violine, ist insofern für Klussmann eher untypisch, als dass es sich um eine auf relativ gängigem romantischem Vokabular aufbauende längere Melodielinie in erzählendem Tonfall handelt – bei einem Komponisten, dessen Musik bereits hier eher von kurzen, prägnanten Motiven geprägt ist. Das so beginnende Allegro impetuoso macht seinem Namen alle Ehre, geprägt von wuchtigem, vollgriffigem Klaviersatz und kraftvollen Repliken der Streicher sowie einem stark ausprägten Interesse an Kontrapunktik. Mir kam wiederholt das Heine-Zitat in den Sinn, das Hans Pfitzner seinem eigenen Erstling, der Cellosonate fis-moll op. 1, vorangestellt hat: „Das Lied soll schauern und beben“. Pfitzners Musik selbst hat dabei eher im zweiten Satz, einem intensiven, schwerblütigen Adagio in Des-Dur, ihre Spuren hinterlassen, wobei es auch hier an Momenten dramatischer Zuspitzung nicht mangelt.

Beinahe dämonisch mutet das folgende kurze Scherzo mit seinem von übermäßigen Dreiklängen durchzogenen Hauptthema an, die stampfende Dreierrhythmik ruft Bruckner in Erinnerung. Das ausgedehnte Finale beginnt mit einem fast hymnisch anmutenden Motiv, aus dem sich wiederum ein dezidiert kämpferischer Satz entwickelt mit (in der Thematik) noch relativ stark durch barocke Vorbilder geprägten polyphonen Elementen. Zwei Dingen gilt besonderes Augenmerk. Zum einen ist dies die Rolle der Tonarten, denn das Finale ist auch insofern ein sehr bewusst konzipierter Schlusspunkt, als dass man allen drei tonalen Zentren des Werks (e, des und c) wiederbegegnet – dem Des-Dur des 2. Satzes vor allem in einem lyrischen Seitengedanken, aber speziell e und c tragen untereinander im Laufe des Satzes ein veritables Gefecht aus. Eigentlich ist von Beginn an unklar, welches der definitive Grundton ist, denn schon das C-Dur des Beginns moduliert sehr schnell nach E-Dur, und ähnlich geht es weiter. Faktisch wird überhaupt erst mit dem Schlussakkord C-Dur als tonales Zentrum etabliert!

Zum anderen kristallisiert sich im Laufe des Satzes ein rhythmisches Dreitonmotiv heraus (eine fallende große Terz), das immer wieder insistierend ins Geschehen eingreift und den spätromantischen Rahmen durchaus ein wenig sprengt; man könnte hier fast etwas an Schostakowitsch denken, wobei natürlich nicht klar ist (und auch keine wesentliche Rolle spielt), ob Klussmann den jungen sowjetischen Komponisten zu diesem Zeitpunkt überhaupt kannte. Ähnliches tritt übrigens bereits im 1. Satz auf, wo sich aus der Exposition heraus ebenfalls eine dezidiert rhythmische Figur entwickelt, die die Musik vorantreibt.

Insgesamt erlebt man in diesem Werk zwar noch nicht den reifen Klussmann, und man könnte es mit einigem Recht für etwas überladen halten (weniger in der zeitlichen Ausdehnung von knapp 35 Minuten als eher in der stetigen Forcierung des Ausdrucks und seinem massiven Satz). Nichtsdestoweniger kann man Sigmund von Hauseggers Lob anlässlich der Uraufführung, als er insbesondere die „selbstständige, geistvolle Art, in der hier seine recht musikantischen, eigenwüchsigen Einfälle ineinanderfügt“, hervorhob, ausdrücklich zustimmen: ein Werk, das viel Interessantes und Verheißungsvolles enthält.

Entstanden in den Jahren 1928 bis 1930, ist das Streichquartett Nr. 1 op. 7 prinzipiell nur wenig jünger als das Klavierquintett. Und doch begegnet man in diesem Werk einem wesentlich veränderten Klangbild, einer viel raueren, herberen, lakonischeren, schlicht „moderneren“ Tonsprache, in mancher Hinsicht nicht untypisch für deutsche Musik der 1920er Jahre, wiederum allerdings ohne sich einem konkreten Vorbild anzuschließen. Gleich das Duett zwischen 1. Violine und Cello am Beginn lässt aufhorchen: Doppelgriffe im Bass, oftmals in Form paralleler Quinten, darüber in der Violine eine melodische Bewegung, die wie ein Fragment aus einer Gesangslinie anmutet, vielleicht sogar einem Chanson, einem Schlager, aber verfremdet und gleichsam aus der Distanz betrachtet. Hier und da wird cis-moll als Haupttonart des Quartetts angegeben; dies ist aber eher approximativ zu verstehen: es gibt nur wenige Passagen, in denen diese Tonart wirklich in aller Klarheit das Geschehen bestimmt, nicht einmal am Beginn. Mindestens frei- und teilweise polytonal ist das Quartett eigentlich durchgehend, stellenweise eigentlich fast schon atonal.

Sowohl für expressive Steigerungen als auch (sehr nachdrücklich, wie übrigens sein gesamtes Schaffen hindurch) für Kontrapunktik interessiert sich Klussmann nach wie vor, nun aber bewusster disponiert. So kommt es im Laufe des 1. Satzes (der zur Gänze im Adagio-Tempo gehalten ist) zwar zu beinahe gewaltsamen, scharf dissonanten Zuspitzungen, aber ebenso typisch ist das ruhige Brüten, in das die Musik immer wieder zurückfällt, und ebenso sehr wie dichte Polyphonie findet man hier auch karge, lediglich zweistimmige Passagen. Und wiederum leitet Klussmann aus dem Gesangsmelos des Beginns ein rhythmisches Motiv ab, aus dem Spannungen gewonnen werden und das die Musik formt.

Das Allegro an zweiter Stelle ist knapp gehalten, Musik erfüllt von flüchtiger Unruhe mit leicht groteskem Einschlag, geprägt von federnder, raschelnder Rhythmik, die in einen ambivalent-bitonalen Schlussakkord mündet. Dass der Marsch an dritter Stelle im 7/4-Takt gehalten ist und somit schon per definitionem „hinkt“, merkt bereits das Beiheft an. Ich würde noch einen Schritt weiter gehen, denn selbst der 7/4-Takt wird eigentlich stets verunklart (etwa durch die Cellobegleitung, die passagenweise doch wieder einen Trochäus suggeriert), sodass man hier zwar allerhand Marschgesten begegnet, aber nie einem Metrum, das wirklich Fuß fasst, und die schneidig-punktierte Rhythmik eine Aura der Unklarheit umgibt. Der mit Fantasia überschriebene vierte Satz ist weniger langsamer Satz als in seinen Eckteilen Monolog, Rezitativ der Viola, im Mittelteil manifestieren sich Erinnerungen an den Marsch, und am Ende mündet die Musik in einen leicht verfremdeten, von einem Moment der Trauer erfüllten b-moll-Akkord.

Freundlicher dann das Finale: hier scheint es, als sei hinter den polyphonen Strukturen eine Art Volksweise verborgen, die allerdings niemals in aller Deutlichkeit in Erscheinung tritt, sondern eher als Idee im Hintergrund präsent ist, immer wieder anklingt, aber doch im Ungefähren bleibt. Was schließlich sehr explizit in Erinnerung gerufen wird, ist der 1. Satz (und ich würde davon ausgehen, dass man bei näherer Betrachtung noch mehr Binnenbezüge im ganzen Quartett finden wird), und ganz am Schluss steht wiederum affirmatives C-Dur – also die gleiche Tonart wie am Ende des Klavierquintetts, zwar auf ganz unterschiedlichem Wege erreicht, aber bei näherer Betrachtung dann doch wieder mit gewissen Parallelen. Ein starkes, nachhaltig in Erinnerung bleibendes Quartett, aus dem ich noch einmal ganz besonders den Kopfsatz hervorheben möchte.

Klussmann galt übrigens insbesondere als Bewunderer der Musik Gustav Mahlers, dem er später zu Beginn seiner 1950 komponierten Sinfonie Nr. 5 cis-moll op. 30 denn auch eine ziemlich unmittelbare Referenz erwiesen hat. Mit Mahlers Schaffen hat sich Klussmann bereits in den 1920er Jahren auseinandergesetzt, und insofern ist interessant, dass beide Werke auf dieser CD eigentlich nicht zwingend an Mahler denken lassen. Erst auf den zweiten Blick erkennt man gewisse Parallelen (in der expressiven Glut etwa des 1. Satzes des Quartetts, in der Ironie mancher Passagen, das Beiheft weist zudem auf das ausdrucksorientierte Wesen der Polyphonie in Anlehnung an Klussmanns eigene Schriften hin).

Wenn die aktuelle Version des Wikipedia-Artikels zu Klussmann insbesondere seine Verwurzelung in der Spätromantik betont, dann ist dies jedenfalls ein wenig zu relativieren. Für die genannte Sinfonie Nr. 5 trifft dies sicherlich weitgehend zu; wie sie sich in Klussmanns übriges Schaffen aus jener Zeit einfügt, ist aber bereits eine offene Frage: schon das Quartett spricht ja eine andere Sprache, die Xenien für Klavier von 1948 antizipieren die Sinfonie wohl ebenfalls kaum; mehr Werke aus diesen Jahren sind mir leider nicht bekannt. Im Laufe der 1950er Jahre hat sich Klussmann dann intensiv mit der Zwölftontechnik befasst, und hört man Stücke wie die Sechste Sinfonie, Herodias für Alt und Orchester oder die späte, strenge Spiegelfuge (und Choral „Nun bitten wir den Heil’gen Geist“) für Orgel, dann ist dies zwar Musik eines Autors, der seine spätromantischen Wurzeln nicht verleugnet, das Klangbild aber ist doch wesentlich harscher und dissonanter, und man wird ohne Probleme in etwa gleichaltrige deutsche Komponisten jener Zeit finden, deren Musik wesentlich unmittelbarer der Tradition verpflichtet ist (ohne dass dies irgendein Werturteil implizieren würde).

Sehr erfreulich geraten sind die Interpretationen selbst. Mit dem Kuss-Quartett und dem Pianisten Péter Nagy haben sich Musiker zusammengefunden, die Klussmanns Musik mit großem Engagement und Sinn für die expressiven Spannungsfelder und -bögen dieser Musik darbieten. Gerade das Streichquartett ist darüber hinaus auch ein gutes Stück weit eine (allerdings kohärente!) Folge von Charakterbildern, und die Zeichnung all dieser Stimmungen mit all ihren Ambivalenzen, Subtilitäten und Grotesken gelingt dem Kuss-Quartett in vorbildlicher Manier.

Das Beiheft formuliert ein beherztes Plädoyer für Klussmann, wobei ein substantieller Teil auf die Diskussion seiner Rolle im Nationalsozialismus und das anschließende Entnazifizierungsverfahren entfällt. Leider werden die beiden Werke selbst dann eher knapp besprochen: hier gäbe es dem mit dieser Musik natürlich nicht vertrauten Hörer einiges mehr an die Hand zu geben, erst recht, weil das zentrale Argument für die Beschäftigung mit Klussmanns Musik nun einmal die Musik selbst ist. Am Rande notiert sei auch die etwas kuriose Volte im Grußwort des aktuellen Rektors der Hochschule für Musik und Theater Hamburg Jan Philipp Sprick, der es nicht versäumen mag, auch in einem kurzen Text zu Klussmann auf die „Herausforderungen der digitalen Welt“ zu sprechen zu kommen.

Dies, wohlgemerkt, nur ganz am Rande, denn unter dem Strich ist dieses Album nur zu empfehlen. Man darf froh sein, Klussmanns Musik nun endlich auch auf Tonträger erleben zu können, und dies in solch gelungenen Einspielungen. Vielleicht entwickelt sich daraus ja mehr – zu wünschen wäre es.

[Holger Sambale, August 2025]

Richard-Strauss-Tage 2025 [2]: Symphonische Italienreisen von Mendelssohn und Strauss

Wie der Strauss-Wolf-Liederabend (siehe den ersten Teil dieses Beitrags) nach Italien führte, so stand auch das zweite Symphoniekonzert der Richard-Strauss-Tage 2025 im Zeichen des Landes, „wo die Zitronen blühn“. Unter der Leitung von Rémy Ballot spielte das Münchner Rundfunkorchester die Italienische Symphonie op. 90 von Felix Mendelssohn Bartholdy und die Symphonische Fantasie Aus Italien op. 16 von Richard Strauss. Dazwischen waren fünf Orchesterlieder von Strauss zu hören, gesungen von der Sopranistin Joo-Anne Bitter.

Italien, das Sehnsuchtsland der Bildungsbürger des 19. Jahrhunderts, hat so manchen ausländischen Komponisten dazu angeregt, ihm musikalisch Tribut zu erstatten. Mendelssohns Italienische Symphonie, 1831 bis 1833 während und nach seiner großen Italienreise komponiert, kann als das erste große symphonische Werk eines Nicht-Italieners der romantischen Epoche gelten, welches den Geist und die Atmosphäre Italiens in Tönen festzuhalten sucht. Unter den zahlreichen in den folgenden Jahrzehnten entstandenen orchestralen Italienhuldigungen finden sich Werke wie Hector Berlioz‘ Harold en Italie, Pjotr Tschaikowskijs Capriccio Italien, die Italienische Suite von Joachim Raff, die wunderbar atmosphärischen Impressions d’Italie von Gustave Charpentier und Edward Elgars groß angelegte Ouvertüre In the South (Alassio). Auch der zeitgleich mit Richard Strauss in Garmisch-Partenkirchen ansässige Franz Mikorey, dessen Kammermusik in den ersten Konzerten der diesjährigen Strauss-Tage zu hören war, findet sich mit einer Symphonie namens Adria in dieser Reihe. Richard Strauss selbst besuchte Italien erstmals 1886. Die lebhaften Eindrücke, die er Auf der Campagna, In Roms Ruinen, Am Strande von Sorrent und vom Neapolitanischen Volksleben empfing, lieferten ihm die Inspiration zu vier entsprechend betitelten symphonischen Sätzen, die er unter dem Titel Aus Italien zusammenfasste. Mit diesem Werk betrat Strauss zum ersten Mal das Gebiet orchestraler Programmmusik, ohne bereits eine Symphonische Dichtung im Sinne seiner späteren Werke vorzulegen. Als Gattungsbezeichnung für die gut dreiviertelstündige Komposition wählte er den Begriff „Symphonische Fantasie“.

Aus Italien lässt sich als das Übergangswerk schlechthin zwischen Straussens frühem Schaffen und seiner mit Macbeth und Don Juan einsetzenden Periode der symphonischen Hauptwerke bezeichnen. Wie in keinem anderen seiner Stücke aus dieser Zeit begegnen einander hier Altes und Neues. Die einstige Orientierung an Brahms wirkt besonders im zweiten Satz nach, der in Tempo und Rhythmik stark an den Kopfsatz der Brahmsschen Dritten Symphonie gemahnt. Dagegen steht eine große Zahl an Stellen, die spätere Strausssche Einfälle anklingen lassen. So erscheinen die Anfangstakte rückblickend wie eine Vorstudie zu den Eröffnungen von Macbeth und Also sprach Zarathustra. Auch taucht im Kopfsatz ein Begleitmotiv auf, das im Don Juan nahezu wörtlich als einer der Kontrastgedanken wiederkehrt. Im dritten Satz malt Strauss die Wellen vor Sorrent mit jenen chromatischen Terzenläufen, die ab nun eines seiner Markenzeichen werden. Allgemein behandelt Strauss das Orchester in Aus Italien mit einer Geschicklichkeit, die der Virtuosität späterer Jahre schon äußerst nahe kommt. Hinsichtlich der ersten Takte mit ihrer räumlichen Tiefe, und auch vieler weiterer Stellen der Partitur, kann man schon von einem typischen Strauss-Klang sprechen.

Was Aus Italien von den späteren Tondichtungen trennt, ist namentlich die Art und Weise der musikalischen Bewegung. In den beiden Allegro-Sätzen befindet sich Strauss diesbezüglich noch im Fahrwasser von Brahms und Berlioz. Die breite Grundströmung der Musikdramen Wagners, die ab dem Macbeth seine symphonischen Werke grundiert und ihnen zu ihrem charakteristischen langen Atem verhilft, hat hier noch nicht völlig von ihm Besitz ergriffen. Der Wille, aus dem gewohnten klassisch-frühromantischen Temporahmen auszubrechen, zeigt sich gerade im Finale sehr deutlich, doch bleibt es letztlich bei Ansätzen, sodass in diesem Satz Abschnitte unterschiedlicher stilistischer Prägung kurios nebeneinander stehen. Auch wenn man diesen Umstand durch das Programm des Satzes legitimieren kann – auf den Straßen Neapels mag es wohl zuweilen etwas konfus zugehen –, lässt sich kaum leugnen, dass die Stärken dieser Symphonischen Fantasie vor allem in den beiden langsamen Sätzen liegen. Nichtsdestoweniger muss man Rémy Ballot Recht geben, wenn er am Tag vor dem Konzert im Podiumsgespräch mit Dominik Šedivý, dem künstlerischen Leiter der Strauss-Tage, äußerte, Aus Italien sei gut genug, um die Erinnerung an Richard Strauss zu rechtfertigen, auch wenn er nach diesem Werk nichts mehr komponiert hätte. Und so freut man sich, diese selten gespielte Komposition einmal im Konzert zu hören – zumal in einer solch kultivierten Aufführung.

Ballots Herangehensweise an die Straussschen Orchesterwerke ist nicht pittoresk motiviert. „Wenn man bei Aus Italien zu sehr an Italien denkt“, so der Dirigent weiter im oben erwähnten Gespräch, „läuft man Gefahr, dass es nicht italienisch klingt!“ Ebenso verhalte es sich im Falle des Heldenlebens, das er letztes Jahr in Garmisch dirigierte: „Wenn man sich allzu sehr darauf versteift, es möglichst heroisch klingen zu lassen, wird man den vielen Teilen des 45-Minuten-Stücks nicht gerecht, die eben nicht heroisch klingen. Es ist eine Landschaft mit vielen verschiedenen Konturen.“ Ballot hält sich an die Vorgaben der Partitur, die er genauestens zu realisieren sucht. Er ist ein Dirigent, der die Noten liest – und sie nicht bloß buchstabiert. Er dirigiert musikalische Sinneinheiten, nicht beziehungslos aufeinander folgende Töne. Wenn er musikalische Werke mit Landschaften vergleicht, so muss man hinzufügen, dass die große Tugend dieses Musikers darin besteht, sich eine phänomenale – nämlich phänomenologische – Ortskenntnis innerhalb dieser Landschaften zu verschaffen. So überlässt man sich als Hörer gern diesem Cicerone, wenn es darum geht, Strauss auf seinen Gängen durch Roms Ruinen und Neapels Gassen zu folgen. Namentlich der Gefahr, dass es im zweiten Satz gar zu verwinkelt und schwerfällig zugeht, verstand Ballot erfolgreich entgegenzuwirken. Nominell ist In Roms Ruinen ein „Allegro molto con brio“, allerdings vermittelt der Satz nicht den Eindruck einer besonders hohen Geschwindigkeit. Strauss dürfte diese Bezeichnung wohl vor allem gewählt haben, um einem zu breiten und spannungslosen Vortrag entgegenzuwirken. Ballot, unter dessen Leitung das ganze Werk ziemlich genau die in der Partitur vermerkten 47 Minuten dauerte, versuchte nicht, aus dem Stück krampfhaft das Presto zu machen, das es nicht ist. Er scheuchte das Orchester nicht hindurch, sondern hielt es durch Liebe zum Detail dazu an, die Musik zu beleben. Besonders konnte man sich über jedes neue Erklingen des Hauptthemas freuen, in dem der Kontrast zwischen der 6/4- und der 3/2-Betonung durch spannungsvollen Vortrag der Überbindung in der Mitte des ersten Taktes trefflich herausgearbeitet wurde.

Ballot hatte sich bereits vor zwei Jahren in Garmisch mit der Schottischen Symphonie als vorzüglicher Mendelssohn-Dirigent empfohlen, mit der Italienischen bestätigte er den damaligen Eindruck aufs neue. In Mendelssohns weitgespannter, sanglicher Melodik fühlt er sich offensichtlich ebenso wohl wie in dessen immer elegant und virtuos gesetztem Kontrapunkt. Die Fähigkeit des Dirigenten, in parallel ablaufenden melodischen Schichten zu denken – was seinen Strauss so fasslich und fesselnd macht –, bewährt sich hier aufs Schönste, nicht zuletzt an den Knotenpunkten der musikalischen Entwicklung, den Kadenzen, die er stets in der belebenden Schwebe zwischen Zielpunkt und Atemschöpfen vor dem Weiterschreiten hält.

Zwischen den beiden italienischen Symphonien standen fünf Strausssche Orchesterlieder: Ich liebe dich, Meinem Kinde und Mein Auge op. 37/2–4, Winterweihe op. 48/4 und Morgen op. 27/4. Dem Münchner Rundfunkorchester gesellte sich hier die Sopranistin Joo-Anne Bitter hinzu, was man durchaus einen Glücksfall nennen kann. Sie agierte nicht als dominante Solistin, sondern als gleichrangige Partnerin des Orchesters, strebte weniger danach möglichst die Instrumente zu überstrahlen, denn als führende Stimme aus ihrer Menge hervorzuleuchten. Damit fügte sie sich in Ballots Arbeitsweise gut ein, der danach trachtete, möglichst jede Schicht des klanglichen Gefüges zu ihrem Recht kommen zu lassen. Man hatte also im Grunde Kammermusik für Gesang und Orchester vor sich. Besonders gut tat diese Art der Darbietung dem Morgen, einem Lied, das von seinen Interpreten oft genug zur Schnulze degradiert worden ist. Hier hörte man es als ein schlichtes, anmutiges Stück, völlig unprätentiös und ohne falsche Exaltiertheit. Bei der Textdeutlichkeit der Sängerin, den sich ihrer Bedeutung im Gesamtgefüge bewussten Orchestermusikern, der vokal und instrumental auf die Kadenzen hin entwickelten Melodik war gar kein Boden gegeben, auf dem Kitsch hätte entstehen können. So sollte es immer sein!

[Norbert Florian Schuck, Juli 2025]